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Schicksal und Hybris.

Der Mensch bleibt die Hauptsache. Wie kommt es, daß eine Handvoll Menschen, anscheinend unter den ungünstigsten Verhältnissen am Ende der Welt lebend, um die Jahrtausendwende das reichste, schöpferischste und phantasiebegabteste Geistesleben aller nordischen Völker entfalten und trotz furchtbarer Ungunst späterer Zeiten von Generation auf Generation vererben und lebendig erhalten konnte? Die Antwort liegt in der besonderen Art der Besitzergreifung des Landes.

Im 9. Jahrhundert suchten norwegische Könige mit allen Mitteln ihre Macht in Norwegen zu befestigen, den Willen der Volksgenossen der Königsidee zu unterordnen. Aus freien nordischen Menschen sollten Untertanen werden. Die Königsgewalt nahm zu, aber die Besten widersetzten sich ihr. Manche leisteten kämpfend Widerstand, aber sie waren zu sehr zerstreut und zu wenig zahlreich, um die absolutistische Entwicklung aufzuhalten. Sie wurden nutzlos besiegt und getötet. Die Klügsten und Phantasiebegabtesten meinten, daß man sein Vaterland im Herzen trägt. Die Erhaltung der Freiheit war ihnen wichtiger als die Beibehaltung ihrer Lebensgewohnheiten. Nachdem sie auf ihren tausend Meilen weiten Fahrten über das Meer Island entdeckt hatten, packten sie in Norwegen ihre Speere und Schilder, ihre Frauen und ihr Gesinde, ihre Haustiere und ihre Geräte auf die buntbemalten Drachenschiffe der Wikingerzeit und segelten über den nördlichen Ozean, nur den Sternenhimmel als Kompaß benutzend, ihrer neuen Heimat entgegen. Dort nahmen sie herrenloses Land in Besitz, gründeten eine aristokratische Republik und bildeten im Jahre 930 auf Tingvalla das älteste aller bestehenden Parlamente, das isländische Alting.

Stolze Herrenmenschen mit adeligen Tugenden und republikanischen Instinkten besiedelten Island. Damals waren die klimatischen Verhältnisse besser als gegen Ende des Mittelalters. In den Niederungen lag eine dicke unverbrauchte Humusschicht. Birkenwälder waren verbreiteter als heute. Bauholz, sowohl tropische Stämme wie sibirische Tannen, hatten Golf- und Polarströme jahrzehntelang an den Küsten angeschwemmt und in natürlicher Weise am Strande aufgestapelt. Fluß- und Küstengewässer waren die fischreichsten der Welt. Die Viehzucht wurde vermittels Raubbau an Weide und Birkenwäldern betrieben und erforderte nur wenig Mühe. Der Lebensunterhalt war nicht mit übermäßiger Arbeit verbunden: Kraft und Zeit blieb übrig für die Entstehung geistiger Interessen. Gegenseitige Erzählungen wurden bei gesellschaftlichen Zusammenkünften gepflegt, Wettgesänge und Stabreimkonkurrenzen veranstaltet. Schriftkundige schrieben später aus dem Gedächtnis in den langen nordischen Winternächten die berühmten Manuskripte nieder. Auf diese Weise entstand allmählich die gewaltige und in ihrer Art so formvollendete Sagaliteratur.

Es war die Blütezeit Islands. Ihr folgten viele Jahrhunderte bitterster Not. Die Not Islands bereitete sich durch innere Streitigkeiten zwischen den mächtigsten Geschlechtern vor. Infolge der Blutrache nahmen diese Streitigkeiten epidemisch zu. Die mitgebrachte Flotte verfiel. Islands verkrümmte Birken und Ebereschen taugten nicht zum Bau von Schiffen. Auch die vom Meere angespülten Stämme waren zu diesem Zwecke unverwertbar. Da zu allen Zeiten die entlegene und unfruchtbare Insel auf die Einfuhr bestimmter Waren (z. B. Korn, Eisen, Garne) angewiesen war, mußte Island, ohne eigene Flotte, in Abhängigkeit geraten. Die norwegische Seefahrernation fesselte die vor Jahrhunderten Ausgewanderten wieder an sich. Nach der Vereinigung Norwegens mit Dänemark (im Jahre 1380) unterstand Island der dänischen Krone. Aber viel schlimmer als die politische Abhängigkeit war die wirtschaftliche Tyrannis, die von den fremden, mit Monopolen ausgestatteten Handelsgesellschaften ausgeübt und die besonders unerträglich wurde, als im 17. Jahrhundert effektiv jeder Handel mit ausländischen, vor allem mit deutschen und englischen Kaufleuten verhindert werden konnte. Trotzdem die dänischen Könige von Zeit zu Zeit vermittelnd und reformierend einzugreifen suchten, waren die Wirkungen des Handelsmonopols derart, daß noch heute viele Isländer sie den Folgen des schwarzen Todes im 15. Jahrhundert und den großen vulkanischen Naturausbrüchen im 18. Jahrhundert gleichsetzen. Dabei ist zu bemerken, daß die dänischen Handelsgesellschaften ihre Monopole nicht gewissenloser ausnutzten, als es dem Geist der Zeit entsprach, daß aber dieses allgemein übliche, kurzsichtige Handelssystem, wegen der Entlegenheit Islands, seiner schwierigen Besegelung und seiner spärlichen Bevölkerung ganz besonders katastrophal wirkte.

Während der Blütezeit, um das Jahr 1000, zählte die Bevölkerung, so wie heute wieder, gegen 100 000 Einwohner. Aber durch die Jahrhunderte der Heimsuchung schrumpfte sie auf etwa 30 000 zusammen. Und auch die Lage dieser auf ein Drittel verminderten Bevölkerung erschien im 18. Jahrhundert so verzweifelt, daß ein dänischer König in Hilfsbereitschaft auf die Idee verfiel, alle Isländer auf die jütländische Heide zu übersiedeln, wo sie, indem sie diese kultivieren sollten, ihr tägliches Brot finden könnten. – Aber die Isländer, die ursprünglich von Norwegen ausgewandert waren, um der zunehmenden Königsgewalt zu entgehen, hatten keine Lust, sich in allzu großer Nähe der damaligen landesväterlichen dänischen Könige niederzulassen, noch dazu in einer Zeit, wo das Schicksal der Bauern auf dem europäischen Kontinent nirgends beneidenswert war. Sie wollten daher von dieser Rettungsaktion nichts wissen. Der isländischen Hybris entsprechend hätten sie wohl alle zusammen vorgezogen, auf ihrer grausam schönen, sagenumwobenen Heimatinsel umzukommen, als sich zu Dankbarkeit verpflichten zu lassen und auf flacher Heide als Kartoffelbauern ihr Leben zu fristen.

Die Isländer haben sich nicht klein kriegen lassen, sie sind weder ausgewandert noch ausgestorben. Durch alle Entbehrungen hindurch sind sie die eigenwilligen, kunstbegabten, von geistigen und sinnlichen Leidenschaften bewegten Herrenmenschen geblieben, als welche sie Besitz vom Lande ergriffen hatten.

Es ist bezeichnend, daß das Papsttum vor der Reformation niemals die katholischen Geistlichen auf Island zum Zölibat zwingen konnte. Die Geschichte berichtet, wie 1550 selbst der letzte katholische Bischof Jon Arason in der Verteidigung des katholischen Glaubens von den Lutheranern überwältigt und zusammen mit seinen beiden ehelichen Söhnen, Björn und Ari, in Skalholt enthauptet wurde.

Als die neue Glaubensform dann die Oberhand gewann, wurden die Ehen der Geistlichen natürlich völlig legal, aber im übrigen suchten die Lutheraner erst recht strenge Sitten einzuführen. Allein hierin stießen sie, trotz grausamer Strafen, auf Schwierigkeiten. Besonders mühevoll war es, den Isländern begreiflich zu machen, daß es moralischer sei, Kinder in die Welt zu setzen, nachdem durch Trauungszeremonien die öffentliche Aufmerksamkeit auf die bevorstehenden intimen Vorgänge geleitet worden war, als wenn dies in privater und natürlicher Weise im psychologischen Augenblick geschieht.

Noch der stark kirchlich orientierte österreichische Philologe J. C. Poestion, der in ebenso gründlicher wie kunstferner Weise zu Beginn dieses Jahrhunderts mehrere Bände über moderne isländische Dichtung veröffentlicht hat, regt sich darüber auf, daß es in Island einen größeren Prozentsatz natürlicher, d. h. außerehelicher Kinder als anderswo in Europa gibt.

Die Konsequenzen unehelicher Geburten sind übrigens weder für die Mütter noch für die Kinder in Island so spürbar wie im übrigen Europa, weil es nach der Landessitte keine Familiennamen gibt, und die Frau, mit oder ohne Ehe, ihren eigenen Namen behält. Zwar bekommt jedes Kind neben seinem Rufnamen, mit dem in Island alle angeredet werden (selbst die Telephon- und Adreßbücher sind alphabetisch nach den Vornamen geordnet), auch den Namen seines Vaters mit dem Prädikat Sohn oder Tochter (-son oder -dottir) angehängt. Dies findet aber ganz unabhängig davon statt, ob die Eltern verheiratet sind oder nicht, wenn man nur den Vater feststellen kann. Da die Isländer eben so eigenwillig leidenschaftlich wie in ihrer Leidenschaft treu sind, wird aus einer Vaterschaft nur selten ein Hehl gemacht, und man kann diese daher meistens eindeutig feststellen. So erhält auch das »natürliche« Kind in der Regel den Namen seines Vaters.

Zur Verdeutlichung des altnordischen Prinzips der Namensgebung sei hier das Beispiel des erwähnten, mit seinen beiden Söhnen hingerichteten, katholischen Bischofs angeführt. Er hieß Jon Arason und seine beiden Söhne Björn und Ari. Deren volle Namen waren also Björn Jonsson und Ari Jonsson. Der eventuelle Sohn des ersteren wäre ein Björnsson und seine Tochter eine Björnsdottir geworden, und der Sohn des zweiten ein Arison oder richtiger, infolge der isländischen Beugung von Eigennamen, ein Arason und seine Tochter eine Aradottir.

Trotz allem haben die Isländer letzten Endes immer das getan und durchgesetzt, was sie wollten, wie es nur Menschen und Völker durchführen können, die in materieller Beziehung vollständig anspruchslos sind, und deren Bewertung und Meinung von sich selbst nicht von Kleidern und anderen Attributen äußeren Reichtums, sondern von dem Zustand des eigenen Kopfes und der Freiheit des Herzens abhängt. Noch heute trifft man in Island häufig Menschen, die wie Bettler gekleidet sind, aber den Kopf hoch wie die ersten Bürger des Staates tragen. Auf sie ist die Redensart gemünzt: »Arm wie eine Laus, doch stolz wie ein Löwe.« –

Man wird in der Weltgeschichte kaum eine andere Nation als die isländische finden, die in Zeiten ärmlichster Lebensverhältnisse, ja wirklicher Hungersnot, so sehr ihre geistigen Traditionen pflegte und durch Jahrhunderte, in denen keine Rede von gewöhnlichen Schulen war, von Generation auf Generation die Kunst des Lesens und Schreibens vererbte. Seit langem schon gibt es kaum Analphabeten in Island. Die Eltern lehrten stets ihre Kinder lesen und schreiben und weckten die Liebe zur Sprache, als Mittel allen geistigen Lebens. Dies ist auch der Grund, weshalb in Island bis auf den heutigen Tag keine Dialekte vorkommen, sondern eine reine einheitliche Schriftsprache von allen gesprochen wird.

Bis spät ins vorige Jahrhundert hinein gab es im Verhältnis zum vorherrschenden Buchhunger nur wenige auf Isländisch gedruckte Bücher. Darum hatte jedes einzelne Buch Seltenheitswert und wunde wie ein Heiligtum aufbewahrt. Es zirkulierte im Kreise befreundeter Familien, die vielfach eigenhändige Abschriften nahmen. Gerade der Kampf um geistige Werte und Bildung hat der isländischen Kultur Echtheit verliehen. Andererseits aber hat die ungenügende Verbindung mit der Umwelt, der Mangel allen Komforts und aller Einrichtungen des modernen zivilisierten Lebens auch nachteilige Spuren hinterlassen. Die Isländer haben zwar meistens ein Taktgefühl, das vom Herzen kommt, ermangeln aber manchesmal sogenannter glatter Manieren. Von Ausländern wird vielfach kritisiert, daß die Isländer Tabak schnupfen, sich räuspern und spucken, wie es unsere Urgroßväter taten. Diese Gewohnheiten sind in Island heute tatsächlich recht verbreitet, aber wir andern, die im Begriff stehen den Amerikanern das hochmoderne Gummikauen mit nachfolgendem Ausspucken der ausgelutschten klebrigen Gummimasse nachzumachen, haben uns wirklich jeden Rechtes auf Kritik begeben. Dies muß darum besonders hervorgehoben werden, weil es viele Beispiele ungebildeter und erschreckend oberflächlicher Kritik Islands und der isländischen Nation gegenüber gibt. Wenn man zum Beispiel die Zivilcourage und Energie der Isländer nach äußerer Strammheit beurteilt, – wie dies in einem Buche über Island kürzlich geschehen ist, – schreibt man notwendiger Weise den größten Unsinn zusammen.

Die äußerlich nonchalante Haltung gerade vieler intellektueller Isländer verdeckt nämlich eine seltene innere Energie und Willenskraft, – die sich nicht notwendigerweise in Betriebsamkeit zu äußern braucht, – die aber jeder erproben kann, der ernste Dinge mit ihnen diskutiert. Er wird dabei erkennen, daß man – im Gegensatz zu einem mancherorts eingebürgerten Vorurteil –- den gebildeten Isländer zwar mit Argumenten überzeugen kann, daß es dagegen völlig unmöglich ist, ihn müde oder tot zu reden. Hierfür kann man vor allem unter den Dänen, welche die jahrelangen Verfassungs- und Staatsrechtsverhandlungen mit Island geführt haben, Kronzeugen finden.


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