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I. Das System der Familie.

Indem die Wanderjahre zugleich den Titel: Die Entsagenden, führen, scheint dadurch bestimmt zu sein, daß mit der Wanderung auch zugleich die Entsagung verbunden gedacht werden müsse. Dieser doppelseitige Begriff darf aber nicht blos im Sinne der Novellen auf das Motiv einer ethischen Collision beschränkt werden, sondern erweitert sich im Verlaufe der Dichtung zur Weltwanderung und Weltentsagung, indem der Bund, nach Amerika hinüberstrebend, die Welt der Väter, Europa und seine Geschichte aufgibt, gleichsam um dessen großen socialen Conflicten und Schicksalen zu entwandern.

Lenardo, der Vorsteher des Bundes, entwirft uns denn im dritten Buche der Wanderjahre (Kap. IX.) das köstliche Gemälde von dem beständigen Wanderleben, in welchem die Menschheit begriffen sei. Einen überraschend ähnlichen Gedanken hat einmal Opitz in seiner Nymphe Hercinie gehabt, bei dem wir einen götheschen Anklang sonst wol nicht suchen würden.

Weil nun Wilhelm Meister die Hauptfigur des ganzen Romanes ist, so wird er auch vorzugsweise und zuerst als Wanderer und Entsagender auftreten müssen, wie er in dieser Eigenschaft die Wanderjahre auch wirklich eröffnet. Er wird selbst in den Wanderbund hinübergeführt werden müssen und vom Bürger, zu dem er am Ende der Lehrjahre geworden war, am Ende der Wanderjahre zum Weltbürger emporsteigen.

Setzten wir diese allgemeine Kategorie der Wanderjahre hier bei Seite, so berechtigt uns Wilhelm's am meisten interessirte Figur zu der Forderung, die Motive der Wanderung und Entsagung gerade an ihm poetisch individualisirt zu sehen. Es entsteht deshalb zunächst die Frage, welche eigentümliche Nötigung Wilhelm obliege, wandernd zu entsagen in dem Augenblicke, wo er mit dem Besitze Natalien's die sittlichen Verwicklungen auch der Freunde zur befriedigendsten Lösung gebracht sieht, und wo ihm eigentlich nur übrig blieb, seinem Liebesglücke durch die Gründung des Familienglückes vollste Realität zu geben.

Der Dichter ist uns die Antwort auf diese Frage schuldig geblieben. Sobald er die Hände Wilhelm's und Natalien's ineinander gelegt hatte, ließ er den Roman selber fallen, und jene leidenschaftslose Natalie, das Ideal der Träume Wilhelm's, die er so reizend zu malen wußte, glänzt aus den Lehrjahren fortan nur wie ein fernes Gestirn, dessen Stralen nicht wärmen, während der Liebende, dem der Bund in Betreff vergangener und zukünftiger Dinge ein wunderliches Schweigen auferlegte, in fremden Regionen als ein noch anerfahrungsbedürftiger Scholast romantisch umherpilgert. Daß Göthe ferner dieselben Mächte des Turms, denen er doch bereits den geheimnißvollen Isisschleier vom durchaus gewöhnlichen Menschenantlitze genommen, noch als ein poetisches Mittel weiter fortgebraucht, um seinen pythagorischen Epopten unter so mystisch-graalhaften Formeln und Vorschriften wandern zu lassen, mag zwar dem Begriffe des Gesellen, wozu es nun der Lehrling Wilhelm gebracht hat, anpassen, kommt aber dem schon klar gewordenen Verstande des Romans nicht zu statten. Ueberhaupt werden wir das Mysterienhafte und Eleusinische, welches aus der Göthenatur in die spätere Romantik überging, in den Wanderjahren sich mannigfach steigern finden, und das erscheint mir in dem prophetisch tiefsinnigen Wesen dieser Dichtung gerade so innerlich notwendig wie im zweiten Teile des Faust.

Der Dichter läßt Wilhelm, nachdem er mit seinem humanischen Individuum fertig geworden, wandern, damit er in neuen und größeren Weltkreisen lerne, wie man im bürgerlichen Leben seine durch Beschränkung concentrirten Kräfte, in die Gesellschaft werkthätig eingreifend, zu verwenden habe. Es ist noch seine fortgesetzte Erziehung, aber für das Ganze der Menschheit. In merkwürdiger Uebereinstimmung läßt übrigens auch Rousseau seinen Emil Sophiens Gegenwart entsagen und wandern, um ihrer erst ganz würdig zu werden. »Die Pflichten des Menschen hast du studirt, sagt der Mentor zu Emil, kennst du aber auch die Pflichten des Bürgers? Weißt du, was Regierung, Gesetz, Vaterland zu bedeuten haben? Weißt du, unter welchen Bedingungen es dir erlaubt ist, zu leben, und für wen du dein Leben hinzugeben hast? Du glaubst, bereits Alles zu wissen, allein du weißt eigentlich noch gar nichts. Bevor du also in der bürgerlichen Gesellschaft einen Platz behaupten willst, so lerne dieselbe erst kennen, lerne beurteilen, welche Stellung in derselben für dich sich eignet.« Rousseau, Emil 4.

Auf dieser neuen Wanderung hat Wilhelm Meister, wie in den Lehrjahren an Mignon, so an Felix, seinem Sohne, einen Begleiter. Dort war es ein nachtendes Irrlicht, das seine unsteten Pfade kreuzte, ein aus den dunkeln Reichen des Schicksals emporgestiegenes Unglückswesen mit ew'ger Sehnsucht nach dem Sonnentage, hier ist es Felix, das Glückswesen, der Knabe, über welchen Götter und Menschen das Füllhorn reicher Gaben ausschütten, den die Grazien heiterster Natur im schönen Farbenspiele des Lebens zum Jünglinge freundlich auferziehen. Die dichterische Größe dieser Parallele ist wieder eine unnachahmliche göthesche Schönheit. Das Weh Marianen's, die noch aufzulösende Dissonanz der Lehrjahre, gewinnt in Felix, ihrem Kinde, eine genienhafte Verklärung, und wieder schweben um ihn die fort und fort nachhaltenden Trauerklänge um Mignon.

Felix ist neben seinem Vater der aufgehende Stern neben dem untergehenden (Göthe's Enkel neben ihm in Ilmenau), der Repräsentant des jugendlichen Geschlechtes, das den Kämpfen und Stürmen der im Irrtum und im Schmerze erzogenen Väter entwachsen, einer schöneren Zukunft lebensfrisch entgegeneilt.

Wir finden Wilhelm denn im Anfange seiner Wanderjahre mit Felix in dem unbeschreiblich schönen Idyll, darin Göthe uns eine heilige Familie malt mit allem Reize eines Raphael, Tizian oder Coreggio.

Die Idee von Sanct Joseph steht da als ein Typus der Familie, des stillen häuslichen Glücks, für welches Meister erst die Beschränkung, die Resignation und die praktische Tüchtigkeit sucht. Um solcher hohen Bedeutung willen gab der weise Dichter diesem Familiengemälde in seiner Dichtung die Einzigkeit. Denn einzig steht es da unter allen anderen häuslichen Kreisen der Lehr- und Wanderjahre, denen allen ohne Ausnahme, so weit sie handelnd eintreten, die Unvollständigkeit anhaftet, daß sie nicht wirkliche Familienorganismen sind. Wir finden wol Blutsverwandte um ein regierendes Haupt, welches da nicht anders als der Oheim oder die Tante (Respektspersonen an sich) sein kann, familienhaft zusammengeschlossen, aber nirgends Vater und Mutter im Kreise ihrer Kinder. In Sanct Joseph allein ist der Begriff der Familie als der innigsten Einheit natürlicher Liebe in concreter Wirklichkeit vollständig in's Leben getreten, und dieser stille Reichtum eines so unmittelbaren und unergründlichen Glücks tritt Wilhelm, dem Lückenhaften, Ruhelosen, wie ein freundlicher Dämon entgegen, welcher ihm mit der Palme des Friedens den Weg andeutet, den auch er zu gehen habe.

Joseph hat ferner seine Handwerksprofession aus den Händen seines Heiligen, des Zimmermannes, empfangen; sie ist dadurch verklärt und geweiht worden, die Arbeit als ein heiliges Gut des Menschen an das Christentum, die Religion der Armen und Niedrigen, angeknüpft, was von tief eingreifender Wirkung auf das Ganze der Dichtung ist. Denn Sanct Joseph bleibt für die Wanderjahre, den Roman des Handwerks, fortan als ein zauberverbreitendes Symbol in der Erinnerung. »Allem Leben, allem Thun, aller Kunst muß das Handwerk vorausgehen, welches nur in der Beschränkung erworben wird«, diese Maxime des später auftretenden Altertümlers hat der Dichter in Sanct Joseph dem Ganzen als ein plastisches Epigramm künstlerisch voraufgestellt. Man muß sagen, daß die Wanderjahre, wären sie in ihrem weiteren Fortgange selbst das Mißrathenste, was Göthe dichten konnte, durch diese wunderbare Offenbarung göttlicher Genialität und Ursprünglichkeit, wie es die einleitende Idylle Sanct Joseph ist, allein schon berechtigt sein müßten, den größten Meisterwerken aller Literatur beigezählt zu werden.

Der Kontrast eines so einfachen, lieblich engen Familienstilllebens, eines mit so heiterem Genügen so ganz und so thätig ausgefüllten Berufes zu dem unstäten Wanderleben Wilhelm's erweckt in ihm die schmerzlichste Sehnsucht, und so schreibt er (I. III. 37) an Natalie: »Daß er aber glücklich genug ist, neben dem Thiere herzugehen, das die doppelt schöne Bürde trägt, daß er mit seinem Familienzug Abends eindringen kann, daß er unzertrennlich von seiner Geliebten, von den Seinigen ist, darüber darf ich ihn wol im Stillen beneiden.« Welchen Zweck hatte aber wol Sanct Josephs Familiengemälde, welchem durch die ausdrücklich legendarische Beziehung auf die Heilige Familie, den Prototyp des Familienlebens, der Dichter eine so hohe Weihe gab, wenn es in Göthe's Plane gelegen sein sollte, wie Platon und Fourier, den Familismus aufzuheben? so fragen wir, um auch diesen Punkt zu berühren, weil Karl Grün jene schon von Karl Rosenkranz sehr treffend widerlegte Ansicht aus einigen späteren Stellen des Romans als göthisch gerne deduciren möchte.

Ist nun Sanct Joseph offenbar als ein Musterbild eines thätig beschränkten und glücklichen Familienlebens aufgestellt, so wäre es allerdings lächerlich, ein solches für die Individualität Wilhelm's zum Originale zu machen, das er für sich zu copiren hätte. In Sanct Joseph ist überhaupt nur erst das Ideal der Familie für die Wanderjahre bleibend gewonnen. In diesem kleinen Rahmen drängt sich das Bild der Familie symbolisch, wie in der Malerei des katholischen Mittelalters, zusammen. Es war daher ein tiefer genialer Zug dichterischer Notwendigkeit in Göthe, sein Familiengemälde mit den wundersamen Farben alter kirchlicher Malerei zu idealisiren, und so hat er den beabsichtigten Effect vollkommen erreicht.

Wie groß und klar aber Göthe hier dachte und componirte, sehen wir sogleich daraus, daß er Wilhelm von jenem kleinen symbolischen Familienbilde alsobald sich umwenden läßt, um ihn in die große praktische Familienwelt einzuführen, wo der Begriff der gesuchten Gesellschaft nach allen Lebensrichtungen hin schon vorweg ihm entgegen kommt, aber nicht anders als erst in der familiaren Beschränkung realisirt. Es ist dies die Familienwelt des Oheim's der Wanderjahre, welche als eine Unterstufe zu der in Aussicht stehenden großen Association zu betrachten ist.

Der Oheim Hersilien's und Makarie stehen im Mittelpunkte dieses so weit ausgedehnten und so weit hinwirkenden Kreises, daß er nahe daran ist, die Peripherie seiner Familienverbandschaft zu sprengen. Wenn ferner der Oheim der ordnende und regierende Gedanke desselben nach dem Praktischen und Materiellen, in Regiment und Verwaltung der Gemeinde ist, ist es Makarie in Beziehung auf das Sittliche als die Familien- und Gemeindepriesterin. Es hat dieser Gesellschaftskreis daher noch eine gewisse hierarchisch-aristokratische Färbung, und wollte man hier den Sanct-Simonismus wittern, so wäre es sogar unverwehrt, einen Vergleich mit Enfantin's Priesterpaare und dem Cultus des Weibes bei Cabet zu machen. Es ist jedenfalls merkwürdig, daß der Socialismus, wenn er eine neue Ordnung der Gesellschaft sucht, ein ideales Priestertum nicht entbehren kann; nur was beim Platon dem delphischen Gotte allein zu ordnen überlassen wird, also als ein für menschliche Satzung Unzureichendes dem Innern selbst zugewiesen bleibt, machen die Jesuiten in Paraguay und die Labetisten in Icarien zu einer ökonomischen Vorschrift. Auf einer ähnlichen Stufe steht auch jene Gesellschaftsverfassung des Oheims, welche der Dichter durch die Herkunft des wunderlichen Mannes mit William Penn und Nordamerika in Verbindung gesetzt hat, und sie erinnert, was das Oekonomisch-Diätetische betrifft, dem selbst das religiöse Bedürfniß untergestellt wird, beinahe an die Jesuitenkolonien.

Alle Idealität, aller intellectuelle Trieb ist hier in die Materie herabgesunken. Die Moral ist nicht mehr um ihrer selbst willen bewegendes Princip des Menschen, sondern dienstbare Sklavin des physischen Wols, die Religion nicht mehr Cultus des seiner göttlichen Freiheit bewußten Menschen, sondern Cultus des Gewissens, welches erregt und beschwichtigt werden soll, woraus sich denn auch die alberne Wunderlichkeit Lenardo's, des Gewissenspedanten, am besten erklären läßt. Die Religion wird hier zu einem sanitätspolizeilichen Mittel herabgewürdigt, Alles was den Menschen drückt zu beseitigen, und ausdrücklich ist die Sonntagsfeier dazu bestimmt, daß jede Last, welche in religiöser, sittlicher, geselliger, ökonomischer Beziehung auf der Seele liegt, abgeworfen werde. Sonntags bleibt jeder einsam und widmet sich einer vorgeschriebenen Betrachtung. Sind es körperliche Leiden, so muß am Anfang der neuen Woche der Arzt aufgesucht werden; ist die Verlegenheit »ökonomisch oder sonst bürgerlich«, so sind die Beamten verpflichtet ihre Sitzungen zu halten. »Ist es geistig, sittlich, was uns verdüstert, so haben wir uns an einen Freund, an einen Wohldenkenden zu wenden, dessen Rath, dessen Einwirkung zu erbitten: genug, es ist Gesetz, daß Niemand eine Angelegenheit, die ihn beunruhigt oder quält, in die neue Woche hinübernehme.« Der Oheim selbst bespricht sich mit Makarie, die er von Zeit zu Zeit besuchend angeht, und pflegt Sonntag Abends zu fragen: »ob Alles rein gebeichtet und abgethan worden.« Dies ironische » abgethan« ist denn der treffendste Ausdruck für diesen aschgrauen Gewissensdienst und solchen Götzencultus des Nutzens, wo der Mensch wie ein Maschinenzugthier Augenblenden trägt, daß ihn das Sonnenlicht der idealen Sphäre nicht verirre und er nicht eines Maientags auf Flügeln des Ikarus über die Umzäunung seines wolversorgten Hofes hinausfliege.

Daß es hier keine Kirche und keine Priesterröcke gibt, ist freilich ein Fortschritt, den die Rückwärtsgläubigen dem utopisirenden Göthe nicht verzeihen können.

»Sie sehen hieraus, endigt Julie bedeutend, daß wir alle Sorgfalt anwenden, um nicht in Ihren Orden, nicht in die Gemeinschaft der Entsagenden aufgenommen zu werden.« Es soll ja eben in den Wanderjahren die neue Gesellschaft also construirt werden, daß der Mensch die schmerzlichen Pilgerjahre durch den Irrgarten der blinden Leidenschaft, des wüsten Zufalls und der herben Notwendigkeit nicht mehr durchzumachen habe; eine große Aufgabe, doch eine größere Philisterei in dieser dürren Lebensregistratur des Oheims, von der die Monotonie eines gruppirten Phalange gar nicht weit abliegen dürfte. Man hüte sich übrigens, die Oheimischen Maximen durchweg als die Principien anzusehen, nach welchen der neue Gesellschaftsorganismus der Wanderer soll construirt sein, dies ist ein Fehler, in welchen Karl Rosenkranz (Göthe u. s. Werke an der betreffenden Stelle) verfallen ist; denn die Welt des Oheims ist nur eine Vorstufe des Familiensocialismus zu dem endlichen großen und allgemeinen Socialsysteme, und nur einige praktische Grundmaximen, wie in Bezug auf das Eigentum, werden da mit hinübergenommen.

Man sieht auch hier, wo sich der Verwirklichung des materiellen Wols Alles unterordnet, die vom Pietismus gereinigte industrielle Herrnhuterei in einer verständigen Brüdergemeindlichkeit wieder erscheinen, die an Amerika geknüpft ist. Denn dieses Vaterland der Gesellschaftsreformen und der Kolonisation, das Asyl der socialistischen Empirie, ist ja auch für unsere Wanderer ein endliches Eldorado, und so wird die Aufmerksamkeit nicht ohne Grund schon hier darauf geleitet, aber Amerika auch im Namen Makarie (die Seelige) anagrammatisch zu finden, wie man gewollt hat, wäre doch eine zu große Spielerei, als daß dies in Göthe's Absicht sollte gelegen haben.

Der Geist der Brüdergemeinde William Penn's hat sich von dem Großvater des Oheims auf seinen in Philadelphia gebornen Vater erstreckt, und wie beide für eine allgemeine freiere Religionsübung in den Kolonien gewirkt hatten, so ist es erklärlich, daß der nach Europa übergesiedelte Oheim sowol die Kolonisationsprojecte als die Maximen der religiösen Duldung mit hinüberbrachte. Gehört er von dieser Seite den amerikanischen Reformern an, so weist er von der anderen auf die Beccaria und Filangieri zurück, und seine Principien einer allgemeinen Menschlichkeit lassen sich sehr wol mit einer gewissen Pedanterie vereinigen, wie sie noch dem Humanismus des achtzehnten Jahrhunderts angehört.

Wir finden nun durch den Oheim schon eigentlich eine Kolonie, freilich nur in Miniatur, realisirt, und was Lothario in den Lehrjahren ausrief: Hier oder nirgend ist Amerika! auf seinen Gütern aber nicht verwirklichte, hat Hersilien's Oheim geleistet. Seine Kolonie beruht zunächst auf dem Grundbesitze der Familie; er hat an die Familiengüter weite Nachbardistricte »klüglich« angeschlossen und sich innerhalb der civilisirten Welt, die, wie Göthe mit Rousseau und Morelly ironisch doppelsinnig sagt, in einem gewissen Sinne auch gar oft eine Wildniß genannt werden kann, ein mäßiges Gebiet erworben und gebildet, das für die beschränkten Zustände immer »utopisch« genug sei.

Wir haben denn wirklich in den Familiengütern des Oheims ein Utopien inmitten der Culturwildniß Europa's. Es ist aber ein Utopien, welches keinesweges durch den Kommunismus geschaffen ist, sondern vielfach selbst hinter den Forderungen des vernünftigsten Socialismus zurück bleibt. Göthe's Ansicht vom Eigentum ist offenbar in jenem Paradoxon enthalten, welches der Oheim als einen bedeutungsvollen Sinnspruch seiner ganzen Besitzung vorgeschrieben hat: » Besitz und Gemeingut.« Der Oheim besitzt und will besitzen. Er hat einen großen Gütercomplex in seine Hand gebracht, also anderen Besitzenden entzogen. Er dringt sogar darauf, daß der Mensch »jede Art von Besitz« festhalte, »er soll, sagt er, sich zum Mittelpunkt machen, von dem das Gemeingut ausgehen kann; er muß Egoist sein um nicht Egoist zu werden; zusammenhalten, damit er spenden könne.« Und so ist es durchaus die Consequenz solcher Gesinnung, wenn der Oheim mit irisch-engländischer Grausamkeit den herrnhutischen Pachter austreibt, zur Schadloshaltung dessen Kaution einbehält und ihn und seine Tochter dem Elende Preis gibt. »Denn auch dieses gehörte mit zu seiner Art und Weise, daß er gegen Schuldner nachsichtig war, so lange er bis auf einen gewissen Grad selbst nichts bedurfte.«

Karl Grün setzt sich daher mit seiner Behauptung, hier würden die Grundsätze so weit ausgedehnt, daß der Besitz nahe darin ist, sich aufzuheben, offenbar des Dichters Zwecke durchaus entgegen; denn Göthe hat im Oheim gerade den Kapitalisten geschildert, der mit egoistischer Strenge an seinem Familiengrundbesitze und allen daraus resultirenden Rechtsforderungen und Servituten festhält. Das Kapital wird als ein Unteilbares und Unanzutastendes behauptet, um die Tragkraft der Interessen nicht zu schwächen, aber indem diese Interessen dem socialen Zwecke der Gemeinnützlichkeit Preis gegeben werden, soll der Besitzende sich als den Verwalter des Kapitals betrachten, und somit die Ausschließlichkeit des Besitzes zur Gemeinschaftlichkeit der Nutznießung sich mildern.

Es ist hier also jede Kritik des Eigentums, jede Philosophie der materiellen Gleichheit ausgeschlossen. Der edle Oheim-Pedant zerbricht sich mit dergleichen Problemen den Kopf nicht, von Proudhon's Qu'est ce que la propeiété? (c'est le vol!) würde er jede Zeile mit dem Ausrufe lesen: Quel renversement des idées humaines! Voici le tocsin de 93! voici le branle-bas des révolutions! Und Proudhon wiederum würde den Oheim als ein abschreckendes Beispiel von socialer Beraubung und Ausbeutung der Massen durch Bodenentziehung, Kapital und Zins aufstellen. Würde sich der Oheim aber von seinem falschen Socialismus überzeugen lassen und eine neue Socialtheorie acceptiren, so ließe sich dreist das Prognostikon stellen, daß ihn Louis Blanc für sein System des industriellen Unitarismus gewinnen würde, wonach der Staat alles Besitztum in seine Hand zu bringen, alle Fabriken an sich zu kaufen und auf seine Kosten (Staatsfamilienkosten) die Nationalwerkstätten gemeinsam habe produciren zu lassen. Denn von solcher allgemeinen Staatsdomäne dürfte der kapitalistische Oheim nach den Principien seiner Familiendomäne nur wenige Schritte entfernt sein.

Er ist nun ein alter doctrinärer Philanthrop, ein Mann auf seine eigene Faust, der »im höheren Sinne wolthut« und den allerdings richtigen Grundsatz befolgt, daß die Lebensaufgabe der Societät, Gemeinthätigkeit und Mitteilsamkeit sei. Aber so socialistisch dieser Grundsatz ist, so trefflich das Epigraph: Besitz und Gemeingut! auch erscheint, so entbehrt die Verwirklichung desselben nach des Oheims Weise dennoch aller festen gesellschaftlichen Grundlagen. Es ist das nicht Resultat einer principiell aus sich herausgestalteten Gesellschaftlichkeit, sondern bleibt zufällige Ansicht, die eben nur Maxime, höchster Lebensgrundsatz eines Einzelnen ist. Wir stehen daher in der Familienwelt des Oheims, welcher ohne Zweifel das Princip der Majorate verfechten würde, vorerst noch auf dem Standpunkte der Unterordnung unter eine hierarchisch-patriarchalische Autokratie, auf dem Standpunkte eines wolmeinenden Aristokratismus, und dieser kann als mit der Einzelheit behaftet natürlich nicht anders denn egoistisch gelten, weil er vom Einzelnen, von sich, zum Allgemeinen fortgeht, nicht aber umgekehrt. Es ist deshalb noch ein weiterer Fortschritt zu machen, es ist der Standpunkt des Zufall's und der Maxime, des aristokratischen Familienmonopols im Gewande der Socialität zu überwinden durch die freie gesellschaftliche Association, welche aus der Gesammtkraft des Allgemeinen das Wol des Einzelnen producirt und die Maxime zum organischen Gesetze des demokratischen Ganzen erhebt. Von diesem Fortschritte wird erst die Vereinigung der Wandergenossen Zeugniß ablegen können.

Echt philanthropisch liberal heißt es bei dem Oheim auch nicht: Allen das Gleiche oder das Gemäße, sondern »Vielen das Erwünschte«, weil die Vielen eben immer wieder die Einzelnen sind, die Numerischen. Saint Simon's Formel lautet: »Jedem nach seiner Fähigkeit, jeder Fähigkeit nach ihren Werten!« – Pierre Leroux: »Jedem nach feinem wahren Bedürfnisse!« – Die Socialisten: »Jedem nach seiner Arbeit!« Ausgedehntes Schaffen und Wirken, mannigfache Naturproduction und Verbreitung derselben in bedürftige Gegenden ist deshalb das Augenmerk des väterlichen Oheims, und so hat er seine Pflanzungen von Fruchtbäumen, Heilkräutern, Gemüsen angelegt, während von Proletariat- und Luxus erzeugendem Fabrikbetriebe in dieser productiven Besitzung keine Spur sich zeigt. Doch Salz und Gewürze sind in Speichern vorrätig, für Taback und Brantwein läßt der Oheim andere sorgen. Das Gelüste wird hier verbannt, die Befriedigung der Triebe und Leidenschaften nur auf das Bedürfniß zurückgeführt; damit wird freilich nicht der potenzirte Genußmensch des Fourier berücksichtigt, den die Harmonie der Leidenschaften stark genug macht, ohne die Purganzen des Vitellius fünf kostbare Malzeiten täglich zu verschlingen, sondern es wird der einfache Mensch vorausgesetzt. Man glaube aber deshalb nicht, daß der wackere Oheim die Menschheit in das Faß des Diogenes sperren möchte. Er würde auch die Individualität Aristipp's gelten lassen, nur müßte dieser nicht verlangen, daß er die Bestimmung seiner Kapitalkräfte darein setze, für seinen Leib Seide zu spinnen und für seinen Gaumen Fasanen zu pflegen. Seine Malzeiten sind auch auf den Genuß berechnet, und weil der Speisegenuß die Befriedigung des Appetites ist, so darf niemand an den Tisch kommen, »der nicht Appetit mitbringt, jeder muß aufstehen, der sich gelabt hat, und nur so ist er gewiß immer von Genießenden umgeben zu sein.« Dies heißt denn deutlich genug: Die Quelle des Genußes ist das Bedürfniß, nicht aber wie bei den blasirten Lüstlingen der Ueberdruß oder der Genuß selber. Und dies sind denn auch die richtigen Motive, welche unseren liebenswürdigen Pedanten veranlaßt haben, den für ihn schrecklichen, langweiligen, erzwungenen Familientisch aufzuheben und das Essen nach der Wirtshauscharte als eine der trefflichsten Erfindungen des Jahrhunderts zu preisen, woraus sich denn Karl Grün wieder den Schluß gezogen hat, Göthe laße den Onkel den Familismus aufheben, wie nach seiner Meinung der ganze Roman das engherzige Familienwesen zerstören und im Namen der freien Persönlichkeit dawider protestiren soll.

Wenn nun die Befriedigung des nächsten Bedürfnißes auch zum nächsten Zwecke der gesellschaftlichen Thätigkeit gemacht wird, so will der Oheim den Menschen auch nicht allein darauf beschränkt wissen, sondern er hat ihm eine pädagogische Stufenleiter der Bildung aufgestellt; denn ein anderer Sinnspruch lautet: Vom Nützlichen durchs Wahre zum Schönen! Wie in Bezug auf den besitzenden Menschen jenes Wort: Besitz und Gemeingut! die ganze Summe der Grundsätze des Oheims ausdrückte, so soll dieses Motto auf den ganzen sittlichen Menschen bezogen werden. Das Fundament des menschlichen Wols ist das Nützliche. Mit der Befriedigung der materiellen Forderungen, mit dem erst äußerlichen Wolsein und Sichwolfühlen ist dem Menschen auch die Befähigung für die Erkenntniß des Guten und Sittlichen gegeben – und dies ist so sehr richtig, daß ein Blick auf das Elend und die daraus folgende Rohheit und Unbildung des Proletariats diese Ansicht glänzend rechtfertigen muß. Der Erkenntniß des Wahren, die erst durch die leibliche Sicherstellung möglich gemacht wird, der Einsicht in das Wesenhafte und Vernunftgemäße und das ist in das gesammte sittliche Verhältniß des Menschen zu sich selber und zu seiner Gattung, folgt dann schließlich das Schöne als die vollkommene Versöhnung von Begierde und Vernunft, von Materie und Geist, als die Selbstdarstellung des befriedigten Menschen im Reiche der Grazien. Weder Schillers Spruch:

Nur durch das Morgenthor des Schönen
Drangst du in der Erkenntniß Land.
An höhern Glanz sich zu gewöhnen,
Uebt sich am Reize der Verstand.

noch die platonische Theorie der Musik würde sich also im Besondern in dieser practischen Welt des Oheims anwenden lassen, wiewol Hersilie Recht hat, eine allgemeine Maxime auch in der Umkehrung gelten zu lassen, und den Weg vom Schönen durch das Wahre zum Nützlichen zu führen.

Des Oheims Besitzung ist seinen Zwecken gemäß auch anders eingerichtet als jene des Oheims der Lehrjahre, wo es nur darauf ankam, die heiterste Lebenskunst in vollendet schöner Häuslichkeit zu entwickeln. Wenn uns dort der wolige Hauch eines idealen Kunstsinnes entgegenwehte, werden wir hier zu Landcharten, Darstellungen von Städten, zu Portraits bedeutender Männer und einer Handschriftensammlung geführt, und es wird der Phantasie nicht gestattet, sich im Gebiete des Mythischen, Traditionellen und Poetischen zu ergötzen. Dagegen ordnet der Oheim hochzeitliche Feste und Feiertagsmusiken an, und unter derselben Linde sitzen die Aeltesten zu Rate, erbaut sich die Gemeinde und schwenkt sich die Jugend im Tanze.

So weit die Welt des Oheims, welche wir also als den Anfang einer neuen Gesellschaftsordnung, aber nur in der beschränkten Sphäre aristokratischer Familiarität, zu betrachten haben.

Wilhelm wird von dem Oheim zu Makarien geführt, jenem überirdischen Wesen, welches er als den Schutzgeist der Familie zu betrachten selber aufgefordert wurde. Die Schwärmerin der Lehrjahre leprodmirt sich in ihr wieder; aber wenn sich in der schönen Seele nur die Weihrauchkerzen ihres frommen Christusglaubens spiegelten, schwingt sie sich hier als Makarie auf Flügeln der Weltfrömmigkeit zu den Gestirnen empor und läßt den Makrokosmus in sich wiederscheinen. Als eine geisterhafte Ursibylle, welche rein göttliche Worte über die menschlichen Dinge ganz einfach ausspricht, hat sie der Dichter in die Harmonie der Sphären gestellt, und ihr den Astronomen gleichsam als den Hermeneuten beigegeben, daß er die Orakel dieser Isis-Pythia ausdeutend ins Archiv niederlege.

Die Dimensionen des makarischen Geistes sind aber so über alles menschliche Maß erweitert, daß man es fast aufgeben muß, dies visionär mystische Wesen auf den Verstandesbegriff zurückzubringen. Dennoch darf wenigstens der Versuch erlaubt sein, vom übermenschlich Begrifflosen zum menschlich Begreiflichen herabzusteigen und das Wesen Makarien's auf seine kleineren Maße herabzustimmen. Denn in ihrer höchsten Potenz ist Makarie die pantheistisch contemplative Menschenseele, welche dem Irdischen enthoben, den Abglanz aller intelligibeln Welt in sich schaut und in siderischen Bahnen sich bewegend das System der Planeten, die Urharmonie der Sphären, zu ihrem Maße hat; sodann ist sie das zur Priesterin des sittlichen Gleichgewichtes verklärte Weib, endlich der sittliche Familiengeist geoffenbart in der Matrone.

Im funfzehnten Kapitel des dritten Buches hat sich Göthe über das makarische Lichtwesen weiter ausgesprochen und für sein ätherisches Märchen Verzeihung beansprucht, die wir ihm gerne dadurch zu Teil werden lassen, daß wir uns den Kopf eben so wenig über dasselbe als über sein Märchen von der Schlange zerbrechen. Nur wer ein Interesse an neuplatonischer Mystik hat, der möchte auf Johannes Falk nachgelassenes Buch über Göthe zu verweisen sein, wo er in den Gartengesprächen an Wieland's Begräbnißtage über die Unsterblichkeit ihn sprechen läßt. »Jede Monade, sagt der Mystiker Göthe da, geht wo sie hingehört, ins Wasser, in die Luft, in die Erde, ins Feuer, in die Sterne; ja der geheime Zug, der sie dahin führt, enthält zugleich das Geheimniß ihrer zukünftigen Bestimmung.« Wenn nun Göthe Wieland nach dem Tode als Weltmonas, etwa einen Kometen ordnend und befestigend, sich denken mochte, so würde er Makarie nach ihrem Ableben ohne Zweifel als Planetenseele am Himmel wirksam hervortreten lassen. Und dies sagt vielleicht jene Stelle des funfzehnten Kapitels: »Dorthin (über die Jupiterbahn hinaus) folgt ihr keine Einbildungskraft, aber wir hoffen, daß eine solche Entelechie sich nicht ganz aus unserm Sonnensystem entfernen, sondern wieder zurücksehnen werde, um zu Gunsten unserer Urenkel in das irdische Leben und Wolthun wieder einzuwirken.« – Göthe, dessen eigenes Wesen in dem tiefsten Bezuge zur Natur stand, liebte es, die Psyche des Menschen in irgend einem geheimen Verhältniße zu ihrem Magnetismus darzustellen. Dies that er zuerst in den Wahlverwandschaften, wo die Ananke der Seelen noch durch die Mitleidenschaft des Kosmischen grausig verstärkt wird. In den Wanderjahren ging er darin noch weiter über die Grenze aller Darstellung hinaus. Er suchte erst das harmonische Verhältniß der Individualität zu sich selber, zu seiner geschlechtlichen Differenz, zur Familie, zur Gesellschaft, zur Welt, und reißt uns endlich auf einmal in das ungemessene Universum hinüber, als in die äußerst denkbare Peripherie, wohin die intelligible Menschenseele schwingen könne. Da hört denn das Darstellbare auf, die visionären Träume treten ein, welche nur Wagner's Homunkulus auslegen mag, und es ist schon viel, wenn wir in Makarien noch eine faßliche Allegorie behalten können.

Endlich ist in Makarien's excentrischem Wesen die Verklärung des Idealismus, die Phantasie, die sich zum Ewigen erweitert, das eigentlich Dichtende der anschauenden Menschennatur, wie sie zu den ewigen Urbildern aufstrebend die Welt mit dem Pneuma der Liebe zu durchwehen strebt, allegorisch ausgedrückt, und Jarno, der erdisch-centrische Geist, als Repräsentant der endlichen materialen Welt Makarien absichtlich entgegengesetzt, wovon man sich aus Kapitel XIV überzeugen wird. Denn wie Makarie aufwärts zu den Gestirnen schwebt, vom Erdischen losgebunden, steigt Jarno mit dem Bergmannseisen in das Geklüft der Mutter Erde hinab; wie ihr der Astrolog zur Seite gegeben ist, hat Jarno zuletzt eine geheimnißvolle rhabdomantische Person zum Begleiter, in welcher man mit Recht wol den verschollenen Knaben Fitz wiederfinden dürfte.

Wir haben also in Makarien und Jarno jenen die Göthewelt immer durchziehenden Gegensatz von Idealität und Materialität als den Weltgegensatz überhaupt mystisch veranschaulicht. Denn »diese beiden Welten gegen einander zu bewegen, ihre beiderseitigen Eigenschaften in der vorübergehenden Lebenserscheinung zu manifestiren, das ist die höchste Gewalt, wozu sich der Mensch auszubilden hat.«

»Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust!«

so klagt Faust, der reinste Typus dieser in der Menschennatur vereinigten Gegensätze; und was die Mater gloriosa dort, scheint Makarie in den Wanderjahren auszurufen:

»Komm! hebe dich zu höhern Sphären!«

und

Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan.

Das Ewig-Weibliche, der himmelerfüllte Idealismus der Gottnatur im Menschen, aus dem die Sphärenmusik des versöhnten und festverbundenen Weltwesens hervorquillt, ist in Makarien als der Priesterin wirksam. Diese geringere Potenz ihres Wesens wird auch dem phantasielosen Verstande begreiflich sein. Göthe hat in Makarien das Weib auf den Gipfel des Menschentums gestellt, indem er es zur Priesterin erklärt, welche den Himmel auf Erden verwalten und im Reiche des Sittlichen als die ordnende, schlichtende und versöhnende Macht herrschen soll, deren heiliges Fundament wiederum die Familie ist. Dasselbe thun auch die Socialisten, schon Saint Simon, welcher mit seinem dunkeln Ausspruche: »Die Weiber werden auch ernannt werden können« die Emancipation des Weibes zuerst proklamirte. Es haben das zu allen Zeiten alle empfindenden und denkenden Völker gethan, wie der Katholicismus im Mariencultus die Emancipation des Weibes idealisch realisirt hat.

So tritt Makarie von dem Dreifuß der delphischen Pythia, da sie den Bahnen Apoll's nachschwärmte, als Vestalin vor den Altar, hütet die heilige Flamme der Sittlichkeit, und als Familienschutzgeist den Heerd der Häuslichkeit zugleich. In dieser Eigenschaft ist sie der schönen und zugleich realen Menschlichkeit wiedergegeben, sie sühnt und reinigt, stellt das Gleichgewicht der ethischen Verhältnisse, wo es gestört worden, wieder her, sie ist eine andere Iphigenie. Die Sünderinnen Lucie und Philine werfen sich der Heiligen zu Füßen, um ihren Segen und mit ihm den Frieden zu empfangen. »Lucie richtete sich auf, erst auf ihre Kniee, dann auf die Füße und schaute zu ihrer Wohlthäterin mit reiner Heiterkeit. Wie geschieht mir! sagte sie, wie ist mir! Der schwere lästige Druck, der mir, wo nicht alle Besinnung doch alles Ueberlegen raubte, er ist auf einmal von meinem Haupte aufgehoben, ich kann nun frei in die Höhe sehen, meine Gedanken in die Höhe richten und, setzte sie nach tiefem Athemholen hinzu, ich glaube mein Herz will nach.«

Diese tiefsinnige Scene hat Göthe gedichtet in jenem sokratischen Selbstbewußtsein von dem Siege der Idee, die sich nicht beirren lassen darf, und wenn auch eine Flut des Gelächters über sie ausgegossen werden sollte. Das hohepriesterliche Amt der Sündenvergebung, der Schuldtilgung und Heilung kranker und verirrter Seelen hat der Dichter des Gemütes dem sittlich vollendeten Weibe aufs Neue zugesprochen und jener stillen, rätselhaften Macht gehuldigt, welche aus der reingestimmten, liebeausströmenden Weibesnatur den Schmerz und die Reue mit Wollaut anrührt, wenn er ihrer Sphäre naht. Es ist dieselbe hohepriesterliche Heilkraft, welche George Sand mit so tiefer Wahrheit von der musisch schönen Seele der Consuelo ausgehen läßt. Dies ist denn Göthe's Apotheose des Weibes, mit welcher die Wanderjahre, ethisch genommen, gerade so schließen, wie der zweite Teil des Faust, nur daß hier allegorisch ein Ausfluß der Marienhimmel ist, was dort auf das sittliche Leben selbst übertragen wird.

Philine und Lucie, die leichtfertigen Phrynen, die vom Vergänglich-Weiblichen des Sinnengenußes so tief herabgezogen waren, sinken vor der hohen Erscheinung des reinen Weibes nieder, und indem sie Gnade vor ihrer allvergebenden Liebe finden und die Absolution empfangen, welche nicht die That einer traditionellen Priesterweihe, sondern die That des liebenden Menschenherzens überhaupt ist, treten sie, von der Anschauung des Ewig-Weiblichen erhoben, gereinigt in das Leben wieder ein.

Indem sich hier das System der Familie schließt, blicken wir noch einmal darauf zurück und erkennen, daß der Dichter die Familie aus keinem anderen Zwecke mit dem Nimbus der Heiligkeit umkleidete und den Geist des Glaubens und der Religion über sie ausgoß, als um sie als das unzerstörbare und göttliche Fundament darzustellen, auf welchem die Gesellschaft aufzuerbauen sei. Das Familientum ist allerdings durch die allgemeinen Interessen, welche den Bürger, wie es im republikanischen Altertum bei den Griechen und Römern der Fall war, mehr und mehr auf das Forum treiben, aufgelockert und in seinen Festen erschüttert worden. Die ungeheure Flut von unsinnlichen Ideen, von abstracten Principien, seien sie socialer oder politischer Natur, welche auch in die stillsten Stätten der Häuslichkeit hineingedrungen ist, das gewaltige Bedürfniß der freien Bewegung des Individuums im Elemente des Allgemeinen, hat die Familie selbst dem öffentlichen Leben zugänglich gemacht, und wie in der Gegenwart, mit der Schwankung ihrer materiellen Grundlagen oftmals auch ihre sittlichen zugleich angegriffen und sie der Anarchie und dem Parteizwiste zur Beute gegeben. Aber diese Erschütterung ist, wie sie auf der einen Seite nur als die gefahrvolle Crisis der Gesellschaft überhaupt angesehen werden darf, von höchst wolthätigen Folgen gewesen, weil sie das Pfahlbürgertum zusammengestürzt hat, in dessen düstrer Abgeschlossenheit der bürgerliche Mensch nur ein Muschelthier war, aus der engen Schale kaum einmal seine Fühlhörner in das Leben hineinstreckend, es sei denn, daß er nach den nächsten materiellen Zwecken des Hauswesens tastete. Ist diese Schranke des Familienegoismus und der hausphilisterlichen Verknöcherung an dem Drange zum öffentlichen Leben glücklich zersprungen, darf und soll sich der Bürger vor den höheren Forderungen der Staatsgesellschaft nicht mehr hinter die enge Familienthüre verrammeln, welche ihm den Eintritt in die großen Weltverhältniße verschließt, so soll eine solche Emancipation von der Familie nur die Emancipation der Familie selbst zum freien Gesellschaftsleben sein. Denn auch die Familie soll sich demokratisiren, indem sie den letzten Rest jenes römischen Despotismus austilgt, den der Hausvater über die Genossen ausübte, und indem sie die Beziehungen des blinden, dienenden Gehorsams in die der Achtung und Liebe umwandelt, die Individualität aber freigibt. Diese Reform der Familie ist wesentlich schon durch den demokratischen Begriff derselben bedingt, weil sich die Familienglieder zu einander als durchaus gleichberechtigte und gleichbeanteilte verhalten. Die wahre Familie ist der Keim des wahren demokratischen Staates.

Die Familie soll ferner des vernunftlosen Egoismus, womit sie alle sonstigen Lebenszwecke absorbirte, wie eines forterbenden aristokratischen Privilegiums, diese bevorzugte Familie zu sein, entkleidet, überhaupt auf die Basis der social-demokratischen Gleichheit und Gleichgeltung gestellt sein. Proudhon sagt daher sehr wahr: »Wir wollen die Familie, aber wir wollen sie für Alle. Wer hat unter uns Männern des Volks je die Familie angegriffen? Wer weiß nicht, daß der Mann der Arbeit auch und vorzüglich der Mann der Liebe ist?« (was Göthe durch Sanct Joseph nicht schöner und trefflicher bewahrheiten konnte). »Unsere Augen haben nach den Feinden der Familie gesucht, und wir haben gefunden, daß diese Feinde der Familie gerade die unsrigen waren« (nämlich die Kapitalisten, die Börsenspeculanten, die Privilegirten). Proudhon's Manifest. Einleitung zu der von Proudhon redigirten Zeitschrift Le Peuple.

Wie kann auch die Familie anders als eine allgemeine Bestimmung für den Menschen überhaupt sein, da es ebensowol die Ehe ist, die sich in jener erst unendlich verwirklicht? Sie gehört daher zu jenen allgemeinen Rechten, welche aus der menschlichen Wesenheit fließen, und woran jeder gleicher Weise Teil haben muß. Die Gesellschaft, welche dieses Recht verkümmert oder illusorisch macht, greift deshalb ihre eigenen Wurzeln an, weil sie Menschen producirt, welche ihrer natürlichen Bestimmung entfremdet, sich isoliren, nicht innerhalb, sondern außerhalb der Societät stehen, und also vereinzelt und wurzellos den Krieg gegen die Gesellschaft, gegen die Familie und gegen das Eigentum notwendig beginnen müssen. Denn die Familie allein knüpft den Einzelnen mit den festesten Banden an die Interessen der Gesellschaft und des Staates, was schon die römischen Kaiser sehr wol erkannten, da sie Gesetze gegen das Cölibat erließen. Die Familie ist es erst, welche den in das Schrankenlose strebenden Sinn des Mannes wolthätig beschränkt und mäßigt, und ihn an einer fruchtbaren Stelle, die er sein nennen kann, wurzeln läßt, wie der Baum wenn seine Krone sich im freien Reiche der Lüfte wiegt, dennoch an einem Fleckchen Erde haften muß. Die Familie ist es aber auch, die dem Menschen die schönsten Triebe und die mildesten Lebenssäfte zuführt, und ihm erst die Energie für die öffentlichen Weltzwecke gibt, indem sie der Gefahr, welche alles abstracte Denken und allgemeine Thun oder wieder nur das egoistische Einzelinteresse mit sich bringen muß, dort das Element der concreten Natur und Sinnlichkeit, und hier die Aufopferung entgegensetzt, und dadurch erst den Geist der Liebe und Humanität über die Gesellschaft verbreitet, ohne welchen sie in die Barbarei der rohesten Selbstsucht versinken würde.

Wenn also Proudhon, der geniale und furchtlose Denker unter den neueren französischen Socialisten, aus dem Principe der absoluten Gleichberechtigung Aller zum höchsten Erdenglücke die Familie als ein heiliges Recht Aller erst für die Menschheit zurückerobert wissen will und sie gegen den unvernünftigen Kommunismus aufrecht erhält, so begegnet er hier dem politischen Doctrinarismus, welcher die Heiligkeit der Familie aus weit entgegengesetztem Principe der Legalität und Stabilität auch neuerdings eifrig zu verteidigen angefangen hat.

Guizot hat in seiner Schrift Ueber die Demokratie in Frankreich (Januar 1849) ganz trefflich gerade die Familie als die Grundbedingung des socialen Friedens hervorgehoben. Er sagt: »Die Familie ist jetzt mehr als jemals das erste Element, die letzte Schutzmauer der Gesellschaft. Während in der allgemeinen Gesellschaft alles immer mehr und mehr beweglich, persönlich wird, bleiben in der Familie das Bedürfniß der Dauer und der Instinct, die Gegenwart der Zukunft zu opfern, unzerstörbar. Dahin ziehen sich wie in ein schützendes Asyl, Ideen und Tugenden zurück und erhalten sich da, die das Gegengewicht der außerordentlichen, schlechtgeordneten Bewegung bilden, die in den großen Heerden der Civilisation großer Staaten unvermeidlich entstehen. Unsere großen Städte, ihre stürmischen Geschäfte und Vergnügungen, die Lockungen und Unruhen, die sie immerwährend verbreiten, würden sehr bald die ganze Gesellschaft in einen Zustand der beklagenswertesten Gährung und Zerrissenheit stürzen, wenn nicht das häusliche Leben in den Provinzen verbreitet, durch seine ruhige Tätigkeit, seine permanenten Interessen, seine unveränderlichen Bande, dieser Gefahr solide Grenzen setzte. Im innern häuslichen Leben und durch seinen Einfluß erhält sich die häusliche Sittlichkeit, welche die Grundlage der öffentlichen Sittlichkeit ist.« – – »Je mehr der Familiengeist und der Geist der Politik auf Unkosten des Egoismus und des Geistes der Revolution zunehmen, desto mehr wird die (französische) Gesellschaft sich beruhigt und auf ihren Grundlagen befestigt fühlen.« Den politischen Geist nennt Guizot den Willen und das Vermögen an den Geschäften der Gesellschaft Teil zu nehmen und ohne Anwendung von Gewalt dabei eine Rolle zu spielen. Es wäre also das Gegenteil von ihm jene Apragmosyne, der politische Müßiggang, wie ihn die Athener von Staats wegen bestraften. Diesen politischen Geist nun verbunden mit dem Familiengeiste und dem Geiste der Religion stellt Guizot als die notwendigen Stützen der Gesellschaft dar.

Ist es gleich nur eine schöne Phrase, diese heilige Drei von Agathodämonen zu beschwören, wenn die alleinige Garantie des socialen Friedens, die Tilgung des Proletariats, nicht erreicht ist, so erkennt man doch, daß die Socialisten (von denen nur der Wahnsinn behaupten kann, sie wollten Eigentum und Familie aufheben) unter dieser Voraussetzung die Theorie Guizot's sich wol werden gefallen lassen. Denn nicht die Revolution will der Socialismus, sondern den socialen Frieden.

Gehen wir nun von dem Systeme der Familie zu der folgenden Ordnung der Wanderjahre über, nachdem wir gesehen haben, mit welcher bewundernswürdigen logischen Consequenz der Dichter erst in Sanct Joseph die Idee der Familie an sich, dann in der Welt des Oheims und Makarien's eine sich nach innen freier gestaltende und nach außen sich socialisirende Familie aufgestellt hat, über welche hinaus wir dann zu der socialen Association emporsteigen.

Denn nunmehr ist dem Begriffe der allgemeinen Gesellschaft gegenüber die Familienschranke aufzuheben, was zunächst durch die Erziehung, welche das Subject des Familienindividuums emancipirt und der Gesellschaft zuführt, geschehen muß.


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