Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

V. Die Emancipation des Subjects.

Nun hat Wilhelm von den Winken, welche die Bekenntnisse der schönen Seele, insofern sie das allgemein Menschliche angehen, auch für ihn enthielten, genug participirt, um eine nachhaltige Einwirkung zu erleiden; welche durch das Schicksal Aurelien's doppelt verstärkt wird. Gesammelter tritt er nun in das Haus Lothario's, die geheime Stätte der pädagogischen Loge, eine fast predigerhafte Mission im Namen der Moral auszuüben, deren Gesetze er am wenigsten bisher geachtet hat. Aber Lothario imponirt ihm beim ersten Auftreten so sehr, daß ihm seine Waffe alsogleich aus den Händen sinkt; und auch an uns wird die stillschweigende Forderung gemacht, daß er uns imponire, weil seine Persönlichkeit selten und im höchsten Grade edel sei. Daß sie dies sei lernen wir keineswegs aus objectiver Anschauung, vielmehr sträubt sich unsere Wahrnehmung gegen eine Voraussetzung, die wir dem Dichter blindlings zugeben sollen.

Indem Wilhelm in die Gesellschaft jener auf das Praktische und Bestimmte gerichteten Männer tritt, deren einzige Aufgabe fortan die ist, thätig zu wirken, nähert er sich der letzten Stufe seiner Lehrlingschaft. Die Zwecke des Lebens erfordern hier nicht mehr den Jüngling, sondern den besonnenen Mann, welcher zur Meisterschaft heranreift. Hier ist daher der Ort, wo Wilhelm sich vollends concentriren lernt, und von wo aus es ihm nicht mehr schwer fallen darf, die Bande zu zerschneiden, welche ihn an das Theater geknüpft haben. Erfahrung und Einsicht in das geistlose egoistische Treiben der Menschen, denen die Kunst am Ende doch zum banausischen Handwerke herabsinkt, kommt ihm zu Hilfe. Er entsagt dem Theater, und es bleibt endlich noch übrig, daß die dämonischen Gestalten, die Begleiter seiner Pilgerschaft durch den Wahn, daß Mignon und der Harfner sich von ihm ablösen. Nachdem dies schon möglich geworden, nachdem Wilhelm nach so vielen Vermittlungen wieder auf sich selbst gewiesen ist und einer mit Bewußtsein zu wählenden Zukunft, von welcher die dunkeln Mächte des Schicksals und des Irrtums sollen verbannt bleiben, frei gegenübersteht, erfolgt denn seine Lossprechung.

Ihr theatralischer Act selbst ist nur ein Symbol und nichts weiter. Der Kampf um die naturgemäße Bildung hat dem idealistischen Wilhelm durch die herbe Frucht der Erkenntniß zur Freiheit und zum Gefühle seines eigensten Selbst verholfen, und der milde Genius der Natur übernimmt es, ihn zu lösen, indem er ihn bindet, ihm den heiligen Ernst einer freien sittlichen Pflicht auferlegt, dem Vater den Sohn zuführt. Denn nun ist er in ein Band geflochten, welches ihn mit der Gesellschaft und dem kommenden Geschlechte aufs innigste verkettet und ihn auffordert, für beide und auf beide zu wirken, nachdem auf ihn gewirkt worden, und ihre Entwickelung zu fördern, nachdem er die seine erworben hat. »In diesem Sinne waren seine Lehrjahre geendigt und mit dem Gefühl des Vaters hatte er auch alle Tugenden eines Bürgers erworben.« Daß es hier die Natur ist, welche Wilhelm losspricht, darin empfangen wir am Ende der Lehrjahre ein großes Dokument des Götheschen Humanismus, mit welchem seine Theorie vom Menschen glorreich sich bewahrheiten soll; denn nicht anders, als im Faust, der sich an den schwellenden Busen der Natur stürzt, um von der Schwindsucht der Speculation zu genesen, dürfte Göthe den skeptischen Zweifler an der ursprünglichen Gottesnatur des Menschen mit jenem Worte des Herrn entwaffnen:

Und steh' beschämt, wenn du bekennen mußt:
Ein guter Mensch in seinem dunkeln Drange
Ist sich des rechten Weges wohl bewußt.

Die dem Innersten des Menschen eingeborne Genialität, die ihn zu einem besonderen Wesen macht, ist der Psychopompos, welcher die cimmerisch schattenhaften Theoreme der abstracten Moral, die entnaturenden Imperative der pedantischen Zucht siegreich überwindet und den abhandengekommenen Menschen der Natur zurückerobert. »O! der unnöthigen Strenge der Moral! läßt der Dichter Wilhelm ausrufen, da die Natur uns auf ihre liebliche Weise zu allem bildet, was wir sein sollten. O, der seltsamen Anforderungen der bürgerlichen Gesellschaft, die uns erst verwirrt und mißleitet, und dann mehr als die Natur selbst von uns fordert! Wehe jeder Art von Bildung, welche die wirksamsten Mittel wahrer Bildung zerstört, und uns auf das Ende hinweist, anstatt uns auf dem Wege selbst zu beglücken!« Dies will sagen: Wehe dem Menschen, dessen Bildung nicht reine ästhetische Entfaltung seiner eignen Natur ist, der nicht sein eignes Ideal, sondern ein fremdes, aufgezwungenes, krankhaft an sich verwirklicht, wehe dem Verbildeten! Aber Göthe sagt auch, daß es Wenige gibt, die den Sinn haben und zugleich der That fähig sind, Wenige, die in der Bildung mehr suchen, als so ein Hausmittel zum Wolbefinden, Recepte zum Reichtum und zu jeder Art von Glückseligkeit. Von diesen freilich ist nicht die Rede, um Halb- oder Scheinmenschen ist es ihm nicht zu thun, sondern um ganze und wahre Menschen, nicht um Leute, die durch die Schablone gemalt sind, sondern um die plastischen Gestalten, wie sie Pythagoras und Platon gewollt haben.

Die wahrhafte Pädagogik besteht eigentlich nur in der richtigen Erkenntniß der individuellen Natur und der Fähigkeit das Positive, das darin liegt, zu entwickeln. »Es irrt der Mensch so lang' er strebt,« es soll aber der gesunden Natur auch fortgeholfen, sie soll über den Irrtum so viel es geht hinübergebracht werden. Wie das geschehen könne, ohne die Natur durch die Tyrannei abstracter Gesetze zu ertödten, wird in den Wanderjahren dargethan. Die Lehrjahre selbst schließen erst mit der Rettung der freien, naturgemäß entwickelten Individualität, und nachdem Wilhelm, der kein vordenkender Prometheus ist, die Höhe betreten hat, von welcher er die Irrgänge seiner Autodidaxie überschaut, steht er als der nachbetrachtende Epimetheus da, den Sieg der Menschennatur verkündend.

Ehe er aber diese Höhe betreten hat, war er noch einmal dem Irrtum anheimgefallen; es war dies indeß ein Irrtum, welcher zugleich beweist, daß er sich wirklich zum Reellen beschränkt habe, daß es ihm mit den bürgerlichen Lebenszwecken nun ein heiliger Ernst sei. Er sucht die Ehe, seinem geläuterten Wesen nunmehr die sittliche Vollendung zu geben und durch die Familie einen festen Grund innerhalb der Gesellschaft zu gewinnen. Der Realismus, die praktische Thätigkeit, deren Bedeutung ihm nun erst aufgegangen ist, verblendet seine Urteilskraft so sehr, daß er, zum Extremen einmal geneigt, seine idealere Natur zum zweiten Mal verläugnet und in der materialistischen Therese das ihm bestimmte Weib gefunden zu haben glaubt.

Die Gestalt Theresen's ist, philosophisch betrachtet, eine Forderung, welche die Bekenntnisse der schönen Seele machen. Wenn die schöne Seele als die Repräsentantin des im Sittlichen und Heiligen verklärten Gemütes an der genußsüchtigen, losen Philine ihren directen Gegensatz hat, so muß ferner das Weib gesucht werden, welches mit dem inneren sittlichen Maße auch die thätige Beziehung auf die Wirklichkeit verbindet, welches die Blume des Idealischen mit der reifen Frucht der Realität, das ätherisch Zarte mit der sinnlichen Kraft vereint. Ein solches Weib, das in allseitiger Bildung die schöne Menschlichkeit liebend aus sich spiegelt, wird der Individualität Wilhelm's allein angemessen sein. Therese aber ist in ihrem kühlen Weltverstande, ihrer klaren Genugsamkeit, ihrer sicheren Consequenz und schaffnerischen Thätigkeit nur die einseitige Ergänzung der schönen Seele, nur ein Zwischenglied zwischen ihr und Natalien. Denn erst in Natalie, deren Triebe und Vernunft von Natur harmoniren, und die das Maß holdseliger Weiblichkeit naiv unschuldsvoll in sich trägt, erscheint die schöne Seele als Grazie wieder und als ein vollkommnes, reizendes Frauenbild der Natur und ihrer Bestimmung zurückgegeben. Wilhelm und Natalie entsprechen sich durchaus; beide sind reinästhetische Charaktere, beide schöne Persönlichkeiten. Aber was der Mann erst durch schmerzlichen Kampf mit der hartnäckigen Welt geworden, ist das echte Weib unmittelbar durch das göttliche Gleichmaß ihrer Natur. In Natalien schauen wir deshalb ein Ideal, welches sich Göthe nach seinem eignen Ausspruche nicht anders als in weiblicher Erscheinung vorstellen konnte. Natalie ist für Wilhelm ein fleckenloser Spiegel der vollendeten menschlichen Bildung, worin er sein eignes Wesen und was er dem Irrtum mühsam abgerungen, in heilerer Naivetät, unbewußt, blumenhaft entwickelt und unendlich idealisirt anzuschauen vermag. Diese ätherhafte Färbung des idealisch Weiblichen in Natalien verschwimmt indeß auf Kosten des concreten Lebens leider nur zu sehr in's Bläßliche und Blutlose. Bei der Figur Ottilien's in den Wahlverwandschaften wirkt eine ähnliche Schattenhaftigkeit durch die dämonische Verzehrung der von der Naturgewalt ergriffenen Individualität in sich selbst überraschend groß und gewaltig magisch, Natalien's Wesen aber erscheint um des allgemeinen Ideals Willen, wovon es durchleuchtet ist, beinahe schon abstract oder allegorisch. Die weibliche Naivetät Gretchen's im Faust gibt sich im Gegensatze zu Natalien als die Jungfräulichkeit in so reizender Bestimmtheit und knapper Originalität kund, während sie in der Gestalt Natalien's zur Idee der unmittelbaren harmonischen Weiblichkeit verallgemeinert ist, daher nicht sinnlich wirkt.

Indem nun Wilhelm und Natalie ein Verlöbnis, schließen, soll ihre Ehe, die natürlich erst hinter den Wanderjahren realisirt werden kann, auch ein Ideal werden; denn offenbar liegt das in der Absicht des Dichters, der am Schlusse der Lehrjahre den Begriff einer wahrhaft menschlichen Ehe aufzustellen schon durch den Gang des Romans gezwungen wurde. Hier erleiden wir aber am Ideale der Ehe, wie es sowol in der Poesie des Herzens als in der Vernunft seine unnehmbare Berechtigung hat, eine schmerzliche Einbuße, die der Dichter uns nicht ersparen konnte. Denn das höchste Ideal der Ehe wird nur in dem ungeteilten Wechselbesitze von Mann und Weib erreicht, in einem Besitze, der also anfangslos ist, daß das ganze Wesen des Individuums mit seiner Geschichte dareingeschlossen ist. Wilhelm aber, der so viel geliebt hat, hat Natalie um die Erstlingsopfer der Jugendliebe betrogen und bringt ihr ein Herz entgegen, dessen Geschichte sie mit Schmerzen nachleben muß. Wenn nun ferner die Ehe eine solche sittliche Einheit zweier Wesen ist, daß sie sich sinnlich auch in der aus ihrem Schoße ausgebornen Familie organisch als Einheit verwirklichen muß, so wird auch hier das Ideal der Ehe nicht erreicht, weil Wilhelm Marianen's Sohn Felix, die Frucht seiner Jünglingsliebe und die schöne Verkörperung seiner Irrtümer, der Ehe mit Natalien zuführt, in welche dadurch sofort und für die Dauer das kalte, befremdende, weil naturlose Stiefverhältniß hineingebracht wird. Die Ehe Wilhelms und Nataliens wird daher allein ideal durch die Stimmung ihrer Wesen, sonst haftet auch ihr wie allen anderen ehelichen Verhältnissen der ganzen Dichtung jene Poesielosigkeit an, welche aus den praktischen Problemen der Lehrjahre und Wanderjahre notwendig mit heraufbeschworen werden mußte. Tragen hier also alle Gestaltungen der Ehe das Loos der Resignation und Entsagung, so wird jene gesuchte ideale Welt der socialen Glückseligkeit, welche hinter die Wanderjahre versetzt ist, also auch ein ungetrübtes Ideal der Ehe aufweisen müssen, und des Poeten tiefer Vorausgedanke wird uns ein solches ahnen lassen. Da ist es denn derselbe Felix, den das Waisentum seines ehelosen Ursprungs mit einem nur dem feineren Sinne wahrnehmbaren Hauche von Wehmut angerührt hat, in dessen jugendlicher Liebe zu Hersilien, die noch nicht geliebt hat, der weise Dichter das einst verwirklichte Ideal eines ungeteilten ehelichen Besitzes uns zu ahnen gibt; wobei er zugleich die Wahrheit ausspricht, daß das Wesen einer vollendeten Ehe von der Differenz des Alters nicht könne berührt werden.

Trotz alle dem nun ist die Verbindung Wilhelm's und Natalien's durch die seelentiefe Einheit ihrer Naturen wie durch ihre ursprüngliche Sympathie im Verhältnisse zu den anderen Verbindungen idealisch. Und hier ist wieder Göthe's große Schöpferkraft zu bewundern, daß er um jene beiden ästhetischen Gestalten, welche in ihrer allgemeinen Menschlichkeit den idealen Typus der Einheit von Mann und Weib abgeben sollen, andere geschlechtliche Verhältnisse reiht, die jenem teils zur Folie dienen, teils darauf hinweisen wie die Magnetnadeln auf ihren Pol. Denn sie sind nicht mehr typisch, sondern besondert es kommt in ihnen nicht mehr das rein Menschliche, sondern das specifisch Menschliche zur Darstellung.

Diese ehelichen Verhältnisse treten in drei Paaren hervor, in Lothario und Theresen, in Philinen und Friedrich, in Jarno und Lydia. Die Ehe Philinen's und Friedrich's dieser nicht über eine leichtsinnige Juvenilität hinauskommenden Naturen, ist eigentlich nur eine fortgesetzte Liebschaft. Die Reflexionsehe Lothario's und Theresen's ruht auf der beiderseitigen Verwandtschaft praktischer Talente und verständiger Lebensthätigkeit. Das Weib wird hier neben dem Manne die mithelfende Gefährtin, die ordnende und zusammenhaltende Hausfrau. Jarno's und Lydia's Ehe endlich ist wie ein Vertrag anzusehen, welchen der affectlose Verstand in kalter Herzlosigkeit mit der flackernden Leidenschaft geschlossen hat, indem er als Ersatz für die eigene Liebesunfähigkeit die Aufhebung der ehelichen Schranke gestattet. Dieser egoistisch berechnete Gesellungsvertrag ist ohne sittlichen Inhalt, weil er nicht allein das Herz ausschließt, sondern gegen das Wesen der Ehe, die unauflösliche Einheit, von vorn herein mit Bewußtsein frevelt, er ist deshalb gottlos und frivol, wenn er als Ehe gelten will, oder er ist überhaupt keine Ehe.

Allen Verhältnissen fehlt die innere Poesie, die Magie der Liebe und die Glut der seligen Ineinsempfindung. Alle haben sie darauf Verzicht gethan und ihre Verbindungen sind schwergewonnene Resultate aus wechselseitig aufgelösten Verknüpfungen und makarischen Versöhnungen. Philine zumal ist eine durch ihr Naturell emancipirte Phryne, welche schon viele in ihren Armen beglückt hat, Therese wirft sich von der Brust Wilhelm's, den sie erst nicht aus Liebe, sondern aus dem realistischen Tik ihrer Consequenz nicht aufgeben will, schnell genug wieder an das Herz Lothario's. Jarno verschmäht es nicht, der verzweifelnden Lydia, deren Lothario überdrüßig geworden ist, seine Hand anzutragen. »Ich habe es gewagt, versetzte Jarno (zu Natalie), sie wird unter einer gewissen Bedingung mein. Und, glauben Sie mir, es ist in der Welt nichts schätzbarer, als ein Herz, das der Liebe und der Leidenschaft fähig ist. Ob es geliebt habe, ob es noch liebe, darauf kommt es nicht an. Die Liebe, mit der ein anderer geliebt wird, ist mir beinahe reizender als die, mit der ich geliebt werden könnte; ich sehe die Kraft, die Gewalt eines schönen Herzens, ohne daß die Eigenliebe mir den reinen Anblick trübt.« Der timonische Jarno, der hier wie ein Professor der Pathologie redet, streckt aus diesem Mantel des Spinozismus die Ohren des misanthropischen Aesop lang genug heraus – es ist nur die verkappte Herzensunfähigkeit des egoistischen Philisters, der sich mit der feigen Furcht abquält, sein verzärteltes Ich in Affect zu bringen.

Der Dichter läßt Jarno nur durch die still und prunklos ausgesprochene Liebegewißheit des echt weiblichen Herzens entwaffnen. Natalie schüttelte den Kopf und sagte, indem sie aufstand: »ich weiß gar nicht mehr, was ich aus Euch machen soll, aber mich sollt Ihr gewiß nicht irre machen.« Die Poesie ihrer sittlich reinen und hohen Natur triumfirt durch ihre bloße Existenz, das Mysterium der Liebe ist in ihr allein wie in einem Allerheiligsten bewahrt und vor der Profanation des frostigen Verstandes gerettet.

Aber auch die Andersgearteten haben ihr Recht, ihre Orgien und ihren Heidencultus zu feiern, nur müssen sie auf das schöne Menschentum verzichten. Selbst Barbara, die Kupplerin, darf Wilhelm's moralisirende Entrüstung beschämen, indem sie der privilegirten Unsittlichkeit der vornehmem Gesellschaft die Lügenmaske abreißt und die verzweifelte Prostitution des Proletariats mit herzzerschneidenden Worten verteidigt. »Wenn Ihr schimpfen wollt, so geht in Eure großen vornehmen Häuser, da werdet Ihr Mütter finden, die recht ängstlich besorgt sind, wie sie für ein liebenswürdiges, himmlisches Mädchen den allerabscheulichsten Menschen auffinden wollen, wenn er nur zugleich der reichste ist. Seht das arme Geschöpf vor seinem Schicksale zittern und beben, und nirgend Trost finden, als bis ihr irgend eine erfahrene Freundin begreiflich macht, daß sie durch den Ehestand das Recht erwerbe, über ihr Herz und ihre Person nach Gefallen disponiren zu können.« Dieselbe anständige Societät, welche die Prostitution der Ehe also legalisirt, wird freilich über Melina's Weib, das ihren Eltern entlaufen ist und sich dem Geliebten aus Liebe preisgegeben hat, noch mehr Ach! und Weh! schreien, als es schon die guten Bürger thun.

Wie sehr Göthe übrigens hier der George Sand das Wort redet, ist unnötig zu beweisen. Was die Intentionen jener Stelle betrifft, so hat sie Varnhagen von Ense in seiner Abhandlung: Im Sinne der Wanderer, zuerst treffend anerkannt. Hier wie überall stellt Göthe die freie Neigung als das wahrhafte Sittengesetz der Liebe auf, und indem er das Recht der reinen und unverdorbenen Natur gegen die Moral der Spießbürger und der Gesetze in Schutz nimmt, läßt er denselben auch dem Irrtum in der Liebe angedeihen. In Lothario freilich stellt sich die Emancipation der Leidenschaft, die bei Philinen und Friedrich im harmlosesten Humor des Naturells begründet ist, als eine That des Bewußtseins dar, und weil sie dies ist, weil der Charakter selbst auf eine so glänzende Höhe edler Mannheit emporgehoben sein soll, wird es dem Dichter schwerer werden, dessen Verirrungen und Inconsequenzen gegen den Vorwurf laxer Moral zu schützen. Denn Lothario knüpft und löst seine Liebesverhältnisse mit einer beinahe stoischen Gleichgiltigkeit, und verhält sich selbst zu den Opfern seiner Leidenschaft, wie zu Aurelien und Lydia, mit einer Unerschütterlichkeit des Gemütes, die nahe an die Grausamkeit eines Lovell grenzt. Er ist in dieser Hinsicht ein umgekehrter Werther, ein vollendeter Egoist, in dessen Armen das schöne Spielzeug zerbricht, sobald er sich daran ersättigt hat, dessen von Natur unerschöpfliche Leidenschaft ihn von Gegenstand zu Gegenstand fortreißt, und welcher die gefährliche Energie besitzt, zu zerstören, was zerstörbar ist, und zugleich das Bewußtsein der Zerstörung auszuhalten. Die Freiheit der Neigung und die Befriedigung ihres Zuges ist Lothario so sehr Naturgesetz, daß er sich nicht scheut, sogar seinem Freunde Jarno die Geliebte zu entführen, und wenn Jarno trotzdem sein Freund bleibt, so ist das nicht Seeelengröße der Freundschaft, nicht kommunistischer Grundsatz, sondern der Beweis, daß er der Liebe unfähig sei.

Wollte man nun mit subjectiven Sittlichkeitsnormen und fixen Moralprincipien an diese in ganz epischer Objectivität dargestellten, im Leben unendlich oft zu findenden Verhältniße herantreten und wollte man aus ihren individuellen Erscheinungen Göthe's eigne Maximen über die sittliche Beziehung von Mann und Weib abzuleiten unternehmen, so wäre allerdings nichts leichter, als ihn zum Vertreter der modernsten Emancipation des Fleisches zu machen. Und hier wäre in Wahrheit noch mehr Gelegenheit, ihn einer Entsittlichung der Ehe zu zeihen, als man sich aus den Wahlverwandschaften das Recht nahm, ehe Rötscher's Kritik die große sittliche Idee dieser wahren Apologie der Ehe glänzend zur Anschauung brachte. Die Worte Mittlers, sagt Rötscher: »Die Ehe ist der Anfang und Gipfel aller Kultur, sie macht den Rohen mild, und der Gebildetste hat keine bessere Gelegenheit seine Milde zu beweisen. Unauflöslich muß sie sein; denn sie bringt so vieles Glück, daß alles einzelne Unglück dagegen gar nicht zu rechnen ist. Sich zu trennen, giebt's gar keinen hinlänglichen Grund. Der menschliche Zustand ist so in Leiden und Freuden gesetzt, daß gar nicht berechnet werden kann, was ein Paar Gatten einander schuldig werden. Es ist eine unendliche Schuld, die nur durch die Ewigkeit abgetragen werden kann«, sind das Evangelium der Ehe, das Kunstwerk ist die Welt der Wirklichkeit, welche sich dasselbe durch seine Wahrheit und Tiefe gegründet und gestaltet hat«. Rötscher, die Wahlverwandtschaften von Göthe &amp;c. Abhandl. zur Phil. der Kunst. Zweite Abtheilung. S. 39..

Nicht anderen Grundsätzen begegnen wir auch in dem Wilhelm Meister. Dem unbefangenen Beobachter entgeht nicht, daß aus allen solchen lockeren Zuständen und frivolen Verbindungen, welche nicht die sittliche Kraft des Bestehens, sondern nur die Schwäche flüchtigen Wechsels zum Prinzipe haben, erst die wahre, keusche und echt menschliche Ehe gesucht wird. Denn es ergibt sich aus ihnen jener Grundsatz, welcher mit der Grundidee des Romans selber im Einklange steht: wie das wahre sociale Verhältniß auf der Freiheit des Individuums als des in sich selbst festgewordenen Menschen beruht, so beruht auch das eheliche Verhältniß, das Fundament aller Gesellschaft, auf der Freiheit der Neigung für sich bestimmter, weil mit einander stimmender Individuen. Ist bei einem Teile die Neigung weniger frei oder gebunden oder minder stark, so tritt das Recht des Stärkeren oder das Gesetz der Attraction ein, und die Ehe wird unsittlich, die Naturgewalt ist mächtiger als die Macht der Pflicht. Entspringt das Mißverhältniß aus der Dissonanz beider Teile, so wird die Ehe, wenn sie noch mit allen ihren Titeln und Rechten des Besitzes äußerlich und wesenlos festgehalten wird, schon zur wechselseitigen Prostitution. Es gibt ferner Naturen, die also organisirt sind, daß sie das Ideal der Ehe an sich nicht zur vollen Realität bringen können, weil ihre Individualität die Tiefe derselben nicht zu erschöpfen vermag. Auch diese haben sittlicher Weise ein Recht zu existiren, denn es modificirt sich der Begriff der Ehe nach den individuellen Charakteren. In Wilhelm und Natalien allein ist vermöge ihrer beiderseitigen ästhetischen Natur auch das schöne menschliche Bild der Harmonie von Mann und Weib gegeben, in welcher bei der Vernünftigkeit der Bestimmung für einander auch die selige Mitleidenschaft einer unendlichen Liebe zu einander soll bewahrt bleiben. Diese Gewalt des Sympathischen aber ist es, welche die Stagnation der Ehe in der Prosa der Angewöhnung verhindert und den dauernden Reiz geheimnißvoller Magie in die Alltäglichkeit legt. Wäre dem nicht so, dann würde das Ideal der Ehe allerdings schon in der kantischen Definition erreicht sein und Wilhelm Heinse Recht haben, wenn er für das Glück der Ehe von dem Weibe nichts anderes fordert, als körperliche Tauglichkeit zum Kindererzeugen.

Die Lehrjahre schließen nun mit der Emancipation Wilhelm's vom Irrtum, die durch das Verlöbniß mit Natalien eben so praktisch verwirklicht wird, als sie durch den symbolisch freimaurerischen Act der Lossprechung von dem niederen und der Erhebung auf den höheren Grad theoretisch vollzogen wurde. Der durch die That der Natur selbstständig gewordne Mann reicht dem selbstständigen Weibe die Hand. Das unbedingte Streben ist also schön beschränkt und auf den Kreis der bürgerlichen Wirksamkeit hingewendet. Und so blicken Wilhelm und Natalie vorwärts in die Zukunft, wo die Organismen des sittlichen Lebens, die Familie und die Gesellschaft, durch ihre eigene Energie sollen producirt werden. Damit beginnen die Wanderjahre. Wir haben demnach den Uebergang zu ihnen auch von der materielleren Seite zu suchen.

Lothario's Verhältnisse sind in Bezug auf Vergangenheit und Zukunft bereits an Amerika geknüpft und schon treten die später ins Werk zu setzenden Kolonisationspläne entschieden hervor. Die fernere Socialreform, welche in den Wanderjahren das Schibolet: Besitz und Gemeingut, an der Stirne trägt, wird gleichfalls schon von Lothario bevorwortet, denn er spricht sich dahin aus: daß er zwar bei der Wirtschaft seiner Güter auf gewissen Rechten strack und streng halten müsse, daß er andere Befugniße aber abgeben wolle. »Und soll ich diesen wachsenden Vortheil allein genießen? Soll ich dem, der mit mir und für mich arbeitet, nicht auch in dem Seinigen Vortheile gönnen, die uns erweiterte Kenntnisse, die uns eine vorrückende Zeit darbietet?« Demgemäß dringt Lothario auch auf die Tilgung des Privilegiums in Betreff der Titel und Lasten des Besitzes. »Denn durch diese Gleichheit mit allen übrigen Besitzungen entsteht ganz allein die Sicherheit des Besitzes.« Er dringt auf die Aufhebung der Majorate, um die Besitztümer unter die Kinder gleicher zu verteilen und alle in eine lebhafte, freie Thätigkeit zu versetzen, »statt ihnen nur die beschränkten und beschränkenden Vorrechte zu hinterlassen, welche zu genießen wir immer die Geister unserer Vorfahren hervorrufen müssen.« Es liegt da die Vergegenwärtigung der Grundsätze der Saint-Simonisten sehr nahe. Man vergleiche nur ihre Adresse, welche sie im Jahre 1830 der französischen Kammer einreichten und worin es heißt: »Das System der Gütergemeinschaft will eine gleiche Theilung alles Vermögens unter alle Glieder der Gesellschaft. Die Saint-Simonisten weisen diese gleiche Theilung zurück, die in ihren Augen eine empörendere Ungerechtigkeit wäre, als die ungleiche Theilung, die im Beginne durch die Eroberung herbeigeführt wurde. Denn sie glauben an die Ungleichheit der Menschen als Basis der Association selbst; die Gemeinschaft der Güter würde offenbare Verletzung des ersten moralischen Gesetzes sein, daß jeder gestellt werden soll nach seiner Fähigkeit und belohnt nach seinen Werken.« »Aber um dieses Gesetzes willen wollen sie die Aufhebung aller Privilegien der Geburt ohne Ausnahme und mithin die Vernichtung des Erbthums. Es sollen im Gegentheil alle Bedingungen der Arbeit, der Boden selbst und die Kapitalien durch Gesellschaftung hierarchisch bewirthschaftet werden. Die Saint-Simonisten greifen mithin das Gesetz des Eigenthums nur an, insoweit es das Vorrecht des Müßigganges heiligt«. Stein: Der Socialismus und Communismus &amp;c. S. 204.

Was Lothario in den Lehrjahren und was die Association der Wanderer in den Wanderjahren grundsätzlich aussprechen, kommt den Simonistischen Principien ziemlich nahe, und man wird sich durch die Idiosynkrasieen gegen die socialistischen Erscheinungen innerhalb der deutschen Literatur ferner nicht mehr bestechen lassen, sie abzuleugnen, wo sie nicht abzuleugnen sind.

So ist denn durch Lothario die Reform der Besitzverhältnisse anerkannt, indem zugleich die Notwendigkeit deutlich wird, daß diese Reform nicht über das Jenseits des Meeres hinausgeschoben, sondern schon hier mitten in den fixen Feudalzuständen der alten Welt in Angriff genommen werde. Denn »hier oder nirgend ist Amerika!« und »hier oder nirgend ist Herrnhut!« ruft Lothario aus. Wir sehen wiederum, daß die Herrnhuterei als ein Versuch, eine auf altevangelischer Brüderlichkeit und Gemeindlichkeit beruhende Societät herzustellen, betrachtet werden muß, und wie dergleichen societäre und industrielle Sekten, welche das Bürgerliche und Kirchliche verschmelzen, mögen sie übrigens Namen tragen wie sie wollen und selbst jesuitischer Natur sein, etwas Verwandtes haben, so ist speciell den Herrnhutern und den Simonisten dies gemein, daß sie einen liebenden Vater an die Spitze des Gemeinwesens stellen, einen Priester, der zugleich weltliches und geistliches Oberhaupt sei, daß ihre Verfassung auf der Autorität und Pietät beruht, also patriarchalisch ist. Aber die Grundsätze des Herrnhutianismus werden schon in den Lehrjahren überwunden; denn so spricht sich auch der weltverständige Lothario gegen die Torheit des Grafen aus, weil er sein Vermögen der Brüdergemeinde hingegeben, im Glauben seiner Seele Heil dadurch zu fördern; »hätte er, sagt er, einen geringen Theil seiner Einkünfte aufgeopfert, so hätte er viel glückliche Menschen machen, und sich und ihnen einen Himmel auf Erden schaffen können. Selten sind unsere Aufopferungen thätig; wir thun gleich Verzicht auf das, was wir besitzen.« Die Idee der Entsagung, welche sich schon durch die Lehrjahre hindurchzieht, und nun vollends das Epigraph der Wanderjahre wird, ist nämlich in der ganzen Dichtung zwiefach zu fassen, einmal nach dem Ethischen und Innerlichen, dann nach dem Praktischen und Gesellschaftlichen. Es soll also auch dem Besitze entsagt werden im Interesse der Societät; nur soll das rechte Maß der Entsagung auch hier gefunden werden. Es wird dies bereits im siebenten Buche der schon didaktisch werdenden Lehrjahre angedeutet, und jenes spätere: Besitz und Gemeingut, das Princip des Götheschen Socialismus, schwebt uns wiederum vor.

In diesen nunmehr praktisch socialen Problemen, welche nach vollendeter Ausbildung des Subjects, das fortan zur bestimmten Weltthätigkeit sich erschließen soll, durch die Umgestaltung des bürgerlichen Lebens im Wege der Association, der Kolonisation und eines ermöglichten Weltbundes sollen gelöst werden, haben wir die Fäden, welche aus den Lehrjahren zu den Wanderjahren hinüberleiten.


 << zurück weiter >>