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IV.

Der Nachtwächter stirbt.

Die Frauen im Gartenstöckl wählten diesmal den Hochsommer zur Besuchszeit und trafen es gut damit. Nun war der Wald trocken und gewährte je höher, desto mehr feierliche Stille und Erquickung; nun konnte man da und dort nach Behagen weilen, um die Aussicht zu genießen oder würzige Düfte einzuatmen; nun schäumte es milchig auf zwischen Steinen und Moosen oder spiegelte sich der blaue Himmel mit seinen Silberwolken, die schöne Nacht mit ihren Sternen im Schloßteich klar wieder.

Die Bekanntschaften im Markt drunten wurden von den Frauen erneuert und erweitert. Man sprach bei der Zeilinger vor, verplauderte manch halbes Stündchen im Kaufmannsladen, verkehrte schon aus berufsmäßiger Neigung mit der Familie des Herrn Richters und ließ sich nicht selten von der Verwesersfrau den Jausenkaffee auftischen. Die Nachtwächter-Resi war aber nicht die letzte, nach der man sich erkundigte, die man aufsuchte, ja, die man sich kommen ließ. Sie, die Resi, war nicht das besondere, reizende Kind mehr! Um was sie größer geworden, schien sie auch gesetzter zu sein. Sie ging nicht mehr mit der alten Unbefangenheit aus einem Haus ins andere, aber wo man sie rief, trat sie bescheiden und wie ein Geschöpf ein, dem man gut sein mußte und dem man kein hartes Wort zu geben vermochte; und wer sie sah, nickte und hatte ein stilles Wohlgefallen an ihr. Merkwürdig, man wollte sie's nicht einmal fühlen lassen, daß sie arm, daß sie die Ärmste des ganzen Ortes war. Die halbwüchsigen Bursche, denen sonst zutäppisches Wesen eigen ist, sagten von ihr: »Sie ist ein verzogener Fratz und bricht wie Marzipan, wenn man sie anrührt.« Sie hatten also eine eigentümliche Scheu vor ihr und gestanden sich's nicht. Ein Kenner würde vielleicht gesagt haben: »Die paßt in diese Gegend wie ein südlicher Vogel, den Wind und Wetter verschlagen.« Und in der Tat war ihr etwas Fremdartiges eigen, und: »Wer nur diese Zigeunerin hergebracht hat?« hörte man nicht selten.

Als Wagners Frauen das Mädchen zum erstenmal wieder gesehen, sagte die eine zur andern:

»Hast du bemerkt, wie zart ihre Schläfen, wie rot und feingezogen ihr Mund?«

»Und voller ist sie geworden.«

»Und dieses Hälschen! Mich deucht, wenn ich ein Mann wär', dreinbeißen müßt' ich.«

»Aber das Reizendste an ihr ist doch die Linie von den Wangen zum Kinn herab.«

»Nun, und ihr schönes dunkles Haar? Und ihre perlengleichen Zähne? Und sie weiß gewiß noch nicht, was eine Zahnbürste ist.«

»Wir sollten uns doch erkundigen, woher ihre Mutter gewesen.« Und die Frauen beschlossen, Resi ein paarmal in der Woche, namentlich an trüben Tagen, aufs Schloß kommen zu lassen. Sie wollten ihr wohl; und sie könnte sich im Weißnähen üben, an Umgangsformen gewinnen und manches vernehmen, was der Ungebildeten, der Unerfahrenen zugute komme, meinten sie.

Ein kleiner Vorfall trug bei, auch das Schloßgesinde auf die neue Nähterin aufmerksam zu machen. Ein Hausierer erschien zur Zeit der Mittagsrast im Schloßhof. Drunten im Markt, wo Kaufmann und Krämer ansässig waren, durft' er seinen Kasten nicht absetzen, wohl aber auf den umliegenden Höfen, also auch im Schlosse. Frau Wagner durfte für die zeitweilige Schloßfrau gelten. Bei ihr pocht' er auch an, mit der Bitte, seinen Kram auslegen zu dürfen. Hinter ihm zeigten sich in der Türöffnung neugierige Gesichter. Die Frau Mutter erlaubte ihm und seinem Gefolge einzutreten, und bald wurden Lad' und Lädchen und all ihr gleißender Inhalt von dunklen und hellen Augen lüstern beguckt. Aber Knecht und Dirn überlegen sich 's lange, eh' sie zugreifen und zahlen.

Auch die Frauen hatten sich erhoben und hinter ihnen stand Resi, den Blick auf den Flimmer und Flitter gerichtet, als hänge sie den tiefsinnigsten Rätseln und Gedanken nach.

Des Wählens wollte kein Ende werden. Jede Dirn täte sich gern was kaufen und wußte nicht was. So schien's.

Da bat Resi, mit einem raschen Umblick die guten Leutchen, eins ums andere, betrachtend: »Erlauben Sie, gnädige Frau, daß ich den Unschlüssigen an die Hand gehe?«

»Tu's, mein Kind!«

Im Nu hatte sie ein Seidentüchlein hervorgezogen, das sie schweigend der jüngsten Magd überreichte. »Ja, das gefällt mir,« sagte diese; und der Chor bestätigt: »Ja, das steht dir gut.«

Rasch war auch ein Kleiderstoff gefunden, der einer anderen Dirn, wie eigens für dieselbe gemacht, zu Gesicht stand.

Und nun wollt' auch der eine Knecht ein passendes Halstüchel, der andere seinen richtigen Pfeifenkopf haben.

Der Händler blickte verwundert auf die junge Person; die bereits ihren Teil hatten, lächelten glücklich.

»Und gefällt der Jungfer selber denn gar nichts von meinen Sachen?« drängte der Hausierer.

Resi schüttelte ihr Köpfchen, ohne traurig zu blicken. Sie bekümmerte sich auch nicht weiter, ob sie andern eine Freude gemacht, sondern setzte sich, nachdem die Geschäfte abgeschlossen waren, wieder ruhig an den Nähtisch.

Eines Morgens war der unverkennbare Landregen da. Die Nachtwächter-Resi wurde um so sicherer erwartet, als der graue Tag auch lang zu werden sich anschickte. Sie verspätet sich, sie ist säumig, sie kommt nicht.

Gegen Mittag bewegt sich's langsam und schwankend wie ein verblichener Fliegenschwamm den Schloßberg herauf. Das riesige Regendach streift fast triefend den Boden. Ein kleines Mädchen ist darunter, das eben aus der Schule kommt.

Sie hätt' einen Zettel für die gnädige Frau.

»Gib her! Sie sitzen schon bei Tische. Du bist ja die Kleine vom Faltermann oben? Den Schirm stellen wir da her; da kann er auf die Bodensteine ablaufen. Setz dich zum Herd! Hast du wohl gute Schühlein an? Kriegst ein warmes Süpplein, ein eingetropftes.«

Die alte Schaffnerin so. Und beim nächsten Gange überreichte sie der Frau Wagner den zusammengefalteten, feuchten Zettel. Er ist mit Bleistift geschrieben. Die Mutter liest ihn, wird nachdenklich und reicht ihn der Tochter.

Auf diese wirkt er ganz ebenso, und sie übergibt ihn dem Bruder.

Darauf verharrt das ganze Kleeblatt im Stillschweigen.

Auf dem Papier aber stand: »Ich bitte die gnädige Frau um Entschuldigung, daß ich nicht kommen kann. Mein guter Vater ist gestorben ...«

Die Botschaft kam von der armen Resi, und Anna rief auch, die erste, aus: »Was soll nun aus der Armen werden?«

Auf diese Wendung war man nicht vorbereitet. Daran, daß die Resi einmal ganz allein in der kleinen Keusche stehen sollte, erst noch vorausgesetzt, daß ihr dieselbe auch wirklich verbliebe, daß sie in der ihr gewissermaßen ganz fremden Welt auch die letzte Stütze verlieren konnte, hatte man wahrlich nicht gedacht. Der nun dahin, das war ihr Vater, ein zwar armer Teufel, aber für sie doch wohl der einzige moralische Halt. Und man konnte dem alten Teichgruber nichts Schlechtes nachsagen. Er zeigte sich nie betrunken oder zerlumpt. Er taglöhnerte, solange er bei Kräften war, und versah seinen nächtlichen Dienst gewissenhaft.

Anna wiederholte: »Was soll nun die arme Resi anfangen?«

»Je nun,« meinte die Mutter, und es klang fast herb, »sie kann ein Kindsmädchen abgeben, kann sich noch zu einer Feld- und Kuhdirn entwickeln, kann der alten Nähterin Konkurrenz machen oder Kellnerin werden ...«

»Aber Mama, das kann dein Ernst doch nicht sein?«

»Ja, weißt du denn bessern Rat? Sie ist eine feine Person, und es wäre schad' um sie, aber die Welt da herum ist grob in ihren Anforderungen und Bedürfnissen; sie hat keinen Platz für ein Luxusgeschöpf.«

»Die Mutter hat recht; die Welt ist einmal so,« ließ sich Ferdinand vernehmen. »Das braucht uns aber nicht abzuhalten, für Resi ein besseres Plätzchen auszumitteln; denn jenseits dieser Berge sind auch Menschen, und anderes Leben, anderes Streben! Ich könnte die Verlassene als Küchenmädchen unserer Wirtschafterin empfehlen – sie käme in gute Hände und könnt' auch was lernen. Aber freilich, sobald ihr fort, fiele ein schiefes Licht auf sie oder auf ihren Fürsprecher.«

Die Mutter drauf: »Also bist auch du mit deinem Latein zu Ende? Wie wär' es, wenn wir die Kleine als unseren Gast mitnehmen wollten?«

»Mama, das ist ein göttlicher Einfall; ich beneide dich darum! Nun kann's gut werden.« So Anna.

Und die Mutter fuhr fort: »Wir haben zwar nur eine kleine Wirtschaft, aber man lernt in ihr genau zusehen und vieles richten. Auch könnten Stickrahmen und Merkbüchlein wieder zu Ehren kommen. Wir lesen gern, und wenn wir das eben Aufgenommene durchbesprechen, so fällt für ein aufmerksames Ohr manches Nützliche und Belehrende ab. Wir beide verstehen uns auf den Kleiderschnitt; wozu hielten wir auch die Modezeitung, als um doch ein bißchen mit der großen Welt zusammenzuhängen?«

»Das wird köstlich werden,« jubelte Anna weiter.

Ferdinand aber sagte: »Nicht übel! Je nachdem sich die eine oder die andere praktische Seite bei ihr ausbildete, könnte man Resi dann weiter empfehlen, und sie tritt gefestigt in die Welt. Aber als Gast bei euch will sie mir nicht recht gefallen.«

»Sie braucht ja so wenig!«

»Nicht das, Anna! Aber wie soll sie dabei den Wert ihrer Arbeit, ihres Eifers, den Wert des Geldes kennen lernen? Nehmt sie, damit das Kind einen Namen habe, als Stubenmädchen gegen etliche Gulden monatlich zu euch. Das demütigt sie nicht, sondern spornt sie an.«

Die Mutter drauf: »Daran hätt' ich denken sollen; es ist ein guter Ausweg.«

»Und handelt nicht voreilig. Warten wir erst ab, was im Markt fürs arme Nachtwächterkind ausgekocht wird.«

»Ja, Bruder! Aber es heitert sich etwas auf; ich geh' zur Resi hinab.«

»Und ich schneidere ihr etwas Schwarzes zusammen: einen Kragen über ihr geblümtes blaues Kleidchen, und mein schwarzer Schleier mag ihr das schmale Gesichtchen umrahmen.«

Anna traf die Verwaiste weniger verweint als still und tieftraurig. Eben verließ der alte Faustmann das Stübchen, nachdem er bei der Aufbahrung mitgeholfen – er, der vermutliche Dienstnachfolger des Toten.

Der kleine hölzerne Raum machte keinen abstoßenden Eindruck. Es war da ein Schein, der wohl tat, und die kleine Ursache desselben ward nicht sogleich wahrgenommen.

Der alte Mann lag friedlich gebettet und fast wie verklärt da. Zu Häupten an der Wand hingen, wie eine Trophäe schier, der Wettermantel, die Pudelmütze, die Laterne und die Hellebarde. Ein ärmlich Kruzifix stand zur Seite auf dem Tischchen zwischen zwei dünnen Wachskerzen, von welchen die eine im eisernen Gewindleuchter, die andere im Hälschen einer kleinen Glasflasche stak. Davor war ein Weihbrunntröglein mit einem Fichtenzweiglein darin. Der Fensterbalken war zu.

Und nun entdeckte man auch den Grund des tröstlichen Scheins. Auf der Fußbank des Bettes stand ein brennendes Lämpchen; das war aus rotem Glase.

Darauf hindeutend, fragte das Fräulein: »Das hast du wohl vom Mesner; es ist ein Grablämpchen.«

»Nein, bei der Muttergottes am Mittersteig hab' ich mir's ausgeliehen, für heut' und morgen; dann bring' ich's ihr angefüllt zurück. Dort stand es leer, und ich konnte zur Not mit der Hand danach hineinlangen.«

So die Resi, und das Fräulein darauf: »Na, wie du dir zu helfen weißt, das ist erstaunlich ... und auch ein bißchen keck.«

»Ja, aber liegt er so nicht schöner dort, als grüßt' ihn schon ein Strahl vom Himmel?«

Beim Nachtwächter wurde keine Totenwache mit Gesang und Trunk abgehalten. Nur wenige kamen, um Nachschau zu halten. Die Tochter hielt getreulich aus, still und tieftraurig, nicht klagend und nicht geschwätzig.

Die Schloßfrauen zogen mit hinaus auf den Friedhof, um dem geheimnisvollen Kinde nahe zu sein, und das bewirkte, daß auch aus diesem und jenem Hause noch Trauergäste nachgehumpelt kamen.

Mit der Zukunft des Mädchens beschäftigte sich wohl auch das Märktlein, aber was dabei herauskam, lautete wenig tröstlich:

»Zu einer richtigen Dirn bleibt sie zeitlebens zu schwach.«

»Als ›Lockerin‹? Wo hätt' sie's lernen können, mit kleinen Kindern umzugehen? Sie hat nie Geschwister gehabt, und von ihrer Mutter, die beim Hochwasser umgekommen, weiß sie kaum etwas.«

»Ja, zu einem Ladenmädchen taugte sie am ehesten noch, aber beim Burgholzer, wo sie unterkommen könnte, ist die Frau so eifersüchtig, daß sie keinen Schritt aus dem Gewölb und von der Seite ihres Mannes tut.«

» Die eine Kellnerin? Lächerlich! Sie träumt in den hellen Tag hinein, und vom Schöntun versteht sie soviel wie nichts.«

So Resis Landsleute und Mitbürger. Wenn's zum Ernst kommt, sind eben Ausflüchte billig.

Es erregte daher nicht geringes Aufsehen, daß die Schloßfrauen die Verlassene als Stubenmädchen mit sich nahmen.


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