Johann Christoph Gottsched
Sterbender Cato
Johann Christoph Gottsched

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Vorrede

Ich unterstehe mich, eine Tragödie in Versen drucken zu lassen, und zwar zu einer solchen Zeit, da diese Art von Gedichten seit dreißig und mehr Jahren ganz ins Vergessen geraten und nur seit kurzem auf unserer Schaubühne sich wieder zu zeigen angefangen hat. Diese Verwegenheit ist in der Tat so groß, daß ich mich deswegen ausführlich entschuldigen muß. Ich weiß zwar, daß ein einziges herrliches Muster dieser in Verfall geratenen Art der Gedichte wohl eher ganze Nationen rege gemacht und ihnen einen Geschmack davon beigebracht. Der berühmte ›Cid‹ des Corneille hat dieses in Frankreich, die ›Merope‹ des Hrn. Maffei in Italien und Hrn. Addisons ›Cato‹ in Engelland zur Genüge erwiesen. Allein, ich bin auch im Gegenteil versichert, daß Leute, die einer Sache nicht recht gewachsen sind, durch übel geratene Proben alles verderben und oftmals eine Art von Poesien in solche Verachtung bringen können, daß niemand mehr die Mühe nimmt, sie zu übertreffen oder dasjenige, was sie schlimm gemacht haben, wieder zu verbessern.

Eben deswegen habe ich mich seit drei Jahren, da ich in meiner ›Critischen Dichtkunst‹ unsre Nation zu Hervorsuchung dieser Art großer Gedichte aufgemuntert und einige Anleitung dazu gegeben, nicht gewaget, selbst ans Licht zu treten oder andern mit meinem Exempel vorzugehen. Ich habe gewartet, ob sich nicht etwa ein geschickterer Poet unsres Vaterlandes hervortun und ein Werk unternehmen würde, welches ihm und Deutschland Ehre machen könnte. Es fehlt uns in der Tat an großen und erhabenen Geistern nicht, die zur tragischen Poesie gleichsam geboren zu sein scheinen. Es kommt nur auf die Wissenschaft der Regeln an; die aber nicht ohne alle Bemühung und Geduld gefasset werden können. Es gehört auch Gelegenheit dazu, die deutsche Schaubühne nach ihren bisherigen Fehlern und erforderlichen Tugenden kennenzulernen: Wie denn auch die Kenntnis des französischen, englischen und italienischen Theaters einigermaßen hierzu nötig ist. Und ohngeachtet ich Ursache habe zu glauben, daß es verschiedene unter unsern Dichtern gebe, die mit allen diesen Vorteilen reichlich versehen sind, wie ich denn selbst einige davon nennen könnte: So habe ich doch bisher vergeblich auf die Erfüllung meines Wunsches gehoffet.

Ehe ich mich aber erkläre, aus was für Ursachen ich mich endlich entschlossen habe, dieses Trauerspiel ans Licht zu stellen, muß ich mit wenigem melden, wie ich zuerst auf die theatralische Poesie gelenket worden und was mich endlich bewogen, selbst Hand anzulegen und einen Versuch darinnen zu tun. Es sind nunmehro 15 oder 16 Jahre, als ich zuerst LOHENSTEINS Trauerspiele lase und mir daraus einen sehr wunderlichen Begriff von der Tragödie machte. Ob ich gleich von vielen diesen Poeten himmelhoch erheben hörte, so konnte ich doch die Schönheit seiner Werke selber nicht finden oder gewahr werden. Ich ließ also diese Art der Poesie in ihren Würden und Unwürden beruhen: Weil ich mich nicht getrauete, mein Urteil davon zu sagen. Ich lase auch um eben die Zeit OPITZENS ›Antigone‹, die er aus dem Sophokles verdeutschet hat. Allein, ob mir wohl die andern Gedichte dieses Vaters unsrer Dichtkunst ungemein gefielen: So konnte ich doch die rauhen Verse dieser etwas gezwungenen Übersetzung nicht leiden; und daher kam es, daß ich auch an dem Inhalte dieser Tragödie keinen Geschmack fand. Ich blieb also im Absehen auf die theatralische Poesie in vollkommener Gleichgültigkeit oder Unwissenheit, bis ich etliche Jahre hernach den BOILEAU kennenlernte. Damals ward ich denn, teils durch die an den MOLIÈRE gerichtete Satire, teils durch den hin und her eingestreuten Ruhm oder Tadel theatralischer Stücke, begierig gemacht, selbige näher kennenzulernen.

Obwohl ich nun den Molière leicht genug zu lesen bekam, so war doch in meinem Vaterlande keine Gelegenheit, eine Komödie oder Tragödie spielen zu sehen: Als wozu mir dieses Lesen eine ungemeine Lust erwecket hatte. Ich mußte mir also diese Lust vergehen lassen, bis ich im Jahr 1724 nach Leipzig kam und daselbst Gelegenheit fand, die privilegierten Dresdenischen Hofkomödianten spielen zu sehen. Weil sich dieselben nur zur Meßzeit allhier einfanden, so versäumte ich fast kein einziges Stücke, so mir noch neu war. Dergestalt stillte ich zwar anfänglich mein Verlangen dadurch: Allein, ich ward auch die große Verwirrung bald gewahr, darin diese Schaubühne steckte. Lauter schwülstige und mit Harlekins Lustbarkeiten untermengte Haupt- und Staatsaktionen, lauter unnatürliche Romanstreiche und Liebeswirrungen, lauter pöbelhafte Fratzen und Zoten waren dasjenige, so man daselbst zu sehen bekam. Das einzige gute Stücke, so man aufführete, war ›Der Streit zwischen Liebe und Ehre oder Roderich und Chimene‹, aber nur in ungebundener Rede übersetzt. Dieses gefiel mir nun, wie leicht zu erachten ist, vor allen andern und zeigte mir den großen Unterscheid zwischen einem ordentlichen Schauspiele und einer regellosen Vorstellung der seltsamsten Verwirrungen auf eine sehr empfindliche Weise.

Hier nahm ich nun Gelegenheit, mich mit dem damaligen Prinzipal der Komödie bekanntzumachen und zuweilen von der bessern Einrichtung seiner Schaubühne mit ihm zu sprechen. Ich fragte ihn sonderlich, warum man nicht Andr. Gryphii Trauerspiele, imgleichen seinen ›Horribilicribrifax‹ u.d.m. aufführete? Die Antwort fiel, daß er die erstern auch sonst vorgestellet hätte: Allein, itzo ließe sichs nicht mehr tun. Man würde solche Stücke in Versen nicht mehr sehen wollen: Zumal sie gar zu ernsthaft wären und keine lustige Person in sich hätten. Ich riet ihm also, einmal ein neues Stücke in Versen zu versuchen, und versprach, selbsten einen Versuch darin zu tun. Da ich aber noch keine Regeln der Schauspiele verstund, ja nicht einmal wußte, ob es dergleichen gäbe: So übersetzte ich aus den Fontenellischen Schäfergedichten den ›Endimion‹, so wie ich denselben bei der ersten Auflage der ›Gespräche von mehr als einer Welt‹ habe drucken lassen; machte aber hier und dar noch einige Zusätze von lustigen Szenen darzwischen, welche zusammen ein Zwischenspiel ausmachten, so mit der Haupthandlung gar nicht verbunden war. Ich verstund nemlich die Schaubühne so wenig als der Prinzipal der Komödie; und ohngeachtet es mich damals verdroß, daß er meine Übersetzung aufzuführen das Herz nicht hatte: So ist mirs doch itzo sehr lieb, daß solches nicht geschehen ist; zumal da ›Endimion‹ sich mehr zu einer Oper als zu einer Komödie geschicket hätte.

Indessen gaben mir die schlechten Stücke, die ich spielen sahe, vielfältige Gelegenheit, auch ohne alle Kenntnis der Regeln, das unnatürliche Wesen derselben wahrzunehmen: Zugleich aber machte mich dieses begierig, mich um die Regeln der Schaubühne zu bekümmern. Ich konnte mir nemlich leicht einbilden, daß eine so weitläuftige Art der Gedichte unmöglich ohne dieselben bestehen könnte, da man es den allerkleinsten Poesien daran nicht hatte fehlen lassen. In allen unsern deutschen Anleitungen zur Poesie fand ich kein Wort davon; ausgenommen in ROTTHENS ›Deutscher Poesie‹, die 1688 hier in Leipzig herausgekommen. Alle übrige, auch sogar MENANTES in seinen ›Theatralischen Gedichten‹ und der von ihm ans Licht gestellten ›Allerneusten Art zur galanten Poesie zu gelangen‹, hatten nur eine seichte Anleitung zur Oper gegeben. Doch da mir auch Rotthe noch kein Genügen tat, ob er gleich nicht übel davon gehandelt hat, und ich in ihm des ARISTOTELES Poetik gelobt fand: So ward ich begierig, dieselbe zu lesen; und es fiel mir zu allem Glücke DACIERS französische Übersetzung derselben in die Hände. Diese hielte außer dem Texte sehr ausführliche Anmerkungen in sich und gab mir also den längst gewünschten Unterricht in diesem Stücke. Es kamen mir nachmals CASAUBONUS' ›De satirica Graecorum poesi und Romanorum satira‹, RAPPOLTS ›Poetica Aristotelica‹, imgleichen HEINSIUS' ›De tragoediae constitutione‹, des Abts von AUBIGNAC ›Pratique du Théâtre‹ und andre Schriften mehr in die Hand, die nur beiläufig von diesen Sachen handelten; dahin ich hauptsächlich den englischen ›Spectator‹ und den St. Evremont rechnen muß. Und zu geschweigen, daß ich mir des CORNEILLE, RACINE, LA GRANGE, LA MOTTE, MOLIÈRE, VOLTAIRE u.a. Schauspiele nebst den ihnen vorgesetzten Vorreden und beigefügten kritischen Abhandlungen bekannt gemachet: So kam endlich noch des Abts BRUMOIS ›Théâtre des Grecs‹ und des Italieners RICCOBONI ›Histoire du Théâtre Italien‹ dazu, die mir noch mehr Licht in dieser Materie verschaffeten.

Je mehr ich nun durch die Lesung aller dieser Werke die wohleingerichteten Schaubühnen der Ausländer kennenlernte: Desto mehr schmerzte michs, die deutsche Bühne noch in solcher Verwirrung zu sehen. Indessen aber, daß mir das Licht nach und nach aufging: So geschah es, daß die Dresdenischen Hofkomödianten einen neuen Prinzipal bekamen, der nebst seiner geschickten Ehegattin, die gewiß in der Vorstellungskunst keiner Französin oder Engelländerin was nachgibt, mehr Lust und Vermögen hatte, das bisherige Chaos abzuschaffen und die deutsche Komödie auf den Fuß der französischen zu setzen. Den ersten Vorschub dazu tat so zu reden der Hochfürstl. Braunschweigische Hof, woselbst zu des höchstsel. Herzogs Anton Ulrichs Zeiten schon längst ein Versuch gemacht worden war, die Meisterstücke der Franzosen in deutsche Verse zu übersetzen und wirklich aufzuführen. Man gab ihnen die Abschriften vieler solchen Stücke; und ob sie gleich mit dem ›Régulus‹ des PRADONS, eines nicht zum besten berüchtigten Poeten, den Anfang machten, den BRESSAND an obgedachtem Hofe schon vor vielen Jahren in ziemlich rauhe Verse übersetzt hatte: So gelung ihnen doch dieses Stücke durch die gute Vorstellung so gut, daß sie auch den ›Brutus‹, imgleichen den ›Alexander und Porus‹ von eben diesem Übersetzer und bald darauf auch den ›Cid‹ des Corneille aufführeten, der aber von einem weit geschickteren Poeten in viel reinere und angenehmere Verse übersetzt war als jene und also auch ungleich mehr Beifall fand als alle poetische Stücke, die man vorhin gesehen hatte.

Hierauf schlug ich, die angefangene Verbesserung unsrer Schaubühne, so viel mir möglich war, fortzusetzen und zu unterstützen, dem dermaligen Direktor derselben auch den von einem vornehmen Ratsgliede in Nürnberg übersetzten ›Cinna‹ vor, der in der Sammlung seiner Gedichte, die unter dem Titel der ›christlichen Vesta und irdischen Flora‹ herausgekommen, befindlich ist. Wie nun dieses Meisterstücke des Corneille durchgehends großen Beifall fand: So machte ich selbst endlich mit Übersetzung der ›Iphigenie‹ aus dem Racine einen Versuch und spornte zugleich ein paar gute Freunde und geschickte Mitglieder der ›Deutschen Gesellschaft‹ allhier an, dergleichen zu tun; da denn der eine den andern Teil des ›Cids‹ oder ›Chimenens Trauerjahr‹, der andre aber die ›Bérénice‹ aus dem Racine ins Deutsche brachte. Alle dreie wurden mit ziemlichem Beifalle aufgeführet, so daß man dergestalt schon acht regelmäßige Tragödien in Versen auf unserer Schaubühne sehen konnte. Ich schweige, was wir der geschickten Feder Hrn. Kochs, eines der geschicktesten Akteurs herin, zu danken haben, der uns ein paar Stücke von ›Titus Manlius‹ selbst geliefert, den ›Verheirateten Philosophen‹ aus dem Französischen übersetzet, die ›Sinilde‹ aber aus des Hrn. Geh. Sekr. Königs Opera ›Sancio‹ entlehnet und mit einiger Veränderung in eine Tragödie verwandelt hat.

Nachdem ich also beiläufig eine kurze Historie von der angefangenen Verbesserung der deutschen Schaubühne gegeben: So muß ich endlich auch auf meinen ›Cato‹ kommen und überhaupt von der Einrichtung dieses Stückes Red und Antwort geben.

Cato von Utica ist zu allen Zeiten vor ein ganz besonderes Muster der stoischen Standhaftigkeit und der patriotischen Liebe zur Freiheit gehalten worden. Poeten, Redner, Geschichtschreiber und Weltweisen haben ihn in ihren Schriften um die Wette bewundert und gepriesen. Sogar unter dem unumschränkten Regimente der römischen Kaiser, welche alle Cäsars Nachfolger waren, konnten sich die größten Leute in Rom nicht enthalten, diesen eifrigen Verfechter einer freien Republik zu loben, der in dem ersten Unterdrücker derselben alle Fortpflanzer seiner Herrschaft und Regierung vor Tyrannen erkläret hatte. Virgil und Horaz haben dieses unter Augusts Regierung, Lucan und Seneca aber unter dem Claudius und Nero getan. Maternus, ein Poet, der nach dem Berichte des alten ›Gespräches von Rednern oder von den Ursachen der verfallenen Beredsamkeit‹ eine Tragödie von dem Cato gemachet, muß auch etwa um diese Zeiten gelebet haben: Und sein Trauerspiel wird gewiß den Haß gegen das monarchische Regiment nicht undeutlich oder schwach ausgedrücket haben, weil seine guten Freunde es vor anzüglich und gefährlich hielten, wie aus dem angezogenen ›Gespräche‹ gleich im Eingange erhellet.

Cato hat sich in Utica selbst ermordet. Diese außerordentliche Todesart hat sein Ende zu einer Tragödie überaus geschickt gemacht, und es ist also kein Wunder, daß die Poeten aller Nationen diese Begebenheit in solcher Absicht ergriffen und sie auf die Schaubühne zu bringen bemüht gewesen. Der obgedachte Maternus ist wohl der erste gewesen, der unter Catons Landsleuten solches versuchst hat: Nur ist es zu bedauren, daß dieses Trauerspiel verlorengegangen. Ohne Zweifel würden wir in demselben starke Überreste einer römischen, das ist edlen Liebe zur Freiheit und einen großen Haß wider die Tyrannei angetroffen haben, die durch den nahen Eindruck, den so viel ungerechte und grausame Kaiser erhabnen Gemütern damals machten, ziemlich lebhaft werden vorgestellet worden sein.

Etwa im Jahr 1712, und also vor zwanzig Jahren, hat sich Addison, ein englischer Staatssekretar und berühmter Poet, an eben diesen Helden gemacht und im Anfange des 1713ten Jahres seinen ›Cato‹ wirklich aufführen lassen, wie ich aus dem ›Guardian‹ ersehe. Es ist unbeschreiblich, mit was für einer Begierde dieses Trauerspiel von jedermann besuchet und wie wohl es von allen, die es gesehen, aufgenommen worden. Es kann sein, daß die Neigung der englischen Nation zu ihrer Freiheit und der ihr gleichsam angeborne Abscheu vor einem tyrannischen Regimente viel dazu beigetragen, daß die Vorstellung eines eben so gesinnten Römers ihnen so wohl gefallen. Allein, so viel ist auch gewiß, daß dieses Trauerspiel sehr viele wahrhafte Schönheiten in sich hält, die nicht nur Engelländern, sondern allen vernünftigen Zuschauern von der Welt gefallen müssen. Die Charaktere, Sitten und Gedanken der Personen sind überaus wohl beobachtet: Sonderlich ist Cato selbst als der redlichste Patriot, als der tugendhafteste Mann und vollkommenste Bürger einer freien Republik darinnen vorgestellet. Doch dieses Trauerspiel bedarf meines Lobes nicht, da es auch in einer ungebundenen französischen Übersetzung schon diesseits des Meeres überall Beifall gefunden hat.

Fast um eben die Zeit, oder doch nicht viel später, hat sich auch in Frankreich jemand an diese tragische Begebenheit gemacht und sie auf die Schaubühne gestellet. Dieses war Herr Deschamps, der mir nicht weiter als aus seinem ›Cato‹, der im Haag 1715 herausgekommen, bekannt ist. Es scheinet, dieser Poet habe des Hrn. Addisons Arbeit noch gar nicht gesehen gehabt oder vielleicht gar nichts davon gewußt, als er sein Trauerspiel unternommen: Denn beide haben nicht die geringste Ähnlichkeit miteinander. Man findet eine ganz andre Fabel, andre Personen, andre Verwirrungen und eine andre Auflösung derselben darinnen als in der englischen Tragödie. Nur des Cato sein Charakter ist darin ebenso fürtrefflich beobachtet als in Addisons ›Cato‹ immermehr geschehen: Wenn man nur den Tod selbst, ja die ganze letzte Handlung ausnimmt. Denn wie ich bald erinnern will, so hat die englische Tragödie hierin ihren besonderen Vorzug: Da hergegen die französische ihrer regelmäßigen Einrichtung nach der englischen weit vorzuziehen ist.

Wer da weiß, daß die afrikanische Königin Sophonisbe auch das Glück gehabt, von vier heutigen Nationen in Trauerspielen aufgeführet zu werden, nemlich von Italienern, Franzosen, Engelländern und Deutschen: Den wird es nicht wunder nehmen, daß Cato auch dieser Ehre würdig geschätzet worden. Nur ist es zu beklagen, daß sich unter uns Deutschen keine geschicktere Feder an diese Arbeit gemacht als eben die meinige. Eben diese Erkenntnis meiner Unfähigkeit aber hat auch verursachet, daß ich mich nicht unterfangen habe, eine ganz neue Fabel zum Tode Catonis auszusinnen. Zweene von meinen Vorgängern waren mir bekannt, und ich habe mir beider ihre Stücke zunutze gemacht, so daß man, wie dort von Terenz gesagt wird, auch von mir sagen kann:

Quae convenere in Andriam ex Perinthia,
Fatetur transtulisse atque usum pro suis.

Mein Trost aber ist gleichfalls, daß ich eben so wohl, als dort an einem andern Orte geschieht, mit dem Exempel andrer berühmter Poeten entschuldiget werden kann:

Habet bonorum exemplum: quo exemplo sibi
Licere id facere, quod illi fecerunt, putat.

Denn zu geschweigen, daß Terentius selbst vielmals aus dem Menander ganze Stücke, doch mit einiger Veränderung, entlehnet oder anders zusammengesetzet hat; so haben ja auch die größten französischen Tragödienschreiber, z.E. Corneille und Racine, sehr oft den Sophokles und Euripides der Griechen dergestalt gebraucht, daß sie selbige teils nachgeahmet, teils übersetzet, teils nach ihrem eigenen Kopfe in etlichen Stücken was verändert haben: Wie unter andern aus dem ›Ödipus‹ und der ›Iphigenia‹ zu ersehen ist.

Nun ist es zwar gewiß, daß man mir anfänglich eine bloße Übersetzung des englischen ›Cato‹ zugemutet, wozu ich auch in reimlosen Versen den Anfang gemachet, wie neulich in den ›Beyträgen zur Critischen Historie der Deutschen Sprache‹ eine Probe davon mitgeteilet worden. Allein, nachdem ich die ganze Einrichtung desselben nach theatralischen Regeln untersuchte, so fand ich, daß selbiger so regelmäßig bei weitem nicht war als die französischen Tragödien zu sein pflegen. Die Engelländer sind zwar in Gedanken und Ausdrückungen sehr glücklich; sie formieren gute Charaktere und wissen die Sitten der Menschen sehr gut nachzuahmen: Allein, was die ordentliche Einrichtung der Fabel anlangt, darin sind sie noch keine Meister, wie fast aus allen ihren Schauspielen erhellet. Nun wollte ich auf unsrer deutschen Schaubühne nicht gern ein neues Muster aufführen lassen, so den Feinden aller Regeln einen neuen Vorwand geben könnte zu sagen, daß ein Stücke auch ohne dieselben schön sein könne. Daher änderte ich meinen Vorsatz und beschloß, einen ganz andern ›Cato‹ als den, den Addison gemacht hatte, zu verfertigen.

Es kam mir hier ungemein zustatten, daß die französische Arbeit des Hrn. Deschamp weit genauer den Regeln Aristotelis und andrer Kunstrichter gefolget war: Ja die kritische Vergleichung, so am Ende derselben befindlich ist, bekräftigte mich in meinen Gedanken von den Fehlern des englischen ›Cato‹. Zum 1) hat Addison gleichsam drei Fabeln in einer gemacht, davon eine jede vor sich alleine bestehen kann und nichts zu der Hauptfabel beiträgt, ja dieselbe oft dem Zuschauer oder Leser aus den Augen bringet. Das Hauptwerk ist dieses. Cato ist nebst wenigen Römern, und einiger numidischen Reuterei, in Utica von Feinden umschlossen. Cäsar schickt zu ihm und bietet ihm den Frieden an. Man schlägt ihn aus; Cäsar läßt seine Armee anrücken; Cato sieht kein Mittel, ihm zu widerstehen, und ersticht sich.

Diese Haupthandlung nun zu verlängern, sind zwei Nebenfabeln mit eingeschaltet. Die erste ist diese: Portius und Marcus, Catons Söhne, lieben die Lucia, eines römischen Ratsherrn Tochter. Portius, dem sein Bruder sein Geheimnis anvertrauet, verhält sich als ein rechtschaffener Mensch, ohne seiner eigenen Liebe Eintrag zu tun oder seinen Bruder zu verraten. Indessen wird Marcus ermordet, und Portius bekommt die Lucia.

Die andere ist folgende: Der junge Prinz Juba liebt Catons Tochter Marcia, die von dem Sempronius, einem römischen Ratsherrn, auch geliebet wird. Dieser ist ein Verräter und will den Cato ausliefern. Syphax, ein Numidier, will ihm darin behilflich sein; und die Soldaten empören sich schon: Cato besänftiget sie aber. Sempron verkleidet sich in des Juba Kleidung und will die Marcia entführen. Darüber wird er von dem Juba erstochen, der endlich die Marcia bekommt.

Diese beide Zwischenfabeln haben nun mit der Hauptsache, das ist dem Tode Catons, keine andere Verknüpfung, als daß sie zu einer Zeit und an einem Orte vorgehen. Sie gehören also gar nicht mit dazu und streiten wider die Einheit der Handlung, die in jedem Schauspiele sein muß: Zu geschweigen, daß es nicht sehr wahrscheinlich ist, daß man zu einer solchen Zeit, da alles in Lebensgefahr stund, auf viele Liebesverwirrungen werde gedacht haben. Auch die possierliche Verkleidung des Sempronius sieht viel zu komisch vor eine Tragödie aus. Cato selbst kommt in den ersten Handlungen selten in seiner rechten Größe zum Vorschein, außer da er den Aufruhr stillet und den Tod seines Sohnes Marcus beklaget. Die ganze übrige Zeit wird mit fremden Dingen, die ihn nicht viel angehen, zugebracht.

Zum 2) aber hangen auch die Auftritte der englischen Tragödie sehr schlecht aneinander; wovon Aubignac in seiner ›Pratique du Théâtre‹ kann nachgesehen werden. Die Personen gehen ab und kommen wieder, ohne daß man weiß warum, und die Schaubühne bleibt oft leer, wenngleich noch keine Handlung aus ist. Endlich sind auch oft die Szenen gar nicht abgeteilet, wenngleich neue Personen auftreten oder alte abgehen, welches bei den Franzosen niemals geschieht, weil es eine Unordnung in dem äußerlichen Ansehen verursachet.

Endlich zum 3ten gefiel mirs im englischen Trauerspiele nicht, daß der sterbende Cato, dieser strenge Verfechter der Freiheit, der ganz andre Dinge im Kopfe hatte, noch in seinem Letzten ein paar Heiraten bestätigen muß. Das Hochzeitmachen hat in theatralischen Vorstellungen dergestalt überhandgenommen, daß ich es längst überdrüssig geworden bin. Die Alten haben es überaus selten angebracht, und ich habe es daher auch hier versuchen wollen, ob denn ein Trauerspiel nicht ohne die Vollziehung einer Heirat Aufmerksamkeit erlangen könne? Dieses ist mir denn eben nicht übel gelungen: Obgleich hier noch nicht halb soviel von der Liebe geredet worden als in des Racine ›Bérénice‹, wo es gleichfalls zu keiner Vermählung kömmt.

Fragt mich nun jemand: Warum ich nicht den ganzen französischen ›Cato‹ übersetzt? So sind dieses meine Ursachen. So wahrscheinlich anfänglich die ganze Fabel eingerichtet ist und so groß Cato in den ersten Handlungen dargestellet wird: So schlecht kommt mir die letzte Handlung vor. Er läßt diesen großen Mann nicht als einen Weltweisen, sondern als einen Verzweifelnden sterben. Es entsteht ein Tumult in Utica, der von dem Pharnaz herrührt: Und da Cäsar eben daselbst zugegen ist, seine Soldaten aber außer der Stadt meinen, ihr Haupt sei in Gefahr, so dringen sie herein und hauen alles darnieder. Darüber nimmt sich Cato das Leben. Das heißt aber gar zu sehr wider die Wahrheit der Geschichte und wider den philosophischen Charakter des Cato gehandelt.

Hernach hatte man hier dem Cato gar keinen Sohn gegeben: Gleichwohl waren die Stellen im englischen Trauerspiele gar zu schön, wo er den einen Sohn tot vor sich siehet und den andern zur Feindschaft der Tyrannei ermahnet, als daß ich sie hätte weglassen sollen. Ich habe also den Portius beibehalten, ob ich ihm gleich ganz andre Szenen gegeben, als in den beiden Tragödien geschehen; den Marcus aber habe ich nur tot vor ihn bringen lassen, nachdem ihn Pharnaz erleget hatte. Dieses mußte ich geschehen lassen, weil ich keinen Sempronius oder Syphax mehr hatte, der in dem englischen Stücke befindlich war. Die letzte Handlung habe ich also fast ganz aus dem Addison beibehalten, außer daß ich die Personen geändert und die Heiraten des Portius und des Juba weggelassen habe. Den Cato hergegen habe ich ganz was anders aus dem Deschamps davor sagen lassen, ehe er stirbt.

Übrigens wird ein jeder wohl sehen, daß hier sowohl die Person der Arsene als ihre dem Pharnazes versprochene Ehe nur erdichtet worden. Herr Deschamps hat sich deswegen in seiner Vorrede sattsam gerechtfertiget: Weil dasjenige, was uns die Geschichte vom Tode Catons lehren, viel zu kurz gewesen wäre, eine ganze Tragödie auszufüllen. Es ist aber alles sehr wahrscheinlich eingerichtet, so daß niemand was Widersprechendes darin antreffen wird. Bei dieser Zwischenfabel nun, die sich so genau zur ganzen Hauptgeschichte schicket, hat man Gelegenheit, eine sehr lasterhafte Person gegen die Tugend des Cato zu stellen, um dieselbe desto mehr zu erheben: Wie etwa die Maler durch den Schatten das Licht desto mehr zu erhöhen wissen.

Ebenso verhält sichs mit der Person Cäsars. In der Tat ist selbiger nicht nach Utica gekommen, sondern es ist abermals nur erdichtet worden, um diese zween große Römer gegeneinander zu halten und den Unterscheid einer wahren und tugendhaften Größe von einer falschen zu bemerken, die aus einem glücklichen Laster entstehet, so zuweilen den Schein der Tugend annimmt. Die Auftritte, da Cato und Cäsar miteinander sprechen, haben daher nicht wenig beigetragen, daß ich die Einrichtung der französischen Fabel der englischen vorgezogen. Der Verfasser hat auch die Kunst gewußt, die Gegenwart Cäsars in Utica so wahrscheinlich zu machen, als es möglich gewesen: Indem er gedichtet, daß dieser Held nicht nur aus Begierde zum Frieden, sondern auch aus Liebe zu der vermeinten parthischen Königin sich in diese Gefahr gewaget. Was waget nemlich ein Verliebter nicht, um seinen Gegenstand zu sprechen! Oder vielmehr, was hatte Cäsar bei einem redlichen Cato vor Gefahr zu befürchten?

Endlich muß niemand denken, als wenn die Absicht dieses Trauerspieles diese wäre, den Cato als ein vollkommenes Tugendmuster anzupreisen, nein, den Selbstmord wollen wir niemals entschuldigen, geschweige denn loben. Aber eben dadurch ist Cato ein regelmäßiger Held zur Tragödie geworden, daß er sehr tugendhaft gewesen, doch so wie es Menschen zu sein pflegen; daß sie nemlich noch allezeit gewisse Fehler an sich haben, die sie unglücklich machen können. So will Aristoteles, daß man die tragischen Hauptpersonen bilden soll. Durch seine Tugend erwirbt sich Cato unter den Zuschauern Freunde. Man bewundert, man liebet und ehret ihn: Man wünscht ihm daher auch einen glücklichen Ausgang seiner Sachen. Allein, er treibet seine Liebe zur Freiheit zu hoch, so daß sie sich in einen Eigensinn verwandelt. Dazu kommt seine stoische Meinung von dem erlaubten Selbstmorde. Und also begeht er einen Fehler, wird unglücklich und stirbt: Wodurch er also das Mitleiden seiner Zuhörer erwecket, ja Schrecken und Erstaunen zuwege bringet. Man hat ihn selbst zuletzt noch einen Seufzer zu den Göttern tun lassen, um dieselben um ihre Barmherzigkeit anzuflehen, im Fall er irgend zuviel getan hätte. Dieses kann allerdings auch ein Weltweiser tun: Wie man denn von dem Aristoteles schreibt, daß er mit dem Seufzer verschieden sei: Ens entium miserere mei!

Wie ich nun in dem allen die Regeln der Alten von Trauerspielen aufs genaueste beobachtet zu haben glaube: Also habe ich das Vergnügen gehabt zu sehen, daß dieses Stück auch Gelehrten und Ungelehrten in der Aufführung gefallen und vielen von beiden Gattungen Tränen ausgepresset hat. Es ist wahr, daß die gute Vorstellung der theatralischen Hauptpersonen viel dazu beigetragen; darunter gewiß Cato, Portia und Cäsar die vornehmsten sind. Deswegen habe ich auch kein Bedenken getragen, nach dem Exempel der Franzosen und Engelländer, die Namen dieser und aller übrigen geschickten Personen hierbei bekanntzumachen. Ich überlasse es also verständigen Lesern, ob sie auch ohne die äußerliche Vorstellung bei eigener Aufmerksamkeit einige Bewegungen dabei empfinden werden.

Geschieht dieses, so bin ich zufrieden, daß ich zum wenigsten das Gute der französischen und englischen Stücke nicht verderbet habe. Denn überhaupt bekenne ich, daß alles, was an diesem meinem ›Cato‹ zu loben sein wird, von dem Addison und Deschamps herrühret; alles Schlechte aber mir selber und meiner Unfähigkeit in der tragischen Poesie zuzuschreiben sei. Ich erkenne es also nunmehro selbst, wiewohl zu spät, daß ich lieber einen bloßen Übersetzer abgeben als mich selbst gewissermaßen zu einem tragischen Poeten hätte aufwerfen sollen.


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