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Aus dem Tagebuch des Jahres 1871

Sonntag, 1. Januar 1871. – Was für ein trauriger Tag für mich, dieser erster Tag der Jahre, die ich allein zu leben verdammt bin!

Die Kost, die man jetzt zu sich nimmt, die fortwährenden Unterbrechungen des nächtlichen Schlafes durch die Kanonade haben mir eine Migräne eingetragen, die mich zwingt, den Tag im Bett zuzubringen.

Die Beschiessung, die Hungersnot, eine aussergewöhnliche Kälte: das sind die Neujahrsgeschenke für das Jahr 1871. Nie, seit Paris steht, hat es solch einen Neujahrstag gehabt. Und trotzdem sind heute abend infolge der Sauferei die Strassen voll bestialischer Lust.

Dieser Tag lässt mich daran denken, dass Eines vom Standpunkt der Geschichte der Menschheit aus sehr interessant, für einen der Entwicklung gegenüber Skeptischen sogar fast amüsant festzustellen ist: In diesem Jahr 1871 konnte die brutale Gewalt trotz so vieler Jahre Zivilisation, trotz so vieler Predigten über die Brüderlichkeit der Völker, ja trotz so vieler Verträge, die das europäische Gleichgewicht begründen sollten, am Werke sein und, wie zu Attilas Zeit, ohne stärkere Hemmungen an erster Stelle stehenGoncourt schreibt: la force brute peut ... primer, anspielend an Bismarcks »Macht geht vor Recht«, das er später auch »La force prime le droit« übersetzt hat (siehe Notiz am 21. März 1871)..

2. Januar. – Alle Tage werden jetzt arme Frauen durch die Kälte, die Ermüdung, den Mangel an Nahrung krank, während der langen Stunden, die sie, in Reihen angestellt, stehen müssen, um ihren Anteil an Fleisch zu bekommen.

Ein Stoff zum Nachdenken: Angenommen, wir wären die Stärkeren gewesen, wir hätten uns als Grenze den Rhein geben wollen, was schliesslich und endlich unsere ethnographische Begrenzungslinie ist: ganz Europa hätte sich dem entgegengestellt. Die Deutschen machen sich bereit, Elsass und Lothringen zu nehmen, richten sich ein, durch diese Amputation Frankreich zu vernichten, und ganz Europa klatscht Beifall! Warum? Sollten die Nationen sein wie die einzelnen Individuen und die Aristokratien nicht lieben?

5. Januar. – Heute hat die Beschiessung auf unserer Seite begonnen. Man sieht nichts. Der Blick ist jenseits des Walles durch einen dichten Nebel gesperrt, aus dessen weisser Undurchsichtigkeit man entsetzliche Detonationen kommen hört.

Während des Nachmittags komme ich wieder, irre um den Friedhof von Auteuil herum. Von Zeit zu Zeit pfeifen Geschosse, und plötzlich stürzen sich zwei Männer, die etwa dreissig Schritte vor mir waren, mit lebhaften Bewegungen auf mich zu; einer hält in der Hand ein Stück Blei, mehr wie zwei Pfund schwer, das sie eben gestreift hat.

Man spricht von Verwundeten in Javel, in Billancourt. Trotzdem, alle die Leute, die da sind, – alle Leute, Männer wie Frauen – wollen nicht fort und beweisen eine furchtlose Neugier. Seit zwei Monaten hat die Beschiessung der Wälle die Pariser Bevölkerung an die Kanonen gewöhnt, und das Bombardement erschreckt sie nicht nur nicht, sondern scheint sie in ihrer Nervosität zur Verachtung der Gefahr zu drängen.

Samstag, 7. Januar. – Die Leiden von Paris unter der Belagerung: ein Spass zwei Monate lang; im dritten aber ist aus dem Spass Ernst geworden, Ernst und Entbehrung. Jetzt ist es aus mit dem Lachen, und wir gehen mit grossen Schritten der Hungersnot entgegen, oder wenigstens dem gastrischen Fieber. Die Portion Pferdefleisch, 33 Zentigramm, die Knochen mitgewogen, die für zwei Personen und drei Tage als Nahrung gegeben wird, reicht bei durchschnittlichem Hunger für ein Frühstück. Es gibt kein Fleisch, aber man kann sich auch nicht ans Gemüse halten: eine kleine Kohlrübe kostet acht Sous, und sieben Franken muss man für einen Liter Zwiebeln zahlen. Von Butter spricht gar niemand mehr; und sogar das Fett, soweit es nicht Talg oder Wagenschmiere ist, ist verschwunden. Die beiden Dinge schliesslich, mit denen sich das minderbemittelte Volk durchbringt, nährt, beköstigt, Kartoffeln und Käse? Der Käse gehört zu den Erinnerungen, und will man Kartoffeln, so muss man Protektion haben, um welche für zwanzig Franken den Scheffel aufzutreiben. Kaffee, Wein und Brot – das ist für den grössten Teil von Paris die Nahrung.

Heute abend verlange ich am Schalter der Eisenbahn eine Fahrkarte nach Auteuil. Der Beamte teilt mir mit, dass von heute an der Zug nur bis Passy verkehrt. Auteuil gehört nicht mehr zu Paris.

Dienstag, 10. Januar. – Wir sind sehr viele heute abend bei Brébant. Alle Belagerten sind neugierig gewesen, zu hören, wie es den anderen ergangen ist. Charles Edmond gibt schreckenerregende Schilderungen, wie die Bomben über den Luxembourggarten niedergeregnet sind. Saint- Victor verlässt, weil eine Granate auf die Place Saint-Sulpice fällt, bei Nacht seine Wohnung in der Rue du Furstemberg. Auch Renan ist aufs rechte Seineufer ausgewandert.

Die Unterhaltung dreht sich nur um die Mutlosigkeit der Haupthähne im Heere, ihren Mangel an Energie und Willen, und die Entmutigung, die sie unter den Soldaten verbreiten. Man spricht von einer Sitzung, in der der arme Trochu, angesichts der schlaffen Haltung oder der Disziplinlosigkeit der alten Generäle, gedroht hat, sich eine Kugel durch den Kopf zu schiessen. Louis Blanc fasst das alles in die Worte zusammen: »Das Heer hat Frankreich zugrunde gerichtet; jetzt will es nicht, dass das Land von den Zivilisten errettet wird!« ...

... Tessié du Motay berichtet von Eseleien unserer Generäle, deren Augenzeuge er gewesen zu sein behauptet. Während der Dezemberaffäre hat er um zwei Uhr den General Vinoy, der den Befehl hatte, Chelles um elf Uhr zu nehmen, auf dem Gelände auftauchen sehen. Um zwei Uhr also und, umringt von einem etwas bezechten Stab, habe er gefragt: »Wo liegt denn eigentlich nun dieses Chelles?« Du Motay wohnte, ich glaube am selben Tage, der Ankunft des Generals Leflô bei, der gleichfalls fragte, ob denn dies auch wirklich die Ebene von Avron sei. Du Motay versichert auch, dass nach unserem vollen Erfolge vom 2. Dezember die Armee den Befehl erhalten hatte, vorzugehen, als man Trochu meldete, es fehle alle Munition. Diese Geschichten geben Saint-Victor den Anlass, in vielen Worten zu verkünden, man brauche einen Saint-Just.

Und während man von der Drohung, Paris zu verbrennen,wenn es nicht kapituliere, die heute ins Ministerium gelangt sein soll, spricht, leitet einer in seiner Ecke eine Untersuchung gegen Alphand ein, eine in ihren Uebertreibungen komische Untersuchung; er beschuldigt ihn, der Urheber alles Unheils zu sein, das geschehen ist, und zwar habe er das auf eine recht originelle Art getan: indem er nämlich nichts ablehnte, was man Ferry vorschlug, sondern all das selbst und zwar möglichst schlecht ausführte. Er erinnert an das Einsalzen des Fleisches, das verdorben worden ist, an die Einrichtung der Lazarette im Luxembourggarten, wo die Verwundeten erfrieren, an die Schanzarbeiten von Avron, die ihm, wie der Redner in seiner wild-ungerechten Abneigung gegen den Mann sagt, den Beinamen: »Wilhelm von Preussens Haussmann« eintragen werden.

Diese traurigen Worte werden von dem schmerzlichen Aechzen Renans rhythmisch begleitet, der uns weissagt, wir würden den Szenen der Apokalypse beiwohnen.

12. Januar. – Ich mache einen Rundgang durch die Teile von Paris, die beschossen worden sind. Weder Schrecken, noch Aufregung. Alle Welt scheint auf die gewohnte Art zu leben, die Cafetiers lassen mit der bewunderungswürdigsten Kaltblütigkeit die durch die platzenden Geschosse zerbrochenen Spiegel wieder einsetzen. Nur begegnet man unter den Hin- und Hergehenden bald da, bald dort einem Herrn, der seine Pendeluhr unter dem Arm trägt, und die Strassen sind voll von Handwagen, die gegen den Mittelpunkt der Stadt zu armseligen Hausrat schleppen, unter dessen Mischmasch gelegentlich ein alter, hilfloser Greis, der nicht mehr gehen kann, sitzt. Die Kellerlöcher sind verstopft. Ein Krämer hat sich eine geistreiche Schutzwehr aus einem Stockwerk von Brettern, beladen mit Erdsäcken, bis zum ersten Stock des Hauses eingerichtet. Man entpflastert den Platz des Pantheon. Ein Geschoss hat das ionische Kapitäl einer der Säulen der Ecole de Droit fortgerissen. In der Rue Saint-Jacques sind Mauern durchlöchert, durchrissen, von denen sich jeden Augenblick Stücke ablösen. Enorme Steinblöcke, ein Stück von dem Giebelwerk der Sorbonne, errichten gegen das alte Gebäude hin eine Barrikade. Der Ort, wo das Bombardement am deutlichsten zu den Augen spricht, ist der Boulevard Saint-Michel, dort sind von den Häusern an den Ecken der Parallelstrassen zu den Thermen des Julien ganze Winkel von den Geschossen abgerissen. An der Ecke der Rue Soufflot hängt der Balkon des ersten Stocks, der vom Stein losgerissen ist, drohend im Leeren.

 

Von Passy nach Auteuil ist die beschneite Route rosenrot gefärbt vom Reflex der Brände in Saint-Cloud.

Freitag, 13. Januar. – Man muss der Pariser Bevölkerung Gerechtigkeit widerfahren lassen und sie bewundern. Dass die Leute vor den frechen Auslagen der Delikatesswarenhändler, welche ungeschickterweise die arme verhungernde Bevölkerung immer wieder daran erinnern, dass die Reichen mit ihrem Geld sich immer und immer noch Geflügel, Wildbret und Tafelfreuden beschaffen können, dass sie da nicht die Scheiben einschlagen, sich nicht an den Händlern und Waren vergreifen – darüber muss man staunen.

Nur vor dem Laden des Bäckers Hédé in der Rue Montmartre habe ich einige Entrüstung bemerkt; es ist der einzige Bäcker, der heute noch Weissbrot und Hörnchen herstellt. Das Volk, das sonst stets Weissbrot isst, und jetzt zum »Hundebrot« verdammt ist, schien nur unter dieser Gunst des Schicksals, die freilich auch erst durch stundenlanges Warten in der Reihe erkauft wird, zu leiden.

Als ich in Marats Tagebuch die wütenden Anklagen des Orateur du Peuple las, die er da gegen den Stand der Delikatesswarenhändler richtet, da glaubte ich an eines Verfolgungswahnsinnigen Uebertreibung. Heute merke ich, dass Marat ganz recht hatte .. . Dieser Handel, der ganz »nationalgardisiert« ist, ist ein wahres Wuchergeschäft. Ich für meinen Teil würde kein Unglück darin erblicken, wenn man zwei oder drei dieser heimtückischen Räuber vor ihren Auslagen aufhinge, weil ich ganz überzeugt bin, dass dann der Zucker nicht mehr jede Stunde um zwei Sous aufschlagen würde.

Vielleicht sind ein paar klug gewählte Morde in Revolutionstagen das einzige praktische Mittel, die Teuerung in vernünftigen Grenzen zu halten.

Ich sah heute abend bei einem Restaurateur, wie das Tranchiermesser des Maitre d'hôtel ungefähr 200 Scheiben aus einer Kalbskeule herausschnitt; das war wohl ein Kalb gewesen, das man in einem vierten Stock entdeckt hatte, vielleicht das letzte überhaupt in Paris existierende Kalb. Zweihundert Scheiben zu je sechs Franken, jede so gross und so dick wie eine Visitenkarte, das macht 1200 Franken.

Ein Gespräch neben mir:

»Unsere Damen haben uns heute abend verlassen.«

»Desto besser; so wollen wir zum Pantheon gehen und der Beschiessung zuschauen.«

Der Besuch der bombardierten Stadtviertel ist an die Stelle des Theaters getreten!

Heute verbringe ich einen Teil der Nacht an meinem Fenster, weil mich das Kanonen- und Gewehrfeuer um Issy nicht schlafen lässt. Im Schweigen der Nacht erscheint es nahe, nahe, und da man in solchen Stunden der Furcht und der Verwirrung Phantasie hat, schien es mir einen Augenblick, als hätten die Preussen das Fort und griffen den Wall an.

14. Januar. – Das allgemeine Wahlrecht, angewendet auf die Wahl der Offiziere der Mobilgarde, hat eine entsetzliche Wirkung gehabt. Es hat mit sich gebracht, dass lauter »brave Kinder« gewählt worden sind: d. h. Offiziere, die, wenn sie auch nicht zu allem ermutigen, doch nichts verhindern.

Der Grossindustrielle Dumas erzählte mir heute traurige Einzelheiten über das Benehmen dieser Offiziere der Mobilen. Er hat einen Schwager, dem eine sehr schöne Besitzung in Neuilly gehört. In diesen Besitz stürzen nun Soldaten und Offiziere; unter ihnen war ein Herr X.... Diese Herren begnügten sich nun nicht, Feuer inmitten der Zimmer anzumachen, sie schleppten auch beim Fortgehen 25 Paar Linnen, die ihnen geliehen worden waren, mit, und Herr X... liess aus dem Treibhaus 15 Palmenstöcke fortführen, die er einer Kokotte zu Neujahr schenkte. Auf die Klage des Herrn Dumas bewirkte ein Befehl des Stabes, dass Tücher und Palmen zurückgegeben wurden.

Sonntag, 15. Januar. – Die fürchterlichste Kanonade, die der südwestliche Wall je gehört hat. »Das poltert ordentlich!« sagt im Vorbeilaufen ein Mann aus dem Volke. Das Haus bebt in seinen Grundmauern und schüttelt den ganzen alten Staub aus seinen Simsen und Decken.

Trotz des Frostes und des eisigen Windes gibt es am Trocadéro eine Menge Neugierige. In den Champs-Elysées, jetzt ein Verhau grosser Bäume, hat sich eine Kinderschar auf die noch nicht auf Rollwagen geladenen Bäume gestürzt, sie schwingen Aexte, Messer, alles was schneidet, säbeln Stücke ab und schleppen sie in den Händen, Taschen, Schürzen davon, indessen man bei den Stümpfen der abgesägten Bäume Köpfe von alten Frauen sieht, die mit Hacken ausroden, was noch an Wurzeln übriggeblieben ist.

Inmitten dieser Verheerung scheinen ein paar Spaziergänger und Spaziergängerinnen so sorglos wie einst ihre Vormittagspromenade auf dem Asphalt zu machen.

An der Tür eines Boulevardcafés paradieren und kokettieren sieben oder acht junge Offiziere um eine Lorette mit fliegenden Haaren herum, die zur Verblüffung der Passanten die Speisenfolge für ein höchst phantastisch und geistreich ausgedachtes Diner bestimmt, das Menü, aus dem angeblich heute abend ihr Diner bestehen wird.

Meine Lage als Hausbesitzer ist eigentümlich. Alle Abende, wenn ich zu Fuss heimkehre, suchen meine Augen aus so weiter Entfernung, als sie nur sehen können, zu entdecken, ob mein Haus noch steht. Dann, wenn ich diese Gewissheit habe, stelle ich, je mehr ich mich unter den pfeifenden Geschossen nähere, eine Untersuchung im einzelnen an, und ich staune, dass an meinem Hause noch kein Loch, noch keine abgeschundene Ecke zu finden ist – immerhin lässt man die Haustür ein wenig offen, damit ich nicht zu lange zu warten brauche ...

Montag, 16. Januar. – Der Geburtstag des Königs Wilhelm. Die Kanonen hatten mich die ganze Nacht nicht schlafen lassen, und ich war noch in den Federn, von Müdigkeit wie betäubt. Zwischen dem Donnern der Batterie von Mortemart hatte ich ein Geräusch über meinem Kopfe gemerkt und geglaubt, man rüttle ein Möbelstück. Einige Minuten später trat Pélagie in mein Zimmer und verkündete ganz munter, ins Nachbarhaus sei eine Granate gefallen, und zwar gerade in ein Zimmer, dessen Mauer auch zu meinem Haus gehört. Das Geschoss, oder vielmehr die beiden Geschossteile haben das Dach durchschlagen und sind in ein Zimmer gefallen, in dem ein kleiner Junge lag, den Frostbeulen am Laufen hindern. Das Kind ist mit dem Schreck über den Stuck, der von der Decke herabfiel, davongekommen.

Heute beginnt die Verteilung einer Art Brot, von der ein Stück für spätere Sammlungen eine rechte Sehenswürdigkeit bilden wird. Es ist nämlich ein Brot, in dem Strohhalme verarbeitet sind.

Mittwoch, 18. Januar. – Heute beginnt die Brotzuteilung, nach der auf jedes Individuum 400 Gramm kommen. Denkt man, dass es Leute gibt, die dazu verurteilt sind, mit so wenig Nahrung auszukommen?

Frauen, die bei dem Bäcker in Auteuil in der Reihe angetreten waren, weinten.

 ...Jetzt sind's nicht verirrte Granaten mehr wie in den vergangenen Tagen, es ist ein Regen von Blei, der mich nach und nach umfängt und umschliesst. Rings um mich herum platzen Geschosse, so hundertfünfzig Schritt weit am Bahnhof, in der Rue Poussin, wo einer Frau das Bein weggerissen worden ist. Und wie ich gerade aus dem Fenster mit einem Fernrohr die Batterien von Meudon erkenne, zerplatzt eine Granate so nahe, dass ich fast gestreift werde, und der Schmutz bis dicht vor meiner Haustüre aufspritzt.

Um drei Uhr ging ich wieder bei den Schranken des Etoilebogens vorbei. Die Truppen defilierten. Ich blieb stehen.

Das Monument unserer Siege, von der Sonne hell beleuchtet, die ferne Kanonade, der ungeheure Zug, dessen letzte Bajonette Lichter unter dem Obelisken warfen: das war schon etwas Theatralisches, Lyrisches, Episches!

Sie bot ein grosses und stolzes Schaustück, diese Armee, wie sie Kanonen, die man hörte, entgegenzog, in ihrer Mitte Zivilisten mit weissem Bart, die Väter waren, unbärtige Gestalten, die Söhne waren, und ausserdem in den halb offenen Reihen Frauen, die die Gewehre ihrer Männer trugen.

Unmöglich das Pittoreske zu schildern, das der Krieg durch diese Bürgermenge bekommt, die zum Teil in Fiakern hinausgebracht wird, zum Teil in noch nicht angestrichenen Omnibussen, in Lastwagen aus der Pianofabrik von Erard, die eilig in militärische Trainwagen verwandelt worden sind.

Wohl gab es auch einige Trunkenbolde, ein paar Lieder von Spassvögeln stachen etwas ab von der Nationalhymne, und überall war auch etwas von der Spitzbüberei, deren sich der französische Heroismus niemals entledigen kann, aber der Gesamteindruck des Schauspiels war doch rührend und grandios.

Donnerstag, 19. Januar. – Ganz Paris geht von zu Hause fort und bummelt, Neuigkeiten erwartend. In Reihen stehen die Leute vor den mit Stroh ausgepolsterten Türen der Lazarette. Vor der Mairie der Rue Drouot steht die Menge so dicht gedrängt, dass kein Apfel zur Erde fallen könnte. Der dicke Maler Marchai, den die Belagerung nicht zusammengeschmolzen hat, steht in der Uniform der Nationalgarde da und sperrt den vorbeikommenden Wagen den Weg.

Gute Nachrichten laufen um. Dann kommen die ersten Zeitungen und verkünden die Wiedereroberung von Montretout. Grosser, froher Jubel! Die Leute, die eine Zeitung haben an sich bringen können, lesen sie Gruppen, die sich um sie herum bilden, vor. Dann gehen alle froh zu Tisch, und rings um sich herum merkt man, wie alles über die glücklichen Einzelheiten des heutigen Kampfes plaudert.

Ich gehe zu Burty hinauf, den die Granaten aus der Rue Watteau verjagt haben, und der vorläufig am Boulevard über der Buchhandlung von Lacroix wohnt. Gegen vier Uhr hat er Rochefort gesehen, der ihm gute Neuigkeiten mitgeteilt hat und ein geistreiches Wort gesagt. Nämlich: als Trochu sich beklagte, er sähe seine Divisionen nicht mehr, rief Rochefort: »Gott sei Dank! Wenn er sie sähe, riefe er sie zurück.«

Freitag, 20. Januar. –Trochus gestern abend gekommene Depesche scheint mir der Anfang des Endes; sie verdirbt mir den Magen.

Ich schicke einen Teil meiner Brotportion meinem Nachbar, einem armen Nationalgardisten, der eben vom Krankenbett aufsteht und den Pélagie frühstücken gesehen hat: zwei Sous Pfeffergurken, das war sein Déjeuner.

An der Porte Maillot gibt es immer noch eine Menge Leute, allerdings weniger zahlreich, als jene, die an der Barrière du Trône nach der Affäre von Champigny gewartet hat. Alle sehen sich die Dinge mit einer traurigen Ahnung an, aber sie haben doch noch nicht das Bewusstsein des kläglichen Fiaskos.

Mitten unter den Lazarettwagen, den Karren, ziehen ziemlich unordentlich, ohne Musik, mürrisch, niedergeschlagen und ermattet, mit Kot bedeckt, die Männer aus den Marschkompagnien der Nationalgarde.

Aus einer dieser Kompagnien ertönt die scharf ironische Stimme eines Zurückkehrenden, der in das allgemeine stumme Staunen die Worte hineinwirft: »Nun, ihr singt ja keine Siegeslieder!«

Ich werde aus einem Wagen, der heimfährt, angerufen. Drin sitzt Herr Hirsch, der Unglücksmaler, der mir damals am La Chapelle-Tor das Unglück von Le Bourget angekündigt hat. Er ruft mir mit lässigem Tonfall zu: »Alles ist aus, die Armee kehrt zurück!« Und auf spöttische Weise erzählt er mir, was er gesehen, was er gehört hat, Dinge, die allerdings alle Grenzen der menschlichen Torheit zu überschreiten scheinen.

Die Menge wird ernst, sie zieht sich gewissermassen in ihre Trauer zurück. Auf den Bänken warten Frauen von Nationalgardisten in verzweifelten Stellungen.

Mitten unter diesen Menschen, die sich von dem traurigen Schauspiel nicht losreissen können, die nicht fortgehen, die immer weiter warten, hüpfen zwei Männer herum, denen man ein Bein abgenommen hat; sie führen auf ihren Krücken ihr funkelnagelneues Kreuz spazieren; man sieht den beiden tief ergriffen von rückwärts nach.

Ich gehe am Hotel der Prinzessin vorbei, das Tor ist offen, wie in den Tagen, wo wir in Wagen vorfuhren, um dort intelligentes Vergnügen zu suchen. Von dort gehe ich nach dem Friedhof. Sieben Monate sind es jetzt, dass mein Bruder gestorben ist.

In Paris, auf dem Boulevard, sehe ich wieder die verzweifelte Mutlosigkeit einer grossen Nation, die durch ihre Anstrengungen, ihre Resignation, ihren moralischen Zustand selbst viel getan hat, um sich zu retten, und sich nun doch verloren fühlt, weil das Militär unintelligent ist.

Ich esse bei Peters zu Mittag, neben drei Aufklärern von Franchetti. Man merkt ihnen die tiefste Hoffnungslosigkeit an unter einer ironischen Maske, was ja die besondere Form der französischen Verzweiflung ist. »Nun sind wir soweit, wir sind soweit!« Sie sprechen von der Pariser Armee, die sich nicht mehr schlagen will, von dem heroischen Kern, der sie aufrecht hielt und bei Champigny, bei Montretout gefallen ist ... und immer, immer sprechen sie von der Unfähigkeit der Führer.

Samstag, 21. Januar. – Ich bin betroffen, mehr als je betroffen von dem Todesschweigen, das ein Unglück über eine grosse Stadt bringt. Heute hört man Paris nicht mehr leben.

Alle sehen aus wie Kranke, wie Rekonvaleszenten. Man sieht nur noch magere, schmächtige, hagere Gesichter, sieht nur noch bleiche Menschen, deren gelbe Hautfarbe wie das Pferdefett aussieht. Im Omnibus sitzen vor mir zwei Frauen in tiefer Trauer: Mutter und Tochter. Jeden Augenblick zucken die schwarzen Wollhandschuhe der Mutter nervös, fahren mechanisch an die roten Augen, die nicht mehr weinen können, indes eine langsam fliessende Träne auf den Wimpern des zum Himmel erhobenen Auges der Tochter trocknet.

Nach und nach haben wir die Läden der Charcutiers zu leeren Lokalen werden sehen, geschmückt nur noch mit gelblichen Fayencen, die Läden der Schlächter haben herabgelassene Vorhänge, und vor den Türen sind Vorlegschlösser; heute sind die Läden der Bäcker an der Reihe, es sind nur noch schwarze Löcher, die Auslagen sind luftdicht verschlossen.

Burty hat von Rochefort gehört, dass Chancy seine Truppen, als er sie fliehen sah, mit dem Degen in der Hand anfeuern und vorführen wollte; dann, als er sah, dass Schläge und Schimpfworte nichts fruchteten, gab er der Artillerie den Befehl, in sie hineinzufeuern.

Ein vielsagender Satz: Eine Dirne, die hinter mir in der Rue Saint-Nicolas herläuft, flüstert mir ins Ohr: »Herr, wollen Sie zu mir hinaufkommen ... für ein Stück Brot?«

Sonntag, 22. Januar. – Heute früh übersiedle ich mit dem, was mir am teuersten ist, unter dem Platzen der Granaten, die rechts und links von uns niederfallen, voll Angst, dass das einzige Pferd meines Möbelwagens durch einen Splitter getroffen wird, voll Angst, dass ein Granatsplitter einen von diesen armen Teufeln, die meine Uebersiedlung besorgen und die mutig über den immer näher kommenden Schall der Kanonade Spässe machen, verletzt oder tötet.

Ich schaffe meine Bibelots nach der Wohnung auf dem Boulevard Ecke Rue Vivienne, von der mir Burty liebenswürdig einen Teil zur Verfügung gestellt hat.

Plötzlich ein rasender Lärm. Wir gehen auf die Strasse, man erzählt uns, dass man sich am Hôtel de Ville schlägt. Auf unserm Wege überall sich steigernder Lärm, Aufregung, dazwischen aber sehe ich die Schutzmänner von Paris ruhig Stereoskopbilder betrachten. In der Rue de Rivoli erfahren wir, dass alles vorbei ist, und sehen, von Dragonern und Chasseurs eskortiert, den General Vinoy schnell vorbeireiten. Und während Liniensoldaten von Puteaux her, förmlich bekränzt mit Efeu, die Rue de Rivoli hinaufziehen, defilieren Kanonen auf dem Kai nach dem Hôtel de Ville.

Abends bietet der Boulevard den Anblick der bösesten Revolutionstage. Diskussionen, die jeden Augenblick in Schlägereien ausarten. Pariser Soldaten klagen »Trochu's Leute« an, ohne jeden Grund gefeuert zu haben; Frauen schreien, dass man das Volk ermordet. Nun sind wir bei den letzten Zuckungen des Todeskampfes.

Montag, 23. Januar. – Heute habe ich wahrlich ein sonderbares Bild gesehen! In Restaurants, die noch offen sind, bringen die Mittagsgäste unter dem Arm ihr Brot mit, weil seit gestern ein Zettel angeschlagen ist, dass die Wirte ihren Gästen das Brot nicht mehr liefern können.

In den Gassen hängt da und dort noch ein alter zerfetzter Anschlag, auf dem von Bourget oder der Ebene von Avron gesprochen wird; so kann man an den Mauern gewissermassen die Geschichte unserer Niederlagen in Fortsetzungen lesen.

Ich gehe, Duplessis in der Bibliothek besuchen; und im Dunkel dieser Salle des Estampes, wo mein Bruder und ich so viele Stunden des Studiums verbracht haben, ist ein Angestellter verpflichtet, mich darauf aufmerksam zu machen, dass ich mich mit einem Kübel Wasser oder einem Stoss Kartons bewaffnen soll. Heute ist's ein Keller, in dem alle die einzigen Reichtümer, die den Neid ganz Europas erregen, aufgestapelt sind, wie für eine Uebersiedlung – aber ich fürchte mich, dieses Wort ausgesprochen zu haben.

Dienstag, 24. Januar.– Vinoy tritt an die Stelle von Trochu; das ist der Wechsel der Aerzte am Krankenbett, wenn der Tod nahe ist.

Heute ist keine Kanonade mehr. Warum? Diese Unterbrechung des Donners am Horizont scheint mir ein schlimmes Vorzeichen.

Das Brot, das man jetzt isst, ist so beschaffen, dass die letzte Ueberlebende meiner Hennen, eine kleine scheckige, komische Henne, wenn man ihr davongibt, ächzt, weint, sich krümmt und sich erst spät am Abend überhaupt entschliesst, es zu fressen.

Auf dem Boulevard gerate ich in eine Menschenmenge, die die ganze Fahrstrasse absperrt und den Omnibussen den Weg verlegt. Ich frage mich, ob das ein neuer Aufruhr ist. Nein – alle diese in die Lüfte starrenden Köpfe, alle diese Arme, die etwas zeigen, alle die Sonnenschirme der Frauen, die sich bewegen, dieses zugleich ängstliche und hoffende Warten gilt einer Taube – vielleicht bringt sie Depeschen –, die auf dem Schornstein eines der Kamine des Theaters rastet.

In dieser Menschenmenge begegne ich dem Bildhauer Christophe; er teilt mir mit, dass Vorbesprechungen über die Uebergabe der Stadt eingeleitet sind.

Bei Brébant in dem kleinen Vorzimmer vor dem grossen Raum, in dem man speist, sitzen die Leute heute wie gebrochen auf den Kanapees und den Fauteuils herum; alles spricht mit leiser Stimme, wie in einem Krankenzimmer, von den traurigen Ereignissen des Tages und dem Morgen, der uns erwartet.

Man fragt sich, ob Trochu nicht einfach verrückt ist. Bei diesem Anlass erzählt jemand, er habe eine schon gedruckte Affiche zu Gesicht bekommen, die allerdings dann nicht angeschlagen wurde, sie war für die Truppe bestimmt, und dieser Trochu sprach darin von Gott und der heiligen Jungfrau, wie ein Mystiker sprechen würde.

In einer Ecke sagt ein anderer, seiner Meinung nach sei das Verbrecherischeste an diesen beiden Männern Trochu und Favre, dass sie von allem Anfang an in den intimsten Beziehungen zu den »Entmutigten« gestanden hätten, dass sie aber trotzdem durch ihre Reden, ihre Proklamationen der Menge den Glauben, ja die Sicherheit gegeben hätten, die Befreiung sei nahe, und dass sie ihr die Sicherheit bis zum letzten Augenblick gelassen hätten. »Darin liegt«, sagt du Mesnil, »eine besondere Gefahr: denn man weiss nicht, ob die Uebergabe, wenn sie unterzeichnet ist, nicht von der männlichen Bevölkerung von Paris einfach zurückgewiesen wird.« Renan und Nefftzer machen allerdings ablehnende Gebärden.

»Geben Sie acht,« fährt du Mesnil fort, »es ist da nicht die Rede von der revolutionären Partei, ich spreche von dem energischen bürgerlichen Element der Bevölkerung, von jenem Teil der Feldkompagnien, der sich geschlagen hat, und der sich schlagen will, und der nicht so auf einmal die Uebergabe der Gewehre und der Kanonen annehmen kann.«

Zweimal schon hat man uns angekündigt, dass das Diner aufgetragen ist, aber niemand hat hören wollen. Endlich setzt man sich zu Tisch. Jeder zieht sein Stück Brot heraus. Irgend jemand erzählt, Bauer hätte Trochu den Spitznamen gegeben: »Ein Ollivier zu Pferd«.

Die Suppe ist gegessen, und nun sagt Berthelot, was der wirkliche Grund unserer Niederlagen sei: »Nein, es ist nicht so sehr die Ueberlegenheit der Artillerie, es ist etwas ganz anderes, das ich Ihnen erklären will. Die Dinge liegen so: wenn der Führer des preussischen Generalstabs den Befehl hat, ein Armeekorps zu einer bestimmten Stunde bis zu einem bestimmten Punkte vorrücken zu lassen, so nimmt er seine Karten, studiert das Land, das Terrain, berechnet die Zeit, die jedes Korps brauchen wird, um einen bestimmten Teil des Weges zurückzulegen. Wenn er irgendwo einen Abhang sieht, nimmt er ein ... (er nennt ein Instrument, dessen Namen ich vergessen habe) und berechnet die Verzögerung, die das ergibt. Schliesslich, bevor er sich schlafen legt, hat er die zehn Routen herausgefunden, auf denen zu der gegebenen Stunde die Truppen einmünden werden. Unser Generalstabsoffizier macht nichts von alledem; er geht am Abend seinen Vergnügungen nach, am nächsten Morgen kommt er aufs Schlachtfeld, fragt, ob die Truppen eingetroffen sind, und wo der beste Ort für den Angriff ist. Seit dem Anfang des Feldzuges ist das so, und ich wiederhole es, das ist der Grund unserer Niederlagen; von Weissenburg bis Montretout haben wir niemals an einem gegebenen Punkt, zu einer gegebenen Zeit Truppen zusammenführen können.«

Man bringt eine Hammelschulter.

»Ach,« sagt Hébrard, »bei unserem nächsten Diner wird man uns den Hirten dazu vorsetzen.«

In Wirklichkeit ist es ein sehr schöner Hunderücken.

»Hund? Sie sagen, dass es Hund ist,« ruft Saint- Victor mit der weinerlichen Stimme eines zornigen Kindes, »nicht wahr, Kellner, das ist kein Hund?«

»Aber es ist das dritte Mal, dass Sie hier Hundefleisch essen!«

»Nein, es ist nicht wahr! Herr Brébant ist ein ehrenhafter Mann, er würde es uns vorher sagen, Hundefleisch ist ein unreines Fleisch,« sagt er mit einem komischen Ekel, »Pferd, ja. Hund, nein!«

»Hund oder Hammel,« murmelt Nefftzer mit vollem Munde, »ich habe noch nie einen so guten Braten gegessen . . . Wie wenn Ihnen Brébant Ratten vorsetzen würde? .. .Ich kenne das auch ... Es schmeckt sehr gut . . . Der Geschmack ist wie eine Mischung von Schwein und Rebhuhn.«

Während dieser Auseinandersetzung wird Renan, der ganz in Gedanken und Sorgen versunken schien, bleich, dann grün, wirft seinen Teil für die Rechnung auf den Tisch und verschwindet . . .

 

»Sie kennen Vinoy ...« sagt jemand zu du Mesnil, »was ist das für ein Mensch und was wird er machen?«

»Vinoy?« antwortet du Mesnil, »er ist ein Schlaukopf, ich glaube, er wird nichts machen, er wird den Gendarmen spielen.«

Daraufhin zieht Nefftzer gegen den Journalismus und die Journalisten los. Er sieht jetzt aus, als könne ihn jeden Augenblick der Schlag treffen, und seine teutonische Rede, oft erstickt von Wut, bellt gleichsam gegen die Unfähigkeit, die Unwissenheit, die Lügen seiner Kollegen, die er anklagt, den Krieg zuerst veranlasst und dann zu einem so entsetzlichen Verlauf gebracht zu haben.

Da verlangt Hébrard einen Augenblick Stille und zieht aus seiner Tasche ein Papier heraus. »Hören Sie, meine Herren, hier der Brief des Gemahls einer bekannten Frau; er verlangt das Kreuz der Ehrenlegion und führt als Grund seines Anspruchs seine Hahnreischaft an, ja, meine Herren, wörtlich seine Hörner und sein häusliches Unglück, die beide der Geschichte angehören.«

Ein homerisches Gelächter folgt der Lektüre dieser spassigen Bittschrift.

Bald aber bringt der Ernst der Situation alle Gäste wieder dazu, sich zu fragen, wie die Preussen sich uns gegenüber verhalten werden. Es gibt Leute, die glauben, dass sie die Museen ausräumen werden. Berthelot fürchtet, sie werden das Material unserer Industrie fortführen.. .Diese Bemerkung führt, auf welchem Wege weiss ich nicht, zu einer grossen Diskussion über die Farbstoffe und das "türkische Rot", von wo das Gespräch dann wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Nefftzer behauptet im Gegensatz zu allen übrigen, dass die Preussen durch ihren Edelmut und ihre Hochherzigkeit in Erstaunen versetzen würden. Amen!

Als wir Brébant verlassen, ist auf dem Boulevard das Wort Kapitulation, das auszusprechen vor wenigen Tagen vielleicht noch gefährlich gewesen wäre, auf allen Lippen.

Mittwoch, 25. Januar. – Heute ist nichts mehr von der Widerstandskraft und nichts von der fieberhaften Aufregung zu merken, die alles Kommen und Gehen der vergangenen Tage beherrscht hatte. Die Bevölkerung ist müde und schleppt sich wie ein Vogel unter einem grauen Himmel, von dem immerfort schwere Schneeflocken herabfallen.

Es ist kein Platz mehr für die Absurditäten der Hoffnungen.

Lange Reihen von Menschen bilden sich an den Türen jener Händler, die noch die einzige Sache, die es zu essen gibt, verkaufen: der Verkäufer von Schokolade. Und man sieht Soldaten, die sich rühmen dürfen, ein Pfund Schokolade erobert zu haben.

Donnerstag, 26. Januar. – Nun kommt es näher. Neue Batterien scheinen demaskiert. Geschosse platzen, jeden Augenblick ein neues, auf dem Eisenbahngeleise, und unser Boulevard Montmorency wird von Leuten, die auf allen Vieren gehen, überschritten. Man kann allen jene schmerzliche Geisteswandlung anmerken, durch die allmählich der Gedanke an die Schande der Uebergabe gewöhnt wird. Immerhin, es gibt weibliche Energien, die noch widerstehen. Man erzählt von armen Frauen, die noch heute morgen beim Warten vor den Bäckerläden riefen: »Man soll unsere Rationen noch vermindern, wir sind bereit, alles zu ertragen, aber die Stadt soll man nicht übergeben.«

27. Januar. – Ich gehe heute früh zum Begräbnis Regnaults.

Eine enorme Menge Leute. Man weint angesichts dieses jungen Kadavers eines Talents, beweint das Begräbnis Frankreichs. Diese Gleichheit vor dem brutalen Tode durch die Kanonenkugel oder den Gewehrschuss, der ebenso das Genie wie den Toren trifft, die kostbare Existenz wie die unnütze, ist wahrlich entsetzlich.

Ich hatte davon geträumt, von ihm ein Bildnis meines Bruders machen zu lassen, in der Grösse des Knieporträts, das er von der Gräfin von Nils Barck gemacht hat. Nun wird mein Bruder also nicht neu aufleben durch das Talent dieses Koloristen, für den ich hier ein De Profundis höre, angestimmt vom Klang der Hörner und vom Wirbel der Trommel. Hinter der Bahre sah ich ein junges Mädchen in Witwenkleidung gehen wie einen Schatten. Man sagte mir, es sei seine Braut.

Ich gehe fort und trete in den Laden von Goupil, wo ein Aquarell des Verstorbenen, noch nicht eingerahmt, ausgestellt ist. Es zeigt Marokko wie in einer Vision aus Tausend und einer Nacht.

 

Das Feuern hat aufgehört. Ich mache einen Rundgang in der Umgebung von Auteuil.

Eine Frau schreit ihrem Nachbar zu: »Wir sind noch immer im Keller, aber jetzt werden wir bald wieder in die Höhe steigen!«

Löcher in den Dächern, Risse in den Fassaden, aber wenig wirklicher Materialschaden ist von diesem eisernen Gewittersturm, der über unsere Köpfe hinweggegangen ist, angerichtet worden. Nur eine Erdzunge zwischen dem Viadukt und dem Friedhof von Auteuil ist ganz durchlöchert von drei Meter grossen Löchern; die Geschosse sind dort so nahe nebeneinander gefallen, dass – im Riesenmassstab – ganz die gleichen regelmässig angeordneten Löcher entstanden sind, wie sie am Point du Jour die Barrikadenkommission herstellen liess.

Nahe am Michelangelo-Tor steige ich auf den Viadukt hinauf. Hundert Häuser brennen in Saint-Cloud lichterloh: das Freudenfeuer, das sich die Preussen für ihren Triumph leisten! Ein kranker Soldat, an die Brüstung gelehnt, lässt die Worte hören: »Es ist ein Jammer, das mitanzusehen!«

Samstag, 28. Januar. – Sie sind wirklich glücklich, diese Journalisten. Sie sind fast stolz auf das, was die Republik für die nationale Verteidigung getan hat. Sie berichten, von Hochgefühl geschwellt, von dem Kompliment, das unserem Heroismus von den Preussen gemacht wird, und hoffen beinahe, dass Trochu von der Nachwelt als grosser Kriegsheld anerkannt wird.

Neben der Heiterkeit auf den Gesichtern der Soldaten ist die Verzweiflung, die der Seesoldat, der mit seinem Pack unter dem Arm vorübergeht, in jedem Zug zeigt, geradezu ein schöner Anblick.

Man wird nicht müde, über die Unfähigkeit der Regierung im ganzen, über die Unintelligenz jedes einzelnen Mitgliedes der Regierung zu sprechen. Ein Gast bei Brébant erzählt mir, er habe das Folgende aus dem Munde von Emmanuel Arago gehört: »Wir bereiten den Preussen eine schöne Ueberraschung vor, auf so etwas sind sie wahrhaftig nicht gefasst, nun, sie werden schön erstaunt sein, wenn sie in Paris einziehen wollen! ...»Mein Freund erwartete nun die Ankündigung des griechischen Feuers oder irgendeiner ähnlichen Sache. Nein, er täuschte sich. Emmanuel liess noch einen Augenblick auf seine Antwort warten und gab dann folgenden Satz von sich: »Die Preussen werden nämlich gar keine Regierung finden, mit der sie werden verhandeln können, denn wir werden uns zurückgezogen haben!«

Ich streife durch die Stadtviertel, die beschossen worden sind: Risse, Löcher, aber ausser einem Pfeiler, der vom Warenhaus » Balayeuse« weggerissen worden ist, nichts besonders Erschütterndes. Eine Bevölkerung, die den Entschluss fasst, sich in die Keller zu verkriechen, könnte sehr gut, ohne grosse Gefahr, einen Monat kräftiger Beschiessung ertragen. Jetzt sieht man in diesen Gegenden wieder die kleinen Handwagen, auf denen der Hausrat zurückgebracht wird; die Bewegung des Lebens scheint neu zu erstehen.

Ein Militär in weissem Mantel ruft dem Kondukteur des Omnibusses, indes er ihm eine Granate hinaufreicht, zu: »Nehmen Sie das, während ich aufsteige, und geben Sie acht ... verdammt, geben Sie doch acht!«

Burty bestätigt mir die Geschichte von der mystischen Affiche Trochus, von der man bei dem Diner bei Brébant gesprochen hatte; neun Tage sollte auf höheren Befehl ein Weihegebet an die Jungfrau gesprochen werden, dann sollte ein Wunder folgen. Ist das nicht Ironie? – wenn es nämlich wahr ist, dass Frankreich sein Heil in die Hände eines Mannes gegeben hat, der in ein Narrenhaus gehört.

Montag, 30. Januar. – Mir scheint die Kapitulation das härteste Schicksal. Sie hat die nächste Nationalversammlung zu einer neuen Versammlung jener Bürger von Calais gemacht, die, den Strick um den Hals, die Bedingungen Eduards VI. über sich ergehen lassen mussten. Was mich aber am meisten entrüstet, ist das Jesuitische dieser Regierung, die, weil sie das Wort Konvention statt Kapitulation als Titel eines entehrenden Vertrages erreicht hat, nun hofft, Frankreich das wahre Ausmass seines Unglücks und seiner Schande verheimlichen zu können. Es sind wahrhaftig traurige Schlauköpfe. Bourbaki wird bei dem Waffenstillstand ausgeschaltet, aber es ist ein »allgemeiner« Waffenstillstand! Die Konvention der entsiegelten Briefe! Und all die schändlichen Geheimnisse, die uns die Unterhändler noch verbergen, noch vorenthalten, und die uns von der Zukunft doch langsam und allmählich enthüllt werden! Ach, hat wirklich die Hand eines Franzosen so etwas unterzeichnen können?

Und dass sie wirklich noch stolz darauf sind, die Kerkermeister und die Ernährer ihrer eigenen Armee sein zu dürfen, das ist doch zu dumm! Sie haben also nicht begriffen, dass diese scheinbare Milde eine Falle Bismarcks war? In Paris hunderttausend undisziplinierte und durch ihre Niederlagen demoralisierte Männer in diesen Tagen der Hungersnot, die bis zur Wiederverproviantierung vergehen müssen, heisst das nicht, den Aufruhr, die Meuterei, die Plünderei drin einschliessen? Heisst es nicht, förmlich einen Vorwand vorbereiten für den Einzug in Paris?

In einem Zeitungsblatt, das die Uebergabebedingungen enthält, lese ich von der Thronbesteigung König Wilhelms als Kaiser von Deutschland. In Versailles in der Spiegelgalerie, hart am Steinbild Ludwigs XIV., das im Hofe steht! Das und da! – es ist wirklich das Ende der Grösse Frankreichs.

Dienstag, 31. Januar. – Heute abend speiste ich im Restaurant neben einem Advokaten am Kassationshof, Herrn P. Ich sagte ihm, es sei sehr günstig, dass die nächste Nationalversammlung nur eine ganz bestimmte Zahl von Advokaten und Worthändlern haben könne. Ich fügte hinzu, dass nach meiner Meinung Frankreich sich vielleicht retten könnte, wenn man sich zwanzig Jahre lang der parlamentarischen Beredsamkeit enthalten könnte, aber dass das wirklich die conditio sine qua non seines Heils wäre.

Und, trotzdem er ein Advokat war, gab er zu, dass er meine Ansicht teile, und nahm das zum Ausgangspunkt, um mir den ganzen schmutzigen Handel der kleinen Leute im »Palais« zu enthüllen.

Er schilderte mir alle die Zwei-Sous-Advokaten, alle die Anwälte ohne Prozesse, ohne Talent und ohne Ehrenhaftigkeit, die, von Crémieux unterstützt, auf der Suche nach Posten in der höheren Verwaltung sind.

 

Dienstag, 7. Februar. – Ein sonderbarer Zug, allerlei Leute, Männer und Frauen, kommt vom Pont de Neuilly nach der Stadt zurück. Alle sind beladen mit Handkoffern, mit Toilettenecessaires, mit Taschen, die zum Platzen mit irgend etwas Essbarem angefüllt sind.

Bürger tragen auf den Schultern fünf oder sechs Hühner und als Gegengewicht zwei oder drei Kaninchen. Ich bemerke eine elegante kleine Frau, die in einem Spitzentaschentuch Kartoffeln trägt. Und nichts ist beredter als die Glückseligkeit, fast möchte man sagen die Zärtlichkeit, mit der diese Leute in ihren Armen die Vierpfundbrote tragen, diese schönen weissen Brote, die Paris so lange entbehrt hat.

Heute abend bei Brébant verlässt die Konversation die Politik, und man geht zur Kunst über. Renan setzt da ein und erklärt, dass der Markusplatz eine Scheusslichkeit sei. Als Gautier – und wir alle mit ihm – uns dagegen empören, verkündet Renan, die Kunst müsse nach »rationellen Elementen« beurteilt werden, man brauche nichts anderes, und nun deliriert er in aller Oeffentlichkeit.

Ach, was ist das für ein komisches Gehirn, wenn es nämlich Gedanken über Dinge, von denen es nichts versteht, vorbringt. Und so sehr ich ihn als Menschen liebe, werde ich doch über dieses blasphemische Gerede ungeduldig, unterbreche ihn plötzlich und frage ihn sozusagen aus heiterem Himmel, was für eine Farbe die Tapete seines Salons hat. Diese Frage verwirrt ihn, bringt ihn ausser Fassung, er kann nicht antworten. Ich bestehe auf meiner Ansicht, dass jemand, der von Kunst sprechen will, die Farben der Wände, zwischen denen er seine Tage verbringt, kennen muss, und dass die Augen immer noch die besten Werkzeuge der künstlerischen Erkenntnis sind, besser als das »rationelle Element«.

All die Tage schliesse ich mich, von einer Art Wut gegen mein Vaterland, gegen diese Regierung ergriffen, ein, lege mir Klausur in meinem Garten auf, versuche, meine Gedanken, meine Erinnerungen zu töten, meine Vorstellungen von der Zukunft durch Arbeit zu vernichten; ich lese keine Zeitungen mehr und fliehe die Leute, die Nachrichten haben.

Dieses Paris mit allen den Feldsoldaten, die hier ihre Langeweile und ihre Heimatlosigkeit spazieren führen, bietet einen herzzerbrechenden Anblick; die Leute gleichen fast den blöden und aus der Fassung gebrachten Tieren, die man zu Beginn des Krieges im Bois de Boulogne herumirren sah; aber es gibt ein anwidernderes Bild, und das sind die geckenhaften Offiziere, die alle die Cafétische auf den Boulevards in Besitz genommen haben, und die nur von einem Gedanken erfüllt sind, nämlich von dem Spazierstock, den sie heute früh gekauft haben, um auf dem Asphalt zu paradieren!

Diese so wenig heroischen Uniformen lassen sich wirklich zu viel sehen, es fehlt an Takt und Diskretion.

Samstag, 11. Februar. – Paris fängt an, wieder Fleisch und essbare Dinge zu haben, nur fehlt den Parisern die Kohle, um zu kochen.

Sonntag, 12. Februar. – Ich steige zu Théophile Gautier hinauf, der sich von Neuilly nach Paris in die Rue de Beaune geflüchtet hat, in den fünften Stock eines Arbeiterhauses.

Ich gehe durch ein kleines Zimmer, wo auf dem Fensterbrett in elenden Kleidern seine zwei Schwestern sitzen, die Schwänzchen der weissen Haare in Netzen aus Baumwollstoff.

Die Mansarde, in der sich Théo aufhält und die ganz vom Rauch seiner Zigarre erfüllt ist – so klein und niedrig ist sie –, enthält nur ein Eisenbett, einen alten eichenen Lehnstuhl und einen Strohsessel, auf dem sich magere Katzen, wahre Hungersnotkatzen, Schatten von Katzen herumtreiben und rekeln. Zwei oder drei Studienblätter sind irgendwo an der Wand angeheftet, und drei Dutzend Bücher liegen kreuz und quer auf weissen Holzbrettern, die man eiligst angebracht hat.

Mitten drin ist Théo in einer roten, nach venezianischer Art zugespitzten Kappe und einem Samtwams, ehemals als »kleiner Anzug« für die Empfänge in Saint-Gratien angefertigt, jetzt aber so voll von Flecken und so speckig, dass es aussieht wie die Jacke eines neapolitanischen Kochs. Und der üppige Meister der Schrift und des Wortes erscheint einem jetzt wie ein Doge in der Misere, wie ein armer und melancholischer Marino Faliero aus einer Aufführung des Théâtre Saint-Marcel!

Während er sprach – sprach wie Rabelais wohl gesprochen haben muss –, dachte ich immer wieder an die Ungerechtigkeit, mit der Kunst bezahlt wird. Ich dachte an das üppige und scheussliche Mobiliar Ponsons du Terrail, das ich heute früh aus der Rue Vivienne für die Zeit der Belagerung irgendwoanders hinbringen sah, weil dieser Verdiener von 70000 Franken im Jahr gestorben ist.

Sonntag, 26. Februar. – Man kündigt an, dass die Preussen morgen die Stadt besetzen werden. Morgen werden wir also den Feind in unserer Mitte haben. Gott behüte Frankreich vor diplomatischen Verträgen, die Advokaten aufgesetzt haben!

Montag, 27. Februar. – Etwas Düsteres und Unruhiges ist heute in der Pariser Physiognomie. Man sieht auf ihr die ängstliche Befangenheit, die schmerzliche Ahnung der Okkupation.

Auf dem Platz vor dem Hôtel de Ville, nahe am Ufer, defilieren, angeführt vom Tambour, Nationalgardisten, Immortellensträusschen im Knopfloch, vom Weine berauscht, grüssen sie das alte Baudenkmal mit dem Rufe: »Vive la République!«

Die Rue de Rivoli ist ein Jahrmarkt aller erdenklichen Produkte, die man auf den Bürgersteigen ausgebreitet hat, auf der Fahrstrasse aber kreuzen einander die Wagen des Todes und des neuerweckten Lebens: nämlich Leichenwagen und die Gefährte, auf denen getrocknete Stockfische herbeigeschafft werden.

Es gibt eine grosse, göttliche Ironie, die sich darin zu gefallen scheint, die menschlichen Programme Lügen zu strafen. In diesen Tagen des allgemeinen Wahlrechts, in diesen Tagen, wo die Geschäfte und die Regierung des Landes von allen Bürgern geführt wird, ereignet es sich, dass die Geschicke Frankreichs so despotisch gelenkt werden, wie es nie, nie vorher der Wille eines Mannes, gleichviel ob Favre oder Thiers, getan hätte, und dies geschieht noch dazu mit einer ganz vollendeten Unkenntnis des wahren Wesens der Bürger, sowie aller Ereignisse, aller Dinge, die in ihrem Namen geschehen.

Dienstag, 28. Februar. – Es ist unmöglich, die traurige Stimmung wiederzugeben, die einen umgibt. Paris ist von der schrecklichsten Vorstellung beherrscht: von der Angst vor dem Unbekannten.

Meine Augen erblicken nur noch bleiche Gesichter in Krankenwagen; es sind die Verwundeten aus dem Florapavillon, die man in aller Eile irgendwoanders hinbringt, damit König Wilhelm in den Tuilerien frühstücken kann.

Auf der Place Louis XV. haben die Statuen der Städte Frankreichs heute die Gesichter mit Schleiern verhüllt. Diese steinernen Frauen mit ihren nächtlichen Antlitzen erheben in der Sonne und dem klaren Tageslicht einen Einspruch von seltsamer, todestrauriger, phantastisch-aufrührerischer Art.

1. März. – Unseliges Auteuil! Diese Vorstadt wird von dem übrigen Paris abgeschnitten gewesen sein, geplündert von den Mobiltruppen, ausgehungert, beschossen, nun wird sie auch noch das Unglück der preussischen Besetzung haben.

Heute früh hat Paris nicht mehr seine grosse und tönende Stimme, die beunruhigende Stille schlechter Stunden ist so gross, dass wir von der Boulogner Kirche her elf Uhr schlagen hören.

Der Horizont ist leer, gleichsam unbewohnt. Man hat noch nichts gesehen als ein paar Ulanen, die mit allen möglichen Vorsichtsmassregeln den Bois de Boulogne abgesucht haben.

Dann erhebt sich aus dem schweigenden Erdraum der stumpfe und ferne Lärm der preussischen Trommeln; sie kommen näher. Ich weiss nicht, warum es so ist – aber das Gefühl, dass meine Tür sich auftun soll, diesen Deutschen Eintritt gewähren, sie für ein paar Tage zu Herren meines Hauses machen – diese Perspektive fügt mir einen fast körperlichen Schmerz zu.

Und jetzt ist das Rollen der Wagen und der preussischen Militärfuhrwerke schon wie ein Donner. Von meinem Garten aus sehe ich durch das Gitter zwei Soldaten mit vergoldeten Uniformkappen vor meinem Hause haltmachen, es betrachten und dann französisch kauderwelschen ... Sie gehen vorüber.

Niemals sind mir die Stunden so lang erschienen, Stunden, in denen es mir unmöglich war, meine Gedanken auf irgend etwas zu konzentrieren, Stunden, in denen es mir nicht möglich war, auch nur einen Augenblick auf demselben Fleck zu bleiben. Die preussische Retraite hat dann schliesslich ertönt, und noch ist kein einziger Preusse erschienen, – wir werden sie also wohl erst morgen haben.

In der Nacht schleiche ich mich nach Auteuil, wo nicht ein einziges lebendes Wesen auf der Strasse zu sehen ist, nicht ein Licht in den Fenstern, und durch die Strassen mit ihrem todestraurigen Aussehen sehe ich Bayern gehen, die in Gruppen von je vieren herumspazieren und sich in der Todesstimmung dieser Stadt nicht sehr wohl fühlen.

2. März. – Es ist neun Uhr früh; noch immer nichts. Ich empfinde ein sonderbares Gefühl der Erleichterung. Wir werden vielleicht den Preussen entwischen. Ich gehe in den Garten hinunter. Es ist blauer Frühlingshimmel, voll von der jungen Sonne, und überall zwitschern die Vögel. Die Natur, über die ich so viel Böses gesagt habe, rächt sich wahrlich grausam an mir. Ich bin von ihr wie besessen, von ihren Umarmungen gleichsam erdrückt, durch sie verdummt. Mein Garten wird zu meiner einzigen Beschäftigung, zum einzigen ehrgeizigen Ziel meiner Gedanken.

Ich versuche nach Paris zu kommen, und trotzdem ich den Wunsch habe, keinen Preussen zu sehen, gehe ich bis nach Passy. An der Muette, wo der Stab des Kreises ist, sind bayrische Schildwachen. Auf der Strasse sieht man ruhige und durchaus nicht aufreizende Gruppen von Soldaten spazieren gehen oder einfältig die geschnitzten Parapluiegriffe betrachten. Auf allen Türschwellen bayrische Uniformen. Trotz eines gelben Anschlags, der die Kaufleute auffordert zu schliessen, sind alle Läden offen. Mitten unter Bürgern und Arbeitern, die ohne Aufregung das Fremde betrachten, sind nur ein paar alte Frauen, deren hochgradige Aufregung sich durch wütende Blicke und das Flüstern von Flüchen, die sie im Gehen aus ihren zahnlosen Mündern gleichsam ausspucken, verrät.

Als ich vom Hause fortging, hatte man mir gesagt, dass der Friede unterzeichnet sei ... dass sie noch heute mittag fortgehen würden. In Passy kündigt man mir an, dass neue Korps ankommen, und dass sie die Häuser von Auteuil heute besetzen werden. Ich gehe wieder nach Hause und warte den ganzen Tag, grausam aufgeregt durch die Vorstellung, dass mein Haus besetzt werden soll von den Siegern, in deren Heimat mein Vater und meine Oheime von mütterlicher und väterlicher Seite so lange ihrerseits Quartier genommen haben.

Freitag, 3. März. – Ich werde aufgeweckt von Musik, ihrer Musik. Ein herrlicher Morgen, eine schöne Sonne, die sich um menschliche Katastrophen nicht kümmert, ob sie nun Schlacht bei Austerlitz oder Einnahme von Paris heissen. Wunderbares Wetter, aber der Himmel ist voll von krächzenden Raben, deren Schreie man sonst hier in dieser Jahreszeit nie hört – die führen sie immer mit sich, gleichsam ein schwarzes Geleit ihrer Heere. Sie gehen fort, sie verlassen uns endlich – man kann an die Befreiung noch gar nicht glauben, und in stummer Ergriffenheit betrachtet man die lieben und teuren Dinge seines Heims, die nicht nach Deutschland fortgeführt worden sind.

Die Befreiung kam für mich in Gestalt zweier Gendarmen, die im Galopp heransprengten, um wieder Besitz vom Boulevard Montmorency zu ergreifen.

Die Leute an meiner Seite gehen mit kleinen Schritten, glückselig, wie Genesende, die zum ersten Male ausgehen.

Passy hat als einzige Zeichen der Besetzung die Kreideinschriften behalten, die an den Haustoren und den Läden der Kaufleute die Zahl der Soldaten angeben, die von den Bewohnern untergebracht werden mussten.

Die Champs-Elysées sind heute voll von beweglichen und gesprächigen Menschen, die die frische Luft geniessen und die Demolierung eines Cafés gar nicht zu bemerken scheinen, eine Tat der Rache, weil es in allen den Nächten der Besetzung für die Preussen offen geblieben war.

 

Sonntag, 5. März. – Die Friedensbedingungen scheinen mir so drückend, so niederschmetternd, so tödlich für Frankreich, dass ich fürchte, der Krieg beginnt von neuem, bevor wir noch auf ihn vorbereitet sind.

Samstag, 18. März. – Heute früh erzählt die Frau, die uns das Brot bringt, dass man sich auf Montmartre schlägt.

Ich gehe hin und finde nur eine sonderbare Gleichgültigkeit allem, was sich begibt, gegenüber. Die Bevölkerung hat in den letzten Monaten soviel mit ansehen müssen, dass nichts sie mehr erregen kann.

Ich komme auf den Orléansbahnhof, wo der Leichnam des Sohnes Victor Hugos aufgebahrt ist. Der alte Hugo empfängt in dem Zimmer des Stationschefs. Er sagte zu mir: »Sie haben einen schweren Schlag zu tragen gehabt, ich auch ... aber bei mir ist es nichts Alltägliches mehr, zwei solche Donnerschläge in einem einzigen Leben!«

Und dann setzt sich der Leichenzug in Bewegung. Eine sonderbare Gesellschaft, in der ich kaum zwei oder drei Schriftsteller erkenne, dafür gibt es aber eine grosse Menge weiche Hüte, und je weiter wir kommen, je mehr wir in die Viertel der Cabarets kommen, desto mehr Trunkene mischen sich in den Zug oder schliessen sich schwankend an. Der weisse Kopf Hugos in einer Art von Kapuze beherrscht, wie er so hinter der Bahre hergeht, diese gemischte Gesellschaft und gleicht dem Haupt eines streitbaren Mönches aus der Zeit der heiligen Liga.

Rings um mich herum spricht man von Aufreizung zum Aufruhr, man macht sich über Thiers lustig, und Burty ärgert mich fürchterlich durch seine Spöttereien und sein offenbares Unverständnis der revolutionären Bewegung, die sich rings um uns vorbereitet. Ich bin sehr niedergeschlagen und voll der schmerzlichsten Ahnungen.

Bewaffnete Nationalgarden, durch die sich der Leichenzug einen Weg bahnen muss, präsentieren die Waffen vor Hugo, endlich sind wir beim Friedhof angelangt.

Dort kann dann die Bahre nicht in die Gruft hinein. Vacquerie hält eine lange Rede.

Wir kehren heim. Die Insurrektion triumphiert und nimmt Besitz von Paris. Man sieht immer mehr Nationalgarde, überall erheben sich Barrikaden, gekrönt von bösen Gassenjungen. Die Wagen fahren nicht mehr. Die Kaufläden schliessen.

Die Neugierde führt mich bis zum Rathaus; dort auf dem Platz sieht man kleine Gruppen, in deren Mitte Redner »Den Tod für die Verräter!« fordern. In der Ferne, an den Kais, in einem Staubnebel, geben die Munizipalgardisten blinde, ungefährliche Schüsse ab, während die Nationalgardisten ihre Gewehre in der Rue de Rivoli laden, und der Mob mit Geschrei, Geheul und Steinwürfen einen Sturm auf die beiden Kasernen hinter dem Rathaus unternimmt.

Auf dem Rückweg höre ich Leute, die auf der Strasse schwätzen, von der Füsillade Clément Thomas' und Lecomtes sprechen.

Sonntag, 19. März. – Die Morgenblätter bestätigen die Nachricht von der Füsillade Clément Thomas' und des Generals Lecomte.

Ein Gefühl der Müdigkeit, Franzose zu sein, erfasst mich, und der Wunsch, irgendwo in der Ferne ein anderes Vaterland zu suchen, in dem der Künstler ruhig denken darf und nicht jeden Augenblick durch dumme Hetzereien gestört wird, oder durch die törichten Krämpfe eines zerstörungslustigen Mobs.

In der Eisenbahn erzählt man in meiner Nähe, dass die ganze Armee sich nach Versailles zurückziehe und Paris in den Händen der Insurrektion sei.

Nefftzer, den ich Rue Caumartin frage, wer denn zur neuen Regierung gehört, schleudert mir aus seinem dicken Gesicht, aus dem die Freude über unser Unglück zu leuchten scheint, die Worte entgegen: »Ihr habt Assi!«

Auf den Pariser Gesichtern sieht man starre Betroffenheit. Kleine Gruppen Menschen, die Nasen in der Luft, sehen vertrottelt durch die Breschen der Rue Lepeletier und der Rue Laffitte nach Montmartre und seinen Kanonen.

Victor Hugo, dem ich begegne, hat seinen Enkel an der Hand und sagt eben zu einem Freunde: »Ich glaube, es wäre klug, nun wieder an ein bisschen Verproviantierung zu denken.«

Am Boulevard Montmartre finde ich endlich die Namen der neuen Regierungsleute angeschlagen, Namen, die mir so unbekannt sind, dass das Ganze einer Mystifikation ähnlich sieht. Nach dem Namen Assi ist der am wenigsten unbekannte der von Lullier ...

Dieser Anschlag besagt meinem Gefühl nach den endgültigen Tod der Republik. Die Erfahrungen, die man 1870 mit den besten Leuten gemacht hat, waren schon beklagenswert. Die jetzigen aber, die man mit den schlechtesten macht, müssen das Ende dieser Regierungsform bringen. Gewiss, die Republik ist ein schöner Traum grossdenkender, hochherziger, uninteressierter Gehirne, aber sie ist unbrauchbar bei den niedrigen und kleinen Leidenschaften der französischen Plebs. Für sie bedeuten die Worte: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit nichts weiter als Knechtung oder Tod der höheren Stände.

Ich treffe Berthelot, den die Ereignisse der letzten Zeit wahrhaftig gebeugt, fast zum Buckligen gemacht haben. Er schleppt mich zum Temps, wo wir, da niemand von der Redaktion anwesend ist, uns gemeinsam der Verzweiflung über Frankreich, das im Todeskampf liegt, hingeben. Fast sehen wir in alledem, was sich jetzt ereignet, in den Gewalttätigkeiten des letzten Tages, eine Chance für die krassesten Gegner jener, die heute triumphieren, für den Grafen Chambord. Berthelot wiederum fürchtet, dass die Hungersnot noch dazu kommt. Er ist eben durch das Land von Beauce gefahren, wo man, weil es keine Pferde mehr gab, Gerste gesät hat.

Ich nehme den Weg nach dem Hôtel de Ville. Ein Mann, Broschüren in der Hand, ruft aus: »Enthüllungen über Trochu! Der nackte Trochu!« Ein Ausrufer des Avenir national schreit: »Verhaftung des Generals Chancy!«

Der Kai und die grossen Strassen, die nach dem Rathaus führen, sind durch Barrikaden gesperrt, vor ihnen stehen Reihen von Nationalgardisten. Man wird von Ekel ergriffen, wenn man diese törichten und verworfenen Gesichter sieht, in denen der Sieg und die Trunkenheit sich zum leuchtenden Ausdruck der Gemeinheit vereint haben. Jeden Augenblick sieht man einen, das Käppi schief auf dem Kopf, aus der halboffenen Tür einer Weinschenke herauskommen; das sind auch die einzigen Läden, die heute offen sind. Rings um die Barrikaden sind Ansammlungen von Vorstadt-Diogenesen und fetten Bürgern zweifelhaften Berufs, die ihre Tonpfeifen rauchen, die Frau Gemahlin am Arm.

Vom Glockenturm des Rathauses hängt eine rote Fahne, und darunter gröhlt hinter drei Kanonen bewaffneter Mob.

Auf dem Heimweg sehe ich auf den Gesichtern Gleichgültigkeit, aber auch Bestürztheit, manchmal traurige Ironie, am häufigsten aber jene Verzweiflung, die alte Herren ihre Arme zum Himmel erheben lässt, allerdings, nachdem sie sich zuerst vorsichtig rings umgesehen haben.

Montag, 20. März. – Drei Uhr früh. Ich werde von den Sturmglocken geweckt, von jenem grausig klagenden Läuten, wie ich es in den Nächten des Juni 48 gehört habe. Das grosse Wehklagen der Riesenglocke von Notre-Dame herrscht über das Geläut aller anderen Stadtglocken, herrscht über den Lärm des Generalmarsches, beherrscht die menschlichen Geräusche, die alle zu den Waffen zu rufen scheinen.

Ja, so ist alle menschliche Voraussicht zuschanden geworden! Gott scheint wahrhaftig zu lächeln und in seinen weissen Skeptikerbart hinein zu spotten über die Widersprüche der irdischen Logik. Wie konnte es geschehen, dass die Bataillone von Belleville – vor dem Feind so matt, vor den Truppen, die am 30. Oktober Ordnung machen sollten, so matt – sich nun der Stadt Paris bemächtigen konnten? Wie konnte es geschehen, dass die bürgerliche Nationalgarde, vor einigen Tagen noch so entschlossen, sich zu schlagen, sich nun aufgelöst hat, ohne auch nur einen Schuss abgegeben zu haben? Alles scheint in diesen Tagen wahrhaftig nur zu geschehen, um uns die Nichtigkeit aller menschlichen Erfahrungen zu zeigen. Die natürlichen Folgen der Dinge und der Ereignisse beginnen zu lügen. Das Ende ist, dass, für den Augenblick, Frankreich, Paris unter der Macht der Plebs steht, die uns eine Regierung, lediglich aus ihren Leuten erzeugt, gegeben hat. Und wie lange das dauern wird? – man weiss es nicht. Das Unwahrscheinliche herrscht.

In der Eisenbahn sieht man viele Leute, die nach der Provinz reisen: die Rue du Havre ist voll von Gepäck, das man in Handwagen – da es keine Pferde mehr gibt – hingebracht hat.

Von Zeit zu Zeit reitet ein phantastischer Stabsoffizier der neuen Regierung im stolzen Galopp vorbei, in ein rotes Wams gekleidet, und die Leute auf der Strasse drehen sich nach ihm um. Die Kohorten von Belleville streifen gegenüber Tortoni über den Boulevard, zwischen ein wenig spöttischen, verwunderten Leuten, deren Gesichtsausdruck sie zu genieren scheint, so dass sie mit ihren Siegeraugen auf ihre Stiefelspitzen und die – nicht immer vorhandenen – Socken blicken.

Weiss Gott, manchmal scheint es, als ob das, was geschehen ist, trotz den weissen Anzeigen der Regierungsanschläge, die man auf allen Mauern sehen kann, doch nicht geschehen ist. Ganz wach geht man doch mit dem Gefühl eines Menschen herum, der schläft und einen bösen Traum hat, der aber doch fühlt, dass er nur träumt.

Dienstag, 21. März. – Jeden Augenblick hört man den eiligen Trommelwirbel des Rappells. Das Aussehen der Gruppen hat sich geändert. Die Erregung nimmt immer mehr zu; die Worte werden immer lauter, die Gewehrschüsse kommen näher. Die Bataillone von Belleville werden nun auf den Boulevards beschimpft. Man ist gleichsam umgeben vom Donner des hohen Meeres, das sich bald im Sturm aufbäumen wird.

Von einem Fenster sehe ich auf den Zug einer imposanten Kundgebung herab; vor den Leuten wird eine Fahne getragen, auf der »Vive la République! Les Hommes d' Ordre!« zu lesen ist.

Diner bei Brébant. Irgend jemand erzählt etwas sehr Charakteristisches über die neue Regierung. Nach der Zerstörung der Polizeiakten ist es die erste Beschäftigung dieser Herren gewesen, das Register der polizeilich eingeschriebenen Dirnen zu vernichten.

Saint-Victor gibt Bruchstücke einer Unterhaltung mit Ernest Picard wieder. Der geistreiche Advokat soll ein Bildnis Trochus so gezeichnet haben: »Er ist ehrlich und falsch!« Von Gambetta hätte er folgende Anekdote erzählt, die, wenn nicht wahr, doch gut erfunden ist. Der alte Stammgast des Café de Madrid habe zu allen möglichen Beschäftigungen in seiner Umgebung die früheren Stammgäste seines Lokals bestimmt. Aber damit hätte er sich noch nicht begnügt. Das Café de Madrid war für den Diktator in Bordeaux doch noch nicht ganz wiederhergestellt. Er liess also den Kellner, der ihn dort bedient hatte, kommen und bekleidete ihn mit der Würde des Huissiers seines Kabinetts und hängte ihm so die Stahlkette um den Hals.

Dann fliegt die Konversation über diese Anekdoten hinweg in die Höhe. Es ist zugleich wunderbar und traurig zu hören, mit welchem Despotismus alles auf Renans Denken wirkt, was in Deutschland gesagt, geschrieben, gedruckt wird. Heute höre ich, wie dieser Gerechte die verbrecherische Formel Bismarcks: »Macht geht vor Recht« annimmt; ich höre ihn erklären, dass die Nationen und die Individuen, die ihr Eigentum nicht verteidigen können, auch nicht wert sind, es zu bewahren.

Als ich mich dagegen empöre, antwortet er, dass das immer so Gesetz und Recht gewesen sei. Nur das Christentum, so muss er bekennen, versuchte eine Abschwächung dieser Lehre durch den Schutz des Schwachen, des »armen Mannes«. Und nach einer wortreichen Auseinandersetzung über die Bücher Hiob, Esther, Judith, der Makkabäer, über die Anpassungskraft der judäischen Rassen, über die Philosophie Spinozas kommt er wieder auf Christus, den er für einen Plagiator erklärt, der nichts Originales und ihm selbst Eigenes gehabt habe als das »Gefühl«. Und um seine Behauptung zu stützen, führt er die Worte an, die 800 Jahre vor Christus Jesaias ausgesprochen hat: »Was helfen mir eure Opfer? bessert euch!« – das Thema, das Racine in seiner Athalie umschrieben hat.

Ich höre mir alles das an, ein wenig zerstreut, mit den Ohren mehr bei dem Geräusch der Strasse, das heraufdringt, und das die biblischen Glaubensstreiter überhören.

Inzwischen wird der Tumult immer grösser, die Menge fängt an, laut zu werden und zu drohen, die Nationalgardisten von der Mairie Drouot werden ausgepfiffen und angeheult. Plötzlich hört man zwei Schüsse. Nun werde ich inmitten einer Menge, die mich in ihrem Schreckenszug fortführt, hin und her gestossen, und der Schrei: »Zu den Waffen!« ertönt über den ganzen Boulevard.

Mittwoch, 22. März. – Den ganzen Morgen über Beschiessung, die nie nachlässt und schliesslich noch einmal so stark wird. Gegen ein Uhr ist dann plötzlich Stille in der Luft, in die sogleich das Krähen der Hähne und der Lärm der Eisenfabriken hineinschallt. Ich weiss nicht, was diese Kanonade zu bedeuten hat, und habe nicht den Mut, hinzugehen und mir Nachrichten zu holen. Gut so! ich habe mich umsonst aufgeregt: die ganze schreckliche Schiesserei ist nur eine Feier der Preussen, die irgendeinen Namenstag Wilhelms I. Geburtstag, von Goncourt irrtümlich früher angesetzt. haben. Ich atme wieder auf.

Im gleichen Augenblick aber kommt Pélagie aus Paris zurück und kündigt an, dass man sich dort schlägt. Und nun den ganzen übrigen Tag Rappell, fürchterlicher Rappell. Abends keine Zeitungen. Ich gehe nach Passy, um Neuigkeiten zu hören. Paris sieht aus wie eine Souspräfektur, hundert Meilen von Paris entfernt, in der man sich über eine Revolution in der Hauptstadt aufregt, ohne aber irgend etwas zu wissen.

Ich dringe bis zum Trocadéro vor. Dort deutet ein Herr auf drei ferne Silhouetten in der Nacht, sagt, dass einer dieser Männer ihn an der Hand gefasst hat und ihn fortziehen wollte: »Verstehen Sie,« sagt er zu mir, »das sind schlechte, ausgerissene Soldaten, sie wissen, dass es keine Strafen mehr gibt, und sind imstande, einen umzubringen, um irgendeine Kleinigkeit zu rauben.«

Ich kehre nach Passy zurück, wo immer weiter die Hornklänge und das eilige Trommeln des Generalmarsches zu hören ist. Ein junger Mensch erzählt in einer Gruppe, dass auf der Place de la Concorde die Bataillone des Komités auf eine Kundgebung der »Ordnung«, deren Teilnehmer ohne Waffen waren, geschossen haben, dass es etwa zehn Tote und Verwundete gegeben hat, und dass er selbst einen, de Pène, mit einer Verwundung am Schenkel aufgehoben hat.

13. März. – Generalmarsch den ganzen Tag über. Ich finde das 2. Arrondissement in Waffen. Jede Strasse ist von Männern aus dem Stadtviertel bewacht. Der Führer einer starken Ablösung, die eben auf dem Börsenplatz Stellung nimmt, wirft im Vorbeigehen die Worte hin: »Wir haben eben einen Posten entwaffnet.«

Ich gehe für einen Augenblick zu Burty. Ein Offizier der Nationalgarde untersucht die Wohnung, den Balkon, der den Boulevard beherrscht. Er verlangt, dass alle Türen zur Wohnung offen gelassen werden, damit bei der ersten Annäherung des Komité-Heeres seine Leute in ihr Stellung nehmen können. Ich sehe meine Marketerie-Möbel an, meine Bibelots, mein Porzellan, meine Bücher, die zur Hälfte aufgestellt, zur Hälfte auf dem Boden ausgelegt sind, und denke: die werden, wenn das Haus gestürmt wird, eine böse Viertelstunde mitmachen.

Auf dem Saint-Lazare-Bahnhof schlägt mir ein wütender Nationalgardist eine Holzschranke vor der Nase zu und schreit mich an: »Die Eisenbahn geht nicht mehr!«

Freitag, 24. März. – Trotz der Barrikaden, die ich auf der Place Vendôme machen und vervollkommnen sehe, gibt es eine Art von Erleichterung und Entspannung. Es braucht ja nur einen einzigen Schuss, um alles wieder zu ändern, aber zurzeit büsst die Situation etwas von ihrem Ernst ein, weil die einen nicht genau wissen, was sie eigentlich erreichen wollen, die anderen nicht, was sie gewähren wollen.

Dienstag, 28. März. – Die Zeitungen sehen in den Ereignissen nur eine Frage der Dezentralisation. Was sich ereignet, ist nichts anderes als die Besitzergreifung Frankreichs durch die Arbeiterbevölkerung, die Knechtung des Edelmannes, Bürgers, Bauern unter die Despotie des Arbeiters. Die Regierung geht aus den Händen jener, die besitzen, in die Hände derer über, die nichts besitzen, aus den Händen derer, die ein Interesse an der Erhaltung der Gesellschaft haben, in die jener, die gar kein Interesse an Ordnung, Festigkeit, Bewahrung haben.

Schliesslich und endlich, möglich ist es ja, dass die Arbeiter, wie ich ja schon in meinen »Ideen und Sensationen« gesagt habe, nach dem grossen Gesetze von der Aenderung der irdischen Dinge für die menschliche Gesellschaft das sind, was für die antike Gesellschaft die Barbaren waren: krampfhafte Mittel der Zerstörung und der Auflösung.

Freitag, 31. März. – Risum teneatis! Jules Vallès ist jetzt Minister des öffentlichen Unterrichts! Der Bohêmemensch aus den Brasserien sitzt auf dem Fauteuil Villemains. Und dabei muss man zugeben, dass unter der Bande Assis er noch der Mann ist, der das meiste Talent hat und die geringste Bösartigkeit. Aber Frankreich ist ein so klassisches Land, dass die literarischen Theorien dieses Schriftstellers der neuen Regierung schon mehr geschadet haben als die sozialen Theorien seiner Kollegen.

Eine Regierung, aus der ein Mitglied zu schreiben gewagt hat, dass man Homer zum alten Eisen tun müsse, und dass im »Menschenfeind« Molières keine Fröhlichkeit, keine Heiterkeit sei, scheint dem Bourgeois erstaunlicher, umstürzlerischer, antisozialer, als eine, die am gleichen Tage die Aufhebung des Erbrechts und den Ersatz der Ehe durch die freie Vereinigung dekretieren würde.

Samstag, 1. April. – Eines bringt mich am meisten auf gegen diese Regierung der Gewalt und der äussersten, verzweifeltesten Mittel, und das ist ihre schwächliche Resignation dem Friedensvertrag gegenüber, ihre feige Ergebung den entehrenden Bedingungen gegen über, es ist – ich will es geradeheraus sagen – ihre halbe Freundschaft mit den Preussen.

Die Friedenspräliminarien sind wahrhaftig die einzige Voraussetzung, die vor diesen Menschen Gnade findet, die sonst alles zerstören; und kein Mensch protestiert dagegen ...! Ich stelle traurig fest, dass in den heutigen Revolutionen das Volk sich nicht mehr für ein Wort, eine Fahne, ein Prinzip, für irgendeinen Glauben schlägt, nicht mehr den Tod der Männer ein uneigennütziges Opfer sein lässt. Ich stelle fest, dass Vaterlandsliebe ein aus der Mode gekommenes Gefühl ist. Ich stelle fest, dass die Generationen von heute nur noch für die Befriedigung rein materieller Interessen sich erheben können, und dass Fressen und Saufen heutzutage die einzigen Dinge sind, für die sie heroisch ihr Blut lassen können.

Sonntag, 2. April. – Gegen zehn Uhr Kanonade in der Richtung von Courbevoie. Gut, nun hat also der Bürgerkrieg begonnen. Ich muss gestehen: wenn die Dinge erst einmal so weit sind, so ist das noch besser als verlogene Korruption ... Die Kanonade verstummt ... Ist Versailles geschlagen? Wahrhaftig, wenn Versailles auch nur die kleinste Niederlage erleidet, ist Versailles verloren! Irgend jemand, der mich besucht, erzählt, dass er nach Reden, die er auf der Strasse aufgegriffen hat, eine Niederlage befürchtet.

Ich fahre sofort nach Paris. Ich studiere die Physiognomie der Leute, die gewissermassen ein Barometer der Ereignisse während der Revolutionen ist; ich finde in den Mienen eine Art heimlicher Zufriedenheit, verhaltener Freude. Schliesslich erfahre ich aus einer Zeitung, dass die Leute von Belleville geschlagen worden sind.

Einer meiner Freunde, ein sehr »Roter«, sieht in dem, was sich ereignet, eine »neue Aera«. Ich für meinen Teil habe genug von jenen neuen Aeren, die von Leuten eingeleitet und geführt werden, mit denen nicht einmal mein roter Freund eine Partei bilden möchte.

 

Montag, 3. April. – Kanonade, wie in den Zeiten der Preussen. Frühmorgens beginnt sie am Mont Valérien, dann breitet sie sich tagsüber um Meudon herum aus, wo Versailles seine Kanonen aufgestellt hat, gerade in den Befestigungswerken der Preussen. Mitten in dem wütendsten Artilleriefeuer sehe ich jetzt noch in aller Ruhe Gärtner ihre Arbeit tun und nebenan Arbeiter Gitter niederlegen, all das mit der Ruhe vergangener Lenze; so sehr hat man sich nämlich gewöhnt, im Kanonendonner zu leben, eine solche Sorglosigkeit hat sich jedermann allmählich erworben!

Was aber unerträglich ist, das ist die Ungewissheit Ereignissen gegenüber, die unmittelbar vor den Augen sich begeben, denen man mit einem Opernglas zusieht, und über die man sich doch keine Rechenschaft zu geben vermag.

Die Requisition greift jetzt nicht nur die öffentlichen Gelder an, sondern auch die Kassen der Kaufleute. Gestern hat man in Passy damit den Anfang gemacht.

Draussen auf den Wegen ist ein so vergnügt-glückliches Hin- und Hergehen, dass man seinen eigenen Ohren, die den Kanonendonner nur zu gut gehört haben, nicht trauen will.

Vor der Hauptwerkstatt sehe ich das 181. Bataillon Nationalgarde heimkehren. Die Leute sind bleich und ernst.

In Paris weiss man nicht, wie der Tag ausgegangen ist. Meine Bekannten, die Gruppen auf der Strasse, die Zeitungen, – die einen kennen die Wahrheit so wenig wie die anderen. Plötzlich ertönt auf dem Boulevard eine Sensationsnachricht, die von den Ausrufern des Journal de la Montagne überallhin geschrien wird, nämlich: »Eroberung des Mont Valérien«. Ich wittere eine Ente oder eine Finte, um die noch Unentschlossenen zu bestimmen, hinzugehen und sich töten zu lassen.

 

Dienstag, 4. April. – Auf den Boulevards fängt die Besoffenheit der Nationalgarde an, eine Gefahr für die Passanten zu werden.

Ich möchte gerne wissen, warum in den Bürgerkriegen sozusagen der Mut wächst, weshalb die Leute, die den Preussen nicht standgehalten hatten, sich heroisch von ihren eigenen Mitbürgern töten lassen?

Den ganzen Tag über hört man den Lärm der Mordwerkzeuge, die gelegentlich menschliche Wutanfälle zu haben scheinen.

Die Omnibusse haben das rote Glas ihrer Laternen nach innen gedreht, um nicht bei der Vorbeifahrt in der Umgebung der Werkstätten geschnappt zu werden.

Mittwoch, 5. April. – Nach den Berichten der Morgenzeitungen scheint die Herrschaft des Komités ihr Ende erreicht zu haben, trotzdem aber dauert die Kanonade um das Fort Issy herum, wo man im Wind eine grosse rote Fahne flattern sieht, den ganzen Tag fort.

Die Drohung, die der Assemblée von Versailles günstig gesinnten Truppen mit Gewalt zum Marsch gegen Versailles zu zwingen, hat die letzten wohlhabenden Bürger, die noch hier waren, zur Flucht bestimmt.

Wahrhaftig, wenn die Preussen nicht hinter den Kulissen ständen, es wäre zu wünschen, dass die Erfahrungen, die man mit dieser Komitéregierung macht, ganz vollständig würden. Ja, es wäre zu wünschen, dass es zwei oder drei Monate Sieg gäbe, so dass sie Zeit hätten, ihr geheimes Programm auszuführen und alles Anarchistische und Antisoziale, das in ihm steckt, zu verwirklichen. Vielleicht kann das Heil Frankreichs um diesen Preis erkauft werden. Das allein würde der jetzigen Generation den Mut geben, das allgemeine Wahlrecht und die Freiheit der Presse aufzuheben, zwei Unterdrückungen, die vom gesunden Menschenverstand der Mittelmässigkeiten für »unmöglich« erklärt werden. Ja, auch die Freiheit der Presse! Ich habe nicht mehr Respekt vor dieser sakrosankten Macht, als Balzac oder Gavarni vor ihr hatten. Für mich ist das politische Journal nichts anderes als ein Werkzeug der Lügen und der künstlichen Erregungen, und das literarische Journal, das »kleine« Journal, wie ich es in den Hommes de Lettres zu zeigen versucht habe, nichts anderes als ein Werkzeug des intellektuellen Niedergangs. Ich würde – das sage ich offen – mit einiger Neugier diese Methode am Werke sehen. Ich will nicht behaupten, dass Frankreich dann für immer vor der Demagogie bewahrt wäre, aber mein »Krebsgangsystem« könnte recht gut der Gesellschaft mehr Friedensjahre bescheren, als ihr seit siebzig Jahren die ohnmächtigen Versuche der Versöhnung zwischen Autorität und Freiheit gebracht haben.

Beim Mondschein lese ich einen kannibalischen Anschlag, der von »den Morden der Versailler Banditen« spricht, ein Repressaliengesetz proklamiert, das durch folgende bedeutsame Zeile angekündet wird: »Auge um Auge, Zahn um Zahn!« Wenn Versailles sich nicht beeilt, so werden wir es mitansehen, wie die Wut über die Niederlage sich in Massaker, Füsilladen und andere Liebenswürdigkeiten dieser sanften Freunde der Menschlichkeit verwandelt.

Donnerstag, 6. April. – Den ganzen Morgen über Kanonade um Issy herum, um Neuilly herum. Fürchterlicher Kanonendonner, Mitrailleusen, Musketenfeuer, wie ich es zur Zeit der Preussen nie gehört habe. Ein Dutzend Ambulanzwagen fährt mit mir zusammen die Avenue der Champs-Elysées hinauf. An den Schranken der Etoile ist eine enorme Menge versammelt und starrt drei Versailler Batterien an, die man auf der Neuilly-Brücke aufgestellt hat, um gegen die Barrikade und die Wälle zu schiessen.

Arbeitergruppen sitzen auf zwei Schilderhäusern. Junge Mädel schaukeln auf den Eisenketten, das eine lehnt sich an die Schulter der anderen, so halten sie sich das Gleichgewicht. Engländerinnen stehen in ihren Mylords, die vorne an der Barre halten, und betrachten die schwarze Menge; manchmal leuchtet über ihr das blinkende Messing eines grossen Fernrohres.

Im Grunde beherrscht alle eine gleichgültige Neugier, Bürger und Arbeiter, Damen der Gesellschaft und Frauen aus dem Volke. Um das Gewissen zu beruhigen, und wie man eine Rolle spricht, lässt eine von den Frauen von Zeit zu Zeit die Worte fallen: »Es ist recht traurig!« Aber kaum ist das gesagt, so findet sie auch schon ihr kleines, närrisches, grundloses Lachen wieder.

 

Versailles begeht die Torheit, nicht einen grossen Schlag zu wagen. Die Pariser, durch die offiziellen Lügen und Halblügen in Unkenntnis gehalten über das Ausmass ihrer Niederlagen, sind nicht entmutigt. Ja, man muss eingestehen, dass sie beinahe beginnen, den Krieg, wie er sich hinter den Wällen in Issy oder in den Häusern von Neuilly abspielt, amüsant zu finden.

Die Verirrungen und Erfindungen des Hirnes der bewaffneten Plebs übersteigen nun schon alles erdenkliche Mass. Will man ein Beispiel dafür? Heute früh erzählte ein unschuldiger Communard in meiner Villa: »In Versailles füsiliert man die Nationalgarden, aber heute werden unsere Uniformen geändert, wir bekommen jetzt die Uniform der Truppe, und wenn dann die Versailler noch so weitermachen, dann werden die fremden Mächte intervenieren

 

Freitag, 7. April – Heute ist der sechste Tag, dass man einander mit Kanonen beschiesst, dass man einander füsiliert, dass man einander tötet.

Beim Etoilebogen gibt es immer noch eine Menge Menschen, Ambulanzwagen, herangaloppierende Meldereiter, Bataillone der Nationalgarde, die nacheinander ins Feuer gehen. Die Kanonade dauert fort und bedeckt Neuilly mit Geschossen.

In einem Winkel Gruppen von Frauen, unbeweglich, vertrottelt; sie sagen, dass sie da auf ihre Männer, die man mit Gewalt zum Marschieren gezwungen hat, warten. In diesen niederen Schichten lebt ein von der Vernunft unkontrolliertes Gefühl, das Versailles für all das Uebel, das das Komité angerichtet hat, verantwortlich macht, ein Gefühl, das nur sehr schwer zu zerstören ist und sie veranlasst, die Versailler wie die Preussen zu beurteilen.

 

7. April. – Man umringt vereinzelte Nationalgardisten, die zurückkommen. Ein Franktireur mit energischem, vom Pulver schwarz gefärbtem Gesicht erzählt mit einem wilden Ausdruck von Schmerz, dass Neuilly sich unter dem Hagel von Geschossen nicht mehr halten kann. Durch die halb offenen Vorhänge der Ambulanzwagen sehe ich tote Köpfe oder lebende Verwundete, deren Augen starr blicken.

Vier oder fünf Kanonen kommen, und von den Wällen beginnt man mit der grössten Heftigkeit zu antworten. In der Sonne, auf dieser Avenue, die mir in ihrem kerzengeraden Verlauf wie ein Dekorationsstück aus dem alten Zirkus Franconi vorkommt, jenseits des Walltores schwebt ein heisser Nebel, von Lichtern durchfurcht, und hüllt in einen azurfarbenen und dann wieder goldfarbenen Dunst die Bäume der Avenue, die Häuser auf beiden Seiten, die Barrikade: ein Nebel, in dem die Bauwerke und die Denksäule sich am Horizont wie Stockwerke übereinander erheben, so etwa wie eine Akropolis aufsteigt. Es ist wahrhaftig die Wirkung einer Theaterapotheose mit ihren Lichtspielen, diese lichtvolle Verwandlung aller Dinge, dieser Glanz des Sonnenuntergangs, dieser goldene Himmel, unter dem die Garben des Feuerwerks nur so krachen.

Mitten in meine Ueberlegungen hinein macht es Piff, Paff, Krach!: das ist eine Granate, die über unseren Köpfen auf dem linken Pfeiler des Etoilebogens aufschlägt. Im selben Augenblick liegt auch schon alle Welt flach auf dem Bauch, während ein Geschoss neben mir mit trockenem, hässlichem Krachen aufplatzt. Und daraufhin erhebt sich alles, um fortzulaufen und sich zu retten. Ich tue desgleichen.

Ein Anschlag kündigt an, dass jeder Bürger, der sich nicht binnen vierundzwanzig Stunden in die Listen der Nationalgarde hat einschreiben lassen, entwaffnet und verhaftet wird. Dieses Gesetz ... scheint mir ein hübsches Vorspiel der Schreckensherrschaft.

Ein Bekannter, der Beziehungen zu den jetzigen Machthabern hat, erzählt mir so nebenbei: »Es könnte schon sein, dass man heute nacht den Erzbischof füsiliert!«

Samstag, 10. April. – Bei Voisin frage ich nach der Tagesplatte. »Es gibt keine, es ist ja niemand mehr in Paris,« antwortet man mir. Als einziger Stammgast diniert nur noch eine alte Frau, die ich während der ganzen Zeit der Belagerung hier gesehen habe. Dann, beim Weggehen, bin ich erstaunt, wie wenig Leuten man begegnet. Paris sieht aus wie eine Stadt, in der die Pest ist. Es gibt nicht mehr männliche Wesen genug, damit sich Gruppen bilden können, und die paar jungen Leute, die man noch trifft, sind Fremde.

Das einzige, was Paris an Bewegung und Leben bietet, sind die kleinen Uebersiedlungen um die Dämmerstunde, Handwagen, von Nationalgardisten gezogen: demokratische Mieter, die sich beeilen, den Erlass der Kommune, der die Mietzinszahlung erlässt, auszunützen.

Weder unter den Kandelabern der Oper, noch an der Ecke der Rue Drouot gibt es heute Ansammlungen, nur beim Eingang in die Rue Montmartre stehen ein paar zusammengewürfelte Menschen.

In den kleinen Gruppen, denen ich mich nähere, merke ich etwas Sonderbares: man spricht nicht von den Ereignissen des Tages, ich höre nur von der Vergangenheit reden, von der Belagerung von Paris, von Vorgängen während dieser Belagerung und der Torheit der Verteidigung. Man spürt sehr gut, dass die Erhebung ihren wesentlichen Grund nicht in dem hat, was in Versailles Dummes oder Ungeschicktes getan wird, sondern in dem, was die Trochu und die Favre zu tun unterlassen haben. Und es ist der grosse Fehler Thiers', in sein Ministerium Leute aufgenommen zu haben, deren Unfähigkeit dem Volke als Verrat erscheint.

Auf dem Boulevard hört man heute abend das Geheul der Ausrufer des Soir, der Commune, der Sociale, schliesslich der Montagne, welche die Proklamation der Republik in Russland ankündet.

In Auteuil gibt es jetzt Leute, die sich Stricke kaufen, um sich von Freunden über die Belagerungswerke hinabbefördern zu lassen und sich so vor der »nationalen Requisition« zu retten.

Sonntag, 9. April (Ostersonntag). – Mein Schlaf wird jeden Augenblick von Kanonenschüssen unterbrochen.

Der Pförtner meiner Villa meldet mir, dass zu Mittag Haussuchungen gemacht werden sollen. Er rät mir, Waffen, wenn ich irgendwelche habe, zu verstecken. Diese Herren nehmen alles: Luxuswaffen, Museumsstücke. Er hat gesehen, dass man Bogen und Pfeile wilder Völker so fortgeschleppt hat.

Auf dem Weg nach Paris sehe ich zwischen fünf Nationalgardisten einen armen Teufel vorbeikommen, einen Flickschuster, den ich oft in seiner kleinen Bude nahe am Markt arbeiten sah, und den man, krank wie er war, aus dem Bett geholt hat. Man schleppt ihn zur Wache. Seine Frau folgt ihm, fürchterliche Schreie ausstossend. Warum er verhaftet ist, weiss niemand.

Um elf Uhr bin ich ganz, ganz allein im grossen Speisesaal bei Peters, wo – Symptom der Schreckensherrschaft – die Kellner nur ganz leise flüstern.

Bei Burty begegne ich Bracquemond, der mit seinen 38 Jahren noch unter das Gesetz fällt, das alle zur Nationalgarde zwingt. Er geht eben zu einem befreundeten Lazarettverwalter, um ihn zu bitten, ihn als Gehilfen in die Listen einzutragen und in der Baracke schlafen zu lassen, damit er nicht erwischt und festgenommen wird. Burty und ich begleiten ihn in ein Lazarett, das im Garten des Concert Musard eingerichtet ist.

Beim Eintritt ins Lazarett haben wir zuerst den Anblick der Verwundeten, die sich auf ihren Krücken herumschleppen, oder die man in kleinen Wagen herumfährt; unter ihnen ist ein Jüngling, der den Arm noch in der Schleife hat und mit dem Stock ficht.

Wir treten in ein Zimmer der Baracke ein, in dem das Pittoreske des Krieges gemischt ist mit der Unordnung einer Studentenbude. Vier oder fünf junge Spitalärzte speisen zwischen Büchern aus hölzernen Näpfen. Bracquemonds Freund führt uns bald unter ein Zelt, auf dem das rote Kreuz der Internationale die graue Leinwand durchschneidet. Man kredenzt uns Branntwein in Gläsern, die sonst zum Setzen von Schröpfköpfen dienen.

Das Gespräch ist natürlich grauenvoll, mit jenem Zug ins Lustige, den die Worte der Kliniker in der Regel haben: »Die Verwundungen sind furchtbar,« sagt einer von diesen jungen Leuten, der Schere und Pinzette im ersten Knopfloch seines Wamses stecken hat. »Wir hatten achtzehn ›Ausgeweidete‹ im kleinen Pavillon hier unten ... das war einfach Menschensuppe ... Es gibt unter ihnen Leute, die den ganzen vorderen Teil ihrer Uniform im Bauch drin haben ... Andere haben die Beine so zerrissen und aufgeschwollen, dass man sagen könnte, sie sehen aus wie Tulpen ... Vor ein paar Tagen hat man einen gebracht, dem sein ganzes Gebiss in den Magen hinuntergewandert war, wie eine antike Maske hat er ausgesehen ... Und denken Sie, der Wärter quälte sich, ihm den Namen abzufragen ...«

Ein zweiter Spitalarzt erzählt von einem Verwundeten, den man umgedreht hat und von rückwärts geöffnet wie einen Schrank, um den sonderbaren Durchschlag einer Chassepotkugel zu studieren.

»Sehen Sie da,« sagt uns Braequemonds Freund, »ein interessanter Herr, der da vorbeigeht, der mit der schwarzen Mütze; das ist der Mann, der vierzig Sous bekommt, um die Toten auszukleiden. Für ihn ist das eine wahre Passion: er schläft nur dann im Pavillon, wenn er Hoffnung hat, reichlich welche zu kriegen ... Und dann muss man sehen, mit was für einem verliebten Blick er sich umblickt und die ausspioniert, die krepieren werden. Ah, ein Wagen kommt; Verwundete!«

Er verschwindet, erscheint dann wieder und bringt einen Mann mit, den er stützt, einen Mann, dessen Kopf ganz umschlungen ist von Bandagen, das Gesicht voll von Gips wie ein Kalkschleuderer. »Da ist einer, der Glück hat,« ruft Bracquemonds Freund, der ein paar Augenblicke später hereinkommt, »er war auf dem Posten am Maillottor, da platzt ein Geschoss und reisst alles um. Nun sehen Sie: unser Mann hat überall Quetschungen, aber nicht eine einzige ernste Verletzung ... Es scheint,« fügt er hinzu, »dass die Versailler nun völlig Herren von Neuilly sind. Auf den Festungswällen scheint alles zerschmettert zu sein. Dazu sagt man, dass die Föderierten anfangen, Mangel an Munition zu haben.«

Bracquemond ist einen Rundgang im Saal der Verwundeten machen gegangen. Er kommt sehr bleich zurück. Er hat Strünke von Menschen gesehen, deren Leben nur noch ein Zucken der Augenlider ist.

In diesem Augenblick erscheinen vier Leichenwagen, mit roten Fahnen geschmückt, und Abgesandte der Kommune kommen, verlangen Leichname, die als Eskorte beim Todeszuge von Bourgoin dienen sollen. Man beeilt sich, für sie die ersten besten auf Bahren festzunageln. Die Delegierten haben's eilig! Sie nehmen nicht alle. Der Lazarettleiter enthüllt uns einen, der zurückgelassen worden ist. Ein Mann, dem ein Geschoss die Hälfte des Gesichts weggerissen hat und fast den ganzen Hals. Das Weisse und Blaue des einen Auges ist über die eine Wange geronnen. Eine Hand ist, noch geschwärzt vom Pulverdampf, hoch in die Luft gehoben, zusammengekrampft, als hielte sie eine Waffe.

Daraufhin nahmen wir Abschied. In dem Augenblick, wo man uns die Schranke öffnet, sagt eine Frau zum Wächter mit leidender Stimme: »Herr, haben Sie meinen Mann unter den Toten?« – »Wie heisst er?« – »Chevalier.« – »Kennen wir nicht. Gehen Sie nach Beaujon, zu Necker.«

Ich trete in ein Café am Anfang der Champs-Elysées, und während die Geschosse in der Höhe des Etoilebogens Tod bringen, trinken hier auf das ruhigste und mit den glücklichsten Mienen der Welt Männer und Frauen ihr Bier und hören eine alte Violinistin die Lieder der Thérésa spielen.

Dann ziehen, geleitet von Nationalgarden, die Leichenwagen mit den roten Fahnen vorbei, und hinter ihnen geht in grossen Stiefeln und in schwarzem Wams mit blutroter Schärpe Vallès, den ich im Spital erkannt hatte, dem ich aber, hinter einem Bett verborgen, ausgewichen war – Vallès, mit sorgenvoller Miene, fettgeworden, gelb wie ein Stück ranziger Speck. Für einen Augenblick nach Auteuil; heimgekommen, wirft mich nun die Wut der fortgesetzten Kanonade nach dem Schreckensschauspiel des ganzen Tages in eine tiefe Traurigkeit, in der ich über das Los dieser Bestien nachdenke.

Heute abend gibt es Versuche zu Barrikaden auf der Place de la Concorde.

In der Rue neuve du Luxembourg sagt ein Nationalgardist zu einer Pförtnerin: »Wenn der Mann aber verdächtig ist, dann muss man ihn einstecken, und ich werde ihn einstecken lassen!«

Auf dem Boulevard Leute, einige junge Menschen. Es scheint, dass die Erfolglosigkeit des Tages wenigstens einige Pariser aus ihren Verstecken hervorkommen lässt.

Montag, 10. April. – Bei dieser Dauer des Kampfes und dem Nichts, das der einen oder der anderen Partei den Sieg verschaffen kann, durchlebt man die schrecklichsten Aufeinanderfolgen von Hoffnung und Furcht bei allem, was angekündigt, gesagt, gedruckt, gelesen wird.

Gegen fünf Uhr abends ist im Galopp ein Meldereiter angekommen, der, sagt man, den Befehl überbracht hat, die Belagerungsstücke auf den Wällen zu schleifen. Zu gleicher Zeit zog am Tor von Auteuil eine Verstärkung von dreihundert Leuten heraus.

Die Versöhnung zwischen Versailles und der Kommune – der Einfall eines Toren!

11. April. – Ein Nationalgardist aus Passy, den ich auf dem Verdeck des Omnibus treffe, beginnt mit mir zu plaudern: »Ich war mit vollem Vertrauen dabei ... aber jetzt gehe ich fort ... es ist keine Ordnung da ... Die Offiziere sind so wurschtig ... Schliesslich und endlich, wenn man das alles ansieht, fragt man sich, ob es nicht Leute gibt, die einfach bezahlt werden, um ein » micmac« zu machen ... Ich bin dabei, weil ich keine Arbeit habe, weil man dreissig Sous bekommt, weil ich nicht Räuber werden kann ... Aber wenn ich irgendeine Beschäftigung bekäme, wenn ich nur den Pflug ziehen könnte, wäre ich nicht mehr bei der Nationalen.«

Von der Madeleine bis zur Oper ist der ganze Boulevard leer. Man scheint sich wieder versteckt zu haben, und es ist wirklich ein Jammer, zu sehen, in welcher trostlosen Einsamkeit die Mädchen, die in den Cafés um die Oper herum ihrem Geschäft nachgehen, ihr Bier trinken.

Ueber Paris scheinen böse Nachrichten zu schwirren. Die Zeitungen künden einen Misserfolg der Versailler in Asnières an. Eine Spur von Leben ist nur um die Passage Jouffroy herum.

Ich gehe heim und sehe an den Türen und den Fenstern alle Bewohner des Kais, die Augen nach Issy gerichtet. Die Kanonade ist furchtbar. Ein Lärmen, als ob der Himmel einstürzen würde. Vom Fenster des Zimmers meines Bruders aus ist von Bicêtre bis zur Ebene von Chatillon eine Linie von Lichtblitzen, und das regelmässige und mechanische Schiessen eines Maschinengewehres, so gross wie der Horizont. Das dauert zwei Stunden, dazu das Krachen der Gewehrschüsse, und wird schliesslich abgeschlossen von einer entsetzlichen Stille, in die sich das Heulen eines kleinen Hundes aus dem Nachbarhause, der von diesem anhaltenden Donnern erschreckt ist, mischt.

Mittwoch, 12. April. – Heute früh, beim Erwachen, sehe ich vom Fort d'Issy, das ich schon genommen glaubte, die rote Fahne flattern. Die Truppen von Versailles sind also zurückgeworfen worden?

Woher kommt aber diese Zähigkeit der Verteidigung, wie sie die Preussen nicht angetroffen haben? Daher, dass die Idee des Vaterlandes auf dem Wege zu sterben ist; daher, dass die Formel: »Die Völker sind Brüder« ihren Weg gemacht hat, selbst in den Tagen des feindlichen Eindringens und der grausamen Niederlage; und weil die Gleichheits-Lehren der Internationale ihren Weg in die Massen gemacht haben.

Noch einmal: woher diese Zähigkeit in der Verteidigung? Weil in diesem Kriege das Volk sich seinen Krieg selbst sozusagen braut, ihn selbst führt und nicht unter dem Joch des Militarismus steht. Das unterhält die Leute, interessiert sie.

Daher ermüdet sie nichts, entmutigt sie nichts, stösst sie nichts zurück. Man kann alles bei ihnen erreichen, sogar heroisches Wesen. –

In den Champs-Elysées gibt es noch immer Geschosse, bis hinauf zur Avenue de l'Alma; rings um den Obelisk herum stehen Neugierige, deren Gruppen jeden Augenblick der Galopp eines Meldereiters durchschneidet, der flach auf seinem Pferd liegt, ganz wie ein Zirkusaffe.

 

Donnerstag, 13. April. – Man beginnt, das klagende Huhu der Geschosse zu hören, die auf die Geschützstellung des Trocadéro fallen, von wo über unsere Köpfe hinweg nach dem Mont Valérien gezielt und gekämpft wird.

Ich gehe am Café Helder vorbei, meine Augen suchen dort unwillkürlich nach einer Uniform. Das Café ist ganz leer. Zwei fremde Frauen sitzen allein am Eingang.

Wahrlich, das menschliche Gehirn ist jetzt ebenso in Unordnung geraten wie alles sonst. So gibt es unter anderem sozusagen »starke Gedanken«, auf Grund derer die intelligentesten Leute haushohe Dummheiten sagen. Ein Freund von mir, dessen Ansichten so rot sind wie das Blut eines Stiers, behauptete heute abend steif und fest, alles müsse sich vor dem Instinkt der Massen beugen. Die »Instinktiven« – so nennt er sie nämlich – dürfen, ohne sich des Gefühls, das sie leitet, auch nur bewusst zu sein, einen Gehorsam verlangen, wie man ihn weder der Wissenschaft, noch den Kenntnissen, noch der Gelehrsamkeit, noch dem Nachdenken schuldet. Das ist nun nichts anderes als ein Bekenntnis zum alleinseligmachenden Recht der Unintelligenz, und doch etwas zu heftig!

Freitag, 14. April. – Ich werde mit dieser Nachricht, die heute früh Pélagie bringt, geweckt: Ein neuer Anschlag zwingt alle Männer, welches auch ihr Alter sei, gegen die Versailler zu marschieren; in Auteuil spricht man mit Schrecken von einer Jagd auf Drückeberger, die nun in den Häusern gemacht werden soll. – – – – –

Samstag, 15. April. – Heute früh arbeitete ich im Garten. Ich höre das Pfeifen einiger Geschosse. Zwei oder drei Einschläge kurz nacheinander. In der Villa erhebt sich der Schrei: »Alles in die Keller!« Und nun sind wir, wie unsere Nachbarn, im Keller. Entsetzliches Krachen, Explosionen. Vom Mont Valérien schleudert man eine Granate in der Minute auf uns. Ein unangenehmes Angstgefühl erfasst einen bei jedem Kanonenschuss während der ein paar Sekunden dauernden Flugzeit: die Furcht, dass das Geschoss gerade auf das eigene Haus, auf einen selbst niederfällt.

Plötzlich erfolgt eine schreckliche Explosion. Pélagie, die eben in einem andern Keller Holz zusammenbindet und ein Knie auf dem Erdboden hat, fällt durch die Erschütterung des Hauses zu Boden.

Wir erwarten ängstlich den Zusammenbruch, einen Steinhagel. Nichts ... Ich wage es schliesslich, die Nase durch eine halboffene Tür hinauszustecken. Nichts ... Doch es fängt bald wieder an und dauert um uns herum ungefähr zwei Stunden, wir sind schliesslich von den uns fast streifenden Geschützschlägen sozusagen eingehüllt. Noch ein Krach, dass das Zinkdach auseinanderreisst. Ein Gefühl von Feigheit, das ich bisher niemals gespürt habe, auch nicht in der Preussenzeit. Meine körperliche Verfassung ist jetzt ganz unten ... ich habe mir schliesslich eine Matratze auf die Erde legen lassen, und auf ihr bleibe ich in einem Zustand von schläfriger Betäubung, so dass ich nur sehr vage an die Kanonade und den Tod denke. Dann kommt zur Beschiessung noch ein schrecklicher Gewittersturm, und das grelle Licht der Blitze und das Einschlagen der Granaten gibt mir, wie ich da unten im Keller hocke, das Gefühl vom Weltuntergang. Endlich gegen drei Uhr löst sich das Gewitter, auch die Schüsse beginnen regelmässiger zu werden, und die Granaten fallen vor uns auf den Wall, wo die Föderierten wieder Belagerungsstücke aufstellen.

Als die Beschiessung einen Augenblick aussetzt, gehe ich um das Haus herum. Man könnte wahrlich sagen, dass mein Haus der Zielpunkt für den Mont Valérien gewesen ist. Die drei Häuser hinter mir in der Avenue des Sycomores, Nummer 12, 16 und 18, haben jedes eine Granate bekommen. Das Haus Courasse, das an meines anstösst und schon zweimal von preussischen Schüssen getroffen worden war, hat vom Dach bis zu den Fundamenten einen kopfgrossen Riss. Die Granate, die Pélagie zu Boden geworfen hat, hat die Spitze der Eisenbahn getroffen, ein 500 Pfund schweres Stück der Schienen weggerissen und damit der Fassade meines Hauses einen Schlag versetzt, so dass ein grosses Feld des Stuckwerkes nun zerschmettert auf dem Boden liegt.

Man spricht von den Gefahren, die für die Nacht drohen. Wir richten uns im Keller ein. Man verstopft das Kellerloch mit Erde, macht im Ofen Feuer, und Pélagie schlägt für mich in einem Winkel unter der Stiege ein Bett auf.

Sonntag, 16. April. – Wider alles Erwarten eine ruhige Nacht, trotzdem ein lebhafter Artilleriekampf bei Sturm und Regen auf der Seite von Neuilly stattgefunden haben soll. – – – –

Ein weisser Anschlag fordert die Bürger auf, Barrikaden im 1. und 20. Arrondissement zu errichten. Man bietet vier Franken Lohn den Tag für die Barrikadenbauer.

Ein rosenroter Anschlag fordert die Bürger auf, sich der vierzig Milliarden zu bemächtigen, die den Imperialisten gehören. Und als ob der Unterzeichner dieses Anschlags diese Summe für den Appetit der Plebs noch etwas zu gering findet, stellt er ausserdem fest, dass es 7500000 Familien gibt, die zusammen nur zehn Milliarden haben, während es auf der andern Seite 450000 Familien von Finanzleuten und Grossindustriellen gibt, die 400 Milliarden besitzen, natürlich durch Gemeinheiten erworben. Dieser Anschlag enthüllt den wahren Kern des geheimen Programms der Kommune!

Ja, ist es denn nicht schon so weit, dass ich auf meinem Boulevard diese Leute mit ihren Gemahlinnen sitzen und unsere Villen betrachten sehe und sie ganz laut sagen höre: »Wenn die Kommune erst einmal eingesetzt ist, dann wird's uns da drin ganz gut gehen!«

 

Montag, 17. April. – Gehen die Geschäfte der Kommune schon schlecht? Ich wundere mich, heute so etwas wie ein Sich-wiederaufrichten des Volkes mit zu erleben. Der Boulevard ist voll kochender Erregung. Vor der Passage Jouffroy höre ich mit Staunen die Rufe: »Nieder mit der Kommune!« Die Nationalgarde will dazwischenfahren. Eine Stentorstimme schreit ihr ins Gesicht: »Vive la République! Nieder mit der Kommune!« Und vom Balkon Burty's sehe ich eine Strassenschlägerei mit an; man schreit: »Zum Tode!«, aber schliesslich löst sich aus der Menge ein Mann im Ueberrock mit drohenden und energischen Mienen, der, die Wut der Lumpen verachtend, den Boulevard hinaufschreitet, sich dann umkehrt und ganz laut den Kommunarden seine Verachtung zuschreit.

Madame Burty versichert mir, dass unter den Nationalgardisten eine Meuterei gewesen ist. Bracquemond soll heute früh im Lazarett einen Verwundeten gesehen haben, der die ganze Zeit, während man ihm die Schulter wieder einrenkte, als Sterbender noch flüsterte: »Die Nationalgardisten haben uns im Stich gelassen ... sie haben uns im Stich gelassen!«

Dienstag, 18. April. – Auf der Place Vendôme ist das Gerüst für die Demolierung der Denksäule aufgerichtet. Der Platz ist der Mittelpunkt eines schrecklichen Getöses und einer phantastischen Schau unmöglicher Kostüme. Man sieht da ganz seltsame Nationalgardisten, unter anderen einen, der einer der Zwerge des Velasquez zu sein scheint, gehüllt in einen Bürgerrock, darunter aber schauen verkrüppelte Dachsbeine hervor.

Auf den Bürgersteigen immer noch ein Jahrmarkt; heute ist unter den Blumen der erste Flieder zu sehen. – – – – – – – – – – –

Ein Zeichen der Zeit. Ich sehe einen Mann, der in einem Coupé fährt und sich mit den Fingern schneuzt!

Anschläge, immer und immer neue Anschläge. Das weisse Regierungspapier macht wahrhaftig schon dicke Flecke auf den Mauern. Der neueste Anschlag, der Anschlag der letzten Viertelstunde, ist der Anschlag über die Kriegsgerichte. Dieser Anschlag breitet vor unser aller Augen die Reize der Todesstrafe, der Zwangsarbeit, der Einsperrung, der Verbannung aus, des ganzen barbarischen Strafgesetzbuches, das die Demokraten bemühen, um »die Freiheit zu begründen« !

Vor dem Gymnase sitzt auf einem Stuhl eine Somnambule mit verbundenen Augen,unterstützt von ihrem Magnetiseur, betätigt sie sich mitten auf dem Boulevard als Sibylle.

Place de la Concorde, oben bei der Rue de Rivoli, arbeiten Leute an einem Schützengraben, der so breit ist wie ein Festungsgraben.

Eine ähnliche Arbeit wird am Anfang der Rue Castiglione gemacht, dort häufen sich unter den Arkaden schon die Sandsäcke mit der ausgehobenen Erde.

An jeder Strassenecke begegnet man Leuten, Männern oder Frauen, die in der Hand eine Reisetasche, ein Toilettenecessaire, ein kleines Paket tragen, – das einzige Gepäck, mit dem man jetzt noch aus Paris fliehen kann.

Es scheint, dass die Angestellten des Louvre in grosser Angst sind. Die Venus von Milo ist versteckt, man rate einmal, wo? In der Polizeipräfektur! Sie ist sogar sehr gründlich versteckt, nämlich unter dem ersten Versteck noch einmal verborgen, unter Akten und allerlei Polizeipapieren, die imstande sind, die sorgfältigsten Sucher aufzuhalten. Man fürchtet immer, dass Courbet auf dem Marsche sei, und die ängstlichen Beamten des Museums erwarten, ich glaube mit Unrecht, von dem wilden Modernen das Aergste für das klassische Meisterwerk.

Renan erzählt uns das bei Brébant, wo heute beim Mittagessen nur noch vier Gäste sind; er beklagt sich, mit Recht und sehr beredt, über die Mutlosigkeit der Pariser Deputierten. Er sagt, sie hätten die Stadt durchstreifen müssen, zu den Menschen sprechen und sie zum Widerstand auffordern. Er sagt, hätte man ihn mit dem Mandat seiner Mitbürger beehrt, er hätte es an dem, was er eine Pflicht nennt, nicht fehlen lassen. »Ich hätte«, fügt er hinzu, »mich gezeigt, auf dem Rücken irgend etwas tragend, was zu den Augen spricht, was ein Zeichen, ein Symbol, etwas Beredtes gewesen wäre, etwas, das dem Joch geglichen hätte, das der Prophet Jesaias oder Ezechiel auf seine Schultern geladen hat ...«

Dann kommt Renan auf jenen Zickzackwegen, wie sie den frei hin und her gehenden Gesprächen eigen sind, auf den Prinzen Napoleon und seine Reisen in der Nordsee zu sprechen. Er erzählt uns, er habe ihn an dem Morgen, wo das Schiff sich segelfertig nach Spielberg machte, angesprochen mit den Worten: »Schönes Wetter, Monseigneur!« – »Ja, schönes Wetter, um nach Frankreich zurückzukehren.«

Der Prinz hatte in der Nacht eine Depesche erhalten, die die Erklärung des Krieges an Preussen mitteilte und ihn nach Frankreich zurückrief. Der Prinz fügte hinzu: »Wiederum eine Narrheit, aber es ist die letzte, die sie begehen!«

Daraufhin verbreitet sich Renan des längeren über die richtigen Ahnungen des Prinzen, über seine Kassandragaben, und erzählt uns von einer ganzen Nacht, die er mit ihm in der Londoner Gesandtschaft verbrachte, und wo er den Prinzen Lavalette und Tissot gegenüber alles das voraussagen hörte, was dann eingetreten ist.

Freitag, 21. April. – Eine Gruppe Arbeiter, die oben an den Champs-Elysées plaudert. Das ganze Gespräch handelt nur von der Teuerung des Lebens, und der Sprecher der Gruppe erzählt, dass sein Vater, der die Mühle drehte, »nur fünfzig Sous am Tag verdient habe, aber er konnte damit doch drei Kinder ernähren, während ich, der ich unter dem Kaiserreich fünf Franken verdiente, alle Mühe der Welt hatte, zwei aufzuziehen«. Die Erhöhung der Löhne entspreche nicht der Verteuerung des Lebens; das ist im wesentlichen der grosse berechtigte Vorwurf des Arbeiters gegen die heutige Gesellschaft. Dabei erinnere ich mich, dass mein Bruder und ich irgendwo geschrieben haben, dass das Missverhältnis zwischen dem Lohn und den hohen Kosten der Lebensführung das Kaiserreich stürzen würde ...

Der Arbeiter fügt noch hinzu: »Was hilft es mir, wenn es Monumente, Opernhäuser, Tingeltangel gibt, in die ich nie einen Fuss gesetzt habe, weil ich das Geld dazu nie hatte?« Und er erfreut sich an dem Gedanken, dass es künftig in Paris keine reichen Leute mehr geben werde, überzeugt wie er nun einmal ist, dass »die Vereinigung reicher Leute an einem Ort das Leben verteuert«.

Dieser Arbeiter ist zugleich töricht und voll von gesundem Menschenverstand.

Die Vérité kündigt an, dass morgen oder übermorgen im Officiel ein Gesetz erscheinen wird, nach dem jeder Mann, verheiratet oder ledig, zwischen neunzehn und fünfundfünfzig ausgemustert werden soll und gezwungen, gegen die Versailler zu marschieren. Ich stehe also unter diesem drohenden Gesetz. So soll ich also in wenigen Tagen wiederum gezwungen sein, mich, wie in den Tagen der Schreckensherrschaft, zu verstecken. Noch ist ja der Weg aus der Stadt zur Not frei, aber ich habe nicht den Willen fortzugehen.

Wie einseitig und parteiisch sind doch die Parteileute! Sollte man glauben, dass ich dieser Tage Franzosen erklären hörte, sie würden die preussische Besetzung einer Versailler Besetzung vorziehen?

Das sind die selben Leute, die sich über die Emigranten entrüsten. Dabei hatten diese doch, als sie die Fremden zu Hilfe riefen, einen »mildernden Umstand« für ihr Tun anzuführen, nämlich die Konfiskation ihres Besitzes und die abgeschnittenen Hälse ihrer Frauen, ihrer Schwestern und Töchter. – – – – – – – – – –

Auf der Tuilerienterrasse am Ufer komme ich wieder ins Bereich der Beschiessung, die heute ganz fürchterlich ist. Von Zeit zu Zeit steigt ein braver Rentner, den der Lärm in seinem Sonnenbad gestört hat, in die Höhe, wird aber gleich wieder von der »guillotinesken« Beredsamkeit eines berauschten Nationalgardisten zur Lektüre seiner »Petite Provence« hinuntergejagt.

– Und doch, man kann jetzt nicht fort, in einem Augenblick, wo unsere Freunde dem Feinde so nahe zu kommen scheinen, dass man immer wieder fragt, ob sie noch nicht in der Stadt sind, und stets erwartet,unter dem Etoilebogen zwischen aufgelösten Nationalgarden im Kugelregen die Köpfe der Versailler Züge zu sehen. Aber trotz dem schrecklichen Lärm zeigt sich schliesslich wieder nichts, und man geht fort mit den Worten: »Schön, also morgen!« Und dieses »morgen« kommt – nie.

Samstag, 22. April. – Ich gehe in den Jardin des Plantes, um dort die Oertlichkeiten zu durchsuchen, will sehen, ob ich nicht dort irgendeine Hütte eines Hirsches oder einer Gazelle leer finde, und ob ich nicht einen Wächter bestechen kann, mich dort nachts schlafen zu lassen, für den Fall, dass die militärische Requisition oder die Feindschaft des allmächtigen Spiessers mich suchen und in der Rue de l'Arcade aufstöbern sollte.

Der Jardin des Plantes atmet die gleiche Traurigkeit wie ganz Paris. Die Tiere sind schweigsam. Der Elefant, von seinem Publikum verlassen, nachlässig an ein Stück Mauer gelehnt, frisst sein Heu, wie ein Mann, der plötzlich verurteilt ist, allein zu speisen. Die Langeweile der wilden Tiere zeigt sich an ihren lässigen Stellungen.

In den menschenleeren Alleen spaziert ein Dutzend Nationalgardisten herum, von denen einer sentimentale Phrasen über die Mütterlichkeit eines Känguruhs von sich gibt, dessen immer offene Backentasche er dem Tun der »Aristo«-Weiber, die ihre Kinder verlassen, entgegenstellt.

 

25. April. – Heute ist Waffenstillstand zur Räumung der Häuser von Neuilly.

Ich dringe vor bis zum Wall. Bis zur Etoilebarriere nichts als zerbrochene Kandelaber und Risse im Stein der Häuser. Jenseits aber ist es anders! Die Barriere der Etoile ist ganz durchlöchert von den schwärzlichen Gruben der Geschosse, und am Flachrelief der Invasion hat ein Geschoss den Arm des Kindes, das von der Mutter auf der Schulter getragen wird, fortgerissen. Unten sind die Granitsteine zerbrochen bis zu Stücken von der Grösse eines Zuckerwürfels.

Die richtige Zerstörung beginnt an der Avenue de la Grande Armée und geht ihre ganze Länge weiter bis zum Wall an der Seite der Rue Pergolèse, de Pressbourg, Rue Rude usw. Ueberall klaffende Löcher, abgerissene Balkons, Leitungsröhren, die an fünf oder sechs Stellen zertrümmert sind, verbogene und verquetschte Eisenläden. Man geht auf Glassplittern, Ziegelstaub, Schutt, der den ganzen Bürgersteig bedeckt.

Tritt man in die Häuser ein, so kommt man an der Loge des Pförtners vorbei, die mit Matratzen, die man wiederum auf kleine Leitern gestellt hat, auswattiert ist, und findet den vierten Stock im Hof unten liegen.

Die Vernichtung, die ein Geschoss im Innern eines Raumes anrichtet, sehe ich an zwei grässlichen Beispielen. Das eine bei einem Perückenmacher: von dem ganzen Gerät des Ladens ist nichts übrig als die Schlacke eines gusseisernen Ofens und die Hälfte eines Uhrzifferblattes ohne den Zeiger.

Das andere Exempel bei einem Bäcker: ein Geschoss, das eine Holzwand bearbeitet hat, hat daraus eine Art von Geflecht gemacht, allerdings eines, dessen Fäden zerrissen sind.

Alle Welt zieht aus. Eine verzweifelte Frau wirft auf einen Wagen die Schubfächer irgendeines Kramladens, und die Türschwelle ist geschmückt mit den Brautbuketts – unter Glassturz – aller verheirateten Frauen des Hauses, die alle bereit sind, nach Paris zu übersiedeln.

Jene, die, den drohenden Tod in jedem Augenblick vor Augen, die Beschiessung überlebt haben, haben etwas vom Aeusseren der Somnambulen, die Handlungen im Schlaf und in der Nacht begehen. Es gibt welche, die eine fatalistische Resignation zur Schau tragen.

Die Menge, die inmitten dieser Zerstörung herumirrt, hat zornige Gebärden. Und vor dem Anblick all dieser Verwüstung stösst ein kleiner Greis, dessen Augen zwei Gaslichtern ähneln, entsetzliche Flüche gegen Thiers aus und macht dazu Bewegungen mit mörderischen Händen, die sich krampfen, wie um jemanden zu erwürgen.

 

Zurzeit ist das Cafe Voisin der Ort, wo der Stab von der Place Vendôme seinen Kaffee mit ein paar Brüdern und Freunden einnimmt. Es ist nun ganz sonderbar, diese Herren anzuhören und aus einem schattigen Winkel ihrem wilden Geschwätz beizuwohnen. Heute bringt sie die Zerstörung der Säule auf dem Vendômeplatz auf das Clunymuseum. Einer von ihnen hält lange Reden über diese »falschen Altertümer« und gibt den Gedanken von sich, dass das Geld, das man für diese blöden Ankäufe widmet, einer nützlichen und für das Volk fruchtbaren Verwendung entzogen werde; er schliesst: man müsse diese Kunstwerke zugunsten der Nation verkaufen!

Burty, der den Tag mit den Leuten von der Liga verbrachte, bestätigt mir, dass auch die Leute, die er gesehen hat, so bestürzt und ergriffen von resigniertem Fatalismus sind, dass viele unter ihnen gar nicht nach Paris heimkehren wollen. Er erzählt mir, er sei mit einem Ambulanzwagen an einer Gruppe von Frauen, die sich unter einem Haustor gesammelt hatten, vorbeigekommen und hätte ihnen zugerufen, ob sie mit nach Paris hineinkommen wollten. Seine Aufforderung aber sei mit einer Art von Lachen aufgenommen worden : – eine Zurück Weisung, die zugleich traurig und spöttisch war.

Mittwoch, 26. April. – Ja,ich bleibe bei meiner Ueberzeugung, dass die Kommune zugrunde gehen wird, weil sie jenem Gefühl, das ihre unerschütterliche Macht gebildet hätte, nicht Rechnung getragen hat. Die städtischen Freiheiten, die Autonomie der Kommune usw. usw., dieses ganze metaphysische Gewölk, in das sie sich hüllt, gut genug, ein paar Wirtshausideologen zu befriedigen, ist nicht das, was ihr Gewalt über die Massen zu geben vermag. Ihre Macht wurzelt lediglich in dem Bewusstsein des Volkes, unvollständig und unfähig von der Regierung der Défense Nationale verteidigt worden zu sein. Wenn also die Kommune, statt sich den preussischen Forderungen noch gefälliger zu zeigen als Versailles selbst, den Vertrag, den sie der Assemblée vorwirft, gebrochen hätte, wenn sie in einem Anfall heroischen Wahnsinns Preussen den Krieg erklärt hätte, dann wäre es für Thiers unmöglich gewesen, seinen Angriff zu beginnen, dann hätte er nicht mit Hilfe der Fremden die Uebergabe von Paris in die Wege leiten können.

Und, wenn dieser Widerstand energisch gewesen wäre, wenn zwei oder drei winzige Erfolge diesen Versuch eingeleitet hätten – was man für unmöglich erklären wird –, wissen Sie, was sich dann ereignet hätte? Dann wäre Thiers, so wenig wie seine Generäle, Herr der Bewegung gewesen, und das ganze Land wäre in einen neuen Krieg hineingezogen worden, in einen Krieg bis zum letzten Mann. Auf alle Fälle aber wäre der Tod der Kommune unter solchen Verhältnissen ein Tod in Grösse gewesen, und ein Tod, der die Ideen, die sie auf ihre Fahne geschrieben hatte, um ein gutes Stück weiter gebracht hätte. – –

Dienstag, 2. Mai. – Seit dem 18. März habe ich in der Auslage keines einzigen Wechslers mehr einen Schein, einen Louis oder auch nur ein Fünffrankenstück gesehen. Das ist vielleicht das charakteristischeste Zeugnis für das Vertrauen, das die Kommune dem Geld einflösst.

Mittwoch, 3. Mai. – Ein Kriegsrundschreiben bringt den Nationalgarden das Folgende zur Kenntnis: Da die Entsendung eines Parlamentärs immerhin eine Kriegslist sein könne, müsse man fortfahren zu schiessen, selbst wenn der Feind schon das Feuer eingestellt habe ... Zugleich erscheint eine Bekanntmachung des Bürgers Rossel; als Antwort auf die Aufforderung, das Fort d'Issy zu übergeben, droht er, unter dem Vorwand, dass sie eine Unverschämtheit sei, – es ist allerdings ziemlich schwer für eine solche Aufforderung, nicht ein wenig unverschämt zu sein! – er droht also, den ersten Parlamentär, der wieder eine solche Aufforderung bringen wird, niederschiessen zu lassen. Das scheint die Unterdrückung jedes mündlichen Verkehrs zwischen den beiden Armeen zu bedeuten.

Acht Uhr abends; mattgoldener Himmel, rosa gefärbt. Unter den verstümmelten Bäumen nähern sich schwarze Silhouetten oder weichen zurück, je nachdem der Schall platzender Geschosse näherkommt oder sich entfernt. In den Champs-Elysees: Gruppen in erregtem Gespräch; jeder, der die Handlungen der Kommune diskutiert, wird »mouchard« genannt, ein Wort, das genügt, um die Menge zum Mord aufzustacheln.

Unter den Sprechern fällt ein Arbeiter auf, der die wütenden Züge der Politiker Gavarni's hat. Einen schrecklichen Wutausbruch gegen Versailles beendet er mit folgendem charakteristischen Satze:

»Und dann, nach zehn Jahren, werden sie uns unter dem Vorwand einer Revanche gegen die Preussen marschieren lassen: und das ist es, was nicht geschehen darf!«

Von der Gruppe lösen sich drei Soldaten los; einer sagt zu seinen Kameraden: »Pfui Teufel ... diese » liberalischen Diskurse; wichtig ist doch nur, dass wir acht Liter Wein kriegen, ein Vierpfundbrot und ein grosses Stück ...« Von irgendwas, das ich nicht mehr verstehen kann.

Donnerstag, 4. Mai. – Schlechte Nachrichten aus Auteuil und vom Boulevard Montmorency. Die Granaten regnen über meinem Haus. Das Gittertor der Villa ist eingeschlagen worden.

Ich begleite Burty ins Rathaus, wo er versuchen will, einen Passierschein für einen armen Teufel, der fliehen will, zu bekommen. Es handelt sich für uns nur darum, den Dichter Verlaine zu entdecken, den man zum Chef des Pressbureaus ernannt hat.

Der Pförtner weiss nicht, welche Zimmernummer das Pressbureau hat, und die Beamten wissen überhaupt nichts voneinander . . .

In einem Salon beschäftigen sich die Nationalgardisten, die nichts zu tun haben, damit, mit ihren Bajonetten die grüne Seide, mit der man die Kronleuchter eingehüllt hat, zu zerschneiden. In einem Korridor beschimpft ein Soldat wütend seinen Offizier. Auf allen Stiegen schlagen, halb offen, die Türen gewisser Lokale, und es riecht überall sehr schlecht.

Nachdem wir in dem Palast, in dem jetzt die Bronzestatuen Francois I. und Louis XIV. mitten in all der » Gardenationalität« schlecht am Platze sind, herumgeirrt sind, nachdem man uns von rechts nach links geschickt hat, stellen wir uns schliesslich dem Komitee selbst vor. Vier oder fünf Matratzen sind dort gegen die Tür geschmissen worden, und in dem grossen, leeren Saal irren ein paar schmutzige, närrische Leute herum. Man könnte glauben, man sei im Feldlager einer aufständischen Truppe. Das ist keine Behörde, es ist eine staubige Rumpelkammer.

 

Am Abend bekennt Verlaine eine unglaubliche Geschichte. Er sagte, er hätte eine Sache, die man vorschlug und die beinahe geschehen wäre, bekämpfen und verhindern müssen: nämlich den Vorschlag, Notre-Dame zu zerstören.

Freitag, 5. Mai. – Die Verdummung, die Gleichgültigkeit dieser Bevölkerung, die unter der Herrschaft der siegreichen Canaille lebt, bringt mich zur Verzweiflung. Ich kann nicht mehr, ohne in Zorn zu geraten, zusehen, wie sie ihr leichtsinniges, läppisches Leben fortsetzen. Dass aus dieser elenden Herde von Männern und Frauen nicht eine Aeusserung der Entrüstung, des Zornes laut wird, die bestätigt, dass jetzt alle irdischen und himmlischen Dinge durcheinandergeraten sind! Nein, Paris sieht einfach aus wie das Paris des Monats August in einem sehr heissen Jahre! Oh, diese Pariser von heute: man könnte ihre Frauen in ihren Armen schänden, oder man könnte, was ihnen vielleicht näher ginge, ihnen die Börse aus der Tasche stehlen, sie würden sein, was sie eben sind: die feigsten »moralischen Wesen«, die ich je gesehen habe.

Heute abend sind in den Menschengruppen Communards zu hören, die sich voll Ironie über die Wohltätigkeit äussern. Sie weisen – in der Theorie – mit Verachtung die Hilfe der Wohltätigkeitsanstalten zurück. Der eine verkündet, dass die Gesellschaft allen Männern Renten schuldet, kraft des Satzes: »Ich lebe, also muss ich auch existieren!« Der Refrain aller Reden ist: »Wir wollen keine Reichen mehr!«

Sonntag, 7. Mai. –. Kein Zweifel, eine Art von Wahnsinn hat die Pariser Bevölkerung ergriffen. Ich sehe heute, wie eine Frau, die nicht zum niederen Volke gehört, die schon in verehrungswürdigem Alter steht, kurz und gut eine reife Bürgersfrau, einem Mann eine Ohrfeige gibt, ohne von ihm gereizt zu sein, nur weil er sich erlaubte, ihr zu sagen, sie solle die Versailler in Frieden lassen. – –

Ich gehe heute abend in die Kirche St. Eustache, wo ein Klub eröffnet werden soll. Auf dem Kirchenstuhl, wo sonst Messe gelesen wurde, zwischen zwei Lampen ein Glas Zuckerwasser, und rings herum vier oder fünf Advokatensilhouetten. In den Seitenschiffen, stehend oder auf Stühlen, Publikum, das die Neuheit dieses Schaustücks hergeführt hat. In der Haltung dieser Leute ist wirklich nichts vom Sakrileg, sie führen sogar alle beim Eintreten die Hand an die Mütze, und lassen sie nur auf dem Kopfe, weil sie sehen, dass die andern die Hüte auch aufhaben. Nein, das ist nicht, wie 93, die Entweihung von Notre-Dame, noch werden nicht Heringe auf den Hostientellern geröstet – nur ein starker Knoblauchgeruch steigt zu den heiligen Gewölben empor. Die Klingel – die Klingel mit dem silbernen Geläut der Messe kündet an, dass die Sitzung eröffnet wird.

In diesem Augenblick erhebt sich aus dem Gestühl ein Weissbart, und, nachdem er einige puritanische Phrasen von sich gegeben hat, ersucht er die Versammlung, folgenden Vorschlag anzunehmen: »Die Mitglieder der Nationalversammlung, und zwar auch Louis Blanc, Schoelcher und all die andern, kurz alle Mitglieder ebenso wie die andern Staatsbeamten, sollen mit ihrem Privatvermögen bürgen für alles Unglück dieses Krieges und zwar sollen sie ebenso für jene Soldaten haften müssen, die auf der Versailler Seite zugrunde gehen, wie auf der Pariser Seite. Und das soll so gehandhabt werden,« sagt er, in seinen Erläuterungen fortfahrend, »dass ein Abgeordneter aus der Provinz unangenehm erstaunen soll, wenn der Bauer, dem man den Leichnam seines Sohnes ins Haus bringt, zu ihm komme, um von seinem eigenen Vermögen die ihm gebührende Rente zu beanspruchen.« Der Vorschlag wurde zur Abstimmung gebracht, aber nicht angenommen, ich weiss nicht, welcher Grund es hinderte.

Auf den Weissbart folgte eine perlgraue Hose, die mit zorniger Stimme erklärte: »Es gibt nur ein Mittel zum Siege, das ist die Schreckensherrschaft.« Dieser da verlangt die Einsetzung einer dritten Macht, eines revolutionären Tribunals, und zwar sollen die Köpfe der Verräter alsbald auf öffentlicher Richtstätte »herumrollen«. Der Vorschlag wird von einer Claque, die sich auf Stühlen um den Chor herum versammelt hat, rasend beklatscht.

Ein dritter Prediger, der die ganze Phraseologie von 93 besitzt, teilt mit, dass man 10000 Flaschen Wein bei den Pfaffen des Seminars von Saint-Sulpice gefunden hat, er verlangt, dass man auch bei den Bürgern nachforschen solle, weil bei diesen grosse Vorräte aufgestapelt sein müssten.

Nun – ich will unparteiisch sein – kommt der Augenblick, wo ein Mitglied der Kommune in der Uniform der Nationalgarde die Tribüne besteigt und gutmütig und geradeheraus spricht. Vor allem bekundet er laut seine Verachtung der »rollenden« Phrasen, mit denen man sich eine wohlfeile Popularität verschaffen kann, und erklärt, dass das Dekret über den Mont-de-piété, dessen Ausdehnung der Vorredner verlangt hatte, nicht auf Objekte im Werte von mehr als 20 Franken erstreckt worden sei, da es sich nicht darum handeln könne zu nehmen, wenn man nicht wisse, wie man bezahlen werde.

Er fügt hinzu, dass der Mont-de-piété Privateigentum sei, dass man sicher sein müsse, das, was man enteignet habe, auch zurückerstatten zu können, dass die Kommune keine Regierung des Raubs sei, dass das sich jeder gut merken müsse; ungeschickte Reden von der Art derer, die vor ihm gehalten worden seien, müssten im Publikum die Idee verbreiten, dass die Männer der Kommune das Prinzip des » Teilens« hätten, und zwar so, dass jeder Mensch, der vier Sous in der Tasche habe, verpflichtet sei, zwei davon fortzugeben.

Dann spricht er von den Männern des Jahres 93, die man ihnen, wie er sich ausdrückt, jetzt »immerfort als Knüppel zwischen die Beine werfe«, und erklärt, dass diese Männer als Aufgabe nur die »militärische Handlung« hatten, dass aber wahrscheinlich auch die berühmten Männer von 93 nicht erfolgreicher gewesen wären als die Männer von 71, wenn sie so enorme und schwierige Probleme zu lösen gehabt hätten, wie die Gegenwart sie bietet.

In diesem Zusammenhang findet er ein gutes und auch tapferes Wort: »Was hilft es, über die Versailler zu siegen, wenn wir nicht die Lösung des sozialen Problems finden? Wenn der Arbeiter also in denselben Verhältnissen bleibt wie vorher!«

Man erzählt in meiner Umgebung, dass der Redner Jacques Durand heisst.

Mittwoch, 10. Mai. – Thiers' Proklamation ist ebenso altmodisch wie der Mann selbst. Ein so schönes Thema, und nicht ein einziger schöner Satz oder ein schlichter oder ein beredter oder ein entrüsteter!

Dieser Tage verlangte Lefrançais in der Kommune, dass die Sekretäre sich gefälligst anstrengen sollten, die Mitglieder der Regierung zu »ordentlichem Französisch« zu veranlassen. Man hat ihm geantwortet, dass dazu keine Zeit da sei.

Freitag, 12. Mai. – Die Tuilerienterrasse ist ganz bedeckt mit Lumpenballen, mit denen man den Garten auf der ganzen Seite, die nach der Place de la Concorde zu liegt, verbarrikadieren wollte.

Das Haus Thiers' ist noch nicht demoliert, aber schon flattert die rote Fahne über dem kleinen blauen Rahmen, in dem die berühmte Nummer 27 angebracht ist. Der Platz ist militärisch besetzt von den »Rettern des Vaterlandes«, bleichen Lumpen, einem Haufen jener schmutzigen Pariser Jugend, deren Beruf es ist, vor den Boulevardtheatern die Wagentüren zu öffnen.

Samstag, 13. Mai. – Ich komme heute morgen zufällig zur Massenentlassung der Bibliotheksbeamten, die man fortgeschickt hat, und zur Flucht der Männer, die noch nicht vierzig Jahre alt sind, – ein Zusammenbruch, der grotesk wäre, wäre all das nicht so traurig.

Die Demolierung des Hotels Thiers' ist nun begonnen, das Dach, das man blossgelegt hat, lässt die Bogen aus weissem Holz sehen, mit denen es aus Sparsamkeit gebaut ist. Genau genommen, macht dieser Angriff auf den Privatbesitz, der bezeichnendste von allen, einen ausgezeichnet – schlechten Eindruck.

Wahrlich, einen traurigen Anblick bietet dieser ganze Bezirk, in dem man Jagden nach den Drückebergern veranstaltet, in dem man die nationalen Häscher mit vorgestrecktem Bajonett auf Jünglinge stürzen sieht, die fliehen und mit der Kraft ihrer jungen Beine zu entrinnen suchen.

Sonntag, 14. Mai. – ... Alles, was von der Bevölkerung noch in Paris ist, hält sich nun im unteren Teil der Champs-Elysées auf; dort übertönt das fröhlich-laute Lachen der Kinder, die vor dem Kasperl sitzen, sogar manchmal das ferne Grollen der Kanonade. Das nationale Tier beginnt nun in Wut zu kommen. Ich sehe einen dieser wüsten Nationalgardisten, der den Beruf eines Polizeiagenten ausübt, mit Gewalt einen Mann, der seine Meinung nicht teilt, fortschleppen. Er droht mit nichts Geringerem, als »ihn in der Ecole Militaire einstecken und füsilieren zu lassen«.

Man muss wirklich den Leuten zuhören, die in den Strassengruppen das grosse Wort führen, um eine Idee von der unkommensurablen Dummheit des intelligentesten Volkes der Welt zu bekommen. Aber es gibt etwas noch Traurigeres als diese Dummheit: das ist, dass an allem, was gesagt wird, an allem, was geschrien, an allem, was geheult wird, nur eines zu merken ist, nämlich eine idiotische Gier, eine selbstmörderische Lust, sich selbst herabzuwürdigen.

Montag, 15. Mai. – Immer noch warten wir auf den Angriff, die Befreiung, die nicht kommen will.

Man kann sich gar nicht vorstellen, wie man mitten im Despotismus der Strasse durch dieses als Soldaten verkleidete Pack leidet.

Dienstag, 16. Mai. – In den Tuilerien. In der Allee, von der man nach der Place Vendôme sehen kann, stehen Stühle bis in die Mitte des Gartens hinein, auf diesen Stühlen Männer und Frauen, die warten, um die Denksäule der Grossen Armee fallen zu sehen ... Ich gehe fort. Ach, diese Nationalgarde, sie verdient wirklich weder Mitleid noch Gnade! Wenn heute der Rest der Kommune, des »Komites des öffentlichen Wohls« ersetzt würde durch zehn ganz böse Zuchthäusler, die sie alle kennen würden, die Nationalgarde würde dennoch, knechtisch und ohne ein Wort zu sagen, deren Zuchthausdekrete durchführen.–

 

Wie ich um sechs Uhr wieder an den Tuilerien vorbeigehe, ist dort, wo die Bronzesäule war, die unseren militärischen Ruhm verkündete, ein leerer Raum im Himmel, und das noch von Gips befleckte Piedestal zeigt dort, wo früher die Adler waren, vier in der Luft flatternde rote Fetzen.

Auf allen Gesichtern ist etwas, wie die Ankündigung eines glücklichen Ereignisses. Man flüstert bei den Tabakhändlern, die Trikolore flattere über der Porte Maillot.–

17. Mai. – Ich werde geweckt von einer Nachbarin aus Auteuil, die kommt, um mir mitzuteilen, dass ein Geschoss gestern ein Fenster meines Hauses zerstört hat. Die Beschiessung wird immer stärker. Heute merkt man in ganz Paris ein gewaltiges Hin- und Herfahren von Artillerie und von mit Weinfässern beladenen Fuhrwerken, was eine nahe Aktion ankündigt.

Die Läden werden geschlossen, einer nach dem andern, und durch die Fensterscheiben jener, die nicht geschlossen sind, sieht man auf einem Stuhl sitzend, niedergedrückt und die Arme traurig hängen lassend, den müssigen Krämer.

Da die Geschosse immer näher kommen, sind auch die Kasperltheater vom unteren Teil der Champs-Elysées geflohen und haben mit dem Polichinell das hübsche Lachen der Kinder, das einen von der Kanonade ablenkte, mitgenommen.

Ich irre auf dem Kai herum. Plötzlich gibt es hinter mir eine andauernde und schreckliche Detonation. Es ist wie ein Krachen in einem Krater, wie das Knattern von Feuerwerk, das in die Luft sprüht. Ich drehe mich um: über den Häusern liegt eine dichte weisse Wolke, deren Umrisse behauenem Marmor gleichen. Rings um mich ruft man: »Das ist in Saint-Thomas-d'Aquin, im Artilleriemuseum.« Ich stürze mich in die Rue du Bac. »Es ist das Fort d'Issy, das in die Luft gesprengt ist,« höre ich Kaufleute, denen noch der Schrecken über den Tanz ihrer Glasscheiben im Leibe steckt, wiederholen.

Ich steige die Rue du Bac hinunter und stosse auf Bracquemond, der, in die Richtung des Rauches zeigend, sagt: »Es ist die Tabakfabrik oder die Ecole Militaire.«

Wir steigen die Champs-Elysées hinauf; ein altes Weib mit verbundener Hand schreit wie närrisch auf: »Es ist die Munitionsfabrik des Marsfeldes, aber gehen Sie nicht hin, es ist noch nicht aus, es kommt noch eine zweite Explosion!« Wir sind gerade vor dem Lazarett, und von dort wirft uns Guichard, die Tür öffnend, die Worte zu: »Wenn Sie ein sehr festes Herz haben, kommen Sie herein, aber wenn Sie das nicht haben, gehen Sie lieber fort. Ganze Häuser sind umgefallen, Sie können Stücke von Frauen und Kindern sehen, zerschmettert, während sie säugten.«

 

Sonntag, 21. Mai. – Ich hatte den ganzen Tag in der Angst vor einer Versailler Niederlage verbracht, gereizt, weil Burty, den ich im Spital getroffen hatte, mir viele Male wiederholte: »Die Versailler sind siebenmal zurückgeschlagen worden.« Schliesslich gehe ich abends in meiner Trauer, meiner Unruhe auf meinen gewöhnlichen Beobachtungsplatz, auf die Place de la Concorde. Dort umringt eine Riesenmenge einen Fiaker, der von Nationalgarden eskortiert wird.

»Was gibt es!« frage ich.

»Ein Herr wird eben festgenommen,« antwortet mir eine Frau. »Er rief aus dem Wagenfenster, dass die Versailler eben in die Stadt einrücken.« Nun erinnere ich mich, in der Rue Saint-Honoré kleine Gruppen Nationalgarden in aufgelöster Flucht vorbeiziehen gesehen zu haben.

Aber man ist so oft getäuscht worden, so oft enttäuscht worden, dass ich der guten Nachricht kein Vertrauen schenke. Und dennoch bin ich in meinem Innersten bewegt, durch ein Nichts von Hoffnung erregt. Ich gehe lange spazieren, suche Nachrichten, Aufklärung ... aber es ist nichts, nichts zu erfahren. Die Leute, die noch in den Strassen sind, sehen ganz aus, wie die Leute gestern. Sie sind noch ebenso »ruhig-konsterniert«. Niemand scheint etwas von dem Ausruf auf der Place de la Concorde zu wissen. Es ist also wieder eine Ente.

Endlich gehe ich heim . . . Verzweifelt lege ich mich zu Bett, kann nicht schlafen. Durch die luftdicht geschlossenen Vorhänge glaube ich ein fernes Lärmen zu hören. Ich stehe auf, öffne das Fenster. Es ist nur der regelmässige Takt der Schritte der Kompagnien auf dem Pflaster entfernter Strassen zu hören, wenn die Truppen einander ablösen, wie das alle Nächte immer war ... Also nur eine Einbildung von mir ... Ich lege mich wieder zu Bett ... Aber nun ist es wirklich der Tambour, wirklich das Horn, ich springe wieder zum Fenster ... Der Generalmarsch wird in ganz Paris geschlagen, und bald folgen auf den Ton des Tambours, des Hornes, auf die Schreie: »Zu den Waffen!« die gewaltigen, tragisch sonoren Wellen der Sturmglocken, die in allen Kirchen zu tönen beginnen, – ein trauriges Geräusch, das mich aber doch mit Freude erfüllt: für Paris schlägt die Todesstunde der verhassten Tyrannei.

22. Mai. – Ich kann nicht zu Hause bleiben; ich muss was sehen, was erfahren. Auf meinem Wege treffe ich alle Leute unter den Haustüren versammelt: eine bewegte Welt, scheltend, hoffend und schon kühn genug, um Meldereiter anzupfeifen.

In den sehr spärlich gesäten Menschengruppen auf dem Opernplatz sagt man, dass die Versailler schon im Palais de l' Industrie sind.

Die Demoralisation und die Entmutigung sind deutlich an den Nationalgarden zu merken; sie kehren in kleinen Gruppen, traurig, ermüdet zurück.

Ich gehe zu Burty hinauf, und wir gehen dann gleich wieder aus, um uns Rechenschaft über die Physiognomie von Paris zu geben.

Vor der Auslage eines Zuckerbäckers auf dem Börsenplatz ist eine Zusammenrottung: das Schaufenster ist von einem Geschoss zerschmettert worden. Auf dem Boulevard vor der neuen Oper erhebt sich eine Barrikade, erbaut aus Fässern, die man mit Erde gefüllt hat, eine Barrikade, die von ein paar Menschen mit sehr wenig energischem Aeusseren verteidigt wird.

In diesem Augenblick erscheint laufend ein junger Mann, der uns ankündigt, dass die Versailler an der Pépinièrekaserne sind. Er hat sich gerettet, als er an dem Saint-Lazarebahnhof Menschen an seiner Seite fallen sah.

Wir steigen den Boulevard hinauf; Versuche von Barrikaden vor der alten Oper, vor der Porte Saint-Martin, wo ein Weib mit roter Schärpe Pflastersteine hin und her bewegt.

Ueberall Streitereien zwischen Bürgern und Nationalgarden.

Eine kleine Schar Nationalgardisten kommt aus dem Feuer zurück; mitten unter ihnen ist ein Kind mit sanften Augen, es hat einen Fetzen quer durchs Bajonett gesteckt: einen Gendarmenhut.

Immer sind sie in Gruppen, ein beklagenswertes Defilé von Nationalgardisten, die die Schlacht verlassen haben. Alles ist in grösster Verwirrung. Kein höherer Offizier, der Befehle geben würde! Auf der ganzen Linie der Boulevards nicht ein mit der Schärpe umgürtetes Mitglied der Kommune!

Ein entsetzter Artillerist führt allein eine dicke Kanone herum, aber er weiss nicht, wohin er sie bringen soll.

Plötzlich taucht mitten in der Unordnung, mitten in der Verwirrung, mitten in der feindlichen Menge zu Pferde die zornrot-apoplektische Gestalt eines Mannes mit geöffneter Tunika und im Winde flatterndem Hemd auf. Er schlägt mit der Faust auf den Hals seines Pferdes, es ist ein grosser, gemeiner Offizier der Nationalgarde, aber er sieht in seiner heroischen Verlumptheit wirklich grossartig aus.

Wir gehen nach Hause. Jeden Augenblick dringt vom Boulevard bis zu uns lauter Lärm, Streitereien und Kämpfe der Bürger, die sich aufzulehnen beginnen gegen die Nationalgardisten, die sie aber endlich doch unter Geheul festnehmen. Wir steigen in den gläsernen Aussichtsturm, der das Haus krönt. Eine grosse, weisse Rauchwolke bedeckt den ganzen Himmel in der Richtung nach dem Louvre. An dieser Stunde ist etwas Entsetzliches und Mysteriöses, an dieser Schlacht, die uns umgibt, an dieser Besetzung, die sich geräuschlos nähert und ohne Kampf heranzukommen scheint.

Ich bin zu Burty gekommen, um einen Besuch zu machen, und nun bin ich dort Gefangener, wer weiss, wie lange? Man kann nicht mehr ausgehen. Man steckt Leute in die Regimenter, man lässt die Menschen, welche die Nationalgarde in den Strassen antrifft, an den Barrikaden arbeiten. Burty macht sich daran, Auszüge aus der »Korrespondenz, aufgefunden in den Tuilerien« abzuschreiben, und ich vertiefe mich in sein Werk über Delacroix, mitten im Lärm der Geschosse, die näher kommen.

Bald platzen sie auf allen Seiten, bald platzen sie ganz nahe bei uns. Das Haus in der Rue Vivienne auf der andern Seite der Strasse hat nun schon den Kiosk zerschmettert, ein anderes Geschoss zerbricht die Strassenlaterne uns gegenüber, noch eines platzt während des Mittagessens unten am Sockel des Hauses und schüttelt uns auf unseren Stühlen, so wie bei einem starken Erdbeben.

Man hat mir ein Bett gerichtet. Ich werfe mich ganz angezogen drauf. Unter den Fenstern hört man die ganze Nacht hindurch die Stimmen der betrunkenen Nationalgardisten, die jeden Augenblick einem Vorbeigehenden ein wütendes »Qui vive?« entgegenschmettern. Beim Nahen des Tages finde ich Schlaf, in dem Alpdrücken und Geschosslärm durcheinandergehen.

23. Mai. – Beim Aufwachen keine zuverlässige Nachricht. Niemand weiss irgend etwas Gewisses. Da setzt denn die Arbeit der Einbildungskraft im Dunkeln ein. Schliesslich erfahren wir aus einer Zeitung, die wir aus dem Kiosk unten am Haus bekommen haben, dass die Versailler einen Teil des Faubourg Saint-Germain, Monceau, Batignolles besetzt haben.

Wir steigen in den Aussichtsturm. Bei dem hellen Sonnenschein, der jetzt die unendliche Schlacht beleuchtet ebenso wie den Bauch der Mitrailleusen, Chassepots, können wir eine Reihe von Gefechten sehen, die sich vom Jardin des Plantes bis nach Montmartre hinziehen. Zur Stunde scheint sich in Montmartre die Hauptaktion zu konzentrieren. Gewehrschüsse, die zwischen dem Donner der fernen Artillerie und der Musketen ihr sehr nahes Knattern erklingen lassen, bringen uns auf die Vermutung, dass man sich in der Rue Lafayette und der Rue Saint-Lazare schlägt.

Ein trauriges Bild ist nun der Boulevard mit seinen geschlossenen Läden, mit den grossen, unbeweglichen Schatten der Kioske und der Bäume, mit der Todesstille, die nur von Zeit zu Zeit von einem dumpfen Krachen unterbrochen wird.

Jemand glaubt mit seinem Opernglas zu sehen, dass die Trikolore über Montmartre flattert. Jeden Augenblick werden wir aus unserm Glasaussichtsturm verjagt durch das Pfeifen der Kugeln, die rechts und links von uns vorbeifliegen und in der Luft wie kleine Katzen miauen.

Wie wir hinabsteigen und von dem Balkon hinuntersehen, steht ein Ambulanzwagen vor unserem Fenster. Man bringt einen Verwundeten hinein, der sich wehrt und immerzu ruft: »Ich will nicht ins Spital!« Eine brutale Stimme antwortet ihm: »Sie kommen aber doch hin!« Nun sehen wir, wie der Verwundete sich aufbäumt, seine letzten Kräfte zusammenrafft, einen Augenblick gegen zwei oder drei Männer ankämpft und dann in den Wagen zurückfällt, mit verzweifelter und erlöschender Stimme rufend: »Man möchte sich eine Kugel durch den Kopf jagen!«

Der Wagen fährt fort, der Boulevard wird leer, und man hört lange Zeit nur die sich nähernde Kanonade, wir vermuten in der Nähe der neuen Oper. Dann den schweren Trott eines Omnibusses, das Verdeck beladen mit Nationalgardisten, die sich auf ihre Gewehre stützen.

Dann galoppieren Offiziere des Generalstabs heran, die den Nationalgardisten, die sich unter unseren Fenstern sammeln, zurufen, sie sollten Obacht geben, dass sie nicht umzingelt werden.

Dann kommen Krankenträger und steigen den Boulevard in der Richtung der Madeleine hinauf.

Inzwischen weint die kleine Renée, weil man sie nicht im Hofe spielen lassen will. Madeleine, ernsthaft und bleich, wird bei jedem Knall von Zuckungen heimgesucht. Madame Burty verpackt fieberhaft Bilder, Bronzen, Bücher, während sie immer wieder nach einem geheimen Winkel sucht, wo ihre Töchter vor den Granaten und Kugeln in Sicherheit sein könnten.

Das Knattern der Gewehre nähert sich mehr und mehr. Wir hören nun genau die Schüsse, die bei der Rue Drouot abgefeuert werden.

Nun erscheint eine Schar Arbeiter, die den Befehl erhalten haben, den Boulevard in der Höhe der Rue Vivienne abzusperren und eine Barrikade unter unseren Fenstern zu errichten. Sie sind nicht mit viel Liebe bei der Sache. Die einen heben zwei oder drei Pflastersteine aus der Strasse aus, die anderen machen, wie um ihr Gewissen zu beruhigen, ein Dutzend Stösse mit der Spitzhacke in den Asphalt des Bürgersteigs. Aber fast sofort verlassen sie ihre Arbeit wieder, weil die Kugeln über den Boulevard und ihre Köpfe hinfliegen. Wir sehen sie mit einem Seufzer der Erleichterung durch die Rue Vivienne verschwinden.

Wir dachten nämlich beide an die Nationalgarden, die in unser Haus hinaufkommen sollten und aus unseren Fenstern schiessen, mitten unter unseren Sammlungen, die unter ihren Füssen durcheinandergeworfen und zerstreut werden würden . . .

Nun erscheint ein grosser Trupp Nationalgarde langsam und in guter Ordnung, mit ihren Offizieren wieder Haltung gewinnend; andere hinter ihnen marschieren etwas schneller, wieder andere aber stossen einander in wilder Auflösung, in ihrer Mitte sieht man einen Toten mit blutigem Kopf, den vier Männer bei den Armen und den Füssen tragen, wie ein Paket schmutziger Wäsche, von Tür zu Tür – aber keine tut sich auf.

Trotz dieses Rückzuges, des Verlassens der Posten, dieser Flucht dauert der Widerstand an der Barrikade der Rue Drouot noch sehr lange. Das Schiessen hört dort nicht auf. Nur nach und nach verliert das Feuer an Stärke. Dann sind es nur noch vereinzelte Schüsse. Endlich noch zwei oder drei letzte Explosionen, und fast in demselben Augenblick sehen wir auch die letzte Rotte der Barrikadenverteidiger fliehen, vier oder fünf junge Burschen von etwa fünfzehn Jahren; einen von ihnen höre ich sagen: »Ich werde unter den Letzten sein, die nach Hause gehen!«

Die Barrikade ist genommen. Die Versailler schwärmen auf der Chaussee aus und eröffnen in der Gegend des Boulevard Montmartre ein furchtbares Feuer. In der Eindämmung der soliden hohen Steinfassaden, die den Boulevard einschliessen, donnern die Chassepotgewehre wie Kanonen. Die Kugeln streifen die Häuser nur, und an den Fenstern ist es wie ein Pfeifen, wie das Geräusch von Seide, die man zerreisst.

Eine kleine Weile hatten wir uns in die Hinterzimmer zurückgezogen. Jetzt gehe ich ins Speisezimmer zurück und dort, kniend und so gut wie möglich gedeckt, sehe ich durch den halboffenen Fenstervorhang das folgende Schauspiel:

Auf der anderen Seile des Boulevards liegt auf der Erde ausgestreckt ein Mann, ich sehe nur seine Schuhsohlen und einen Streifen vergoldeter Uniformtresse. Neben dem Leichnam stehen zwei Männer: ein Nationalgardist und ein Leutnant. Die Kugeln lassen über ihre Köpfe die Blätter eines kleinen Baumes, der seine Äste über sie hinstreckt, regnen. Noch ein dramatisches Detail, das ich vergessen habe: Hinter ihnen, in einer Nische vor einem geschlossenen Haustor, der Länge nach hingestreckt und wie auf den Bürgersteig geschleift, eine Frau, die in einer Hand ein Käppi hält, vielleicht das Käppi des Getöteten.

Der Nationalgardist macht heftige Gesten der Entrüstung, spricht gleichsam in die Kulisse und versucht den Versaillern anzuzeigen, dass er den Toten fortschaffen will. Aber die Kugeln lassen weiter die Blätter auf die beiden Männer regnen. Da wirft der Nationalgardist, dessen zornrotes Gesicht ich gut sehen kann, das Gewehr über die Schulter, steckt den Kolben in die Luft und schreitet auf die Gewehrschüsse los, Flüche auf den Lippen. Plötzlich sehe ich ihn anhalten, die Hand an den Kopf führen, dann eine Sekunde Hand und Stirn an einen kleinen Baum stützen, nun dreht er sich um sich selbst und fällt auf den Rücken, die Arme gekreuzt.

Der Leutnant war unbeweglich neben dem ersten Toten stehengeblieben, ruhig wie ein Mann, der in seinem Garten seinen Gedanken nachhängt. Eine Kugel, die auf seinen Kopf diesmal nicht ein Blatt, sondern einen kleinen Ast fallen liess, den er mit einem Ruck abgeschüttelt hatte, hatte nicht vermocht, ihn aus seiner Unbeweglichkeit zu lösen. Dann wirft er einen langen Blick auf den getöteten Kameraden, und sein Entschluss ist gefasst. Ohne sich zu beeilen, gleichsam mit einer Lässigkeit voll Verachtung stiess er seinen Säbel hinter sich, bückte sich und versuchte den Toten in die Höhe zu heben. Der Tote aber war gross und schwer, und, wie es eben mit einer unbeweglichen Sache geht, er entglitt seinen Versuchen, schwankte nach rechts und nach links. Endlich konnte er ihn doch aufheben, hielt ihn geradeaus gegen seine Brust und trug ihn so fort, als eine Kugel den Toten und den Verwundeten in einer greulichen Drehung umeinanderwirbelte, und einer auf den andern hinsank.

Ich glaube, dass es wenigen Menschen gegeben war, zweimal Zeuge einer so heroischen und so schlichten Todesverachtung zu sein.

Unser Boulevard ist endlich in der Gewalt der Versailler. Wir wagen es, sie von unserem Balkon aus zu betrachten, da kommt eine Kugel und schlägt über unseren Köpfen ein. Schuld ist der Mieter über uns, der törichterweise am Fenster seine Pfeife anzünden wollte.

Schön, nun fangen die Geschosse wieder an, Geschosse, die jetzt aber von den Vereinigten auf die Stellungen, die die Versailler erobert haben, abgefeuert werden. Wir lagern uns im Vorzimmer, das nach dem Hof geht. Das kleine Eisenbett Renées wird in einen Winkel, der sie schützen soll, geschleppt. Madeleine streckt sich neben ihrem Vater auf einem Kanapee aus, ihr helles Gesicht zeichnet sich, von der Lampe beleuchtet, auf dem weissen Kissen ab, ihr Körperchen verschwindet in den Falten und dem Schatten eines Schals.

Madame Burty streckt sich ängstlich in einen Fauteuil. Und ich habe einen Teil der Nacht im Ohr das herzzerreissende Klagen eines verwundeten Soldaten, der sich bis an unsere Tür geschleppt hat, den aber die Pförtnerin aus feiger Angst, sich zu kompromittieren, nicht aufnehmen wollte.

Von Zeit zu Zeit gehe ich ans Fenster, das Ausblick auf den Boulevard hat, und sehe hinab auf diese schwarze Pariser Nacht: kein einziges Gaslicht in den Strassen, kein einziges Lampenlicht in den Häusern, und ein dichter und schauriger Schatten behütet die Toten des Tages, die man nicht aufgelesen hat.

24. Mai. – Beim Aufwachen ist das erste, was meine Augen sehen, der Leichnam des Nationalgardisten, der gestern getötet worden ist. Man hat ihn nicht fortgeschafft, hat ihn nur ein wenig zugedeckt mit den Zweigen des Baumes, unter dem er getötet worden ist.

Der Brand von Paris schafft ein Tageslicht, das an eine Sonnenfinsternis erinnert.

Die Beschiessung setzt jetzt einen Augenblick aus. Ich benutze ihn, um Burty zu verlassen und meine Wohnung in der Rue de l'Arcade aufzusuchen. Dort treffe ich Pélagie, die die Verwegenheit gehabt hat, einen grossen Rosenstrauss von meinem Gloire de Dijon-Strauch in der Hand durch die ganze Schlacht durchzuschreiten, unterstützt und beschützt von den Soldaten, die die Frau bewunderten, die ohne Furcht mit ihren Blumen mitten durch die Schiesserei sich vorwagte, und so liessen sie sie denn auch in der Umgebung der Chapelle Expiatoire durch Gänge, die das Geniekorps geschaffen hat, passieren.

Wir machen uns auf den Weg nach Auteuil und sind begierig, die Tuilerien in der Nähe zu besehen. Ein Geschoss, das an der Place de la Madeleine fast zu unsern Füssen platzt, zwingt uns, nach dem Faubourg Saint-Honoré zurückzulaufen, aber auch dort werden wir verfolgt von den Granaten, die bald über unsern Köpfen platzen, bald rechts, bald links.

Die Geschosse reichen nicht über die Barriere am Etoileplatz hinweg. Von dort sieht man Paris, eingehüllt in den dichten Rauch, der den Kamin eines Gaswerks krönt. Und um uns herum, über uns, vom verdunkelten Himmel fällt ohne Unterlass ein schwarzer Regen kleiner verbrannter Papierstückchen, auf denen steht: »La Comptabilité de la France« – »L'Etat civil de Paris«. Ich weiss nicht, welche Analogie mich treibt, diesen Regen eingeäscherten Papiers zu vergleichen mit dem Aschenregen, unter dem Pompeji begraben liegt.

Passy hat nicht gelitten, erst am Boulevard de Montmorency beginnen die Ruinen, Häuser, von denen nur vier geschwärzte Mauern übrig geblieben sind, Häuser, die gestürzt sind und am Boden liegen.

»Es« steht noch, mein Haus, mit einem grossen Loch im zweiten Stockwerk; aber von wieviel Geschossen ist es geohrfeigt worden! Ganze Stücke des Stucks liegen auf dem Trottoir, in den Sandsteinen sind Kerben, gross wie Kinderköpfe. Das Tor ist von zwanzig kleinen runden Geschossen durchbohrt, ausserdem von einer Kartätschkugel, und ein Stück fehlt, weggerissen von dem Hackenschlag eines Föderierten, der die Tür aufzwingen wollte.

Im Haus geht man auf allerlei Gips, und Stücke des Spiegels mischen sich mit den Splittern der Kugeln und Geschosse, die nun zusammengeschrumpft sind wie Blutegel, die man in Salzwasser gelegt hat. Im ersten Stock hat die Kugel eines Chassepotgewehrs das Haus durchlöchert und ist, was, glaube ich, selten ist, durch eine Persienne, eine Matratze, eine Verbindungstüre, eine lose Portiere, eine Türe, die mit einer Chinamatte verkleidet war, durchgegangen. Der wirkliche Schaden aber ist im zweiten Stock: ein Geschoss, ein ganz kleines Geschoss, eines der letzten, das die Versailler in der Sonntagsnacht, als sie schon Herren von Point du Jour waren, abgegeben haben, hat den Winkelbalken des Hauses zerschmettert, ist durch Pélagies Bettstatt hindurchgegangen, hat die Türe ihres Zimmers durchschlagen und ist schliesslich auf den Dielen des Flurs geplatzt, alle Türen des zweiten Stocks in Fetzen zerreissend. Schliesslich und endlich: es hätte schlimmer sein können! Alles, was mir wirklich teuer ist, ist verschont worden, und das Unglück meiner Nachbarn kann mich über meinen Verlust trösten.

Armer Garten! Mit seinem Rasen gleicht er der grossen Wiese eines verlassenen Friedhofs, die Büsche mit den leuchtenden Blättern sind voll von Pulverstaub, schwarz vom verbrannten Papier, die grossen Bäume haben zerbrochene Aeste, deren Löschpapierblätter in das Grün eines noch lebenden Baumes hineinreichen, und mitten in der Wiese ist eine Höhlung, von einer Bombe geschlagen: ein Loch, gross genug, um darin einen Elefanten zu begraben.

Und während wir das Haus besuchen und sie mir das Essen aufträgt, erzählt Pélagie, wie mein Nachbar César, der keinen gewölbten Keller hat, in einem meiner Keller untergebracht worden ist, während sie selbst mit dem Diener des besagten César Besitz von dem andern Keller nahm, wie dann beide die Tage mit Kartenspiel verbrachten, weil sie nichts anderes zu tun hatten, und ihre Augen allmählich sich gewöhnten, auch im Dunkel zu sehen.

Sie erzählt mir von der Angst, die alle Leute im Keller hatten, als die Bombe in den Garten fiel, weil man fürchtete, dass das Haus einstürze, eine solche Menge Erde war nämlich auf das Dach geschleudert worden. Dann erzählt sie mir von ihren kleinen Kämpfen mit den Föderierten, die die Türe einbrechen und ins Haus kommen wollten, unter dem Vorwand, nach Waffen und Männern zu suchen, und wie dann nur einen Tag nach einer schrecklichen Streiterei, bei der es sogar Steinwürfe gab, zwischen ihr und den Männern doch ein Gespräch sich entwickelte, sie gaben ihr Brot, woran es ihr fehlte, und sagten ihr: »Sie können es ruhig essen, es ist nicht geraubt!« Sie erzählt mir, dass in der letzten Zeit die Kugeln so durch das Haus drangen, dass, wenn man trinken wollte, man auf allen Vieren die Stiege hinaufkletterte, die Giesskanne unter den Hahn in der Küche stellte und dann ohne Sorge um das Wasser, das herausfloss, auf eine Pause der Schiesserei wartete, um die Giesskanne wieder fortzuholen.

Sie erzählt mir auch, dass sie die ganze Zeit über in den Kleidern geschlafen hat und ein Paket mit ihren wertvollsten Habseligkeiten vorbereitet hatte für den Augenblick, wo das Feuer das Haus ergreifen würde, dass sie das Silber bereitgehalten, um es in die Taschen zu stecken, und eine Matratze, um sie sich auf den Rücken zu legen und sich so gegen alles, was einem auf den Kopf fallen könnte, zu schützen.

Den ganzen Abend über betrachte ich durch die Lichtung der Bäume den Brand von Paris: ein Brand, der in dem Dunkel der Nacht an jene neapolitanischen Aquarelle erinnert, die auf schwarzem Papier einen Ausbruch des Vesuv darstellen.

26. Mai. – Ich gehe nahe am Bahnhof von Passy an der Eisenbahn entlang, da sehe ich zwischen Soldaten Männer und Frauen.

Ich gehe durch die zerbrochenen Schranken, nun stehe ich am Rande der Allee, in der die Gefangenen, bereit zum Abmarsch nach Versailles, stehen. Es sind recht viele, diese Gefangenen! Denn ich höre einen Offizier, wie er dem Colonel ein Papier zurückgibt, halblaut flüstern: »407, darunter 66 Frauen.«

Die Männer sind in Reihen von acht eingeteilt worden, und einer an den andern mit einem Strick, der ihnen das Handgelenk einschnürt, gefesselt. Sie sind da, wie man sie überrascht hat, die meisten ohne Hüte, ohne Mützen, die Haare an Stirn und Gesicht geklebt von dem feinen Regen, der seit dem Morgen herabfällt. Es gibt unter ihnen Leute, die sich aus ihren blaukarrierten Taschentüchern eine Art von Kopfbedeckung gemacht haben, andere, vom Regen ganz durchnässt, ziehen über die Brust den armseligen Paletot, in dem ein Stück Brot einen Buckel macht. Es ist Welt aus allen Welten: Blusenmänner mit harten Gesichtern, Handwerker in Wämsern, Bürger mit Sozialistenhüten, Nationalgardisten, die nicht Zeit gehabt haben, ihre Hosen auszuziehen, zwei Liniensoldaten von leichenhafter Blässe, dumme, wilde, gleichgültige, stumme Gesichter.

Unter den Frauen dieselbe Verwirrung. Neben dem Weib mit dem Kopftuch die Dame im Seidenkleid. Man sieht Bürgerinnen, Arbeiterinnen, Dirnen, darunter eine in der Uniform der Nationalgarde. Und aus allen diesen Gesichtern löst sich der tierische Kopf einer Kreatur los, deren Gesicht zur Hälfte eine Schramme ist. Keine von den Frauen hat die apathische Resignation der Männer. In ihren Gesichtern lebt der Zorn, bleibt selbst die Ironie bestehen. Viele haben die Augen Wahnsinniger.

Unter den Frauen ist eine sonderbar schön, schön von der ungerührten Schönheit einer jungen Parze. Es ist ein braunes Mädchen mit gebrannten und welligen Haaren, Stahlaugen, roten Wangen, auf denen die Tränen eingetrocknet sind. Sie ist ein Bild der Verachtung, Offiziere und Soldaten mit Beleidigungen in den Tod fluchend, mit Beleidigungen, die über Lippen und aus einer Kehle kommen, die im Zorn so verkrampft ist, dass sie keine Töne, keine Worte zu bilden vermag. Der Mund, zugleich wütend und stumm, kaut gleichsam die Schmähungen, kann sie aber nicht laut werden lassen.

»Es ist so eine wie die, die Barbier mit einem Messerstich getötet hat!« sagt ein junger Offizier zu einem Freunde.

Die am wenigsten Mutigen unter den Frauen gestehen ihre Schwäche auch nur durch ein kleines Neigen des Hauptes zur Seite, wie es Frauen haben, wenn sie lange in der Kirche gebetet haben. Eine oder zwei verbergen sich unter ihren Schleiern, da kommt ein Unteroffizier, der in Grausamkeit macht, und fährt mit seiner Reitpeitsche an einen dieser Schleier: »Runter mit dem Schleier, dass man eure Dirnenfratzen sieht!«

Der Regen wird immer stärker. Einige Frauen bedecken ihre Köpfe mit den in die Höhe gehobenen Röcken. Eine Reihe Reiter in weissen Mänteln hat die Linie der Fusssoldaten nun verdoppelt. Der Colonel, einer von denen mit olivenfarbigen Gesichtern, befiehlt: »Habt Acht!« und die Afrikaschützen laden ihre Musketen. In diesem Augenblick glauben die Frauen, dass man sie füsilieren wird, eine fällt um und krümmt sich in einer Nervenkrise. Aber der Schrecken dauert nur einen Augenblick, bald haben sie wieder ihre spöttischen Gesichter, und einige fangen wieder an, mit den Soldaten zu kokettieren.

Die Schützen haben ihre geladenen Karabiner auf den Rücken genommen und die Säbel gezogen. Der Colonel hat sich an die Flanke der Kolonne begeben und schreit nun mit erhobener Stimme und einer Brutalität, die ich nicht für echt halte und die nur Angst machen soll: »Wer den Arm seines Nachbars loslässt, der ist tot!« Dieses furchtbare: »Der ist tot!« kommt vier- oder fünfmal in seiner kurzen Anrede wieder, und während der Worte hört man das trockene Knattern der Gewehre, welche die Fusseskorte ladet.

Alles ist bereit zum Abmarsch, in diesem Augenblick veranlasst das Mitleid, das den Mann doch nie verlässt, einige Liniensoldaten, ihre Feldflaschen zwischen den Köpfen dieser Frauen spazieren zu führen, und die Frauen halten ihren Mund hin mit graziösen Bewegungen und einem Blicke, der in dem bärtigen Gesicht eines alten Gendarmen, das ihnen nichts Gutes verkündet, herumspioniert.

Das Signal zum Abmarsch ist gegeben, und die traurige Kolonne setzt sich nach Versailles zu in Bewegung unter einem Himmel, der zerfliesst.

 

Sonntag, 28. Mai. – Ich passiere im Wagen die Champs-Elysées. In der Ferne Beine und wieder Beine, die alle in der Richtung nach der grossen Avenue laufen. Ich neige mich zum Wagenschlag hinaus. Die ganze Avenue ist voll einer wirren Menge, die sich zwischen zwei Reihen Reitern bewegt; schon bin ich aus dem Wagen ausgestiegen und auch unter den Leuten, die laufen. Es sind die Gefangenen, die man auf den Buttes Chaumont gemacht hat, und die nun in Reihen von je fünf, unter ihnen ganz wenige Frauen, einherziehen. – »Es sind sechstausend; fünfhundert sind gleich im ersten Augenblick füsiliert worden!« sagt mir ein Reiter der Eskorte.

Trotz dem Abscheu, den man diesen Menschen gegenüber empfindet, ist der Anblick dieses traurigen Zuges doch schmerzlich; unter den Leuten zieht man auch Deserteure, mit gewendeten Uniformen, die Taschen aus grauer Leinwand schlottern um sie herum, so scheinen sie schon halb entkleidet für die Füsillade.

Ich begegne Burty auf der Place de la Madeleine. Wir spazieren in diesen Strassen, auf diesen Boulevards, die plötzlich überschwemmt sind von der Bevölkerung, die aus ihren Kellern, ihren Verstecken hervorgekommen ist. Während Burty, der unversehens von Madame Verlaine angesprochen worden ist, mit ihr über die Mittel, ihren Mann zu verstecken, spricht, vertraut mir Madame Burty ein Geheimnis an, das mir ihr Mann vorenthalten hatte. Einer der Freunde Burtys, der zum Komite gehörte, hatte ihm drei oder vier Tage vor dem Einmarsch der Truppen angekündigt, dass die Regierung nicht mehr Herr der Situation sei, dass man sich in die Häuser begeben sollte, sie ausräumen und die Besitzer erschiessen.

Ich verlasse das Ehepaar und gehe, das verbrannte Paris entdecken. Das Palais-Royal ist abgebrannt, aber die hübschen Fassaden der beiden Pavillons nach dem Platz zu sind unverletzt. Die Tuilerien müssen nach dem Garten und der Rue de Rivoli zu neu erbaut werden.

Man geht durch den Rauch, man atmet eine Luft, die nach verbrannten Dingen und zugleich nach dem Firnis der Wohnungen riecht, und von allen Seiten hört man das »Pschitt« der Feuerspritzen. Und überall sind noch schreckliche Spuren der Schlacht. Hier ein totes Pferd, dort schwimmen nahe den Steinen einer halb demolierten Barrikade in einer Blutlache Uniformkäppis.

Beim Châtelet beginnt das Reich der grossen Zerstörung, der ununterbrochenen Trümmer. Hinter dem Theater, das verbrannt ist, liegen auf dem Pflaster, gleichsam ausgelegt, die Kostüme: verkohlte Seide, aus der hier und da goldene Pailletten und blitzendes Silber hervorleuchtet. Auf der andern Seite der Kais ist vom Justizpalast das Dach des runden Turms abgeschlagen. Die neuen Bauwerke zeigen nur noch das Eisenskelett ihres Dachwerks. Die Polizeipräfektur ist ein brennender Haufen, in dessen blauem Rauch das neue Gold der Heiligen Kapelle blendet.

Auf kleinen Seitenpfaden, die sich zwischen den noch nicht demolierten Barrikaden öffnen, komme ich zum Hôtel de Ville.

Die Ruine ist grossartig, prachtvoll, ein Bild, das man sich nicht ausdenken könnte. Es ist eine Ruine, aber eine Ruine farbig wie Saphire, Rubine, Smaragde, eine Ruine, die blendet durch die Achatisation, die die Ziegel durch das Petroleum angenommen haben. Diese Ruine erinnert wahrhaftig an die Ruine eines magischen Palastes in der Oper, illuminiert von bengalischen Lichtern. Mit den leeren Nischen, den zerschmetterten oder abgeschnittenen Statuetten, dem Rest des Uhrwerks, den Resten der hohen Fenster und Kamine, die, ich weiss nicht dank welcher Gleichgewichtskraft, im leeren Raume stehen, mit der gezackten Silhouette, die sich so auf dem blauen Himmel ergibt, ist diese Ruine ein Wunder des Pittoresken, das man wahrhaftig bewahren müsste, wenn das Land nicht verurteilt wäre, ohne Gnade verurteilt, zu den Restaurationen des Herrn Viollet-le-Duc. Und Ironie des Zufalls: an dem erniedrigten Baudenkmal blinkt auf einer Fläche unverletzten Marmors in neuem Gold die lügnerische Aufschrift hervor: Liberté, Egalité, Fraternité.

Plötzlich sehe ich, dass die Menge zu laufen beginnt, wie ein Haufe, in den man am Tage einer Meuterei schiesst. Reiter erscheinen drohend, den Säbel in der Faust, lassen ihre Pferde sich aufbäumen, so dass die Spaziergänger von der Strasse auf die Trottoirs zurückgeworfen werden. Mitten unter ihnen schreitet ein Trupp Männer, an ihrer Spitze geht ein Individuum mit schwarzem Bart, die Stirn mit einem Taschentuch verbunden. Ich bemerke noch einen andern, den seine beiden Nachbarn unter den Armen stützen, als hätte er nicht mehr die Kraft zu gehen. Diese Männer haben eine ganz eigene Bleichheit, einen vagen Blick, der mir im Gedächtnis geblieben ist.

Ich höre, wie ein Weib im Fortlaufen aufschreit: »Welches Unglück, dass ich hierhergekommen bin!« Neben mir zählt ein seelenruhiger Bourgeois: »Eins ... zwei ... drei ... Es sind sechsundzwanzig.«

Jetzt lässt die Eskorte die Männer im Laufschritt bis zur Kaserne Lobau vorgehen, dort schliesst sich das Tor hinter ihnen mit einer seltsamen Heftigkeit und Eile.

Ich verstand noch nicht, aber in mir war eine unerklärliche Angst. Mein Bourgeois, der eben gezählt hatte, sagt nun zu seinem Nachbar:

»Es wird nicht sehr lange dauern, bald werden Sie das erste Donnern hören.«

»Welches Donnern?«

»Nun, man wird sie füsilieren!«

Fast im gleichen Augenblick ertönt auch schon die Explosion, wie ein heftiger Lärm, der zwischen Mauern eingeschlossen ist, eine Füsillade, die etwas von der geregelten Mechanik eines Maschinengewehrs hat. Es gibt ein erstes, ein zweites, ein drittes, ein viertes, ein fünftes menschenmordendes »Rrara«, – dann eine grosse Pause, – dann noch ein sechstes, und dann noch zwei solcher Geräusche, eines das andere überschlagend.

Ich habe das Gefühl, dass dieser Lärm nie aufhört. Endlich schweigt er. Bei allen tritt eine Erleichterung ein, man atmet auf, aber da ertönt ein schmetternder Schlag, der die in ihren Angeln hängende Tür der Kaserne erschüttert, dann noch einer, und schliesslich der letzte. Man sagt, es seien die Gnadenschüsse, die ein Stadtsergeant denen, die noch immer nicht gestorben waren, gegeben hatte. Nun schreitet aus dem Tor wie eine Gruppe von trunkenen Männern der Zug, der die Exekution vollzogen hat, einige haben Blut an den Spitzen ihrer Bajonette. Während zwei geschlossene Leichenwagen in den Hof einfahren, schleicht ein Geistlicher heraus, noch eine Zeitlang sieht man an der Aussenmauer der Kaserne seinen mageren Rücken, den Regenschirm, die schlaff sich schleppenden Beine.

Montag, 29. Mai. – Ich lese die Proklamation Mac Mahons, die an den Mauern angeschlagen ist und erklärt, dass alles gestern um vier Uhr zu Ende war.

Heute abend beginnt man, die Bewegung des Pariser Lebens, das neu ersteht, zu hören, und das Murmeln erinnert an ein fernes Rauschen der Flut. Die Stunden fallen nicht mehr in das Schweigen einer Wüste.

Dienstag, 30. Mai. – Von Zeit zu Zeit entsetzliche Geräusche: Häuser, die zusammenstürzen, und Füsilladen.

Freitag, 2. Juni. – Heute früh erscheint bei mir ein Händler mit einer grossen Leiter; er will eingeschlagene Geschosse kaufen. Er hat eben bei meinem Nachbar auf einen Schlag tausend Kilogramm erworben.

Montag, 5. Juni. – Ich bin erstaunt über den Provinzialismus, den alle zurückkehrenden Pariser haben. Ich hätte niemals geglaubt, dass acht Monate Abwesenheit von dem Zentrum des »Chic« so den einzelnen Menschen den Charakter, die Marke des »Parisianismus«, von der man sagt, sie sei unauslöschlich, nehmen könnte.

6. Juni. – Wiedererscheinen der Menge auf dem vor einigen Tagen noch verlassenen Asphalt des Boulevard des Italiens. Heute abend muss man sich zum ersten Mal wieder seinen Weg bahnen zwischen dem Geschwätz der Männer und der Prostitution der Weiber.

10. Juni. – ... Ich esse heute abend mit Flaubert, den ich seit dem Tode meines Bruders nicht gesehen habe. Er ist nach Paris gekommen, um eine Notiz für seine Tentation de Saint-Antoine« zu suchen. Er ist derselbe geblieben – Literat vor allem. Die Sintflut scheint über ihn hinweggegangen zu sein, ohne ihn auch nur im geringsten von der stetigen Fabrikation seines Buches abzulenken.

Mittwoch, 5. Juli. – Bei Brébant. Berthelot erzählt, dass die Thermometer von Regnault in Sèvres, diese Thermometer, die eine europäische Berühmtheit hatten, von den Preussen methodisch zerbrochen worden seien.

Renan kündigt an, dass er eben einen Brief von Mommsen bekommen hat, der erklärt, es wäre nun Zeit, die Verbindungen wieder anzuknüpfen, die Arbeiten des Geistes, die beiden Nationen gemeinsam seien, wieder aufzunehmen. Sein Brief endet mit einem Satz, in dem er sagt, er fände es würdig der Akademie, die Arbeit des Kaisers fortzusetzen, nämlich die den Fremden ausgesetzten Pensionen weiterzuzahlen. Sie sind wirklich wunderbar in ihrer Unverfrorenheit, diese deutschen Gelehrten, sie ähneln den Angestellten, die, ein demütiges Lächeln auf den Lippen, den Hut in den Händen hin und her drehend, zum Chef kommen und ihren Platz wieder verlangen, zu demselben Chef, den sie ruiniert, ausgeplündert, beinahe verbrannt haben.

Dann wird die Konversation angeregter, und alle Welt ist wütend über Trochu. Man ist erstaunt, dass die Erkenntnis seiner Unfähigkeit, die in Paris allgemein ist, noch nicht in ganz Frankreich verbreitet ist. Man sucht sich das Rätsel dieser Persönlichkeit zu erklären, die eine Mischung von Charlatan und Mystiker darstellt. Bei dieser Gelegenheit erzählt jemand, dass er gerade im Ministerium des Innern war, an dem Tage, wo die Bedingungen der Uebergabe von Paris unterzeichnet werden sollten. Er hätte mit einem oder zweien seiner Kollegen gewartet, um Nachrichten für seine Zeitung zu bekommen. Trochu tritt ein, bemerkt die Herren und sagt ihnen Guten Tag. Dann zieht er seine Uhr und sagt mit einer unbewusst komischen Betonung: »Ich bin eine Viertelstunde zu früh hier; wollen Sie, dass ich Ihnen eine politische conférence halte?« So ist der Mann wirklich – und das an dem Tage, wo Paris eine Kapitulation über sich ergehen lassen muss, wie eine zweite in der Geschichte Europas nicht vorkommt.

10. Juli. – Ich reise nach Bar-sur-Seine ab. Ich hatte es vorausgefühlt: Die Leere meines Lebens macht sich heute grausig fühlbar. Krieg, Belagerung, Hungersnot, Kommune – das alles war doch eine Ablenkung von meinem Kummer, grausam, gewaltig, aber eine Zerstreuung.

11. Juli. – Was für ein Mangel an Voraussicht, was für Verblödung! Die Gesellschaft geht am allgemeinen Wahlrecht zugrunde. Nach der Ueberzeugung aller ist es das schicksalhafte Werkzeug unseres kommenden Untergangs. Ihm verdanken wir, dass die niedrige Menge in ihrer Unwissenheit regiert; ihm, dass die Armee keine Pflicht, keine Ergebenheit mehr kennt. Man erinnere sich, dass am Tage nach dem Einzug der Versailler alles, das Unmögliche, möglich war, und dass man an dieses Wahlrecht nicht gerührt hat. Ja, Herr Thiers scheint mir wohl ein Retter der Gesellschaft, aber nur für recht kurze Dauer. Er bildet sich ein, das gegenwärtige Frankreich retten zu können durch Verzögerungen, Zeitgewinn, Geschicklichkeiten, politische Finessen, kleine Mittelchen, entsprechend seinem kleinen Format. Nein, nur durch die Kühnheit grosser Massnahmen, durch eine Neuordnung der gesellschaftlichen

Bedingungen könnte Frankreich neu aufleben, wenn es nicht sterben muss.

Welch ein Unglück, dass dieser kleine Mann da war! Hätte ihn die Vorsehung uns nicht bestimmt gehabt, so hätte sich die Gesellschaft selbst gerettet, nach irgendeinem Prinzip, aber gerade ein Prinzip fehlt dem skeptischen Eklektizismus des heutigen Machthabers vollkommen.

Dienstag, 15. August. – Diner bei Brébant. Irgend jemand spricht von den Nationalitäten und beklagt diese neue »Erfindung«, die dem Krieg seinen courtoisen Charakter nimmt und ihn seines Charakters eines Duells zwischen den Souveränen entkleidet. Nach dem Vorbild der Kriege zwischen den Tieren muss diese Erfindung das Auffressen einer Rasse durch die andere herbeiführen, und das verurteilt die Franzosen oder die Deutschen, in der nächsten Zukunft aus Europa zu verschwinden. Diese Bemerkungen sind für Berthelot der Anlass, nach seiner Gewohnheit einen Vortrag über das Verschwinden der Urratte aus Europa zu halten, die im 15. und 16. Jahrhundert von der gemeinen Wanderratte vollkommen aufgefressen worden ist, die nun ihrerseits zurzeit von der skandinavischen Ratte verzehrt wird.

 

»Ja, Funktionen, wir sind nichts weiter als Funktionen« – so spricht die Stimme Renans – »Funktionen, die wir vollbringen, ohne es zu wissen, ungefähr so wie die Gobelinarbeiter, die gegen den Strich arbeiten, ein Werk vollbringen, das sie gar nicht sehen. Ehrenhaftigkeit, Weisheit – was ist sie, welche Bedeutung hat sie, vom übernatürlichen Standpunkt aus betrachtet? Immerhin, seien wir ehrenhaft und seien wir weise! Es ist eine Rolle, die Der da oben uns zuteilt. Aber er soll sich nicht einbilden, dass er uns betrügt, dass wir auf ihn hereinfallen.«

Der frühere Seminarist sagt das mit leiser Stimme in fast ängstlichem Ton, den Kopf zur Seite auf seinen Teller gebeugt, er hat nun die Miene eines Schülers, der die Hand des Aufsehers in der Luft spürt, ganz als fürchte er eine Ohrfeige des Allmächtigen.

9. November. – Heute bei Flaubert die Ramelli, die er ans Odéon für das Stück Bouilhets engagieren lassen will. Sie beklagt sich mit Geschrei über das Theater, das sich angewöhnt hat, nur noch die Darsteller der ersten Rollen zu bezahlen, über das Theater, wo man Berton 300 Franken den Abend im »Marquis von Villemer« bezahlt.

Ich habe niemals einen Stand gesehen, wo der Anspruch auf das Geld mit mehr Leidenschaftlichkeit gemacht würde, als von den Schauspielern und Schauspielerinnen. In den Klagen der Ramelli ist eine Art von sanguinischer Wut, sie hat Feuer im Gesicht, so dass sie sich schliesslich in einem Zimmer aufhalten muss, in dem der Kamin nicht angezündet ist, und von dort dringen nun durch die offene Tür ihre zornigen Anklagen herein zu uns.

Endlich geht sie fort, und wir bleiben allein. Flaubert erzählt mir von dem unerwarteten Glück der Präsidentin (Mme Sabatier, der Frau mit dem kleinen Hund, von der Ricard ein so schönes Porträt gemalt hat), die ein Legat von 50000 Livres Rente zwei Tage vor der Einschliessung von Paris bekommen hat, ein Geschenk von Richard Wallace, der früher einmal ihr Geliebter war, und der ihr gesagt hatte: »Du sollst sehen, wenn ich einmal reich werde, denke ich an dich!«

Dann erzählt mir Flaubert noch von der chinesischen Gesandtschaft, die mitten in unsere Belagerung und die Zeit der Kommune, wie in eine Sintflut, hineinplatzte. Man sagte entschuldigend zu ihr:

»Wie es hier zugeht, das muss Sie wohl sehr erstaunen?«

»Aber nein, aber nein ... ihr seid jung, ihr Okzidentalen, ihr habt noch fast gar keine Geschichte ... aber das ist immer so: Belagerung und Kommune, das ist die normale Geschichte der Menschheit.«

Er behält mich zum Diner und liest mir am Abend seine »Tentation de Saint-Antoine« vor.


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