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Aus dem Tagebuch für das Jahr 1870

3. Juli. – Bericht aus einer Schlacht. Der Schiffskapitän Bourbonne erzählte gestern: Bei einer Batterie in Sebastopol hatte eine Kanone ein Rad, das sich infolge des Rückstosses bei jedem Schuss schlecht drehte. Er hatte einem Marinesoldaten, der dieses Stück zu bedienen hatte, befohlen, das Rad einzufetten. Es war aber kein Fett zur Hand; man hätte es erst suchen müssen. Der Marinesoldat nahm, ohne ein Wort zu sagen, eine Hacke, spaltete den Schädel eines noch warmen Leichnams, nahm dessen Gehirn in die Hände und schmierte ganz einfach das Gehirn des Toten auf die Nabe des Rades.

Sonnabend, 6. August. – Vom Kupferstichkabinett aus sehe ich die Leute in der Rue Vivienne laufen. Instinktiv schiebe auch ich das Buch mit den Bildern von mir, im selben Augenblick bin ich auch schon draussen und fange an, den Laufenden nach zu laufen.

An der Börse, von oben bis unten, nichts als entblösste Köpfe; Hüte werden in der Luft geschwungen, und in aller Mund ist eine furchterweckende Marseillaise, deren betäubende Töne ins Innere dringen und dort das gewisse Bienenkorbgesurre ersticken. Nie habe ich einen ähnlichen Enthusiasmus gesehen. Man geht zwischen Leuten, die vor Erregung bleich sind, zwischen zappelnden Rindern, Frauen mit berauschten Gebärden. Capoul singt diese Marseillaise auf dem Börsenplatz vom Verdeck eines Omnibusses aus, und auf dem Boulevard singt sie die Marie Sasse, in ihrem Wagen stehend, und der Wagen wird von dem Entzücken des Volkes fast in die Lüfte gehoben.

Aber jene Depesche, die die Niederlage des Prinzen von Preussen mitteilt und die Gefangennahme von 25000 Deutschen, diese Depesche, die im Inneren der Börse, wie man sagt, angeschlagen ist, die Depesche, von der mir Leute erklären, sie hätten sie selbst gelesen, und zwar die gleichen Leute, in deren Mitte ich sie nun selbst dort suche, diese Depesche, die – infolge einer sonderbaren Halluzination – die Leute noch zu sehen glauben, indem sie mit dem Zeigefinger auf ein Stück Mauer hindeuten, wo nichts ist, und dazu sagen: »Da –! da –! da –!« – diesen Depeschenanschlag kann ich nicht entdecken, trotzdem ich ihn suche und immer wieder suche, in allen Ecken der Börse suche ...

Sonntag, 7. August. – Ein entsetzliches Schweigen auf dem Boulevard. Nicht ein Wagen rollt, in der Stadt selbst nicht ein Schrei eines frohen Kindes, und am Horizont ein Paris, in dem das Geräusch längst gestorben zu sein scheint.

Montag, 8. August. – Ich fühle meine eigene Einsamkeit weniger in der Mitte dieser grossen erregten Mengen, so schleppe ich mich in ihnen den ganzen Tag umher, so ermüdet, dass ich kaum mehr gehen kann, und doch mechanisch immer weiter gehend.

Mittwoch, 10. August. – Den ganzen Tag lebe ich in der schmerzlichen Aufregung der grossen Schlacht, die die Geschicke Frankreichs entscheiden soll.

Sonntag, 14 August. – Traurig über den Tod meines Bruders, traurig über das Geschick des Vaterlandes, halte ich es bei mir zu Hause nicht mehr aus, ich muss in irgendeinem Freundeshause speisen, und so gehe ich aufs Geratewohl und lade mich selbst bei Charles Edmond zum Mittagessen ein.

In dem Hause in Bellevue treffe ich, eben im Begriffe, sich zu Tisch zu setzen, Berthelot und Nubar Pascha, einen Europäer, dem der lange Aufenthalt in Aegypten eine Art von orientalisch umgeformten Kopf gegeben hat, und in dessen feiner Diplomatenmaske ein Lächeln gelegentlich die weissen Zähne des Wilden auftauchen lässt. Er spricht von unseren unglücklichen Ereignissen, und Berthelot, den unsere Erniedrigung vor Europa krank und beredt gemacht hat, ja, wirklich beredt, spricht mit erlöschender Stimme von der allgemeinen Unerfahrenheit, vom Favoritentum und sagt, dass die Menschen durch die persönliche Macht immer kleiner und niedriger werden.

Nubar Pascha aber erzählt uns von der Unbarmherzigkeit der Regierung den Schwachen gegenüber. Er erzählt von den Tränen, ja, wahrhaftigen Tränen, die er neununddreissigjährig vergossen hat, infolge einer Besprechung mit unserm Minister der auswärtigen Angelegenheiten über die Forderungen Frankreichs, Forderungen, die, wie er versichert, die ganze Verschuldung Aegyptens herbeigeführt haben.

Dann befragt er Berthelot über die ägyptische Rasse, will wissen, welcher Fluch denn auf ihr ruhe. Warum lässt sie sich nicht vervollkommnen? Warum sind die Söhne der Fellachen minderwertiger als die Fellachen selbst? Warum wird der junge Aegypter, der doch flinker im Lernen ist als der junge Europäer, in seinem vierzehnten Jahr in der geistigen Entwicklung aufgehalten? Warum hat er an allen begabten Aegyptern, die er in der Nähe studieren konnte, seit der Regierung des Muhammed Ali, immer das Fehlen des Gerechtigkeitssinnes bemerken müssen?

Auf dem Heimweg, während der schnelle Wagen galoppiert, wir nach Paris eilen, um Neuigkeiten, Nachrichten zu suchen, erzählt mir Nubar, dass in Abessinien, wenn ein Mord begangen worden ist, die Familie des Ermordeten sieben Tage und sieben Nächte damit verbringt, die Umgebung des Hauses des Mörders mit Flüchen zu erfüllen. Es ist sehr selten, fügt er hinzu, dass der Mörder nicht elend zugrunde geht: »Und nach meinem Gefühl«, sagt er dann, »ist es das Konzert von Flüchen, das nach dem 2. Dezember ausgebrochen ist, das heute wirkt.«

Freitag, 19. August. – Die Aufregung dieser acht Tage hat der Pariser Bevölkerung das Antlitz eines Kranken gegeben. Man sieht auf diesen gelben, verzerrten, verkrampften Gesichtern alle Höhen und Tiefen der Hoffnungen, die die Nerven von Paris seit dem 6. August durchwandert haben.

Beim Lesen der Briefe des Landschaftsmalers Theodore Rousseau fällt mir auf, wieviel Sophismus, wieviel Rhetorik und wieviel, man möchte sagen: »seiltänzerhaftes« Kopfzerbrechen alle grossen Begabungen im Zeichnen und der Malerei zeigen, angefangen bei Gavarni bis zu Rousseau.

21. August. – Im Bois de Boulogne. Sieht man diese grossen Bäume unter der Axt fallen, mit einem Zittern, wie zum Tode Verwundete, sieht man da, wo einmal grüner Rasenhang war, nun ein Feld voller Splitter, Pfähle und weissleuchtend die entsetzlichen Drahtverhaue, so steigt einem Hass im Herzen auf gegen diese Preussen, die schuld an diesem Morden der Natur sind.

Ich fahre alle Abende in der Eisenbahn heim mit einem alten Mann, dessen Namen ich nicht weiss; aber es ist ein kluger und gesprächiger Greis, der anscheinend in den verschiedensten Kreisen der Welt gelebt hat und ihre geheime Geschichte kennt. Er sprach gestern vom Kaiser und erzählte in dem Abteil, in dem ich sass, die Geschichte seiner Eheschliessung. Die Anekdote, behauptete er, wäre ihm von Morny erzählt worden, der wiederum sagte, er habe sie aus dem Munde des Kaisers selbst. Eines Tages also fragte der Kaiser Fräulein von Montijo mit einer gewissen Eindringlichkeit und an die Wahrhaftigkeit ihrer Worte appellierend, wie man das Ehrenwort eines Mannes anruft, ob sie jemals vorher eine ernsthafte Neigung gehabt habe. Fräulein von Montijo soll geantwortet haben: »Ich würde Sie betrügen, Sire, wenn ich Ihnen nicht eingestände, dass mein Herz schon gesprochen hat, sogar schon mehrere Male, aber eines kann ich Ihnen versichern: ich bin immer noch Fräulein von Montijo.« Und auf diese Versicherung hin soll der Kaiser ihr gesagt haben: »Nun gut, Mademoiselle, dann werden Sie Kaiserin sein!«

Saint-Victor sagte mir in diesen Tagen – und der ganze Mensch steckt da drin –: »Was für eine Zeit, wo man nicht einmal mehr ein Buch lesen kann!«

Dienstag, 23. August. – Ich treffe auf der Station Saint-Lazare einen Haufen von etwa zwanzig Zuaven, die Reste eines Bataillons, das unter Mac Mahon gedient hat. Es gibt nichts Schöneres, nichts, was mehr Stil hätte, nichts, was plastischer, nichts, was malerischer wäre, als diese von der Schlacht erschöpften Leute. Auf ihnen lastet eine Art von Mattigkeit, die sich mit keiner anderen vergleichen lässt, ihre Uniformen sind verbraucht, entfärbt, gebleicht, als hätten sie die Sonne und den Regen langer Jahre getrunken.

Heute abend, bei Brébant, stellen wir uns zum Fenster, hingezogen durch die begeisterten Zurufe, mit denen die Menge ein vorüberziehendes Regiment begrüsst. Renan zieht sich aber bald wieder zurück, mit einer Bewegung der Verachtung und diesen Worten: »Unter all den Leuten da gibt es nicht einen einzigen Menschen, der einer wirklich tugendhaften Handlung fähig wäre.«

»Wie? Nicht einer einzigen wirklich tugendhaften Handlung?« ruft man ihm zu. »Ist sie nicht eine tugendhafte Handlung, die Aufopferung, mit welcher sich diese ewig Anonymen, diese Ungenannten, die nie Ruhm ernten werden, dem Tode hingeben?«

25. August. – Ich betrachte mir mein Haus, vollgestopft mit Büchern, Stichen, Zeichnungen, Kunstwerken. Wenn all das verbrennt, entstehen Lücken in der Geschichte der französischen Kunst – und doch, um diese Dinge, einst Ziel meiner Liebe, zu retten, fehlt mir die Energie des Wunsches.

Sonntag, 28. August. – Im Bois de Boulogne, da wo man bisher nur Seide und reiche Stoffe gesehen hat, bemerke ich heute zwischen dem Grün der Bäume ein grosses Stück blauer Bluse. Es ist der Rücken eines Hirten; neben ihm steigt eine kleine Säule weissen Rauches auf, und rings um ihn herum weiden Hammel, die, da kein Gras da ist, an den Blättern der vergessenen Faschinen knabbern. Ueberall Hammel, und in dem Graben eines Seitenpfades liegt auf der Seite ein verendeter Widder, der Kopf mit den zurückgebogenen Hörnern ganz flach, da, und ein bisschen rotgefärbtes Wasser tröpfelt heraus und erweitert langsam einen roten Fleck im Sande, – und diesen Kopf beschnuppert, wie in einem Kusse, jedes kleine Schaf, das vorbeikommt.

In den Alleen, in denen sonst die Kaleschen fahren, irren ganze Trupps wilder, verstörter Rinder herum. Einen Augenblick ist es, als würden sie toll. Durch alle Oeffnungen, durch alle Löcher des Baumschlags sieht man diese Herde von hunderttausend verstörten Tieren einem Tor, einem Ausgang, einer Oeffnung zustürzen; es sieht so aus, wie eine Lawine auf einem der wilden Blätter des Benedetto Castiglione.

Und der Teich von Auteuil ist zur Hälfte ausgetrunken von den Tieren, die mitten im Schilf kniend trinken.

30. August. – Vom Verdeck des Auteuilomnibusses bemerke ich, als wir vom Trokadero herabfahren, auf der grossen grauen Weite des Marsfeldes ein Ameisengewimmel kleiner roter Punkte und kleiner blauer Punkte in der besonnten Klarheit: Liniensoldaten.

Ich klettere herab, und nun bin ich mitten in diesem schimmernden Gewimmel, zwischen kleinen Küchen, wo der Blechtopf auf offenem Feuer kocht, zwischen diesen Plein-air-Toiletten, wie sie die schön weiss geplätteten Hemdärmel ergeben, zwischen Zelten in einem schattigen, dreieckigen Felde, wo man den lohfarbenen Kopf eines Infanteristen im Stroh sieht, neben ihm die Feldflasche. Soldaten füllen ihre Feldflaschen bei einem Weinhändler, der mit einem Handwagen herumfährt, andere umarmen eine Verkäuferin grüner Aepfel, die dazu lacht ... Ich spaziere herum in dieser Bewegung, in diesem lebhaften Treiben, in dieser Heiterkeit des französischen Soldaten, der bereit ist, in den Tod zu marschieren, und da ertönt plötzlich neben mir die zerbrochene Stimme eines alten, krummbeinigen Mannes, der aus einer Geschichte von E. Th. A. Hoffmann zu kommen scheint und ruft: »Federn, Briefpapier!« Es ist ein Ton in einer ganz andern, seltsamen Melodie, ein trübes Memento, eine Todesankündigung, allerdings diskret formuliert, aber sie will doch sagen: »Meine Herren Soldaten, wie wäre es, wenn man gelegentlich ein wenig Zeit aufbrächte, um an sein Testament zu denken?«

31. August. – Heute morgen, mit Sonnenaufgang, beginnt der Abbruch der Häuser in der Militärzone, dazwischen ziehen die Wagen, vorstädtische Uebersiedelungen besorgend, vorbei und erinnern an den Nomadenzug eines alten Volkes. Sonderbare Winkel halb demolierter Häuser mit Resten verschiedenartigsten Hausrats werden sichtbar: So der Laden eines Friseurs, dessen ins Leere starrende Fassade noch den vergessenen kurulischen Stuhl aufweist, auf dem die Wäscher sich am Sonntag den Bart scheren liessen.

2. September.– Ich stosse beim Verlassen des Louvre auf Chennevières, der mir erzählt, dass er morgen nach Brest reist, um den dritten Transport der Louvrebilder zu begleiten; man hat sie aus ihren Rahmen genommen, zusammengerollt, und schickt sie nun, um sie vor den Preussen zu retten, nach dem Arsenal oder dem Bagno von Brest. Er schildert mir das traurige und erniedrigende Schauspiel dieser Packerei, und wie Reiset heisse Tränen geweint hat, als man die »Belle Jardiniere« in ihre Kiste legte, wie vor einem Lieben, der einem gestorben ist, und dessen Sarg gleich zugenagelt werden soll.

Abends nach dem Essen gehen wir nach der Eisenbahnstation der Rue d'Enfer, und ich sehe dort die siebzehn Kisten, welche die Antiope, die schönsten Venezianer usw. enthalten, – diese Bilder glaubten sich schon für alle Ewigkeit an die Wände des Louvre geheftet, und nun sind sie nichts als Pakete, geschützt gegen die Abenteuer ihres Auszugs nur durch das arme Wort zerbrechlich.

3. September. – Nein, in diesem grossen entsetzlichen Unbekannten, das einen umringt und erstickt, leben, heisst nicht mehr – leben.

Ach, was für einen Anblick bietet Paris heute abend unter dem Schlag der Nachricht von der Niederlage Mac Mahons und der Gefangennahme des Kaisers. Wer könnte die Niedergeschlagenheit der Gesichter schildern, das Hin- und Hergehen der Leute mit ungewissen Schritten, die aufs Geratewohl auf dem Asphalt klappern, die schwarzen Mengen um die Bürgermeistereien herum, den Sturm auf die Zeitungskioske, die dreifache Reihe der Zeitungsleser vor jeder Gaslaterne, die ängstlichen Seitenbemerkungen der Hausmeister und Krämer an den Haustüren und, in den Hinterstuben der Läden, die Frauen verzweifelt auf Stühlen sitzend, sie, die man allein, von ihren Männern verlassen ahnt? ...

Dann aber kommt das grollende Lärmen der Menge, bei der auf das Staunen nun die Wut folgt; Banden streifen über den Boulevard und schreien: »Rache! Es lebe Trochu!« Kurz und gut, das aufrührerische und wirre Schauspiel einer Nation, die entschlossen ist, sich durch das Unmögliche revolutionärer Zeitläufte zu retten.

4- September. – Hier herrscht heute morgen unter einem grauen Himmel, der alles traurig erscheinen lässt, ein Schweigen der Erde, das Furcht einflösst.

Gegen vier Uhr sieht es draussen vor der Kammer so aus: von dem grauen Ton der Fassade hebt sich vor und zwischen den Säulen auf den Stufen der Freitreppe eine zusammengerottete Menge ab, ein Haufen Männer, in dem die Blusen weisse und blaue Flecke neben dem Schwarz des Tuches bilden, Männer, von denen die Meisten Zweige in den Händen oder doch Sträusse grüner Blätter an ihre schwarzen Hüte gesteckt haben.

Plötzlich streckt sich eine Hand weit über alle Häupter und schreibt an eine Säule in grossen roten Buchstaben die Liste der Mitglieder der provisorischen Regierung, indes zu gleicher Zeit auf einer anderen Säule in schwarzer Kohle die Worte erscheinen: » Die Republik ist proklamiert.« Nun erheben sich Beifallsrufe, Schreie, Hüte werden in der Luft geschwungen, Leute erklettern die Sockel der Denkmäler, ein Mann in einer Bluse beginnt in aller Seelenruhe auf den steinernen Knien des Schatzkanzlers vor dem Hospital seine Pfeife zu rauchen, und, eng wie die Beeren einer Weintraube, klammern sich Frauen an das nach dem Pont de la Concorde zu liegende Tor.

Ueberall um einen herum hört man Leute einander ansprechen mit den Worten: »Nun ist es so weit!« Hoch oben am Giebel entfernt ein Mann von der Trikolore das Blau und das Weiss, und lässt nur noch das Rot flattern.

Auf der Terrasse, die nach dem Quai d'Orsay geht, bieten die Liniensoldaten den Frauen über die Brustwehr hinweg grüne Zweige, die eine der anderen aus den Händen reisst.

Am Tuilerientor in der Nähe des grossen Bassins sind die vergoldeten »N« unter alten Zeitungsblättern versteckt,und Immortellenkränze hängen an der Stelle der entfernten Adler.

Am grossen Tor des Palastes sehe ich auf den beiden schwarzen Marmortafeln mit Kreide angeschrieben: A la Garde des Citoyens. An der einen Seite ist ein Mobilgardist in die Höhe geklettert, den Kopf unter dem Käppi nach arabischer Art mit dem Taschentuch umschlungen, auf der andern Seite hält ein junger Liniensoldat der Menge seinen Tschako hin: »Für die Verwundeten der französischen Armee.« Und Männer in weisser Bluse, mit dem einen Arm die Säulen des Peristyls umschlingend und eine Hand auf ein Gewehr gestützt, schreien: »Freier Eintritt zum Basar!« Indessen stürzt die Menge hinein, und ein unendliches Gelärme ergiesst sich in das Stiegenhaus des nun von der Menge gestürmten Palastes.

Auf den Bänken, an den Küchen, sitzen Frauen, haben Kokarden ins Haar gesteckt, und eine junge Mutter tränkt in aller Ruhe ein ganz kleines Kind, das in seinen weissen Windeln daliegt.

Ueberall in der ganzen Rue de Rivoli kann man an den vom Alter geschwärzten Steinen lesen: » Wohnungen zu vermieten«, und mit der Hand geschriebene Anzeigen tragen die Inschrift: »Tod den Räubern! Achtung vor dem Privateigentum !«

Bürgersteige, Strassen, alles ist voll, alles ist bedeckt von Männern und Frauen, die sich aus ihren Wohnungen hierher ergossen haben auf das Strassenpflaster, sich gleichsam einen Grossstadtfesttag gemacht; ja, eine ganze Million menschlicher Wesen scheint vergessen zu haben, dass die Preussen nur drei oder vier Tagemärsche von Paris weit sind, und so gehen sie in dem heissen und berauschenden Tageslicht aus auf Abenteuer, gedrängt von der fieberhaften Neugierde, die aufgestachelt ist von dem grossen historischen Drama, das sich abspielt.

In der Rue de Rivoli von oben bis unten Truppen, die vorbeiziehen und die Marseillaise singen. Nichts fehlt zu der Schau dieses Tages, nicht einmal die Bettsch ... der Revolutionen, und ein offener Wagen führt, mit grossen Fahnen geschmückt, Männer mit langen Bärten und roten Nelken herum, in ihrer Mitte umarmt ein betrunkener Turko eine berauschte Frau ...

Es ist fünf Uhr am Hotel de Ville. Das Monument der freien Stadt, unten im Schatten, erglänzt oben in einer so starken Sonne, dass der Blick zur Uhr geblendet wird. An den Fenstern des ersten Stockwerkes Blusen und Röcke bis hoch hinauf zu den obersten Fensterkreuzen; im ersten Rang sitzen sie, lassen die Beine über das Bauwerk hinausschlenkern und gleichen einem gigantischen »Paradies« von Strassenjungen in einer Renaissancedekoration.

Auf dem Platz wimmeln die Menschen wie Ameisen. Wagen, in denen sich die Neugierigen in die Höhe recken, halten an, bleiben stehen, Gassenjungen klammern sich an die Laternen, und aus dieser Zusammenrottung vom Fieber erfasster Kreaturen steigt ein dumpfer Lärm in die Höhe.

Von Zeit zu Zeit fallen aus den Fenstern kleine Papierfetzen, die die Menge aufnimmt und wieder in die Luft wirft, und das sieht fast so aus, wie das Gestöber weisser Schneeflocken über den Köpfen. »Die Lumpensammler bekommen jetzt gute Tage!« sagt ein Mann aus dem Volk von diesen Papierchen; es sind die im voraus gedruckten Wahlzettel der Volksabstimmung vom 8. Mai mit dem vorgedruckten »Ja«!

Und dann, von Zeit zu Zeit erscheinen Gestalten von der äussersten Linken, die man um mich herum beim Namen nennt; sie pflücken die Hochrufe und Grüsse der Menge; Rochefort zeigt einen Augenblick seine gesträubte Mähne, sein nervöses Gesicht, und wird begeistert als der künftige Retter Frankreichs begrüsst.

Auf dem Rückweg durch die Rue Saint-Honoré geht man auf den Trottoirs auf Stücken vergoldeten Stuck; die waren einmal, vor zwei Stunden, Wappenschilde mit den kaiserlichen Zeichen an den Läden der Hoflieferanten der hochseligen Majestät; man begegnet Banden, in denen kahlköpfige Menschen mit entblösstem Kopf, mit epileptischen Gebärden das auszudrücken suchen, was ihre heiseren Stimmen, ihre tonlosen Kehlen nicht mehr schreien können.

Ich weiss nicht recht, aber ich habe kein Vertrauen, ich kann in dieser plärrenden Plebs die ersten braven Leute der alten Marseillaise nicht wiederfinden, mir kommt es vor, als wäre das alles doch nur ein altes Gelump in Freude und Verzückung, skeptische Lumpen, die politischen Unfug treiben und in der linken Brust doch gar nichts für die grossen Opfer, die man dem Vaterlande bringen muss, übrighaben.

Ja, die Republik! In solchen Augenblicken glaube ich wirklich, dass nur die Republik uns noch zu retten vermag, aber eine Republik, wo es hoch oben einen Gambetta gäbe, für die dekorative Wirkung, in die man aber sonst die wahren und die seltenen Fähigkeiten des Landes zu berufen hätte; nicht aber eine Republik, die fast ausschliesslich zusammengesetzt ist aus Mittelmässigkeiten und aus allen Dummköpfen, den alten und den jungen, der äussersten Linken.

Heute abend verkaufen die Blumenfrauen überall auf den Boulevards nur rote Nelken.

Dienstag, 6. September. – Beim Brébant-diner treffe ich Renan, der ganz allein an dem grossen Tisch des roten Salons sitzt, eine Zeitung liest und dazu mit den Armen verzweifelte Bewegungen macht.

Saint-Victor kommt an, lässt sich in einen Sessel fallen und ruft, als hätte er eben eine entsetzliche Vision gehabt: »Die Apokalypse ... die weissen Pferde!«

Nefftzer, du Mesnil, Berthelot u.a. kommen, einer nach dem andern, und man diniert, indes trostlose Worte vom einen und vom andern fallen. Man spricht von der grossen Niederlage, von der Unmöglichkeit, Widerstand zu leisten, von der Unfähigkeit der Männer, die die Défense nationale bilden, von ihrer trostlosen Einflusslosigkeit beim diplomatischen Korps, bei den neutralen Regierungen. Man kennzeichnet auch jene preussische Wildheit, die die Zeiten Genserichs wiederbringt.

Zu diesem Punkt sagt Renan: »Die Deutschen haben wenig Genüsse, und der grösste, den sie sich verschaffen können, steckt im Hass, im Gedanken und der Durchführung der Rache.« Und dann ruft man sich den lebhaften Hass wieder in Erinnerung, der sich seit Davout angehäuft hat, in Deutschland an den Hass, der aus den Pfalzkriegen vererbt worden war, sich anschloss, und dessen wütenden Ausdruck ich noch in dem Mund jener alten Frau lebendig fand, die mir vor einigen Jahren das Heidelberger Schloss zeigte.

Und da sagt einer von uns, dass gestern, ja erst gestern, ein Herr von der Eisenbahnverwaltung ihm folgendes erzählt hat: Er hielt sich vor ein paar Jahren in Karlsruhe bei dem bevollmächtigten Gesandten auf und hörte, wie der zu einem seiner Freunde, der sehr galant und ein grosser Weiberfreund war, sagte: »Hier, lieber Freund, werden Sie nichts ausrichten; die Frauen sind zwar sehr leicht zu haben, aber die Franzosen lieben sie nicht!«

Einer wirft ins Gespräch die Worte: »Die Präzisionswaffen widerstreben dem französischen Temperament; – geschwind losdrücken, dann mit dem Bajonett vorwärts stürmen, das ist's, was unser Soldat braucht; wo das nicht möglich ist, ist er gelähmt. Die ›Mechanisierung‹ des Individuums ist nicht sein Fall. Und das gibt den Preussen für den Augenblick die Ueberlegenheit.«

Renan, bisher über seinen Teller gebeugt, hebt den Kopf und sagt: »In allen Dingen, die ich studiert habe, ist mir immer die Ueberlegenheit des deutschen Verstandes und der deutschen Arbeit aufgefallen. Kein Wunder, dass sie es in der Kriegskunst, die schliesslich nur eine untergeordnete, aber komplizierte Kunst ist, zu derselben Ueberlegenheit gebracht haben, die ich, ich wiederhole es, an allen Dingen, die ich studiert habe, von denen ich weiss, festgestellt habe ... Ja, meine Herren, die Deutschen sind eine überlegene Rasse.«

»Oho! oho!« ruft man ihm von allen Seiten zu.

»Jawohl, uns sehr überlegen,« fährt Renan lebhaft werdend fort: »Der Katholizismus ist eine ›Kretinisierung‹ des Individuums: die Erziehung durch die Jesuiten oder die Brüder der Christlichen Schule hemmt und unterdrückt jede summative Eigenschaft, während der Protestantismus sie entwickelt.«

Die sanfte und kränkliche Stimme Berthelots ruft die Geister aus den Höhen der Sophistik hinab zu der drohenden Wirklichkeit; er sagt: »Meine Herren, Sie wissen vielleicht nicht, dass wir rings von gewaltigen Petroleummengen umgeben sind, die an den Toren von Paris abgelagert sind und wegen des Einfuhrzolls nicht hereinkommen; wenn die Preussen es nehmen und in die Seine giessen, machen sie aus ihr einen Feuerstrom, der beide Ufer verbrennt. So haben die Griechen die arabische Flotte verbrannt ...« – »Und warum teilt man das Trochu nicht mit?« –»Hat er denn Zeit, sich mit allem und jedem zu beschäftigen?« Und Berthelot fährt fort: »Wenn man die Schleusen des Marnekanals nicht in die Luft sprengt, wird die ganze schwere Belagerungsartillerie der Preussen kommen, wird wie auf Rädern im Spiel bis unter die Mauern von Paris kommen, aber denkt man überhaupt daran, die Schleusen in die Luft zu sprengen? ... Und solche Dinge könnte ich Ihnen bis morgen früh erzählen.«

Und als ich ihn frage, ob er hoffe, dass aus dem Komité, dem er vorsteht, ein Werkzeug der Zerstörung hervorgehen wird, jammert er: »Nein, nein, man hat mir weder Geld noch Arbeiter gegeben, und ich bekomme jeden Tag 250 Briefe, die mir keine Zeit zu irgendwelchen Versuchen lassen. Die Dinge liegen nicht so, dass man nicht etwas versuchen, vielleicht auch finden könnte, aber die Zeit fehlt! Es fehlt an Zeit, Versuche im grossen zu machen ... und dann erst die Annahme durchsetzen!! Da gibt es ein grosses Tier bei der Artillerie, dem erzähle ich letzthin vom Petroleum. »Ja,« hat er mir zur Antwort gegeben: »Ja, das hat man im neunten Jahrhundert benutzt.« »Aber die Amerikaner«, – wende ich, »haben in ihrem letzten Kriege – «. »Das stimmt schon,« wehrt er ab, »aber die Verwendung ist gefährlich, und wir wollen nicht in die Luft fliegen.« »Sehen Sie,« fügt Berthelot hinzu, »so ist es überall!«

Und dann wendet sich das Tischgespräch zu den voraussichtlichen Bedingungen des Königs von Preussen: Abtretung eines Teiles der gepanzerten Flotte und neue Grenzfestlegungen, die man auf einer Hetzel gehörigen Karte gesehen hat und die Frankreich ganze Departements nehmen würde.

Man befragt Nefftzer, der auf die Frage keine direkte Antwort gibt, sondern mit seinem unter dem lauten Lachen so fein spöttischen Skeptizismus und mit seinen unter dem kräftig elsässischen Akzent so boshaft beissenden Ausdrücken sich über Gambetta lustig macht, der nach Strassburg als Bürgermeister einen Maire schickte, der, wie er wisse, ausgerissen sei und nun einen Bürgermeister ersetzen soll, der sich tapfer geschlagen habe ... Auch X... klagt er an, er habe sich ein Vermögen bei den Festungsbauten gemacht, und dann beschuldigt er Offiziere der Genietruppen, sie liessen in die Listen der Unternehmer dreihundert Arbeiter eintragen, wo nur fünfzig wirklich arbeiten.

Renan, der sich eigensinnig und hartnäckig an seine These von der Ueberlegenheit des deutschen Volkes klammert, fährt fort, sie seinen beiden Tischnachbarn näher zu entwickeln, bis du Mesnil ihn mit der ausfälligen Bemerkung unterbricht: »Nun, was das Unabhängigkeitsgefühl Ihrer deutschen Bauern anbelangt, so kann ich, der ich in Baden Jagden beigewohnt habe, sagen: mit Fusstritten in den Hintern schickt man sie die Jagdbeute zusammenlesen.«

»Ach Gott,« sagt Renan, von seinem Leitsatz ganz abirrend, »mir sind die Bauern, denen man Fusstritte in den Hintern versetzt, immer noch lieber als unsere Bauern, die das allgemeine Wahlrecht zu unsern Herren gemacht hat, als Bauern, die ... als, nun als das inferiore Element der Zivilisation, das uns diese Regierung auferlegt hat und sie uns zwanzig Jahr lang hat ertragen lassen.«

Berthelot fährt noch fort mit seinen trostlosen Enthüllungen, bis ich am Ende rufe: »Also alles ist zu Ende, alles aus, uud uns bleibt nichts übrig, als ein Geschlecht aufzuziehen, das uns rächt!«

»Nein, nein,« ruft Renan, der aufgesprungen ist und einen ganz roten Kopf bekommen hat, »nichts von Rache! mag Frankreich untergehen, mag das Vaterland untergehen, es gibt noch darüber ein Königreich der Pflicht, der Vernunft ...«

»Nein, nein,« brüllt die ganze Tafelrunde, »über dem Vaterland gibt es nichts!« »Nein,« überheult Saint-Victor alle ganz zornig, » ästhetisieren wir nicht, lassen wir Byzanz sein; pfui, Sch..., es geht nichts über das Vaterland!«

Renan hat sich erhoben und spaziert um den Tisch herum; sein Gang ist unausgeglichen, er fuchtelt mit seinen Aermchen in der Luft umher, zitiert laut Bruchstücke aus der Heiligen Schrift und erklärt: »Da steht schon alles drin ...«

Dann tritt er ans Fenster, unter dem das sorglose Paris hin und her wandert, und sagt mir: »Sehen Sie, da ist, was uns retten wird: die Schwäche dieser Bevölkerung.«

8. September. – Es ist trotz allem aufreizend, bei jeder Gelegenheit immer wieder hören zu müssen: »Da ist der Kaiser schuld daran!« Und dabei ist es hochherzig von mir, das aufzuschreiben, von mir, der ich für vier Verse, die ich aus der Literaturgeschichte Sainte-Beuves, einem von der Akademie preisgekrönten Werke, zitiert hatte, auf die Anklagebank gezerrt wurde, und zwar von dieser kaiserlichen Regierung, und der ich, was es nie in einem Pressprozess gegeben hatte, zwischen Gendarmen sitzen musste. Und doch, es ist aufreizend; denn wenn die Generäle unfähig waren, wenn die Offiziere nicht auf der Höhe waren, wenn – wenn –, da ist der Kaiser nicht schuld! Kein Mensch hat diesen Einfluss auf ein Volk, und wenn das französische Volk nicht in sehr schlechter Verfassung gewesen wäre, geradezu sehr krank, die Mittelmässigkeit des Kaisers hätte den Sieg nicht verhindert.

Wir sollten doch überzeugt sein, dass die Fürsten nichts anderes sind, als die Repräsentanten des sittlichen Zustandes der Mehrheit jener Nation, die sie regieren, und dass sie nicht drei Tage auf ihrem Thron sitzen bleiben würden, wenn sie im Gegensatz mit diesem sittlichen Zustand ständen.

10. September. – Catulle Mendès, in Freiwilligenuniform, kommt bei Peters auf mich zu und gibt mir die Hand.

Ein junger Mann, den ich aus der Kaltwasserheilanstalt kenne, speist neben mir. Er ruft einen Herrn, der vorbeigeht, an: »Wie viel Gewehre haben Sie noch?« – »Ach Gott, so ungefähr 330000, aber ich habe Angst, dass die Regierung sie mir wieder fortnimmt.« Und mein Nachbar erzählt mir, dass der Mann mit den Gewehren ein Genie in seiner Art ist, ein »Hellseher«, der in Geschäften, wo das keiner vermutete, sechs Millionen gemacht hat, dass er auf einen Schlag 600000 Ausschussgewehre, 7 Franken das Stück, kauft und sie für fast 100 pro Stück nach dem Kongo an den König von Dahomey verkauft, und dabei verdient er noch am Elfenbein und Goldstaub, mit dem man ihn bezahlt. Sein Leben ist eine Kette solcher aussergewöhnlicher Geschäfte und zwar immer in solchen Grössen: an einem Tag der Ankauf aller Demolierungen von Versailles, am anderen der Export von 100000 englischen W.C's nach China ...

13. September. – Es ist der Tag der grossen Revue, der Monstreschau des Volkes in Waffen.

Auf der Eisenbahn sind die Liniensoldaten auf die Waggons geklettert, die runden Kommissbrote stecken auf ihren Bajonetten. In Paris, in allen Strassen und auf den neuen Boulevards der Chaussée d'Antin, sind die Bürgersteige nicht mehr zu sehen, so sehr bedecken graue Massen von Lebewesen den Boden: eine erste Reihe von Feldsoldaten in weissen Blusen sitzt da, die Füsse im Rinnsal; eine zweite Reihe an die Häuser gelehnt oder gelagert. Ein doppelter Zug, glitzernd unter dem Sonnenglanz des schimmernden Stahls, steigt zwischen einer doppelten Hecke bewaffneter Bürger den Boulevard hinauf: die Bajonette der Nationalgarde, die zur Bastille geht; den Boulevard hinunter aber ziehen die Bajonette der Feldtruppe nach der Madeleine; und diese Wanderung hat kein Ende.

Aus allen Strassen strömen Nationalgardisten im Rock, im Wams, im Kittel, und mit ihnen ziehen Gesänge, die heute nichts mehr von der gassenbübischen oder canaillenhaften Art der letzten Tage haben, in denen sich vielmehr Hingabe wieder zu sammeln scheint, und aus denen der Enthusiasmus heroischer Herzen zum Himmel steigt.

Plötzlich, mitten im Lärm der Trommler ein grosses Schweigen der Ergriffenheit; Männerblicke begegnen einander wie zu einem Todesschwur, dann entringt sich diesem heftigen Enthusiasmus ein starker Schrei, einer jener Schreie, die aus der Tiefe der Brust kommen; man grüsst mit »Vive la France!«, »Vive la Republique!«, »Vive Trochu!« den General, der mit seiner Eskorte eilig vorbeigaloppiert.

Es beginnt das Defilée der Nationalgarde; die Gewehre sind geschmückt mit Dahlien, Rosen, roten Schleifen; ein endloser Vorbeimarsch und der Gesang einer Marseillaise, die mehr geflüstert wird als geschrien, lässt weit hinter sich die langsamen Tritte der Männer, sowie die sonoren und frommen Kadenzen eines männlichen Gebetes.

Sieht man so in den Reihen die Bürgerröcke neben den Joppen, die grauen Barte neben den noch Bartlosen, sieht man diese Väter, von denen einzelne noch ihre kleinen Töchter an der Hand führen, in Reih und Glied die Männer aus dem Volk und die Bürger, alle plötzlich Soldaten geworden und bereit, zu sterben, so fragt man sich, ob nicht eines jener Wunder geschehen wird, wie sie Völkern, die den wahren Glauben haben, zu Hilfe kommen.

Ich steige zum Montmartre hinauf, zum Moulin de la Galette; zu den Füssen der pittoresken Mühle, über die sich der Efeu zwischen alten Stuckfiguren schlingt, treffe ich das neugierige Paris, das sich an der Marinebatterie, die hier im gelben Sand aufgestellt ist, ergötzt.

Männer und Frauen blicken in die Ferne nach den grossen weissen Rauchwolken, die aus den grünen Wäldern von Bondy und Montmorency aufsteigen, und einem Dorf, das in der Mitte dort brennt, aufflammend wie das Feuer der Esse einer Schmiede. Während ich in die Ferne sehe, sagt eine alte Frau, die noch ihren Provinzakzent bewahrt hat, zu mir: »Ist das möglich, dass man alles so niederbrennt?« Man spürt bei dieser alten Frau eine Empfindung, die der weiblichen pariser Bevölkerung um mich herum völlig fehlt: die Bindung an die Natur, an die Bäume, an alles, was ihre Kindheit war.

Ich steige hinauf bis La Chapelle. An den schmutzig gefärbten Fassaden der Häuser der Vorstadt Saint-Denis sieht man nichts als an die Mauern gelehnte Gewehre. Unter den moosbewachsenen ländlichen Bogen der grossen Haustore wiederum nichts als Gewehre. Jeder Mensch, der da vor der Tür eines Wirtshauses isst oder trinkt, hat sein Gewehr zwischen den Beinen, Arbeiter, die Lederschürze über den Leib, lassen vor ihren Frauen den Mechanismus ihres altmodischen Hinterladers spielen, indes sich aus der kleinen Türe der Mairie ein Strom von Blusenmännern ergiesst, die ihre Gewehre knattern lassen.

Auf der Chaussee drängen und eilen die letzten verspäteten Flüchtlinge, im Handwagen zieht der vorgespannte Mann das Mobiliar, von hinten stösst das Weib. In der Mitte türmen sich riesige Karren, vorne Fässer, in der Mitte Geflügelkörbe, hinten Betten und Matratzen unter einer gespannten Plane, unter sie hineingeschmiegt Frauen und Kinder.

Und nun kommt der Einzug des Grünzeugs, all dessen, was die Felder der Marktleute nicht für die Feinde behalten dürfen : Karren mit Kohl, Karren mit Kürbissen, Karren mit Lauch in langsamem Zuge unter einem grauen Himmel, den in grossem Zickzack ein Orangestreifen schneidet; und auf den Trottoirs und zwischen den Rädern der Wagen bewegt sich ein ganzes Volk von Auswanderern, Männer und Frauen, die auf ihre Körper gehängt noch die letzten Reste ihrer Felder tragen, oder die barocken Ueberbleibsel aus diesen Wohnungen jenseits der Bannmeile. Ich bemerke ein ganz kleines Mädchen, dem von der einen Schulter an einem Strick ein Paar Reiterstiefel herabhängt und das in der freien Hand einen alten vergoldeten Barometer trägt.

Abends. Ich gehe nach Montmartre zurück, steige über die Höhen und Treppen dieser arabischen Stadt, durch die sonderbaren Gassen, die die Nacht beinahe phantastisch erscheinen lässt. Dieser Brand, jener flammenleuchtende Himmel, dieser lohende Horizont, all das, was die Einbildung sich von den brennenden Wäldern erwartete, all das, was die im Schatten sich drängende Menge zu sehen begehrt – es ist nichts, nichts als eine Linie, die den Horizont mit einer elenden Reihe halb verlöschter Strassenlaternen abschliesst.

15. September. – Bei Burty erzählt ein junger Journalist, dass er soeben in der Rue de Turenne Kaninchen nach dem Scheffel hat verkaufen sehen. Sodann macht er sich daran, hübsch und geistreich den kommenden Heroismus zu verspotten, dazu sich selbst, der bereit ist, sich töten zu lassen, ja schliesslich verspottet er sogar den Patriotismus seiner eigenen Artikel. Dieser Spott, immer dieser Spott – daran sterben wir, daran mehr als an irgend etwas anderem. Und ich schmeichle mir, der erste gewesen zu sein, der das aufgeschrieben hat.

Sonnabend, 17. September. – In Boulogne haben nur noch der Schlächter, der Wirt und der Barbier offen. In dem verlassenen Städtchen stehen die Spediteurwagen ohne Pferde, davor Matratzen und Bettzeug auf das Trottoir geworfen. Da und dort sitzen auch ein paar alte Weiber in der Sonne, vor dem Eingang einer dunklen Strasse; sie beharren eigensinnig darauf, hierzubleiben, wollen dort sterben, wo sie gelebt haben. In den verlassenen und unbelebten Seitengassen trippeln die Tauben über das Pflaster, wo sie nun kein lebendes Wesen mehr stört. Und in dieser völligen Abwesenheit alles menschlichen Lebens bilden die aufbrechenden Blüten und die blumigen Gartenwinkel mit ihrer frohen Sonne einen seltsamen Kontrast.

Zwei oder drei Weiber, in den Läden der Hauptstrasse zurückgeblieben, zittern bei jedem Schlag der Kanonen, trotzdem nur geübt wird. Eine von ihnen, mit einem jungen Gesicht, aber grauen Haaren, die Augen vom Weinen rot, fragt mich, gedrängt von dem Kummer, der die Frauen schwatzhaft macht: »Ist es nicht sehr traurig, Herr? ... Ich, ich habe einen Sohn, verwundet und gefangen in Danzig. Er schreibt mir, dass es ihm recht schlecht geht, dass es dort kalt ist wie im strengsten Winter. Ich habe ihm 40 Franken geschickt, er hat sie nicht bekommen; ich kann ihm nichts mehr schicken, ich habe nichts mehr. Mein Mann geht heute abend hinaus, und ich habe eine Tochter, die immerzu krank ist.«

Ich gehe ein wenig tiefer in den Park hinein: niemand ist da ausser einem Zuaven, der sich melancholisch zwischen den gigantischen steinernen Fröschen des Wasserfalls die Füsse wäscht; in der Ferne ziehen abgerissene Kerle vorbei, bewaffnet mit Gewehren und Pistolen, auf dem Weg zum Wildern. Bald höre ich auch die Schüsse ...

Auf dem Boulevard des Italiens, wo alle Geschäfte mit Ausnahme der zwei Läden des Waffenhändlers Marquis und seines Nachbarn, des Büchsenmachers, geschlossen sind, ist es fast schwarze Nacht. Ein paar Spaziergänger irren in dieser Dunkelheit herum, mit kleinen Schritten und gelangweilten Blicken, die einen Moment bei den neuen Industrien unter freiem Himmel Halt machen: den Händlern mit Degenstöcken und Feldflaschen und den Leuten, die Lederpanzer gegen die Bajonettstiche zu verkaufen haben. An einem kleinen Tisch handelt ein Jude mit den Nummerabzeichen der Uniformkappen und mit Nadeln zum Reinigen der Chassepotgewehre.

An der Ecke der Rue Drouot ist wie immer ein Zusammenlauf, und in dem Lichtkreis, den die Gasflammen der Cafés am Eingang der Passage Jouffroy ergeben, hängen über den Käppis, die alle Köpfe zieren, an einem Strick, den man zwischen zwei Bäume gespannt hat, blöde Karikaturen auf den Kaiser und die Kaiserin.

Sonntag, 18. September. – PélagiePélagie ist die in den Tagebüchern der Goncourts oft genannte Wirtschafterin der Brüder. hat heute bei allen Bäckern von Auteuil zusammen nur für einen Sou Brot bekommen.

19. September. – Die Kanonen donnern den ganzen Morgen über. Um elf Uhr bin ich am Tor von Point-du-Jour. Unter der Eisenbahnbrücke stehen Weiber, die einen gelehnt an die noch unfertige Mauer, andere sind auf Kalk- und Schutthaufen gestiegen, wieder andere auf Leitern geklettert, und so horchen sie ängstlich nach der Sèvresbrücke hinaus, während unter ihnen Bataillone, die ins Feuer gehen, vorbeiziehen und sich nur schwer einen Weg bahnen zwischen den letzten heimkehrenden Bewohnern extra muros, die vor sich her ihre bepackten Karren schieben, und Haufen von Flüchtlingen.

Man fragt diese Leute aus: unter ihnen gibt es Liniensoldaten vom 46., bis über die Knie hinauf mit Kot bedeckt, vier oder fünf Zuaven, von denen einer eine Schramme im Gesicht hat: und diese Leute scheinen alle Mutlosigkeit um sich herum auszubreiten, durch jedes ihrer Worte, ihre verstörten Köpfe, ihre feigen Mienen.

Aber trotz diesem Bilde des Rückzugs, der Auflösung, der Panik erwarten die Feldsoldaten ihre Befehle, sind in dem Gewirr der nicht mehr disziplinierten Korps zwar ein wenig bleich, aber entschlossen.

In diesem Augenblick zieht ein Bataillon Munizipalgarde in der kriegerischen Haltung alter Truppen vorbei, und ein Offizier, der eben an der Brücke wendet, bemerkt den Zuaven mit der Schramme und schreit der Menge zu: »Man soll den Zuaven festnehmen; sie haben sich heute früh davongemacht!« Und bald darauf sehe ich den Zuaven festgenommen und ins Feuer zurückgeführt.

Nun kommt ein Bataillon Feldsoldaten zurück, einer von ihnen hat eine preussische Epaulette an der Spitze seines Bajonetts.

Dann kommt ein Leiterwagen, drin drei verwundete Zuaven; man sieht nichts von ihnen als die Spitzen dreier Gewehre und gelbe Gesichter unter roten Mützen.

Die Feldsoldaten tummeln sich um mich herum, fiebernd, ungeduldig, verlangen ins Feuer zu kommen, singen die Marseillaise und beginnen ein Feuerwerk mit ihrer Munition, die sie ausprobieren.

Ich komme gerade in dem Augenblick zum Point-du-Jour zurück, als ein kleiner Zug Zuaven heimkehrt. Sie sagen, das sei alles, was von ihrem Korps, das 30000 Mann stark war, übrig geblieben sei. Sie erzählen, dass die Preussen, 100 000 Mann stark, im Walde von Meudon seien, dass die Armee von Vinoy zerstreut worden sei, wie die Schrotkörner eines Jagdgewehrs. Man spürt an diesen Berichten die wahnsinnige Furcht, die Halluzinationen einer Panik.

Ein hübsches Bildchen an der Porte de Neuilly. Im Durcheinander der stockenden Wagen und der Uebersiedlungen hält ein Karren an, der Kärrner verschnauft. Auf dem Karren liegt eine Rosshaarmatratze, quer darüber auf beiden Seiten ein Haufen Stühle, in der Mitte liegt lang ausgestreckt auf einer Steppdecke unschuldig ein junges, aber schon ziemlich grosses Mädchen, der Rock ist hinaufgeschürzt über langen Strümpfen, in denen schlanke Rehbeine stecken, und so schläft sie, müde und in aller Seelenruhe, und ein Lächeln öffnet den Mund mit den weissen Zähnchen.

Wieder ein Zug Zuaven in der Nähe der Madeleine. Einer von ihnen lacht ein nervöses Lachen und sagt zu mir, dass es »gar keine Schlacht gegeben hat, dass es gleich ein ›Sauve qui peut‹ gewesen ist, dass er nicht eine einzige Patrone verschossen hat«. Ich bin betroffen über den Blick dieser Menschen; der Blick des Flüchtlings geht in die Ferne, ist vage, scheu, wässerig, er bleibt nirgends haften, hält nicht still.

Auf der Place Vendôme, bei dem Stabe des Platzes, wohin man alle Augenblicke irgendwelche Leute schleppt, die man der Spionage beschuldigt, treffe ich in der Menge Pierre Gavarni, der Hauptmann im Stabe der Nationalgarde ist. Wir gehen zusammen essen, und bei Tisch vertraut er mir an, dass er seit den ersten Niederlagen – er ist als Sekretär Ferri-Pisanis bei Metz und bei Chalons gewesen – erstaunt sei über die in die Leere gehende Erregung aller Leute und über den Mangel an Aufmerksamkeit, den der französische Geist seinen grössten Interessen gegenüber bekundet. So ist er schon mehrmals vergeblich bemüht, eine Aufstellung der Gewehre des Mont-Valérien zu holen, er kann sie nicht bekommen.

Heute abend gab es auf den Boulevards eine Menge, wie man sie an den schlimmen Tagen sieht, eine erregte, wogende Menge, die Unordnung und Opfer will, aus der jeden Augenblick der Schrei erschallt: »Verhaftet ihn!« und schon ist man auf der Spur eines flüchtenden armen Teufels, brutal stürmen Männer los, drängen sich durch die Spaziergänger hindurch, in ihrer Gewalttätigkeit bereit, den Verfolgten in Stücke zu reissen.

Dienstag, 20. September. – Wir sind heute abend bei Brébant nur sehr wenige: Saint-Victor, Charles Blanc, Nefftzer und Charles Edmond speisen dort. Man spricht von dem Brief Renans an Strauss. Saint-Victor erzählt uns von der Korrespondenz des Kaisers, die man veröffentlichen wird, und über die Mario Proth, der Sekretär der Kommission, ihm einiges erzählt hat. Es soll allem Anschein nach ein Brief darunter sein, mit der Unterschrift eines bekannten Oppositionellen, der vom Kaiser hunderttausend Franken zur Bezahlung seiner Schulden verlangt ... »Sehr gut,« sage ich, »wenn man nur alle diese Briefe veröffentlicht, und wenn Bekanntschaften, Beziehungen, Freundschaften jetzt die einen nicht von der Schande befreien können, die man den andern nur zu leicht bereitet.« – »Ja,« antwortet man mir, »Sie werden begreifen, das ist ziemlich schwer. Da gibt es den Akt Bazaine, den der Pate der Kinder des Marschalls beiseite schaffen liess, ...« Ich denke im stillen an die Gerechtigkeit der Weltgeschichte.

Das Gespräch kommt nun wieder auf die Verteidigung von Paris, und alle Gäste zeigen einen grossen Skeptizismus gegen die Zuverlässigkeit dieser Verteidigung, den Heroismus der Feldsoldaten, den Erfolg der Barrikaden.

»Oh! oh!« tönt da die fette, kreischende Stimme Nefftzers, »patriotischer Heroismus, – wir haben so viel davon, dass wir billig welchen abgeben können. Wissen Sie denn nicht, dass es Leute gibt, die Paris in die Luft sprengen wollen? Ich kenne einen, ich mache Sie von vornherein darauf aufmerksam, ja, einen Redakteur des Reveil, der Paris mit sechzig Tonnen Petroleum in die Luft sprengen will ... Er sagt, dass das genügt.«

Die Ironie Nefftzers gewinnt alle am Tisch, die wir alle das Bedürfnis empfinden, uns durch bittere Worte zu erleichtern, durch Blasphemien. So wirft einer hin: »Gut, wenn man nun Paris verbrennt, müsste man es in Hütten wieder aufbauen, ja, in Hütten, in Schweizerhäuschen ... das Paris Haussmanns!«

»Ja,« antwortet im Chorus der Tisch, »wir werden sehr weise werden müssen, sehr ernst, sehr vernünftig ... Für das Opernhaus muss man dringlichst eine andere Verwendung suchen, es steht nicht mehr im Verhältnis zu unsern Mitteln, wir werden nicht mehr reich genug sein, um uns Tenore zu bezahlen ... Wir werden eine Oper wie die kleinen Provinzstädte haben ... Ja, ja, wir werden verdammt sein, ein – tugendhaftes Volk zu werden.«

Aber wir glaubten unsern eigenen Worten doch noch nicht recht, als plötzlich an unsere Fenster drohende Schreie von unten schlagen: »Nieder mit dem Lupanar! Löscht das Gas aus!« Und wir müssen in der Tat die Lüster auslöschen lassen, gezwungen vom Geschrei eines Pöbels, der unter dem Vorwande, dass er eine Lorette in einem Kabinett gesehen hat, sich das Vergnügen macht, den niedrigen Instinkten des Neides und der Eifersucht gehorchend, die Bürger am Essen zu verhindern, während er natürlich seine Bordelle und seine Bumskneipen offen behält.

Mittwoch, 21. September. – Heute, am Jahrestag der Proklamation der Republik, gibt es eine Kundgebung alter Lumpen und junger Schlingel, die vor sich her eine grosse Leinwand tragen, auf der eine Freiheitgestalt gemalt ist, vom Licht der Fackeln, die sie hinter der Leinwand hertragen, durchleuchtet – ein richtiges Transparent aus dem Ambigu, das einem die ganze Freiheit und dies Volk von Komödianten verekeln kann.

Donnerstag, 22. September. – Auf den Höhen des Trokadero stehen in der Zugluft, durch die ununterbrochen das Getrommel vom Marsfeld sonor tönt, Gruppen von Neugierigen, unter ihnen korrekte Engländer, das Etui des Rennglases auf dem Rücken und in den behandschuhten Händen riesengrosse Feldstecher. Man sieht auch junge Mädchen, die in ihren mageren Händen mit hübscher Ungeschicklichkeit ein langes Fernglas halten, indes sie sich wie kleine Kinder das andere Auge mit der Hand zuhalten. In geringen Abständen stehen die Teleskope, durch die man im Frieden zur Sonne und zum Mond aufschauen liess, und werden auf Vanves, Issy und Meudon zu gerichtet. In der Mitte all der Neugierigen steht als Pyramide auf einer kleinen Leiter ein Feldsoldat, das Gewehr auf dem Rücken und das Auge am Vergrösserungsglas. Der Horizont ist nichts als Nebel und Staub, darin ein paar weisse Wölkchen, die man für den Rauch von Kanonenschüssen hält.

Hinter den Fernrohren und Teleskopen ertönt das lärmende Geschrei vierzehnjähriger Jungen, die zu Kompanien geformt sind und als Fahnen auf langen Latten angenagelte Bretter tragen, auf denen »Hilfsambulanz«, »Hilfsgenietruppe«, »Hilfsfeuerwehr« steht: Bataillone von Strassenjungen, die sich, die Zigarette im Mundwinkel, plötzlich als Schauspieler der Revolution aufspielen – wahrhaftig etwas wie ein Aufstand der Gassenbuben. Es gibt unter ihnen Frätzchen von aller Art und Blusen von allen Farben, mitten drunter eingereiht blasse Stadtkinder, und rosige Bäckerjungen mit ihren weissen Kappen.

Heute abend, beim Aussteigen aus der Eisenbahn, betrachten alle Auteuilreisenden mit einem gewissen Ernst die Art von vergittertem Schrank, in dem sich von heute an die Zugführer aufhalten.

Freitag, 23. September. – Pelagie rühmt sich, gar keine Angst zu haben, und erklärt, ihr scheine das ein Krieg »zum Lachen«. Wirklich, sie hat recht: die fürchterliche Kanonade von heute früh war, wie sie sagte, nichts anderes als Lärm vom Teppichklopfen. Aber warten wirs ab.

Im Industriepalast ein Kreis von Frauen und Männern rings um die kleine Türe links; sie erwarten, in der Erwartung gepresster Herzen, die Wagen, die Verwundete herbringen sollen.

Auf dem Pflaster des Vendômeplatzes gibt es gegenüber vom Generalstab immer Gruppen von Wartenden, aufgeregt über alles, was da kommt, über alle, die hineingehen, über alle, die man hinschafft, über alle, die herauskommen. Ich sehe zwischen zwei Soldaten einen bleichen Mann mit weisser Mütze das Haus verlassen. Man sagt mir, dass es ein Marodeur ist, den man morgen erschiessen wird. Unter den Vivatrufen der Menge sehe ich dann einen alten Geistlichen kommen, der vergnügt im Sattel auf seinem Pferd, das man als preussischen Gaul erkennt, sitzt. Die grossen Stiefel reichen ihm bis zum Schenkel, am rechten Arm trägt er die Binde mit dem roten Kreuz; er bringt, frei in den Steigbügeln sitzend, Nachrichten über den Kampf, den er eben verlassen hat.

Fürchterlich für die Zerstörung unserer menschlichen Maschine ist dieses Auf und Ab der Hoffnungen, man könnte wahrhaftig sterben an den Illusionen, die selbst die skeptischsten Leute im Kontakt mit der Menge doch annehmen, wenn alle die falschen guten Nachrichten so von Mund zu Mund fliegen, infolge der ständigen Berührung mit dem Geschwätz der gläubigen Menge – : an den gleichen Illusionen, die dann mit einem Schlag die trockene Abfassung des offiziellen Berichtes zerstört.

Und immer wieder sieht man, wie man die Tür eines Cafés aufstösst, das lärmende Geschwätz fröhlicher Gespräche und das sorglose Leben der Hauptstadt, das in allem Schrecken des Krieges weiter bestehen bleibt.

Sonnabend, 24. September. – In dieser Hauptstadt der frischen Nahrungsmittel und Frühgemüse wirkt es in der Tat als Ironie, zu sehen, wie die Pariser sich vor den Blechdosen der Nahrungsmittelhändler und der kosmopolitischen Delikatesswarenhändler beraten. Endlich entschliessen sie sich, hineinzugehen, und nun kommen sie wieder heraus, unter dem Arm »boiled mutton« oder »boiled beef« oder was Aehnliches, alle jene möglichen und unmöglichen Fleisch- und Gemüsekonserven, Sachen, von denen man nie geglaubt hätte, dass sie die Nahrung des reichen Paris werden könnten.

Der Handel hat sich ganz umgeformt; die Wämser und Tuniken der Nationalgarden füllen die Auslagen der Weisswarenmagazine; Schutzpanzer werden zwischen exotischen Blumen ausgestellt, und aus den Kellerlöchern hört man das Hämmern von Eisen, durch die Gitter sieht man Arbeiter Kürasse schmieden.

Die Speisekarte der Restaurants wird immer kleiner. Man hat gestern die letzten Austern gegessen, und von Fischen gibt es nichts mehr als Aal und Gründlinge.

Ich verlasse den »Pied de Mouton« und gehe durch die Hallen, die noch vom Lärm des Ausladens von Vorräten erdröhnen, hinein mischt sich aber schon das Kreischen der Ladestöcke, die in die Gewehre der Nationalgarden hineingestossen werden. Ich begegne Charles Blanc in der Gesellschaft Chenavards, der mich an Rom erinnert und mich seinen melancholischen Rücken wiedersehen lässt, den er dort zwischen seinen Ruinen spazieren führte.

Charles Blanc hatte sich eben auf der Mairie gemeldet, um sich zusammen mit seinem Bruder in die Listen einschreiben zu lassen; er ist sehr aufgebracht über den Maire, der den Namen der berühmten Herren nicht gekannt hat und die Neueingeschriebenen töricht gefragt hat, ob sie auch bewaffnet sind.

Ueberall sind an die Mauern grosse Streifen weisser Leinwand mit den roten Kreuzen der Lazarette angeheftet, und manchmal ist darüber ein Fenster, und da sieht dann der Kopf eines Soldaten, eingewickelt in eine blutbefleckte Leinwand, heraus.

Sonntag, 25. September. – Die beiden Abhänge der Seine sind voll von Kavalleriepferden und den nackten Beinen der Soldaten, die sich in den Pfützen, welche die kleinen Flussdampfer, die regelmässig verkehren, zurückgelassen haben, die Füsse waschen; noch gibt es auch friedliche Angler, aber heute tragen sie auf dem Kopf die Kappe der Nationalgarde. – Die Fenster des Louvremuseums sind mit Sandsäcken verstopft. – In der Rue Saint-Jacques sprechen Frauen in Gruppen von zweien und dreien mit klagenden Stimmen von der Teuerung aller Lebensmittel. Die Mauer des College de France ist von oben bis unten mit weissen Anzeigen beklebt, mit Reklamen von »Papier Pagliardi« gegen die Verwundungen, mit Reklamen von »Phénol Boboeuf«, und auch mit den Anzeigen der eben erscheinenden »Papiere und Korrespondenz des Kaisers«. – Ein Anschlag aus violettem Papier, eben erst angeklebt, kündigt die Einsetzung der Kommune an, verlangt die Unterdrückung der Polizeipräfektur, verlangt die Massenerhebung. – Vorbei kommt eine Bahre mit einem Verwundeten oder einem Toten, eskortiert von einem Zug Soldaten. In einem Hinterhofe sieht man, bei einem Trödler, Massen von Büffets aus Weinschänken, die zu verkaufen sind, nämlich alle Büffets aus der Bannmeile extra muros. – Im Luxembourggarten Tausende von Hammeln aneinandergedrängt, einander stossend; in ihrem engen Käfig sehen sie aus wie die durcheinanderkribbelnden Würmer in der Köderbüchse eines Anglers. – Auf dem Panthéonplatz sind Stellen ohne Pflaster, und da üben sich kleine Mädchen, die eben die ersten Schritte machen, stolpernd in ihren akrobatischen Künsten. – Im Hof der Sainte-Geneviève-Bibliothek ein Sandberg. – An den Säulen der Ecole de Droit wird die Bildung eines Frauenkomitees durch ein Plakat verkündet, das hoch oben den Namen der Louise Collet trägt.– Bei einem Weinschenken, auf dessen Schild Au Grand Arago steht, sieht man Soldatenweiber, die Blicke auf sich lenkend durch die blutroten Schleifen, die sie in ihre schwarzen Haare geflochten haben, indes ein paar Schritte weiter ein Schäfer auf der Erde sitzt und, von seinen Tieren umgeben, das Petit Journal liest.

Ueberall auf den Boulevards, auf beiden Seiten, Mengen von unruhigen und drohenden Tieren ...

Montag, 26. September.– Die ganze Strecke vom Point-du-Jour bis zum Rempart sieht so aus wie Befestigungen des Geniekorps der Barrikaden. Da gibt es die klassische Barrikade aus Pflastersteinen, die Barrikade aus Sandsäcken; es gibt auch pittoreske aus Baumstrünken, wahre Waldsäume nun in eine zerstörte Mauer eingepflanzt. Das Ganze sieht aus wie ein immenses Saint-Lazare-Feld, errichtet von den Nachkommen derer von 48 gegen die Preussen.

 

Dienstag, 27. September. – Gestern gab es in den Gruppen auf dem Boulevard des Italiens grosse Erregung gegen die Schlächter. Man verlangt, dass die Regierung selbst die Tiere verkaufe, ohne den Zwischenhandel dieser Spekulanten auf das allgemeine Elend. Vor der Mairie der Rue Drouot hält eine Frau eine grosse Rede über den Mangel und die Teuerung der notwendigsten Lebensmittel, sie klagt die Händler an, einen grossen Teil ihrer Vorräte zu verheimlichen, um in acht Tagen den doppelten Preis verlangen zu können. Sie beschliesst ihre Rede voll Vernunft mit den zornigen Worten, das Volk habe kein Geld mehr, um Vorräte auf lange Zeit hinaus einzukaufen, es müsse von Tag zu Tag kaufen können, was es braucht, immer, immer sei es so eingerichtet, dass der Arme zugrunde geht und der Reiche verschont bleibt.

 

Ich fahre nach Paris zurück auf dem Verdeck eines offenen Omnibusses, der aber jeden Augenblick anhalten und lange stehen bleiben muss, weil der Kai gesperrt ist durch Lastwagen, bepackt mit Risten voller Zwieback, durch Omnibusse, bis zum Rande voller Brote, die man durch die geschlossenen Fenster sehen kann, durch Karren aller Art, mit Mehlfässern hoch beladen, und alles das drängt sich am Eingang der gigantischen Speisekammer unserer Soldaten.

In der Rue de Rivoli sehe ich ein hübsches Detail: im entsetzlichen Lärm, den eine vorbeiziehende Artilleriebatterie macht, kost ein Artillerist mit verliebter Hand den Bronzelauf einer Kanone, als streichle er geliebtes Fleisch.

Paris ist aufgeregt, Paris ist in Unruhe wegen seiner gewohnten Kost. Da und dort stehen kleine Gruppen eifrig gestikulierender Frauen und an der Rue Saint-Honore, Ecke der Rue Jean-Jacques- Rousseau treffe ich eine Zusammenrottung wütender Leute, die den Laden eines Gemischtwarenhändlers zerschlagen. Eine Frau erzählt mir, dass es ein Mann ist, der einem Soldaten fünfzig Centimes für einen sauren Hering abverlangt hat; der Soldat hat den dann auf einen Stock gesteckt, dazu die Inschrift: »Verkauft für 50 Centimes von einem Offizier der Nationalgarde einem armen Feldsoldaten.«

Hinter mir höre ich zwei Frauen in einem zwiefachen Seufzer sagen: »Es gibt wirklich nichts mehr zum Essen!« In der Tat merke auch ich, wie ärmlich die Auslagen der Schlächter sind: man sieht nichts mehr, als ein paar Würste in Staniolpapier eingewickelt, und die Schalen der Gänseleberpasteten.

Ich komme von der Halle durch die Rue Montmartre zurück; die weissen Marmortische der Maison Lambert, wo sonst um diese Jahreszeit die Viertel der Rehe, Fasane, Wildbret nur so in Haufen liegen, sind heute nackt, die Fischbassins sind leer, und in diesem kleinen Tempel des Gaumens geht nun melancholisch ein sehr magerer Herr spazieren; zur Revanche hält ein paar Schritte weiter im Glanz des Gaslichts, das eine wahre Mauer von Blechdosen erglänzen lässt, ein dickes lustiges Mädchen Liebigs Fleischextrakt feil.

Und ein gewisser Ernst schleicht auf die Gesichter der Spaziergänger, wenn sie sich den im Gaslicht leuchtenden weissen Anzeigen nähern; ich sehe, wie sie ganz langsam lesen, dann fortgehen, mit kleinen Schritten, nachdenklich und ergriffen. Diese Anschläge, es sind die Satzungen der Kriegsgerichte, die man in Vincennes und Saint-Denis eingerichtet hat. Man hält ein bei folgendem Satz: »Die Strafe wird sofort vollzogen, von dem Soldatenzug, der zur Aufrechterhaltung der Ordnung in die Sitzung kommandiert ist.« Und mit einem kleinen Schauder denkt man, dass man nun wirklich bei dem dramatischen Auftakt der Belagerung angelangt ist.

29. September. – Ich suche den Tag über nach einem leeren Lokal, das zu vermieten ist, um meine Bibelots dort einzulagern.

 

Freitag, 30. September. – Geweckt von den Kanonen. Ein ganz roter Sonnenaufgang. In der Ferne das dumpfe Bollen dieser Brutalität. Ich komme ans Ende der Rue d'Enfer, zu jener eben erst frisch erbauten Kirche an der Kreuzung dieser Strasse und des Boulevard Saint-Jacques.

Dort wartet neben leeren Wagen, die auf den Seiten der Fahrstrasse aufgestellt sind, ein Volkshaufe, eine schweigende Menge von Männern und Frauen. Die Frauen, Strohhüte oder kleine Leinenhäubchen auf den Köpfen, sitzen da am Band der Strasse, haben neben sich ihre kleinen Mädchen, die über die Köpfe ihre Taschentücher zum Schutz gegen die Sonne gebreitet haben und, ohne zu spielen, die ernsten Mienen ihrer Mütter betrachten. Die Männer haben die Hände in den Taschen oder die Arme verschränkt und schauen vor sich hin ins Weite, die Pfeifen im Munde sind ihnen erlöscht. In den Schenken trinkt man nicht, man spricht nicht einmal. Nur ein Mann in einer Bluse erzählt in einer Gruppe von all den Dingen, die er gesehen hat, jedes seiner Worte durch eine Bewegung bestätigend, indem er jeden Augenblick seinen dicken Finger an die Nase legt.

Man könnte sagen, dass es eine versteinerte Menschenmenge sei; und es ist ein so strenger Ernst in diesen Männern, diesen Frauen, dass trotz dem fortwährenden schönen Sonnenschein, trotz dem ewigen Azurblau des Himmels die Umgegend allmählich etwas von der Trauer dieses schweigenden Wartens annimmt.

Alle Augen, alle Blicke sind nach der Rue de Chatillon gerichtet. Von Zeit zu Zeit sprengen im Staub der Strasse Meldereiter im Galopp her, unter ihnen ganz junge Burschen, das Wams von der Luft geschwellt, manchmal leuchtet auch das rote Kreuz auf einer weissen Fahne auf. Dann gibt es ein Gemurmel unter allen, ganz leise sagt einer dem andern ins Ohr: »Verwundete!« Sofort beginnt zu beiden Seiten des Wagens ein brutales Stossen der Menge, die sehen will.

Neben mir steigt ein Liniensoldat aus, das Gesicht noch voll vom Schrecken, den Blick voller Staunen; zwei Nationalgardisten fassen ihn unter den Armen und tragen ihn in das Kirchen-Lazarett, an dem man in ganz frisch gemalten gotischen Lettern lesen kann: »Freiheit. Gleichheit. Brüderlichkeit.« Ich sehe auch einen andern vorbeikommen, sein armes Taschentuch um den Kopf geschlagen, ein grünes Daunenkissen über den Beinen. So lassen alle Arten von Wagen vor den Augen bleiche Gestalten vorbeiziehen, oder man sieht hinein auf rote Hosen, auf denen das Blut schwarze Flecken gemacht hat.

Sonnabend, 1. Oktober. – Heimtückisch schleicht das Pferdefleisch sich in die Pariser Ernährung ein. Vorgestern hatte Pélagie ein Stück Filet nach Hause gebracht, das ich auf ihre zweifelhafte Miene hin nicht gegessen habe. Gestern hat man mir bei Peters ein Rostbeef gebracht, an dem mein Malerblick jenes schwärzliche Rot argwöhnisch bemerkte, das von dem rosigen Rot des Rindes so verschieden ist, der Kellner hat nur recht schwächlich versichert, dass dies Pferd Rind ist.

Sonntag, 2. Oktober. – Heute ist plötzlich nichts von der schmerzlichen Ergriffenheit, der Traurigkeit der letzten beiden Tage zu sehen, nichts ist mehr da von der Erinnerung an die Verwundeten, die man vorbeiziehen sah. Die Sonne eines Sonntags hat alles fortgewischt, und Paris drängt sich voll Freude und Lust an allen Toren nach einem Longchamps – ohne Sorgen. Die Sommerkleider, die grossen Schleifen an den Hüften und die winzigen Hüte, immer noch modisch, werden auf den Promenaden spazieren geführt oder drängen sich auch unter die groben Spediteurwagen bei den Einlässen aus der Vorstadt.

Man sieht junge Mädchen, die wie Gemsen die Sandhänge erklettert haben, um das Auge an die Schiessscharten zu halten. Amerikanische Wagen führen unter dem Geleit eines Nationalgardisten in Gala elegante Damen, die ein Pincenez in der Hand halten und von Bastions, Gabions, Cavaliers sprechen. Die öffentlichen Fahrzeuge sind voll von sonntäglich angezogenen Familien, deren einzelne Glieder auf den Bänken zappeln. Und die Wege sind voll von Kindern, die spielen und Spitzbübereien treiben, ermutigt durch das ruhige Lächeln ihrer Eltern.

Ich gehe zu Fuss zurück, die Kais entlang, im leichten Dämmern, wie es gegen sechs Uhr ist.

 

Verloren in die törichten Träume, die die Einbildung aus den vagen Worten der Vorbeigehenden erstehen lässt, höre ich plötzlich einen Mann, der auf dem Kai stehen geblieben ist, zu einem andern sagen: »So werden die uns also wieder auf den Hals kommen!« Dieses Wort weckt mich auf und gibt mir sofort den Verdacht, dass Strassburg sich ergeben hat: ein Vorgefühl, das mir bestätigt wird, sowie ich auf dem Boulevard eine Zeitung kaufe.

3. Oktober. – Durch das rückwärtige Gitter meines Gartens sehe ich heute früh die bretonischen Soldaten, die in einer Allee gelagert sind, ihre Gebete lesen aus kleinen Gebetbüchern, die sie aus ihren Taschen ziehen.

Die Männer, die uns regieren, sind mittelmässig und deshalb sogar vernünftig. Aber sie haben nicht genug Gefühl für das Verwegen-Kühne und ahnen nichts von der Möglichkeit des Unmöglichen, die es in Zeiten, wie unsere ist, gibt. Wer sind sie auch, sieht man genau zu, unsere Retter? Ein General, der schön redet, ein distinguierter Literat, ein gesalbter Staatsanwalt oder schliesslich eine bourgeoise Kopie Dantons?

 

4. Oktober. – Das Bombardement kündigt sich an. Gestern ist man zu mir gekommen, um sich zu erkundigen, ob ich in allen Stockwerken Wasser habe . . .

 

Wir sind heute nur fünf bei Brébant. Man spricht über das aristophanische Innere der Regierung der nationalen Verteidigung, von Arago, den Saint-Victor einen wahren Pantaleone der italienischen Komödie nennt, von Mahias, von Gagneur, von . . . Man spricht von der Veröffentlichung der »Korrespondenz des Kaisers«. Man ist verletzt über den Mangel an Ernst und Haltung und Comme-il-faut, die an dieser ganzen Arbeit zu merken ist, darüber, dass man geistreiche Titel macht, als handle es sich um Manuskripte für den »Figaro«. Nefftzer bringt immer dasselbe ironische Düster ins Gespräch, denselben Zweifel an allem, was man tun könnte, um uns zu retten. In gewissen Augenblicken, bei dem mephistophelischen Lachen, mit dem er die seltensten Unglücksfälle anzukündigen pflegt, fragt man sich, was für ein Teufel von Mensch das ist; mit solch skeptischer, ja geradezu canaillenhafter Gleichgültigkeit spricht er von allen diesen Dingen.

Sonnabend, 8. Oktober. – In den Strassen begegnet man jetzt, das Rote Kreuz auf dem Herzen, dicken Loretten »jenseits der Altersgrenze«, die sich bereiten, mit sinnlichen Händen an den Verwundeten herumzutappen und ein wenig Liebe zwischen den Amputationen zusammenzukratzen. Ich sehe heute abend zum erstenmal Louis Blanc, den sein Bruder bei Peters an meinen Tisch bringt. Ein Kopf, der eine Mischung von Komödiant und südlichem Seminarist ist, über einem geradezu lächerlich kleinen Körper. An diesem glatten Menschen ist Eines entsetzlich: nämlich die Verbindung von Kindlichem und Greisenhaftem in seinem Gesicht. Er hat die rosigen Wangen eines Babys und dazu die schwärzlichen Nasenlöcher und den Zug um den Mund der Sechzigjährigen.

Montag, 10. Oktober. – Heute früh gehe ich, um mir eine Karte für die Fleischverteilung zu holen. Ich glaube, eine jener Ansammlungen aus der Zeit der Grossen Revolution, wie sie mir meine arme alte Kusine Cornelie de Courmont oft geschildert hat, wiederzusehen in dieser wartenden Menge, gemischt aus Frauen in alten Lumpen, Nationalgardisten, deren Uniform nur aus dem Käppi besteht, kleinen Bourgeois, wie Henri Monnier sie gezeichnet hat, und alles zusammengedrängt in improvisierten Lokalen, in den gewissen weissgetünchten Räumen, wo man schliesslich in den Allmächtigen in der Offiziersuniform der Nationalgarde, die um einen Tisch sitzen und die allerhöchsten Verteiler der Nahrung sind, seine nicht allzu honetten Lieferanten erkennt.

Ich trage ein blaues Papier heim, typographische Sehenswürdigkeit für künftige Zeiten und künftige Goncourts; dieses Papier gibt mir das Recht, mir und meiner Dienerin täglich zwei Rationen rohes Fleisch zu kaufen, oder vier Portionen der Kost, die in den nationalen Wirtschaften bereitet wird. Es sind Kupons daran bis zum 14. November.

Dienstag, 11. Oktober.– An den Türen jener neuen Häuser, in denen man die Mairien für die überschwemmte Bannmeile untergebracht hat, unterhalten sich bleiche Frauen mit erloschenen Stimmen über die Unmöglichkeit, Arbeit zu finden.

In den Strassen gehen geistliche Schwestern zu zweit und untersuchen einen Augenblick in der Höhlung der fetten Hand den Reis in den Säcken vor den Türen der Krämer.

Bric-à-brac-Trödler lehnen sich an ihre gotischen Kredenzen, die sie auf den Trottoirs ausgestellt haben: Sinnbilder der Melancholie des Luxushandels in elenden Zeiten.

Vor der Nordbahnstation schiffe ich mich im klassischen Stellwagen der Pariser Umgebung nach Saint-Denis ein. Es ist ein Wagen mit Fetzen, die einmal grün waren, überzogen und hat zum Schaffner ein Kind, das mit dem Gesicht einmal ins Feuer gefallen ist. Darin sitzen fette Händler, den Siegelring am Finger, Greise mit roter Krawatte und nicht zugeknöpfter Hose, ein Modell von der Kunstschule, einen Stummel zwischen den Zähnen, eine muntere Offiziersmätresse, die in einer Handtasche die zärtlichen Utensilien einer Liebesnacht mit sich führt.

Wir kommen bis zu der kleinen Brücke über den Kanal, aber es ist uns nur gegeben, von ferne Saint-Denis zu sehen. Zuaven und Feldsoldaten schliessen den Eingang zur Stadt ab und halten auf dieser Seite der Brücke zurück die Mütter, die Schwestern, die Verwandten, die Freunde, die Geliebten. Man sagt uns, ein preussischer Spion habe sich in die Stadt eingeschlichen, und um seiner habhaft zu werden, hat man alle Verbindung mit der Aussenwelt abgesperrt. Nach einer Stunde entschliesst sich alle Welt enttäuscht, nach einer Siesta auf der Böschung wieder nach Paris zurückzufahren.

Ueberall um uns herum die gleiche Wüstenei der Militärzone, aus der sich da und dort Schutthaufen erheben, Reste einer Mauer, Tapetenmuster zeigend; und vor einem, so weit man sehen kann, Felder punktiert in allen Farben: das sind Männer und Frauen, die Nachlese halten.

Mittwoch, 12. Oktober. – In diesen tragischen Tagen, in denen der Puls höher schlägt und der Kopf einem immer benommen ist, weil man stets den dumpfen Lärm der Schlacht hört, die uns an allen Seiten umgibt, hat man das Bedürfnis, aus seinem wirklichen Wesen herauszukriechen, das unnütze Individuum, als das man sich fühlt, von sich abzustreifen, und sich ein anders erwecktes Leben in einem Traum zu gestalten, sich als Häuptling einer Bande zu »erfinden«, die feindliche Züge überrascht, den Feind dezimiert, Paris von der Blockade befreit, – und so lebt man lange Augenblicke, von einer Art Gehirnhalluzination in eine imaginäre Existenz getragen.

Man erfindet irgendein Mittel zu fliegen, das einen die feindlichen Stellungen sehen und erkennen lässt, man erfindet irgendeine mörderische Maschine, die ganze Bataillone tötet, das grosse Sterben über ganze Stücke der Armee ausgiesst. Und in einer Art Abwesenheit von sich selbst, ähnlich der des Kindes, das seine ersten Bücher liest, schreitet man durch die grossen Weiten und die grossen Abenteuer des Unmöglichen, Held für eine Stunde der Einbildung. Wie viele Gänge habe ich so in diesem Garten gemacht, nicht mehr der kleinen Promenade angehörend, die mein Körper in der kleinen Allee da ausführt, sondern die Luft auf einem fliegenden Schemel durchziehend, war ich Erfinder einer Substanz, die unter mir den Sauerstoff oder den Wasserstoff der Luft zerstörte und so das Atmen für die preussischen Lungen einer ganzen Armee tödlich machte.

Freitag, 14. Oktober. – Es ist doch erstaunlich, wie man sich an dieses durch den Schlag der Kanonen gleichsam rhythmisch eingeteilte Leben gewöhnt, an dieses schöne ferne Donnern, an dieses fürchterliche Krachen, an dieses Erzittern der Luft; schliesslich fehlen einem die energischen, sonoren Lautwellen, und man richtet gespannt seine Ohren nach dem Horizont, wenn es eine Minute still ist.

Ich gehe nach den Tuilerien, um Burty abzuholen ... Unter diesen alten, von all den Festen und Soupers des Kaiserreichs geschwärzten Decken, unter dem schönen, gebräunten Gold, das mich an das Gold der venezianischen Decken erinnert, mitten unter den Bronzen, den Marmorfiguren, die, da das Mobiliar noch nicht ganz eingepackt ist, noch auftauchen, im Widerschein der herrlichen Spiegel sieht man jetzt die bärtigen Gesichter von Schreibern, Sozialistenköpfe mit langen Haaren, Schädel, kahlköpfig mit einem Kranz ergrauter rötlicher Haare –: kurz, die grimmigen Antlitze der Reinen und Tugendhaften.

An den Wänden reichen Fächer aus weissem Holz bis zu den Decken hinauf, vollgepfropft mit Aktendeckeln, und die Schubfächer der Tische, auf denen in Unordnung ganze Berge von Papier liegen, sind förmlich Bäuche für all die Briefe, Quittungen, Rechnungen. Und an einem Nagel, den man in den Goldrahmen eines Spiegels eingeschlagen hat, schweben die »Instruktionen für die Sichtung der Kaiserlichen Korrespondenz«.

Ich habe das Gefühl, in das Schwarze Kabinett der Inquisition der Revolution eingetreten zu sein, und diese gehässige Schnüfflerei der Weltgeschichte widert mich an. Es ist der Saal Ludwigs XIV., in dem sich die Mitglieder der Kommission aufhalten; hier wird der grosse Trumpf vorbereitet. Ich greife unter den Papieren, die da liegen, auf gut Glück eines heraus. Es ist eine Rechnung Napoleons III., des grossen Verschwenders, für Ausbessern von Socken, fünfundzwanzig Centimes für das Flicken jedes Paars.

15. Oktober. – Wenn man so auf sich selbst angewiesen leben muss, nichts hat als den Austausch von Ideen, die um nichts verschiedener sind als solche, die sich um eine fixe Idee bewegen, wenn man nichts liest als diese Neuigkeiten eines elenden Krieges, in dem es nichts Unerwartetes gibt, in den Zeitungen nichts findet als den mühseligen Aufputz von Niederlagen, die mit dem Titel »Offensive Revanche« ausgeschmückt werden, wenn man vom Boulevard durch die erzwungene Gasersparnis verjagt wird, das Nachtleben nicht mehr geniessen kann in dieser Stadt des »Frühe Zu-Bette-gehens«; nicht mehr lesen kann, sich nicht mehr in die reinen Gebiete des Gedankens erheben, weil dieser Gedanke selbst durch die elenden Nöte der Ernährung erniedrigt wird, wenn man so alles dessen beraubt ist, was die Erholung des intelligenten Parisers war, wenn einem das »Neueste« und das »Allerneueste« fehlt, kurz, wenn man in dieser brutalen und eintönigen Angelegenheit vegetiert, genannt: der Krieg – dann ist der Pariser in Paris selbst von einer Langweile erfasst, gleich der Langweile einer Provinzstadt.

Heute abend geht in der Strasse ein Mann vor mir her, die Hände in den Taschen, und trällert beinahe vergnügt. Plötzlich bleibt er stehen und schreit, als sei er plötzlich aufgewacht: »Mein Gott, es geht doch recht schlecht!« Kurz, dieser unbekannte Spaziergänger sprach aus, was alle Welt still denkt.

 

Am Ende einer kleinen stickigen Passage, die von einem Kranz von Gaslichtern erleuchtet wird, öffnet sich der eindringenden Menge das Tor des Saales »de la Reine-Blanche«. Ein Tanzsaal, ausgeschmückt wie alle diese Tanzsäle des Boulevards: Malereien an der Decke, allerlei Plakate auf roten Papierfetzen, kleine schmale Spiegel laufen die Säulen entlang, von den Beleuchtungskörpern aus Zink und Glas sind für heute nur drei Flammen angezündet.

Die Leute, die in ruhigen Zeiten da tanzten, machen heute hier Gesetze. Das Podium der Musikanten ist die Rednertribüne, sie wird besetzt von den ernsten Mitgliedern des Bureaus und den vorgemerkten Rednern, alle in Schwarz; sie alle haben vor sich auf der hölzernen Brüstung, an der gestern noch die Bassgeigen lehnten, die parlamentarische Wasserflasche.

In dem bläulichen Nebel des Pfeifenrauchs sitzen auf Bänken oder, einander gegenüber, an den kleinen Tischen, wo früher Erfrischungen eingenommen wurden, Nationalgardisten, Mobilgardisten, Vorstadtphilosophen, rot von dem Aufputz ihrer Hüte bis zum Oberleder ihrer Schuhe, Arbeiter in blauem Wams und Käppi. Es gibt auch Weiber aus dem Volk, Mädchen, Jugend in roten Umwürfen und sogar kleine Bürgerfrauen, die in diesen Zeiten nicht wissen, was sie mit dem Abend anfangen sollen.

Plötzlich ein Klingelzeichen. Ja, das ist die Glocke, mit der das Volk, so gern wie ein Kind, in der Deputiertenkammer spielt. Tony Révillon steht auf, verkündet die Gründung des Montmartreklubs, der bestimmt ist, die Freiheit zu gründen und, wie er erklärt, logischerweise die Monarchie, den Adel und den Klerus zu zerstören. Dann schlägt er der Versammlung vor, die Nummer des Journal de Rouen vorzulesen, das heute abend in der Vérité erschienen ist. Es ist wirklich rührend zu sehen, wie diese Herden von Menschen auf jedes gedruckte und gesprochene Wort hereinfallen, in wie fabelhafter Art jedes kritische Gefühl ihnen abgeht. Die sakrosankte Demokratie kann wahrlich einen Katechismus fabrizieren, in dem es noch viel mehr erlogene Wunder gibt als im alten: diese Leute sind völlig bereit, ihn in frommer Anbetung zu verehren.

Und doch: durch all diese Dummheit, durch all dieses rohe Verschlingen unglaublicher Geschichten, dringt in einem gewissen Augenblick der Hauch der Hochherzigkeit, der heissen Hingabe, eine glühende Brüderlichkeit. So geschieht es in dieser Sitzung, als die Nachricht verkündet wird, dass wir 123000 Gefangene in Deutschland haben: ein Schrei dringt aus allen diesen Herzen und bricht sich in einem schmerzlichen Flüstern, indes sich der ganze Saal mit einem unbeschreiblichen Blick ansieht.

Nachdem Tony Révillon sich wieder hingesetzt hat, hat der Bürger Quentin das Wort ergriffen und mit pathetischen Worten gezeigt, dass all unser Unglück seit Sedan nie eingetreten wäre, wenn man eine Kommune eingesetzt hätte. Und nachdem so die von der Vorsehung bestimmte Kommune zur Genüge bewiesen und festgelegt war, ist die ganze Gesellschaft hinausgegangen, um im Vorzimmer, dort, wo sonst kontrolliert wird, ob alle Tänzer bei der Quadrille gezahlt haben, eine Petition für die sofortige Einsetzung einer Kommune zu unterzeichnen.

Dienstag, 18. Oktober. – Die Kanonade lockt mich hinaus ins Bois de Boulogne zur Batterie Mortemart. Es ist etwas Feierliches in dem Ernst und der überlegten Gelassenheit, mit der die Männer, die mit der Bedienung eines Stückes betraut sind, alle zum Laden notwendigen Handgriffe vollziehen. Endlich ist geladen; die Artilleristen halten sich unbeweglich zu jeder Seite, einige mit schönen, eines Bildhauers würdigen Gebärden an die Winden gelehnt, mit denen sie das Stück hinaufgezogen haben. Ein Artillerist in Hemdärmeln, zur Rechten stehend, hält die Zündschnur.

Ein paar Augenblicke der vollsten Regungslosigkeit, des Schweigens, fast möchte ich sagen, der Ergriffenheit; dann, wenn der Zündfaden abgezogen ist, ein Donner, eine Flamme, eine Rauchwolke, hinter der die Baumgruppe, welche die Batterie deckt, verschwindet. Noch lange sieht man eine weisse Wolke, die sich nur mühsam zerstreut, und das Gelb des Sandes, der von dem Schuss aufgewirbelt ist, das Grau der Sandsäcke, von denen zwei oder drei von dem seitlichen Rückstoss des Stückes durchlöchert sind, das Rot der Artilleristenmützen, ja sogar das Weiss der Hemdärmel dessen, der den Zündfaden gezogen hat, noch besser hervortreten lässt.

Dieses Ding da, das auf weite Ferne hinaus tötet, ist das richtige Schaustück für Paris, das, wie an den schönsten Tagen der Seepromenaden, in Kaleschen und in offenen Landauern hier hinausfährt, rings um den Hügel die Wagen halten lässt; und die Frauen mischen sich unter die Soldaten und drängen sich so nah wie irgend möglich an das entsetzliche Geräusch heran. Heute sind unter den Zuschauern Jules Ferry, Rochefort, der fieberhaft lacht und spricht, Pelletan, dessen Kopf – der eines alten Philosophen – schlecht zum Käppi passt.

Es wird sechsmal aus der Kanone geschossen, dann nimmt der Kommandant von seinem Dreifuss das kleine Kupferinstrument, mit dem die Höhen gemessen werden, legt es sorgfältig in eine Blechschachtel, steckt sie in seine Tasche und geht weg. Auf das Geschütz aber setzt sich ein junger Artillerist, blond, mit einem weiblichen Gesicht, indem etwas von jenem Heroismus sich ausdrückt, den der Maler Gros seinen militärischen Gestalten gibt, und der mit seiner schief aufgesetzten Polizeimütze, eine algerische Binde mit grellen Streifen prall um die Hüften, die Patronentasche auf dem Leib, den Hals entblösst, reizend in seiner pittoresken Unordentlichkeit, sich nun von der Mühsal dieser Vollstreckung des Todes ausruht. Die Vorstellung ist vorbei, alle Welt zerstreut sich.

Das Gespräch heute abend bei Brébant fängt bei der politischen Unbeständigkeit Gambettas an und kommt dann auf den »blonden Mann«, auf dieses Geschlecht, das in den ältesten Zeiten vom Baltischen Meer hergekommen ist, sich in Frankreich, Spanien, Afrika zerstreut hat, und weder durch die Breitengrade noch durch die Mischungen mit braunen Rassen verändert oder gebräunt worden ist.

Dann führen die ungewöhnlichen Dinge, die wir essen, zu Erzählungen, was ein jeder schon Aussergewöhnliches gegessen hat, und Charles Edmond berichtet, von dem berühmten Mammut gekostet zu haben, das man in Sibirien gefunden hat, und von dem Sankt Petersburg höflicherweise ein Stück den höchsten Behörden Warschaus geschickt hat.

Donnerstag, 20. Oktober. – In Batignolles stehen an den Türen der Schlächter lange Reihen Menschen, zusammengesetzt aus alten, ganz zerbrochenen Männchen, rotfarbigen Nationalgarden, alten Weibern, die sich unter dem Arm Sitzbänkchen mitgebracht haben, kleinen Mädchen, die schon stark genug sind, um im grossen Marktkorb die schmale Ration nach Hause tragen zu können, Grisetten, die die Nase in die Luft stecken, deren Haare im Wind flattern, und aus deren Augen die Koketterie mit den Veteranen, die in der »Queue« für Ordnung zu sorgen haben, nur so funkelt.

Von Montmartre bis zur Rue Watteau, wo ich speise, sieht man nichts als Zettelkleber in ihren weissen Kitteln, die die Mauern mit Anschlägen bedecken, auf denen Mitteilungen über die Fabrikation von Kanonen gemacht werden.

In allen Läden hat man sich bemüht, die Waren in etwas, was irgendwie mit den Wällen und der Belagerung zu tun hat, umzuwandeln; es gibt nichts anderes mehr als Belagerungsdecken, Belagerungspelze, Belagerungsbetten, Belagerungshüte, Belagerungshandschuhe.

Zugleich aber haben die Auslagen der Nahrungsmittelhändler einen traurigen Zug angenommen, einfach – durch das Nichts, das ausgestellt ist. Die schmutzigen Servietten der Stammgäste, das ist alles in den Auslagen der Speisewirtschaften; zwei kranke Schweinsköpfe zwischen leeren Terrinen, das ist alles bei den Schlächtern. Als einzigen Ersatz sieht man kleine Handwagen auf der Strasse hin und her fahren: rollende Krapfenfabriken.

Die Hallen sehen ganz merkwürdig aus; da, wo sonst die Fische verkauft wurden, handeln alle Stände mit Pferdefleisch, und statt Butter wird Fett unbekannter Tiere verkauft, das aussieht, wie die grossen Stücke weisse Küchenseife. Aber wirkliche Bewegung, wirkliches Leben gibt es auf dem Markt nur bei den Gemüsen, das die Marodeure noch in reichlichen Mengen herbeischaffen; rings um die kleinen Tische herum, die mit Kohl, Sellerie, Blumenkohl beladen sind, gibt es eine Menge, die sich diese Dinge gegenseitig streitig macht, bis die Bürgerfrauen sie in den Einholtaschen nach Hause tragen. Mitten in dieses Durcheinander der Angebote, der Worte, der Scherze, der Schimpfreden hört man plötzlich ein lautes: »O mein Gott!« Das sind dann die lärmenden Seufzer der Verkäuferinnen an der Bahre eines Franktireurs, den man zwischen den halboffenen Vorhängen einer Tragbahre, auf der man ihn heimbringt, erblickt.

Montag, 24. Oktober. – Ich gehe heute ins Freie hinaus durch die Porte Maillot, deren Zugbrücke und deren mit Schiessscharten versehene Teile grün angestrichen worden sind, um eine Verlängerung der Rasenböschung vorzuspiegeln. Das scheint mir chinesisch genug.

Der Restaurateur Gillet ist »Stab« geworden, man hat am Tor zwei Schilderhäuser aus Brettern, die von der Demolierung übriggeblieben sind, zusammengezimmert. Leute in grosser Zahl warten in Reihen und verlangen Passierscheine.

Die ganze Avenue de Neuilly scheint von ihrer bürgerlichen Bevölkerung verlassen worden zu sein; nur Gamache, der Waffenmeister mit seinem triumphierenden Schild, hat noch Vorhänge in seinem Erdgeschoss. Ueberall haben die Soldaten in Mengen Einzug gehalten und die zahlreichen Pensionate für junge Mädchen und die Etablissements für » young ladies« haben jetzt Schildwachen, rote Mobilgarden, vor ihren Türen.

Die Flachreliefs des Etoile-Tores hat man in grosse Holzkisten gesperrt.

Wie ich so die Champs-Elysées hinunter gehe, sehe ich mir das nun abgeschlossene Hotel der Païva an und frage mich, ob nicht hier das Zentralbureau der preussischen Spionage in Paris gewesen ist.

25. Oktober. – Der Blick des Parisers gehört heute nur noch Auslagen, in denen Dinge, die man vielleicht essen könnte, liegen, den Schaukästen mit Erzeugnissen, mit denen man sich selbst um die gewohnte Nahrung zu beschwindeln vermag. Und vor der Anpreisung eines solchen Erzeugnisses kann man ein ganz merkwürdiges Schauspiel sehen: nämlich den Passanten in seiner Ungewissheit, in seinen inneren Kämpfen, die sich durch das Schieben des Regenschirmes von einem Arm unter den andern, das Fortgehen und Wiederzurückkommen offenbaren. In der Passage Choiseul konnte ich heute dieses Manöver eines Belagerten beobachten, anlässlich eines ganz neuen Produktes, dessen gewohnter Gebrauch und vielleicht auch besondere persönliche Erinnerungen seine Esslust doch wieder hemmten. Einen Augenblick hatte ihn das Vorurteil auch über die Lust hinweggebracht, er war fortgegangen, hatte zwanzig Schritt gemacht ... dann plötzlich jähes Kehrtum, er geht zurück, betritt fiebernd die Konditorei und kauft – » Kakaobutter«.

Mittwoch, 26. Oktober. – Ich gehe in die Redaktion des » Officiel«, um Théophile Gautier zu sehen, der, wie man mir sagt, aus der Schweiz zurückgekehrt ist.

»Warum, zum Teufel, o Théo, sind Sie in diese entsetzliche, traurige Bude zurückgekehrt?«

»Ich will Ihnen das erklären,« antwortet er mir, während wir die Stiege hinuntergehen, »Geldmangel, mein lieber Goncourt, ja, diese törichte Sache, die man Geldmangel nennt ... Sie wissen, wie rasch zwölfhundert Franken zum Teufel sind ... Das war alles, was ich hatte, und ausserdem waren meine Schwestern in Paris auch am Ende ihrer Mittel ... Da haben Sie den Grund meiner Rückkehr!« –

»Ja, diese Revolution ist für mich das Ende, sie gibt mir den Gnadenstoss ... überhaupt, ich bin ein Opfer der Revolutionen. Ja, ganz ohne Spass! Zur Zeit der glorreichen Julirevolutionen war mein Vater strenger Legitimist, und er hat mit den »Ordonnanzen« à la hausse gespielt ... Sie können sich vorstellen, wie ihm das bekommen ist, wir haben alles verloren, fünfzehntausend Livres Rente ... Ich war bestimmt, als glücklicher Mensch, als Mensch, der tun kann, was ihm passt, ins Leben zu treten, nun musste ich meinen Lebensunterhalt verdienen ... Endlich nach Jahren war ich in ziemlich anständigen Verhältnissen; ich hatte ein kleines Haus, einen kleinen Wagen, sogar zwei kleine Pferdchen ... Die Februarrevolution macht alles wieder pfutsch ... Nach wiederum vielen, vielen Jahren finde ich das Gleichgewicht wieder, sollte in die Akademie gewählt werden, in den Senat ... Sainte-Beuve ist tot, Mérimée auf dem Weg zu krepieren, es war also wirklich nicht unwahrscheinlich, dass der Kaiser einen Literaten hineinsetzt, nicht wahr? ... Ich schien also endlich den rechten Platz gefunden zu haben ... Paff! alles zum Teufel mit dieser Republik ... Sie können sich vorstellen, dass ich jetzt nicht mein Leben von neuem beginnen kann ... Ich werde wieder ein Handwerker in meinem Alter ... Eine Mauer, um, an sie gelehnt, meine Pfeife in der Sonne rauchen zu können, und zweimal die Woche meine Suppe, das ist alles, was ich noch verlange ... Und was das Schrecklichste ist: ich muss in alle meine Sachen jetzt Lügen hineinfabrizieren ... Sie verstehen mich doch: meine Schilderungen müssen › trikolor‹ sein ...!«

»Dieses Blech ist geradezu tragisch!« sagt er dann, als wir bei den Auslagen Chevets vorbeigehen, wo nun auf dem Marmor, den gestern noch die gediegensten Feinschmeckereien geziert hatten, nur noch die Blechbüchsen ein paar armer Gemüsekonserven liegen. Dann, nachdem er ein paar Minuten geschwiegen hat, und sein Nachdenken schwer genug auf meinem Arm gelastet, sagt er plötzlich: »Ist das nicht ein fürchterlicher Niederbruch! Ein ganz vollkommener! Zuerst die Kapitulation, heute die Hungersnot, morgen das Bombardement ... Ist es nicht wahrhaft künstlerisch gesteigert, dieses Unglück?«

Dann fängt er wieder an: »Aber ist es nicht auch sonderbar, dass der Mut, die Tapferkeit, diese Sache, die ein ganz spezifisch französisches Erzeugnis zu sein schien ... es war doch die Ueberzeugung der ganzen Welt, dass wir geborene Helden sind ... also, soll das wirklich nicht mehr existieren? ... Haben Sie die feigen Ausreisser nicht gesehen, denen man die Kleider gewendet hat, und denen ins Gesicht zu spucken man die ganze Bevölkerung freundlichst eingeladen hat?« ...

»Mein lieber Théo,« antworte ich, Abschied von ihm nehmend, »meine Meinung ist: die › Blague‹ hat alle diese heroischen Dummheiten getötet, und die Nationen, die die nicht mehr haben, sind zum Tode verurteilt.«

Freitag, 28. Oktober. – Das Erstaunliche, das Wunderbare, das Unwahrscheinliche, das ist das Fehlen jeder Verbindung mit der Aussenwelt. Es gibt nicht einen einzigen Bewohner von Paris, der seit vierzig Tagen eine einzige Nachricht von den Seinigen draussen erhalten hätte. Kommt durch den grössten Zufall einmal eine Zeitung aus Rouen in die Stadt hinein, so macht man davon Faksimiles und verbreitet sie wie die unschätzbarste Rarität. Niemals sind zwei Millionen Menschen in einem so vollendeten Gefängnis eingeschlossen gewesen. Es gibt keine Entdeckung, keine Neuerung, keine glückliche Kühnheit. Es gibt auch keine Phantasie mehr in Frankreich.

Allmählich beginnt man mit den hässlichen Dingen des Krieges näher Bekanntschaft zu machen. In der Hauptstrasse von Auteuil sehe ich zwei Liniensoldaten mit erdfahler Haut an mir vorbeitragen, vor ihnen ein Soldat, der das Pferd am Zügel führt, sie selbst hängen in einem Korb auf dem Rücken des Tieres und scheinen bei jedem Stoss in ihren Hüften förmlich einzuknicken, ihre armen hilflosen Füsse versuchen, in den Steigbügeln Halt zu finden. So was tut weh. Verwundete, das ist der Krieg; aber Leute, die die Kälte, der Regen, der Mangel an Nahrung tötet, ansehen, das ist viel schrecklicher als Verwundungen in der Schlacht. »Sie sind von meinem Regiment,« sagt eine Marketenderin, die mit mir zusammen im Omnibus fährt, »von meinem Regiment, dem 24. mobilen, alle Tage bringt man solche herein.« Und in ihrem Ton klingt etwas von der Entmutigung jener, denen sie die Getränke einschenkt.

Auf dem grauen Stein des Pantheons, unter dem goldenen Kreuz, breitet sich eine riesige Tribüne, rot drapiert, wie die Treppen der Weinschenken. Ein grosses Band trägt die Worte: »Bürger, das Vaterland ist in Gefahr! Einschreibungen Freiwilliger für die Nationalgarde!« Darüber ein Wappenschild, das Silberschiff der Stadt Paris darstellend, und darüber ein Bündel Fahnen, von einer schwarzen gekrönt, in deren düsteren Falten die Namen Strassburg, Toul, Châteaudun flattern. An den beiden Enden, unter dreifarbigen Standarten, stehen die Jahreszahlen »1792« und »1870«. An den Pfeilern kann man auf angehefteten Pappschildchen die zwei Buchstaben R. F. lesen.

Die weite Tribüne ist ganz voll von Käppis mit Silberborten, von Schultern, leuchtend unter dem Gummi durchnässter Mäntel, und zwischen durch drängt sich und teilt sich wieder die Menge, die die Treppe hinaufsteigt, eine Menge, die wahre Stockwerke aus menschlichen Rücken in weissen und blauen Wämsern bildet; das alles unter dem Getöse der Trommeln und den Klängen der Hörner. Es ist ein Schauspiel, das ein wenig an den Jahrmarkt erinnert, und dennoch ergreift es einen durch die Elektrizitäten, die sich aus allen hochherzigen Menschlichkeiten entladen, aus den Massen, die sich opfern.

Eine unendliche Menschenmenge bedeckt den Platz; darüber sind noch wahre Pyramiden von Frauen und Kindern, die zwischen die Säulen der Mairie des 5. Arrondissement und der Ecole de Droit geklettert sind.

All die Gesichter sind hager und blass, haben jenes Gelb, das die Belagerungskost gibt, und dazu kommt noch die Aufregung des Schauspiels, in das die ernsten Klänge der Marseillaise tönen.

Schliesslich findet der endlose Vorbeimarsch der eben eingeschriebenen Nationalgardisten statt, die alle an dem Bureau, das in der Mitte der Tribüne eingerichtet ist, vorbeiziehen.

Und wie die Stunden gehen, es später wird unter dem regnerischen Himmel, in den wie trockene Blätter Wolken von Staren sich zerstreuen, in der Dämmerung, die die Gestalten noch bleicher erscheinen lässt, ersteht ein phantastisches Bild; diese Tausende bleicher Soldaten, durch die grossen Schatten der Tribüne marschierend, wo ihre Gesichter wie verhüllt unter Schleiern erscheinen, erwecken den Eindruck eines phantastischen Heeres von Phantomen, wie aus einer Mitternachtslithographie von Raffet. Gewiss, in allen diesen Dingen gibt es Motive für die Malerei, aber aufrichtig gesagt, es ist zu sehr die Wiederholung von 92, von 93. Und man ist ein wenig gedemütigt, wenn man merkt, dass es eine so platte Nachahmung der Vergangenheit ist, eine so sklavische, dass man sogar auf den Giebel der Ecole de Droit die Inschrift gesetzt hat: »Unteilbarkeit der französischen Republik! Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, oder Tod!«

Sonntag, 30. Oktober. – Vor meinem Wagen bewegt sich eine Reihe der kleinen Wägelchen der Armeeambulanzen mit den grauen Vorhängen, über denen die kleinen Fahnen mit dem roten Kreuz flattern.

Ich gehe einen Augenblick in das Konzert Pasdeloup. Der Saal ist voll, aber die Musik hat in diesen Augenblicken nicht die Macht, mich vergessen zu lassen, nicht die Kraft, meine Gedanken in Träumerei zu verwandeln. Ich fühle mich nicht fortgerissen von der Pastorale Mozarts und will lieber das Schauspiel der Strasse geniessen.

Der ganze Boulevard ist ein Jahrmarkt; man verkauft alles auf dem Asphalt: Wolltrikots, Schokolade, Scheiben von Kokosnüssen, Sultanpastillen, ganze Stösse der »Châtiments« Victor Hugos, Waffen, die aus der Requisitenkammer eines Theaters zu stammen scheinen, jene Wunderschachteln, in denen man »den oder die man liebt« erblicken kann. Auf der Bank gegenüber den »Varietés« haben Zufallsfischer einen Laden zusammengezimmert und verkaufen zu zwei Franken das Stück kleine Hechte, so gross wie Gründlinge, wer weiss wo gefangen.

Zwischen den Buden spaziert die sorglose Menge eines Sonntags gewöhnlicher Zeiten, mit kleinen Schritten, plaudernd und vor jeder Auslage stehen bleibend, und die kreischenden Rufe erbärmlicher Bengel preisen mit vom Alkohol zerbrochenen Stimmen an: »Frau Badinguet oder die Frau Bonaparte, ihre Liebhaber, ihre Orgien«.

Montag, 31. Oktober. – Auf allen Gesichtern, in der ganzen Haltung der Leute spürt man den Gegenschlag der grossen und fürchterlichen Dinge, die in der Luft liegen. Hinter dem Rücken von Leuten, die um einen Nationalgardisten herumstehen und fragen, höre ich die Worte: »... Revolverschüsse ... Pelotonfeuer ... Verwundete«. Auf der Schwelle des Théâtre Francais erzählt mir Lafontaine die offizielle Nachricht von der Kapitulation von Metz. –

Die Rue de Rivoli ist voll Unruhe und Lärm, die Menge mit den Regenschirmen wird immer grösser, je näher man dem Hôtel de Ville kommt.

Dort ist eine Zusammenrottung, eine verwirrte Masse von Menschen aller Art, durch die sich alle Augenblicke Nationalgardisten, die Gewehrkolben in der Luft, einen Weg bahnen und rufen: »Vive la Commune!« Das Gebäude ist heute ganz schwarz, nur die Uhr, die ihren Zeiger auf dem Zifferblatt sorglos gehen lässt, ist beleuchtet, die Fenster sind weit offen, und aus ihnen hängen die Beine der Blusenmänner, wie sie dort schon am 4. September zu sehen waren. Der ganze Platz ist ein Wald von erhobenen Gewehrkolben, deren Beschläge im Regen blitzen.

Auf den Gesichtern erkennt man den Schmerz über die Kapitulation Bazaines, eine gewisse Wut über die gestrige Niederlage bei Le Bourget, zugleich aber den zornigen und heroisch unüberlegten Willen, nicht Frieden zu schliessen.

Arbeiter mit rundem Hut schreiben mit Bleistiften auf schmutzigen Brieftaschen eine Liste, die ihnen ein Herr diktiert. Unter den Namen höre ich: Blanqui, Flourens, Ledru-Rollin, Mottu. »Jetzt wird's gehen,« schreit ein Blusenmann ins starre Schweigen meiner Nachbarn hinein; dann treffe ich eine Gruppe von Frauen, die, wenn auch ängstlich, schon über die Verteilung des Privatbesitzes sprechen.

Soweit man nach dem äusseren Eindruck schliessen kann, ist, wie mir auch die Beine, die aus den Fenstern des Rathauses hinaushängen, schon anzeigten, die Regierung gestürzt, die Kommune errichtet, und die Liste des Herrn auf dem Platz wird durch das allgemeine Wahlrecht bestätigt werden. Es ist nun soweit. Man kann heute auf seinen Kalender schreiben: »Finis Franciae«. Die Rufe »Vive la Commune« erschallen überall auf dem ganzen Platz, und neue Bataillone stürzen sich in die Rue de Rivoli, gefolgt von einer Lumpenherrschaft, die schreit und gestikuliert ... In diesem Augenblick fragt mich eine alte Dame, die sieht, dass ich das Abendblatt eben zu Ende lese, ob, o Ironie, der Kurs der Staatsrente in meiner Zeitung steht!

Nach dem Essen höre ich, wie ein Mann aus dem Volk zu der Tabakhändlerin, bei der ich meine Zigarre anzünde, sagt: »Ist es möglich, dass sich die Leute so betrügen lassen! Sie werden sehen, wir erleben ein 93, und die einen werden die andern aufknüpfen.«

Der Boulevard ist ganz schwarz. Die Läden sind geschlossen. Es gibt keinen Spaziergänger mehr. Man sieht nur ein paar Menschen, deren Finger ein Bindfaden schneidet, an dessen Ende irgend etwas Essbares eingewickelt hängt, und die halten sich alle im Lichtkreis der Kioske auf; die Wirte der Cafés gehen immer wieder an die Türen, ungewiss, ob sie nicht auch schliessen sollen. Es wird Rappell geschlagen, Generalrappell. Ein alter apoplektischer Nationalgardist, das Käppi in der Hand, schreit: »Die Canaillen!«, ein Offizier der Nationalgarde ruft am Eingang des Café Riche die Leute seines Bataillons zusammen. Es geht das Gerücht um, der General Tamisier sei Gefangener der Kommune.

Der Rappell wird mit wahrer Wut fortgesetzt; während ein junger Nationalgardist mitten über die Fahrstrasse des Boulevards läuft, schreit er aus Leibeskräften: »Zu den Waffen! Gott verdamm' mich!« Der Bürgerkrieg, dazu Hungersnot und Bombardement, ist das nun wirklich unser morgiges Schicksal?

Dienstag, 1. November. – Ausnahmsweise sind wir heute abend bei Brébant ziemlich zahlreich. Théophile Gautier ist da und Bertrand, Saint-Victor, Berthelot und noch einige andere. Louis Blanc erscheint zum erstenmal mit dem Aeusseren eines Geistlichen und in einem Gehrock, in dem er die Leviten lesen könnte.

Natürlich ergibt die gestrige Revolution den Gesprächsstoff. Hébrard, der im Innern des Rathauses der Szene beigewohnt hat, erklärt, dass man sich gar keine Vorstellung machen könne von der niederträchtigen Dummheit, deren Zeuge er war. Er hat einen Haufen Menschen gesehen, die durchaus Barbès tragen wollten, die guten Leute wussten nicht, dass er schon tot ist. »Ich«, sagt Berthelot, »habe in aller Frühe wissen wollen, woran wir waren, und habe einen Posten am Rathaus gefragt: »Wer ist da drin? Wen bewachen Sie denn?« – »Mein Gott,« antwortete er, »die Regierung von Flourens.« Er wusste also noch nicht, dieser Posten, dass die Regierung, die er zu bewachen hatte, inzwischen gewechselt hat. Was wollen Sie, wenn Frankreich so weit ist!«

Und Louis Blanc erzählt, mit süssen Worten, die nur langsam aus seinem Munde kommen und die er wie köstliche Bonbons noch ein wenig zurückhält: »Alle diese Männer von gestern haben sich selbst ernannt, und sie fügten zu ihrem Namen, um ihm doch einige Geltung zu geben, noch irgendeinen andern, berühmten, sowie man eine Feder auf einen Hut steckt.« Er sagte das in einem halb spitzen und halb zuckersüssen Tone, aus dem man aber doch die geheime Bitterkeit heraushörte, wie wenig sein eigener Name, der im Jahre 1848 populär war, heute bei den Massen gilt. Und man muss auch wirklich zugeben, wie wenig die Berühmtheiten von heute gelten bei einem Volk, das in die Nichtigkeit seiner Herren-Meister förmlich verliebt ist.

Und dann zieht der kleine Louis Blanc, um seinen Worten grösseres Gewicht zu geben, aus der kleinen Tasche seiner kleinen Hose eine Liste, auf der zwanzig Namen gedruckt sind, die man der Abstimmung der Bürger des 5. Arrondissements unterbreitet hat, und aus denen eine Kommune gebildet werden soll. Es ist wirklich eine Zusammenstellung der berühmtesten Unbekannten, aus denen man je in irgendeinem Lande der Welt eine Regierung verfertigt hat. Da behauptet Saint-Victor, von einem Freunde Trochu's erfahren zu haben, der General rühme sich, binnen vierzehn Tagen die Befreiung von Paris durchzusetzen.

Alle Welt fängt an zu lachen, und jene, die den Gouverneur von Paris persönlich kennen, beginnen ihn zu schildern als eine ganz winzige Intelligenz, vollständig eingesponnen in den engen Vorstellungen des Militarismus, verschlossen jeder neuen Entdeckung, die auftaucht, jeder neuen Idee, sein Veto ebenso jeder ernsthaften Sache wie jedem phantastischen Vorschlag entgegenstellend. Denn phantastische Vorschläge sind ja auch in Hülle und Fülle da: so gibt es wahrhaftig Leute, die Paris mit Hilfe der – Hunde retten wollen. Man soll ihnen nämlich die Tollwut einimpfen und sie dann auf die Preussen loslassen.

Dann erzählt uns Louis Blanc von der Idee eines Mannes, dessen Projekt er sich angenommen hat; er hat den Plan, den Preussen in Versailles das Wasser abzuschneiden, und zwar durch die Zerstörung der Werke von Marly und die Austrocknung der Teiche. Trochu hat den Vorschlag mit dem einzigen Worte »Absurd!« abgelehnt. Dorian hingegen war von dem Plan ganz entzückt.

Nun entspinnt sich zwischen einem Fabrikanten militärischer Maschinen, der gerade anwesend ist, einem Artillerieoffizier und Berthelot eine Auseinandersetzung über eine Hekatombe von Erfindungen oder neuen Erzeugnissen, die aus dem einen oder dem anderen Grunde abgelehnt worden sind, die meisten ohne jeden Grund gleich von vornherein aus Lässigkeit, aus Verständnislosigkeit. Es ist die Rede von Kohlenzündern für Bomben, einem Ballon, der durch Verbreitung einer Zeitungskorrespondenz in der Provinz 600000 Franken einbringen sollte, und dessen Einführung noch der behördlichen Genehmigung harrt. Louis Blanc sagt: »Was das Ausbleiben von Neuigkeiten anlangt, sagte mir Trochu, als ich darüber staunte: ›Aber die Regierung tut alles Mögliche; wissen Sie, dass die Regierung dafür monatlich 10000 Franken ausgibt?‹ Das hat mich erst recht verwundert: 10000 Franken für eine Sache von so ungeheurer Bedeutung, für die man 100000, 200000, was weiss ich, eine Million ausgeben müsste.«

Von Trochu geht das Gespräch über auf General Guiod, den Berthelot für alle unsere Unglücksfälle verantwortlich macht. Es ist der Mann, der, nicht zufrieden damit, sich der Fabrikation der Chassepotgewehre widersetzt zu haben, die Kanone des Kommandanten Potier zurückgewiesen hat. »Dabei ist die Sache so einfach!«, fügt er hinzu, »seit dem Anfang des Krieges ist alles Artillerieschlacht. Die preussischen Kanonen tragen sechs- oder achthundert Meter weiter als unsere; sie werden also hundert oder zweihundert Meter von unserem Schiessbereich aufgestellt und zerstören alles bei uns, wie sie wollen. Die Kanonen von Potier hätten die Partie gleichgemacht.« – »Sie wissen doch,« sagt da der Maschinenfabrikant, »dass während der acht Tage Arrest, die der General Guiod dem Kommandanten Potier zudiktiert hat, die zweitausend Mann, die unter seiner Leitung stehen, nicht gearbeitet haben, und in diesem Augenblick ...« Hier wird der Maschinenfabrikant durch den Artillerieoffizier unterbrochen: »Das ist genau so wie mit den Artilleristen: man sagt, es gibt keine; man sollte lieber sagen, dass man keine will. Einer meiner Freunde hat dem General einen sehr fähigen früheren Offizier vorgestellt. Wissen Sie, wie ihn der General empfangen hat? ›Mein Herr, ich liebe unzeitgemässen Eifer nicht.‹« Berthelot nimmt das Gespräch auf: »Ja, so ist es überall; Nefftzer begreift meine Verzweiflung nicht, wenn ich mit ihm darüber spreche, er sieht das alles nicht so im Einzelnen wie ich; er kommt nicht den ganzen Tag über in Berührung mit ihren blöden Dickschädeln. Noch ein Beispiel: dieses törichte Gesetz, durch das die alten Veteranen wieder einberufen werden, in einem Augenblick, wo man junge Leute braucht, Fähigkeiten,die sich entwickeln, einen General, der erst seine Kraft enthüllt. Man müsste kleine Ausfälle unternehmen, Ausfälle, von Hauptleuten kommandiert. Der, welcher seine Sache am besten macht, sollte dann zum Kolonel ernannt werden, und, wenn er sich einige Male ausgezeichnet hat, zum General. So würden wir unser Offizierkorps reformieren und eine wirkliche Brutstätte für Offiziere einrichten ... Aber man bewahrt alle Beförderungen für die Armee von Sedan auf, ja, es ist kein Scherz, für die Armee von Sedan!«

»Ach,« wirft da ein Skeptiker ein, »was hülfe es auch, die Offiziere zu wechseln, es werden immer die gleichen bleiben ...« Und nun spricht man vom baldigen Niedergang Frankreichs, wie der Vorrat an »wertvollen Hirnen« erschöpft sei, von den Krämpfen, in denen Frankreich zuckend dem Tode entgegengeht.

Indessen sitzt Renan, eingesunken, die Hände wie ein Geistlicher über dem Magen gekreuzt, da und sagt von Zeit zu Zeit Bibelverse in die Ohren Saint-Victors, der entzückt ist, Latein zu hören.

Dann, mitten in einem neuen Geschwätz über die Gründe unseres Verfalls, schreit Nefftzer auf: »Was Frankreich zugrunde gerichtet hat, das ist die Routine und die Rhetorik!« – »Ja, der Klassizismus!« seufzt Théophile Gautier; mit diesen Worten unterbricht er eine Analyse, die er in einem Winkel dem braven Chennevieres über die Vierzeiler des Khèyams gegeben hat.

Sonntag, 6. November. – Der Waffenstillstand ist von den Preussen zurückgewiesen. Ich glaube, es gibt in der diplomatischen Geschichte der Welt kein wütenderes Dokument als das Bismarck'sche Memorandum. Sein Mitleid mit den Hunderttausenden von Franzosen, die verhungern würden, ähnelt dem Jesuitismus eines Attila.

Montag, 7. November. – Heute früh, beim Dejeuner in der Taverne Lucas finde ich auf der Rechnung meine Serviette mit 15 Centimes berechnet. Es scheint, die Wäscherei ist durch die Rückkehr der Wäscher von Boulogne und Neuilly usw. nach Paris in Unordnung geraten, vielleicht auch durch die Requisitionen von Pottasche und anderen Stoffen, die die Regierung zur Herstellung von Pulver braucht.

Ich mache Victor Hugo einen Besuch, um ihm für den sympathischen Brief zu danken, den der berühmte Meister mir anlässlich des Todes meines Bruders zu schreiben die Güte hatte. Er wohnt Avenue Frochot, bei Meurice, glaube ich. Man lässt mich in einem Speisezimmer warten, wo noch die Reste eines Frühstücks stehen, das man mitten in einem Bric-à-brac von Gläsern und Porzellan serviert hat.

Dann werde ich in einen kleinen Salon geführt, dessen Decke und Wände mit alten Tapisserien bespannt sind. Im Winkel beim Kamin sitzen zwei Frauen in Schwarz, deren Züge man nur vage gegen das Licht sieht. Um den Dichter, halb liegend auf einem Diwan, Freunde, unter denen ich Vacquerie erkenne. In einem Winkel lässt der dicke Sohn Victor Hugos, in der Uniform der Nationalgarde, ein kleines Kind mit blonden Haaren und einer roten Schärpe Dame spielen.

Hugo hat mir die Hand gegeben und sich dann wieder vor den Kamin gestellt. In dem Halbdunkel des alten Trödels, mit dem die Wohnung möbliert ist, die an diesem Herbsttage noch verfinstert wird durch die alten Farben der Wandbespannung, und in dem blauen Zigarrenrauch, inmitten dieser Dekoration einer vergangenen Zeit, in der alles ein bisschen verblichen und ungewiss ist, die Dinge wie die Menschen, erscheint der Kopf Hugos im vollen Licht, im rechten Rahmen und hat einen grossen Zug. Sein Haar, schöne weisse, sich gleichsam aufbäumende Locken, wie man sie auf den Prophetenköpfen Michelangelos sieht, und sein Gesicht geben ein Bild ganz eigentümlicher Friedsamkeit, einer fast ekstatischen Friedsamkeit. Ja, ekstatisch – aber von Zeit zu Zeit gibt es das jähe Aufwachen eines Blickes, der schwarz, schwarz, schwarz ist, aber allerdings ebenso plötzlich erlischt.

Ich frage ihn, wie er sich in Paris zurecht findet. Er sagt mir ungefähr das: »Ja, ich liebe das Paris, wie es jetzt ist, ich hätte das Bois de Boulogne nicht sehen mögen, in der Zeit, als es dort Wagen, Kaleschen und Landauer gab, es gefällt mir jetzt, wo es eine Schlucht, eine Ruine ist ... das ist schön, das ist gross. Glauben Sie aber nicht, dass ich alles, was in Paris gemacht worden ist, verdamme. Ich bin der erste, die geschickte Restauration von Notre-Dame, von der Sainte-Chapelle anzuerkennen, und sicherlich hat man schöne neue Häuser gebaut.« Und als ich ihm sage, dass sich der Pariser in diesem Paris, das nicht mehr Paris ist, nicht mehr heimisch fühlt, antwortet er: »Ja, es ist ein anglisiertes Paris, aber eines, das glücklicherweise zwei Dinge hat, die nicht an London erinnern, nämlich die höhere Güte seines Klimas und das Fehlen des Kohlenstaubs. Was mich betrifft, meinen persönlichen Geschmack, so bin ich wie Sie. Ich liebe unsere alten Gassen ...« Und als jemand das Wort von den »grossen Arterien« ausgesprochen hat, wirft er zur Gruppe beim Diwan hin die Worte: »Ja, es ist wahr, diese Regierung hatte nichts für die Verteidigung gegen die Fremden getan, aber alles ist geschehen für die Verteidigung gegen die Bevölkerung.«

Hugo setzt sich nun neben mich hin und spricht mit mir von meinen Büchern; er ist liebenswürdig genug, zu sagen, sie seien die Zerstreuung seiner Verbannung gewesen. Er fügt hinzu: »Sie haben Typen geschaffen, das ist eine Fähigkeit, die nicht einmal die Leute von sehr grossem Talent immer haben.« Dann, da er mir von meiner Vereinsamung auf dieser Welt spricht und sie mit der seinen vergleicht, als er drüben war, predigt er mir die Arbeit, um dieser Vereinsamung zu entgehen, und tröstet mich mit der Vorstellung von einer Art Zusammenarbeit mit dem, der nicht mehr ist. Er schliesst mit dem Satz: »Ich für meinen Teil glaube an eine Gegenwart der Toten und nenne sie die ›Unsichtbaren‹

In diesem Salon ist die Entmutigung vollständig. Selbst die, welche dem »Rappel« Artikel voll Vertrauen schicken, gestehen ganz laut, wie wenig Vertrauen sie auf die Möglichkeit einer Verteidigung haben. Hugo sagt: »Wir werden uns eines Tages wieder erheben. Wir dürfen nicht untergehen. Die Welt kann den Germanismus nicht über sich ergehen lassen. In vier oder fünf Jahren wird es eine Revanche geben.«

Victor Hugo zeigt sich bei diesem Besuch als liebenswürdiger, einfacher, braver Mann, nicht im geringsten grosssprecherisch oder »sibyllinisch«. Seine starke Persönlichkeit lässt sich nur an feinen Anspielungen erkennen, so, wenn er von der Verschönerung von Paris spricht und Notre-Dame als Beispiel anführt. Man ist ihm dankbar für seine Höflichkeit, wenn sie auch ein wenig kalt, ein wenig hochmütig ist, doch ist man froh, in dieser Zeit banaler Aeusserungen derlei zu treffen, in dieser grossen Zeit, wo die grossen Berühmtheiten einen gleich bei der ersten Begegnung empfangen mit Zurufen wie: »Ah, Du bist's, altes Haus!« Mittwoch, 9. November. – Ich stosse heute abend auf Nefftzer, der mich auf ein Glas »Aff-Aff« zu Frontin mitnimmt. Wir steigen in den Keller hinunter, den die Demokraten unsicher machen. Nefftzer ist schon angeregt und redselig gemacht durch ein paar Schoppen, und sein schwäbisches Lachen dröhnt entsetzlich.

Als ich ein Wort von Victor Hugo sage, fängt er an, sich über den Mann zu verbreiten, mit dem er in der Conciergerie viel zusammen gewesen ist, in der Zeit, als Victor Hugo alle Tage mit seinen Söhnen und Vacquerie zum Essen hinkam. Er erzählt mir von dessen vollständiger Ahnungslosigkeit, was die Kost angeht: »Proudhon«, erzählt er, »und ein anderer meiner Freunde hatten sich zu Diners, die je zehn Sous kosteten, zusammengetan. Denken Sie, für die zehn Sous bekam man drei Platten, aber was für Platten! Man bekam Wein, aber was für Wein! Ich, ich kann zwischen den guten und den schlechten Dingen unterscheiden, aber ich bescheide mich mit auch den schlechten. Er, Hugo? Merkt nichts von alledem. Ich erinnere mich, eines Tages kam er zu spät, und wir erwarteten ihn nicht mehr. Das übriggebliebene Essen war in eine Ecke geworfen worden, ein Höllenragout, eine geradezu infame Mischung aller möglichen Dinge, wie Kalbsblanquette und Stockfisch in brauner Butter. Nun gut, Hugo hat sich darauf gestürzt, und wir sahen ihm zuerst förmlich entsetzt zu ... dabei müssen Sie wissen, er isst wie Polyphem ...«

»Sehr amüsant war er, Hugo, als die Wahl des Präsidenten stattfand. Ich hatte damals das beste Zimmer, das für Beauvallon hergerichtete. Man hielt sich also viel bei mir auf. Hugo kam oft hin, um Proudhon mit Worten gleichsam zu liebkosen, aber es half nichts, Proudhon hatte für ihn dieselbe Verachtung, die er für einen Musikanten gehabt hätte ...

Mein Zimmer diente damals allen möglichen Zwecken. Eines schönen Tages gab es ein grosses Diner. Crémieux hatte Konstanzer Wein mitgebracht, den er von Rothschild bekam, weil er ein Jude war. Frau Hugo fing damals an zu sprechen, ein bisschen viel zu sprechen, – ich werde niemals den Blick vergessen, den man gar nicht schildern kann, mit dem Hugo sie versteinert, zum Schweigen gebracht hat ...

Früher, in der Zeit, da Hugo in die Redaktion der »Presse« kam, erkannte ich ihn nie auf den ersten Blick: Denn die Vorstellung, die ich von dem grossen Dichter hatte, stimmte im ersten Augenblick niemals zu dem Herrn, den ich da leibhaftig vor meinen Augen hatte ... Stellen Sie sich nur den Anblick eines Schiebers, eines Studenten im dreissigsten Semester vor ... er war nicht gepflegt und hatte überdies die Gewohnheit, schmale Strippen unter perlgrauen Hosen voller Flecken zu tragen, dazu immer einen schwarzen Gehrock.

Als ich ihn in Belgien wiedersah, war er ein anderer Mensch. Man hätte ihn für einen alten Kavallerierittmeister halten können .. . Aber man muss zugeben, ob es sich nun um den alten oder um den neuen Hugo handelte, er hat immer etwas Verführerisches gehabt in der Art, einen zu empfangen, eine gewisse graziöse und scharmante Artigkeit ... So erinnere ich mich: wenn wir mit unsern Frauen zu ihm zu Besuch kamen, liess er nie eine einzige von ihnen fortgehen, ohne ihr ihren Schal oder Umhang über die Schulter zu hängen. Bei einem andern wäre das einfach lächerlich gewesen; bei ihm war es eine schöne Geste.«

Es ist halb elf, und gemäss der Verordnung der Défense Nationale löscht ein Mann das Gas aus und stellt eine Kerze auf den Tisch. Der Keller hat nun das Aussehen eines jener unterirdischen Cafés wie die, in denen ich in Berlin nachts gegessen habe.

Nun erheben sich die Worte und die Gedanken Nefftzers zu sonderlichen Höhen: »Ich, für meinen Teil, bin ein Germane, ein vollständiger Germane, ich verteidige Frankreich nur aus Pflichtbewusstsein, aber ich betrüge mich nicht selbst. Vielleicht ist der Tag nicht mehr fern, wo wir wieder eine phokische Republik sehen werden, ein Grossherzogtum Aquitanien, ein Grossherzogtum Bretagne  ... Seien Sie überzeugt, es ist alles die Schuld der Bartholomäusnacht, sie bringt jetzt das Ende Frankreichs ... Wäre Frankreich protestantisch geworden, dann wäre es für alle Zeiten die grosse Nation Europas gewesen. Sehen Sie, in den protestantischen Ländern gibt es Abstufungen zwischen der Philosophie der höheren Klassen und dem freien Urteil der niederen Klassen ... In Frankreich ist ein Abgrund zwischen dem Skeptizismus der oberen und dem Aberglauben der niederen Klassen, und das, glauben Sie es mir, das ist es, was Frankreich zugrunde richtet.«

In dem Café, das dunkel geworden ist, vom Düster erfüllt, erscheint jetzt sein dickes Jordaënsgesicht rot unter dem grellen Licht der Kerze, das fette und warzige Fleisch tritt deutlicher hervor; aber aus diesem Geschwätz, das manchmal unverständlich ist, diesen fortwährend plätschernden Worten, die wie Rülpser hervorkommen, springen manchmal Gedanken voller Tiefe auf: Ironien, Paradoxe, ja manchmal was vom Genie.

Er schliesst seine Tirade, indem er ganz laut erklärt, Herr von Bismarck sei der erste Staatsmann aller Zeiten; es sei nur fraglich,ob er so grosse Dinge vollbracht hätte, wenn er den Schwierigkeiten und den widrigen Umständen begegnet wäre wie Pitt.

Dann lässt er sich noch Ale und Porter bringen und sagt, dass er dem Bier seinen regelmässigen Schlaf verdankt.

Donnerstag, 10. November. – Alle Leute, die man jetzt sieht, haben ein dringendes Bedürfnis nach Seelenruhe, nach geistiger Ruhe, nach einer Flucht aus Paris. Alle sagen: »Sowie die Sache hier zu Ende ist, fahre ich fort«, und dann nennen sie irgendeinen Winkel von Frankreich, irgendein Stück fernes Land, wo man weit weg von Paris und allem, was daran erinnert, lange Stunden nicht mehr nachdenken, nicht mehr denken, vor allem aber sich nicht mehr erinnern wird.

Es könnte schon sein, dass das grosse Jahr 89, das niemand, auch unter seinen Gegnern, in einem Buch anders bespricht, als mit allerlei Reverenzen, für die Schicksale Frankreichs doch weniger bedeutsam gewesen ist, als man bisher angenommen hat. Vielleicht wird man merken, dass von damals an unserer Existenz nichts war als eine Folge von Wellenberg und Wellental, eine Folge von Ausflickereien der sozialen Ordnung, und dass jede Generation einen neuen »Retter« gebraucht hat. Sieht man genau zu, so hat die französische Revolution die Disziplin der Nation getötet, hat die Selbstverleugnung des Individuums getötet, Eigenschaften, die durch die Religion und einige andere ideale Gefühle noch aufrechterhalten worden waren. Was aber von diesen idealen Empfindungen vielleicht noch übriggeblieben war, das hat unser erster Retter Louis Philippe vernichtet, durch den Satz seines ersten Ministers: »Bereichert euch!« und dann unser zweiter Retter, Napoleon III., durch sein Beispiel und das Beispiel seines Hofes, der da sagte: »Geniesset!« Dann, als alle uneigennützigen Seelenreligionen gestorben waren, machte man durch das allgemeine Wahlrecht aus dem zerstörenden und desorganisierenden Willen der niederen Schichten unserer Gesellschaft die rechte französische Souveränität.

Das Jahr 89 hätte die Herrschaft eines anderen Volkes einleiten können, eines Volkes, das ernsthaft die Freiheit und die Gleichheit geliebt hätte, eines gebildeten Volkes, das die Fähigkeit, aus freier Wahl zu entscheiden, gehabt hätte, aber bei dem skeptischen und spöttischen und »wurschtigen« Temperament Frankreichs war – nach meinem Gefühl wenigstens – das Jahr 89 bestimmt, mit dem Ende anzufangen.

Freitag, 11. November. – Den Verwundeten gehören jetzt alle Herzen. Den Boulevard Montmorency entlanggehend sehe ich eine Dame in ihrem offenen Wagen einen Verwundeten in grauem Mantel mit einer Polizeimütze spazierenfahren. Sie hat nur Augen für ihn, jeden Augenblick richtet sie die Pelzdecke über seinen Beinen, Hände einer Mutter und einer Gattin spazieren die ganze Zeit der Spazierfahrt auf seinem Körper herum. Der Verwundete ist ein Modegegenstand geworden; für andere ist er wieder eine Nützlichkeitssache, eine Art von Blitzableiter. Er verteidigt das Haus, in dem man wohnt, vor dem Eindringen der Vorstadtbevölkerung, er soll in der Zukunft vor Feuer, Plünderung, preussischen Requisitionen schützen. Jemand erzählte mir, dass ein Bekannter von ihm eine Ambulanz eingerichtet hat; acht Betten, zwei Schwestern, Charpie, Verbandzeug und, was man noch für ein Lazarett braucht – nichts fehlte. Aber trotzdem wollte kein Verwundeter am Horizont erscheinen. Der Mann mit dem Lazarett blieb in Unruhe um sein Haus. Was tat er? Er ging in ein Lazarett, das mit Verwundeten gesegnet war, legte dort dreitausend Franken hin, ja, wirklich dreitausend Franken, damit man ihm einen einzigen ablasse.

Ich verlange lebhaft nach dem Frieden, ich wünsche mit allem Egoismus, dass kein Geschoss in mein Haus fällt und meine schönen kleinen Sachen zerstört; trotzdem ging ich traurig wie der Tod an den Festungswerken entlang. Ich schaute alle diese Arbeiten an, die nicht gegen den deutschen Sieg protestieren sollen; und an der ganzen Haltung der Arbeiter, der Nationalgardisten, der Soldaten, an dem, was die Seele der Leute von ihnen und ihrer Stimmung aussagt, spürte ich, dass der Frieden von vornherein schon unterzeichnet ist, und zwar so, wie ihn Bismarck verlangen wird; und ganz töricht litt ich wie an einer Enttäuschung über ein geliebtes Wesen. Jemand sagte mir heute abend: »Die Nationalgarde? ach Gott, sprechen wir gar nicht von ihr, nicht wahr? Die Liniensoldaten werden die Gewehre in die Höhe heben, die Mobilsoldaten ein wenig Widerstand leisten, die Seesoldaten ohne Ueberzeugung schiessen: so wird man sich schlagen, wenn man sich schlägt.«

12. November.– Dass es nur der Nachwelt nicht einfalle, künftigen Geschlechtern Geschichten vom Heroismus des Parisers Anno 1870 zu erzählen. Sein Heldentum wird nur darin bestanden haben, stark gesalzene Butter zu den grünen Bohnen gegessen zu haben, und Pferde-Rostbeef statt Rinder-Rostbeef – und das ohne viel davon gemerkt zu haben. Denn der Durchschnittspariser hat nicht die Fähigkeit zu wissen, was er isst.

Sonntag, 13. November. – Mitten unter all dem, was das Leben in diesem Augenblick beengt und bedroht, gibt es jetzt doch auch etwas, was das Leben erhält, aufpeitscht, ja fast lieben lässt: das ist die Aufregung. Im Kanonendonner spazierengehen, sich an das Ende des Bois de Boulogne vorwagen, zusehen, wie, zum Beispiel heute, die Flammen aus den Häusern von Saint-Cloud hervorschlagen, von der fortwährenden Erregung des Krieges, der einen umgibt, berührt leben, die Gefahr streifen, sein Herz immer ein wenig schnell schlagen fühlen –: das ist schliesslich auch eine Lust; und ich fühle: wenn das vorbei sein wird, kommt nach dieser fieberhaften Lust eine ganz, ganz gemeine, recht gemeine Langweile.

Sonntag, 20. November. – Auf der Höhe der Butte Mortemart hörte ich heute ein kleines Mädchen, indem es auf Saint-Cloud zeigte, seinen kleinen Freundinnen sagen: »Unser Haus dort ist immer noch da – das letzte bei den Bäumen . . . seht ihr's?«

Das ist der Trost dieser Augenblicke. Kleine und Grosse kommen von Zeit zu Zeit her, um einen Blick auf ihr geliebtes Haus zu werfen. Vor ein paar Tagen verlangte ein Herr, den ich gar nicht kenne, von mir die Erlaubnis, aus einem meiner Fenster nach seinem Atelier in Sèvres sehen zu dürfen.

Ich begegne heute abend dem jungen Frédéric Masson, der im Uniformmantel eines Mobilgardisten steckt. Ihn, der die Briefe, die er mir aus dem College schrieb, mit »Brumaire« und »Messidor« des republikanischen Kalenders datierte, ihn finde ich heute gar sehr ernüchtert von der Republik, den Republikanern, den demokratischen Soldaten. Er beklagt sich, dass, als er mit Goubie vormarschierte, die »Brüder« nicht Schritt hielten. Und von seiner schlechten Stimmung über die Gegenwart färbt etwas auf das Gefühl gegen das Jahr 89 ab, und das führt einen sichtbaren Niedergang seines früheren lyrischen Enthusiasmus für die erste Republik herbei.

Es ist ein Symptom. Ich bin überzeugt, dass viele junge Leute, die in sich wie Masson ein Korn revolutionärer Ueberspanntheit hatten, nun auf dem besten Wege sind, Reaktionäre zu werden.

Donnerstag, 24. November. – Madame Burty erzählte mir heute, ihre Wäscherin habe ihr versichert, die Ernährung ihres Pferdes koste sie 13 Franken im Tag.

Der Lumpensammler unseres Boulevards, der zurzeit an der Halle für einen Garkoch »Queue steht«, erzählte Pélagie, er kaufe für seinen Garkoch Katzen zu sechs Franken, Ratten zu einem Franken das Stück und Hundefleisch zu einem Frank fünfzig das Pfund.

Samstag, 26. November. – Heute ist der letzte Tag der offenen Stadttore. Morgen wird Paris an den Wällen endigen, und das Bois de Boulogne nicht mehr Paris sein. Ich will, bevor es vielleicht für immer verschwindet, den ganzen Tag darin spazieren gehen. Und so war ich heute auf dem Rundgang, über dem der Mann mit dem Fernrohr steht und den Vorbeigehenden zuruft: »Wer will die Preussen sehen?; man sieht sie sehr gut, meine Herren, überzeugen Sie sich selbst!« Jeden Augenblick muss man über grosse Gräben springen, über Erdlöcher, die mit Faschinen versehen sind ... Das Tor des Pré Catelan ist offen, Kanonen sind auf der Wiese aufgestellt, und die Artilleristen machen Anstalten, ins Freie vorzugehen. Vom Pré Catelan wandere ich weiter nach dem Jardin d'Acclimatation, auf dem hübschen Weg, der unter grünen Bäumen an einem Bach entlang geht. Dort ist eine Bande von Kindern und Frauen, die die armen Bäumchen zerbricht, spaltet, so dass sie dann, wenn die Bande vorbei ist, mit ihren weissen Strünken, den zu Boden hängenden Aesten als ein Bild der Verwüstung übrig bleiben, als Zeichen, dass die Pariser Bevölkerung förmlich eine Lust am Zerstören hat. Ein alter Landmann, der vorbei geht und, wie eben das Alter, die Bäume liebt, hebt die Augen schmerzerfüllt zum Himmel.

In der allgemeinen Verwüstung bleibt nur die grosse Insel, die durch das Wasser geschützt ist, heil und unverletzt, mit ihren Bäumen, Sträuchern, ihrer englischen Nettigkeit. Am Ufer des Sees, nahe an diesem so viel begangenen Ufer, promeniert heute ganz allein ein langer magerer Geistlicher und liest sein Brevier.

Ich beeile mich, um rechtzeitig um fünf Uhr, der anbefohlenen Stunde der Rückkehr, da zu sein ... Es schlägt fünf Uhr. Man eilt sich. Man stösst sich. Artilleriewagen veranlassen eine Stauung. Ein armer alter Mann neben mir auf der Zugbrücke wird ängstlich und fällt in den Graben. Ich sehe, wie er reglos auf den Schultern von vier Männern, der Kopf hin und her fallend, wieder heraufgebracht wird. Er hat sich das Rückgrat gebrochen.

Montag, 28. November. – Ich bin heute nacht von der Kanonade geweckt worden. Ich steige in ein Zimmer hoch oben.

An dem Himmel ohne Sterne, der durch die Aeste der grossen Bäume in Felder geteilt wird, sieht man vom Fort von Bicêtre bis zum Fort von Issy auf der ganzen Strecke dieses grossen Halbkreises eine ununterbrochene Reihe kleiner Feuerpunkte, die sich entzünden wie Gasflammen, und deren Aufleuchten dumpfer Donner folgt. Diese lauten Stimmen des Todes im Schweigen der Nacht: sie erschüttern einen ... Nach einiger Zeit mischen sich bellende Hunde in das bronzene Donnern; die weinerlichen Stimmen aus dem Schlaf aufgeschreckter Leute fangen an zu flüstern; Hähne werfen ihre hellen Töne hinein. Dann ziehen sich Kanonen, Hunde, Hähne, Männer und Frauen wieder in das Schweigen zurück, und mein Ohr, gespannt vom Fenster hinauslauschend, kann nichts mehr hören als, weit, weit in der Ferne, den Lärm der Gewehrschüsse, erinnernd an das dumpfe Tönen des Ruders, wenn es an das Holz des Schiffes schlägt.

Eine sonderbare Gesellschaft heute im Omnibus! Kriegsmänner aller Arten und jeder Fasson. Neben mir sitzt ein Feldgeistlicher aus dem Süden, mit Augen, die zugleich munter und sanft sind, und er sagt mir, dass seit der Schliessung der Tore die Moral der Armee und der Mobilen vollständig geändert ist, dass die Entmutigung und die Demoralisation immer wieder in die Armee hineingetragen wurde von den Marodeuren und den Dirnen, die von den Franzosen zu den Preussen gingen und von den Preussen wieder zu den Franzosen zurückkamen. Jetzt aber hätten die Leute Vertrauen und seien bereit, sich gut zu schlagen.

Dienstag, 29. November. – Das eingesalzene Fleisch, das einem die Regierung gibt, ist einfach nicht zu zerreissen, nicht zu essen. Ich bin gezwungen, einem meiner letzten Hühnchen den Hals abzuschneiden, mit einem japanischen Säbel. Es war etwas Abscheuliches, wie dieses arme kleine Huhn einen Augenblick im Garten ohne Kopf herumflatterte.

Heute scheinen sich alle Leute tief in sich zurückzuziehen. In den öffentlichen Fahrzeugen spricht kein Mensch, jeder verschliesst sich in sich selbst, auch die Frauen aus dem Volke haben gleichsam den Blick eines Blinden für das, was sich um sie herum zuträgt.

 

Bei Brébant spricht man heute von dem dunklen Elend, dem alle die Leute, die gestern noch recht gut gelebt haben, plötzlich verfallen sind. Charles Edmond erzählt, dass seine Frau, als sie gerade bei ihrem Schlächter war, dort eine Frau, die anständig und wie eine Dame der Gesellschaft gekleidet war, eintreten und für einen Sou Pferdefleischabfälle verlangen sah. Und als Frau Edmond ihr ein Geldstück in die Hand legte, brach die Frau zum Dank in Tränen aus.

Dann spricht man von der nervösen Ueberreizung des Weibes, von den Wahnvorstellungen, die durch die Ereignisse hervorgerufen werden, dass man Angst haben müsse, Frauenrevolten würden zu unterdrücken sein.

Dann bringen die Drohungen der Zukunft das Gespräch auf die Verbannung, die das Los vieler, die heute hier speisen, sein könnte.

Und diese Perspektive lässt die einen sagen, dass die Verbannung das Todesurteil sei, so wie es auch die alten Römer auffassten, indes der Kosmopolit Nefftzer sagt, dass es gar keine Verbannung gibt.

Es ist wahrhaftig sonderbar, wie das Gefühl »Vaterland« manchen Menschen, und besonders den Denkern, den Idealisten, abgeht. In diesem Zusammenhang erzählt Renan, dass das Gefühl für das Vaterland in der antiken Welt etwas sehr Natürliches war, dass aber der Katholizismus das Vaterland verpflanzt hat, und so wie der Idealismus der Erbe des Katholizismus ist, dürften die Idealisten keine so engen Bande an den Erdboden haben, keine so elend ethnographischen Bindungen wie die: »Vaterland«. – »Das Vaterland der Idealisten«, ruft er aus, »ist das Land, in dem man ihnen zu denken erlaubt.« Unter den nervösen Unterbrechungen Berthelots spürt er, hingerissen von der Logik seiner Behauptungen, gar nicht, dass in der Tatsache einer fremden Herrschaft etwas ist, was die Herzen der Patrioten entrüstet, empört, zu Zorn und Aufstand reizt.

Wahrhaftig, ich entdecke, dass meine Freunde der Menschheit zu sehr überlegen sind, und fast zornig gehe ich von Brébant weg.

Dienstag, 6. Dezember. – Heute steht auf der Karte des Restaurants Büffel, Antilope, Känguruh – Das ist authentisch! ...

Im Freien sieht man heute abend bei jedem Licht, bei jedem blassen Schein improvisierter Gaslaternen Gestalten, die sich voll Schrecken über Zeitungsblätter beugen. In ihnen steht die Nachricht von der Niederlage der Loirearmee und der Wiederbesetzung Orléans'.

Donnerstag, 8. Dezember. – Wenn die Republik Frankreich rettet – ich will noch nicht an meinem Lande verzweifeln – so wird man wissen müssen, dass Frankreich nicht dank der Republik, sondern trotz der Republik gerettet sein wird. Die Republik wird uns nichts anderes gebracht haben als die Unzulänglichkeit ihrer Männer, die hohltönenden Proklamationen Gambettas, die Schwächlichkeit der Bataillone von Belleville. Sie wird durch Ernennungen à la Garibaldi die Desorganisation in die Armee getragen haben, den nationalen Widerstand durch den Schrecken ihres Namens getötet, – und nicht ein Träger eines populären Namens wird auf einem Schlachtfeld zwischen einem Baroche und einem Dampierre für die Befreiung des Vaterlandes gefallen sein.

Die Männer, die hoch oben sind, sind jetzt weinerliche Advokaten; die, die unten sind, halsbrecherische Politiker, die in einer Regierung alles zerbrechen, ganz so, wie sie in einem Hause, das sie in der Uniform der Nationalgarde betreten, alles in Stücke schlagen. Nein, nein, hinter dem Wort Republik steht heute keine Religion mehr, kein Gefühl; und wäre es auch ein falsches Gefühl, so doch ein ideales Gefühl, das die Menschheit über sich selbst hinausträgt und sie fähig macht zu Grösse und Hingabe.

Donnerstag, 8. Dezember. – Man spricht nur noch von dem, was man isst, was gegessen werden kann, was sich an Essbarem findet.

»Wissen Sie, ein frisches Ei kostet fünfundzwanzig Sous.«

»Es scheint, dass es einen Mann in Paris gibt, der alle Kerzen in Paris aufkauft, sie ein wenig färbt und dann daraus das Fett herstellt, das man so teuer bezahlt.«

»Oh, hüten Sie sich vor Kokosbutter, davon stinkt ein Haus mindestens drei Tage.«

»Ich habe Koteletten aus Hundefleisch gesehen, wirklich appetitlich –! Es sieht ganz aus wie Hammelkoteletten!«

»Vergessen Sie nicht: bei Corcelet gibt es noch Tomatenkonserven!«

»Ich will Sie auf etwas sehr Gutes aufmerksam machen. Sie kochen Makkaroni, nehmen sehr viel Kräuter und machen einen Salat daraus. Was wollen Sie ... in dieser Zeit?«

Die Hungersnot steht am Horizont, und die eleganten Pariserinnen beginnen, ihre Ankleidezimmer in Hühnerställe zu verwandeln.

Es wird aber nicht nur die Nahrung fehlen, sondern auch das Licht. Das Brennöl wird immer seltener, die Kerzen gehen aus. Und was bei der jetzigen Kälte noch schlimmer ist: der Augenblick ist nahe, wo man weder Holzkohle, noch Koks, noch Holz bekommen wird. Wir schreiten der Hungersnot entgegen, dem Erfrieren, der Nacht entgegen, und die Zukunft scheint Leiden und Schrecken zu versprechen, wie sie noch keine Belagerung gesehen hat.

Samstag, 10. Dezember. – Es gibt nichts Entnervenderes als diesen Zustand, wo die Hoffnung ganz töricht zu glauben beginnt, einen Augenblick zu glauben an die phantastischen Enten, Lügen, Scheinwahrheiten des Journalismus, um dann sofort wieder in den Zweifel zu verfallen, in die Ungläubigkeit allem, was es auch sei, gegenüber.

Es gibt nichts Peinlicheres als diesen Zustand, wo man nicht weiss, ob die Provinzarmeen in Corbeil sind oder in Bordeaux, ja nicht einmal, ob diese Armeen überhaupt sind oder nicht sind; es gibt nichts Grausameres als in dieser Dunkelheit leben, in dieser Nacht, in dieser Unkenntnis des Tragischen, das einen doch bedroht. Es scheint wirklich, dass Herr von Bismarck ganz Paris in die Zelle eines Zuchthauses eingeschlossen hat.

Zum erstenmal bemerke ich an den Türen der Gemischtwarenhändler Reihen von Leuten, beunruhigende Reihen von Leuten, die sich ohne Wahl auf alles stürzen, was es an Konservenbüchsen in den Läden noch gibt.

In den Strassen wird zwischen Leichenzügen für die Verwundeten gesammelt, grosse Geistliche in Kutten, jenen ähnlich, die man in Italien zum Karneval anlegt, steigen bis zum zweiten Stockwerk in die Höhe, um die Wohltätigkeit der Leute, die an den Fenstern stehen, zu erbitten.

Man kann sich gar nicht vorstellen, wie provinzlerisch jetzt ein grosses Café in Paris aussieht. Woran das liegt? Vielleicht, weil die Kellner so selten sind, vielleicht, weil man immerzu dasselbe Zeitungsblatt liest; vielleicht liegt es auch an den Gruppen, die sich in der Mitte des Cafés bilden und von den Dingen sprechen, die sie wissen, so wie man in der Kleinstadt von den Lokalereignissen spricht; schliesslich liegt es sogar an der entsetzlichen Art, wie die Gäste heutzutage im Café gleichsam anwachsen, dort wo früher Leute mit der Leichtigkeit von Zugvögeln sich ein paar Augenblicke mit leichtsinnigen Gedanken zerstreuten, indes draussen das Vergnügen und die tausend Zerstreuungen von Paris schon auf sie warteten.

Alle Welt schmilzt förmlich zusammen, alle Welt magert ab. Man hört von den Leuten nichts als Klagen, sie müssten ihre Hosen enger machen lassen, auch Théophile Gautier jammert darüber, zum ersten Male in seinem Leben Hosenträger tragen zu müssen: sein Leib halte die Hose nicht mehr.

Wir beide gehen zusammen, Victor Hugo im Pavillon de Rohan einen Besuch machen. Wir treffen ihn in einem Zimmer des Hotels, dessen Zweck unbestimmt ist, das mit einem gelben Speisezimmerbuffet möbliert ist, als Schmuck des Kamins sind zwei Lampen aus gefälschtem chinesischen Porzellan da, als Mittelstück dazwischen eine vergessene Schnapsflasche. Der Gott ist von weiblichen Wesen umgeben. Ein ganzer Diwan voll Frauen ist da, die eine unter ihnen, die die Honneurs des Salons macht, ist ein altes Weib mit silbernem Haar, in einem Kleid, das die Farbe welken Laubs hat; sie zeigt sehr offenherzig ein grosses Stück ihrer alten Haut her: eine Frau, die etwas von der Marquise vergangener Zeiten hat und etwas von der Komödiantin von heute.

Ihn selbst, den Gott, finde ich heute alt: heute abend hat er rote Augenlider, den ziegelfarbenen Teint, den ich bei Roqueplan gesehen habe, Bart und Haare sind zerzaust. Ein rotes Wams geht über die Aermel seiner Jacke,und ein weisses Halstuch ist unordentlich um seinen Hals geschlungen.

Nach allerlei Hin- und Hergehen, nachdem Türen sich geöffnet und wieder geschlossen haben, Leute gekommen und wieder gegangen sind, u. a. Schauspielerinnen, die ein Stück aus den »Châtiments« auf dem Theater vortragen wollen, und mancherlei geheimnisvolle Dinge sich im Vorzimmer ereignet haben, lässt sich Hugo in einen Lehnstuhl fallen und beginnt mit langsamer Stimme, als gebe er die Frucht langen, mühseligen Nachdenkens, vom Mond zu reden, wie neugierig er immer gewesen sei, etwas Bestimmtes über die Mondlinien in allen Einzelheiten zu erfahren.

Er erinnert an eine Nacht, die er von Anfang bis zu Ende mit Arago im Observatorium verbracht hat. Er beschreibt die Fernrohre jener Zeit, die den Planeten nur auf eine Entfernung von neunzig Meilen dem Auge näherbringen konnten, »so dass man«, sagt er, »wenn dort ein Gebäude gewesen wäre« – und er gibt immer, wenn er von einem Gebäude spricht, Notre-Dame von Paris als Beispiel – »es nur wie einen Punkt hätte merken können. Heutzutage« – fügt er hinzu – »bei all den Vervollkommnungen, mit den metergrossen Linsen, müsse die Möglichkeit, sich dem Gestirn zu nähern, ungeheuer grösser sein. Es ist ja wahr, dass die ausserordentlichen Vergrösserungen auch die chromatischen Fehlerquellen vermehren sowie die Zerstreuung des Lichts und das Irisieren der Konturen des Objektes, aber das macht alles nichts, die Photographie müsste uns doch Besseres geben als die heutigen ›Bergkarten‹.«

Dann kommt, ich weiss nicht wie, das Gespräch vom Mond auf Dumas Vater, und Hugo erzählt Théophile Gautier: »Sie wissen, man sagt, ich sei in der Akademie gewesen ... und zwar sei ich dort gewesen, um die Ernennung Dumas' durchzusetzen. Ich hätte seine Wahl auch durchgesetzt, denn, schliesslich und endlich, ich habe Autorität über meine Kollegen. Aber im Augenblick waren in Paris nur dreizehn anwesend, und zu einer Wahl braucht man einundzwanzig Mitglieder der Akademie.«

 

Montag, 12. Dezember. – Pélagie hat heute einen Neffen zu Besuch gehabt, der Feldsoldat aus Paris ist und zurzeit auf der Hochebene von Avron im Lager ... Er erzählte ihr, so naiv wie nur irgend möglich, von seinen Plünderungen in den Häusern und Schlössern und sagt, die Offiziere drücken dabei ein Auge zu unter der Bedingung, dass man ihnen den besten Teil überlasse. Sie war ganz entsetzt über die schändliche Gesinnung, die er dort angenommen hat, und berichtete mir eine kuriose Einzelheit: sie alle hätten Sonden, um die falschen Mauern und die Verstecke, die man zum Schutz gegen die Preussen eingerichtet hat, zu »sondieren«. Unsere Soldaten haben also Sonden, um die Häuser, die sie verteidigen und bewachen sollen, besser berauben zu können!

Das hatte die Entrüstung dieser Tochter der Vogesen erregt, – ein Schrecken war ihr von diesem Besuch in den Gliedern stecken geblieben, weil sie gar nicht begreifen konnte, wie man so wenig an das Vaterland, an ihre vom Feinde besetzten Berge denken könne, – und dabei hatte dieser Mann gesagt, das »Metier« sei recht gut, abgesehen von der unerhörten Angst, getötet zu werden ...

Dienstag, 13. Dezember. – Bei Brébant erzählt man, wie die Vorstadtbevölkerung die Häuser, in denen man sie untergebracht hat, zerstört. Du Mesnil berichtet, dass einer dieser Flüchtlinge aus dem Hause, das er bewohnt, eine Lumpenhöhle gemacht hat. Ein zweiter hat aus einem anderen Hause ein Bordell gemacht, nicht etwa ein heimliches, sondern ein ganz schändlich öffentliches, so wie eine grosse 8 der Avenue de Vincennes ... Und dann fängt Renan an, das Unmögliche vorauszusagen, das Chimärische zu prophezeien.

Donnerstag, 15. Dezember. – Heute abend speiste ich bei Voisin. Während des Essens hörte ich einen Herrn zu seinem Tischnachbarn sagen: »Ich hätte gern Nachrichten von meiner armen Frau: denken Sie nur, seit September weiss ich nichts von ihr ...« Dann geht »der Mann der armen Frau«, als er mit seinem Diner fertig ist, fort. Ein paar Augenblicke später kommt ein Gast und setzt sich an den Tisch meines Nachbars, den er kennt. »Stellen Sie sich vor,« sagt mein Nachbar zu dem Neuangekommenen, »X ... war eben da und beklagte sich, dass er keine Nachricht von seiner Frau habe. Ich wusste nicht, was ich ihm antworten solle.«

»Ja,« antwortet der andere, mit vollem Mund, »sie ist gestorben, in Arcachon.«

»Ganz recht; aber er weiss nichts davon.«

Ist das nicht grässlich, diese Ungewissheit über Leben oder Tod der Menschen, die man liebt?

Freitag, 16. Dezember. – Heute die offizielle Nachricht der Einnahme Rouens.

Ich bin von einer geradezu törichten Liebe zu meinen Sträuchern erfasst, verbringe Stunden, die Gartenschere in der Hand, damit, alten Efeu von seinen kleinen Reisern zu befreien und zu putzen, Veilchenbeete auszujäten, für sie die rechte Mischung aus Gartenerde und Dünger zusammenzustellen – und das im Augenblick, wo die Kruppschen Kanonen aus meinem Haus und meinem Garten eine Ruine zu machen drohen. Es ist zu dumm! Der Kummer hat mich verblödet, mir die Narrheit eines alten, von seinen Geschäften zurückgezogenen Krämers geschenkt. Ich fürchte, in meiner Literatenhaut steckt nur noch ein Gärtner.

Sonntag, 18. Dezember. – Heute ist Konzert in der Grossen Oper, und ich bemerke, dass alle die Händler ermässigter Karten in der Uniform der Nationalgarde stecken.

Dienstag, 20. Dezember. – Ich weiss nicht, woran es liegt, aber das Fehlen des roten Fleisches, das Fehlen des nahrhaften Elements in dieser aufgebrühten Konservensauce, das Fehlen des Stickstoffs, kurz das Elende, Unwirkliche, Sophistische alles dessen, was die Restaurants jetzt seit sechs Monaten einem zu essen geben, lässt mich in einem Zustand steter Unbefriedigung des Hungers. Man hat immer einen dumpfen Hunger, was immer man auch isst.

Seit der Belagerung scheint mir der Gang des Parisers ganz verändert. Er war gut, dieser Gang, immer ein wenig hastig, aber man fühlte doch das Vergnügte, das Bewegte, das Leichtfertige, das Ziellose. Heute geht alle Welt wie ein Mann, der es eilig hat, nach Haus zu kommen.

Donnerstag, 22. Dezember. – Ganz Paris ist ein Jahrmarkt, und alles wird auf allen Trottoirs von Paris verkauft. Man verkauft da Gemüse, man verkauft Muffe, man verkauft Lavendel, man verkauft Pferdefett.

Die Belagerung steigert die Phantasie der Gauner. Heute erwartete Magny vergeblich einen Offizier, der bei ihm ein Diner für zwölf Kameraden bestellt hatte. Er hatte Fisch, Geflügel, Trüffeln verlangt. Und die ganze Bestellung war nur gemacht worden, um den Kutscher, der den Offizier zu Magny gebracht hatte, um fünf Franken zu prellen.

Sonntag, 25. Dezember. – Es ist Weihnachten. Ich höre einen Soldaten sagen: »Weihnachtsfest? Bei uns sind fünf Soldaten im Zelt erfroren.«

Was für sonderbare Wandlungen hat der Handel mitgemacht, was für bizarre Umformungen die Läden! Ein Juwelier der Rue de Clichy stellt jetzt in Schmucketuis frische Eier, in Watte gewickelt, aus.

Paris hat jetzt eine hohe Sterblichkeit. Sie ist nicht nur die Folge des Hungers. Die Toten sind auch nicht nur Kranke und Kränkliche, die die beschränkte Nahrung und die beständigen Entbehrungen zugrunde gerichtet haben. Sehr viel trägt zu dieser Sterblichkeit der Kummer bei: der Zwang sein Heim einzubüssen, das Heimweh, die Sehnsucht nach dem Fleck Sonne, den die Bewohner der Umgebung von Paris hatten. Unter der kleinen Flüchtlingskolonie aus Groissy-Beaubourg (höchstens fünfundzwanzig Personen) gibt es schon fünf Tote.

Montag, 26. Dezember. –- Man hat für den immer schlecht befriedigten Appetit der Pariser ein neues Nahrungsmittel entdeckt: nämlich das Arsenik. Die Zeitungen sprechen mit einer gewissen Nachgiebigkeit von der Elastizität, die dieses Gift den Gemsjägern der Steiermark gibt, und bieten als Dejeuner die Arsenpille irgendeines Doktors an.

In den Strassen der Umgebung der Avenue de l'Impératrice stosse ich auf eine drohende Menge; in ihrer Mitte entsetzliche Köpfe alter Weiber, noch liebenswerter gemacht durch grosse Strohhüte, so dass sie aussehen wie die Furien der Kanaille. Sie drohen, ein Ende zu machen den Nationalgarden, die man als Wachtposten die Rue des Belles Feuilles absperren sieht.

Es handelt sich um ein Holzdepot, das den Zweck hat, für die Erzeugung von Kohle zu sorgen, und das man zu plündern begonnen hatte. Die Kälte, der Frost, der Mangel an Brennmitteln, mit denen man die magere Fleischration, die ausgeliefert wird, wärmen könnte, hat diese weibliche Bevölkerung in Wut versetzt, so dass sie sich nun auf die Gitter, die Balken stürzt und alles, was unter ihre zornigen Hände kommt, fortreisst. Sie werden in ihrem Zerstörungswerk unterstützt von abscheulichen kleinen Jungen, die einander Leiter stehen im Kampf gegen die Sträucher der Avenue de l'Impératrice und dort alles, was sie erreichen können, zerbrechen und hinter sich ein kleines Bündel herschleifen, das an einen Strick angebunden ist, den ihre in die Tasche gesteckte Hand hält. Wenn dieser furchtbare Winter andauert, werden alle Bäume von Paris dem dringenden Bedürfnis nach Wärme zum Opfer fallen.

 

Dienstag, 27. Dezember. – Die erste Zeitung, die ich heute in die Hand bekomme, teilt mit, dass das Bombardement begonnen hat.

Man weiss heute abend bei Brébant nichts, als was im militärischen Tagesbericht der Abendzeitungen auch steht. Man spricht von der Beschiessung und meint, dass sie für den Augenblick eher die Leute nervös machen soll, als die Pariser Bevölkerung wirklich erschrecken – was übrigens im Gegensatz zu der Ansicht einer deutschen Zeitung steht, die findet, dass nun der psychologische Moment für das Bombardement gekommen ist. Der »psychologische Augenblick« für die Beschiessung – ist das nicht ausgesprochen deutsch?

Man plaudert auch über die Untätigkeit der Regierung, die Unzufriedenheit, die in der Bevölkerung dadurch erregt wird, dass der General Trochu es an jeder Tat fehlen lässt, durch sein endloses Hinausschieben und die Nichtigkeit seiner Versuche und Anstrengungen.

Ein Gast erzählt, dass der General nicht das geringste militärische Talent hat, aber gewisse Gaben des Politikers und Redners. Da unterbricht Nefftzer, um zu erklären, dass das auch das Urteil ist, das Rochefort über ihn fällt, der viel mit ihm verkehrt hat und ihn sogar ein wenig bewundert. Die Beredsamkeit des Generals pflege zwar ein wenig in der Art des beredten Herrn Prudhomme zu beginnen, allein er werde schnell warm, und dann verwandle sich nach wenigen Augenblicken seine Sprache in eine wirklich fortreissende und überzeugende Rede.

Von Trochu springt das Gespräch auf die politische Ehrenhaftigkeit, und bei diesem Anlass zeigt sich Nefftzer sehr hart gegen Jules Simon, von dem er etwas erzählt, was er sein »Volteschlagen« mit Eiden nennt; er macht sich lustig über den groben Charlatanismus seiner Vorträge und fragt mich, augenblinzelnd, nach meinem Eindruck. Ich antworte, dass ich Jules Simon gar nicht kenne, dass ich absolut nichts von seinem Leben weiss, und dass ich trotzdem ein ganz unbestimmtes Gefühl des Misstrauens gegen ihn habe, und zwar nur, weil er so viele moralische Bücher geschrieben hat: »Die Pflicht«, »Die Arbeiterin« usw.! Ich halte das für eine offenbare Ausbeutung der sentimentalen Ehrenhaftigkeit des Publikums, und ich füge hinzu, dass unter den Literaten, mit denen ich im Leben zusammengekommen bin, ich nur einen einzigen ganz reinen Menschen kenne, einen, der wirklich im höchsten Sinne des Wortes rein ist, nämlich Flaubert, der bekanntlich die Gewohnheit hat, sogenannte »unmoralische« Bücher zu schreiben. Daraufhin vergleicht jemand Jules Simon mit Cousin, und das gibt Renan den Anlass, Lobreden auf den Minister zu halten – sehr schön, auf den Philosophen – ich enthalte mich aus guten Gründen jeder Meinung, schliesslich gar auf den Literaten und ihn als ersten Schriftsteller des Jahrhunderts zu proklamieren – um Gottes willen!

Diese Ansicht bringt uns, Saint-Victor und mich, gegen ihn auf zu heftigem Widerspruch, und das führt eine Diskussion herbei, und zwar kommt Renans Lieblingsbehauptung wieder aufs Tapet: dass man heutzutage nicht mehr »schreibt«, dass die Sprache sich auf den Wortschatz des siebzehnten Jahrhunderts beschränken müsse, dass, wenn man schon das Glück habe, eine klassische Sprache zu besitzen, man sich an sie halten müsse, dass es gerade im gegenwärtigen Augenblicke notwendig sei, sich eng an diese Sprache zu halten, die Europa erobert hat – dass man in ihr, und nur in ihr, das Vorbild für unseren Stil suchen müsse.

Man ruft ihm zu: »Siebzehntes Jahrhundert – ja, von welcher Sprache reden Sie denn da? Ist es die Sprache Massillons? die Sprache Saint-Simons? die Sprache Bossuets? Ist es die Sprache der Mme. de Sévigné, die Sprache La Bruyères? In diesem Jahrhundert gibt es ja so viele verschiedene, ja einander entgegengesetzte Sprachen!«

Ich werfe ihm entgegen: »Jeder sehr grosse Schriftsteller jeder Zeit kann nur daran erkannt werden, dass er eine persönliche Sprache hat, eine Sprache, die auf jeder Seite, jeder Zeile so sehr sein Gepräge trägt, dass es für den gebildeten Leser ist, als stünde am Ende der Seite, am Ende der Zeile der Name als Unterschrift! Mit Ihrer Theorie aber verdammen Sie das neunzehnte Jahrhundert – und alle folgenden – dazu, keine grossen Schriftsteller mehr zu haben.«

Renan entzieht sich nach seiner Gewohnheit der Diskussion, rettet sich mit einem Lob der Universität, die den Stil wiederhergestellt hat, die, wie er sich ausdrückt, die »Kasteiung« der Sprache die durch die Restauration verdorben worden war, ins Werk gesetzt hat; er erklärt, dass Chateaubriand schlecht geschrieben hat.

Ausrufe und Beschwörungen begraben dieses bourgeoise Wort des Kritikers, der in Vater Mainbourg einen guten Schriftsteller entdeckt und die Prosa der »Mémoires d' Outre-Tombe« entsetzlich nennt.

Renan kommt von Chateaubriand wieder auf seine fixe Idee, dass der Wortschatz des siebzehnten Jahrhunderts alle Ausdrücke enthält, die man heutzutage braucht, sogar die politischen, und er setzt den Plan auseinander, für die Revue des deux Mondes einen Artikel zu schreiben, in dem jedes Wort aus dem Wortschatz des Kardinals de Retz stammen soll; er bleibt recht lange bei seinem Einfall, und seine Worte gehen immer wieder um diese elende Chinoiserie herum.

Indessen konnte ich mich nicht enthalten, innerlich zu lachen, weil ich an ein »Wort des siebzehnten Jahrhunderts« denken musste, nämlich an das Wort »gentleman«, mit dem Renan den sakrosankten »chic« Jesu Christi zu charakterisieren versucht hat!

Die Diskussion wird schliesslich unterbrochen durch den Bericht über ein Dejeuner des Mathematikers Bertrand auf der Ebene von Avron, in jenem Augenblick, wo man den Auftrag gab, die Mauer der Maison Blanche zu zerstören, und zwar vermutete man, dass diese Unternehmung ein Dutzend Menschen kosten würde. Bertrand sagte, dies sei die Gelegenheit, Dynamit zu verwenden, es sei ein Mittel, Menschen zu sparen.

»Haben Sie welches in der Tasche?« wird er gefragt.

»Nein, aber wenn Sie mir ein Pferd geben wollen, sollen Sie in zwei Stunden haben, was Sie brauchen.«

Man hatte Eile, und so blieb es bei dem Vorschlag.

30. Dezember. – Erst heute wird das Verlassen der Ebene von Avron offiziell bekannt gegeben; die törichten Berichte darüber haben aber den energischen Entschluss zum Widerstand getötet. Die Idee sich zu ergeben, bevor der letzte Bissen Brot aufgegessen ist – eine Idee, die gestern noch gar nicht existierte, – ist ins Hirn des Volkes jetzt eingedrungen. Man kündigt heute den Einmarsch der Preussen einfach im voraus für einen dieser Tage an. Was vorgeht, verrät eine solche Unfähigkeit der Massgebenden, dass sich das Volk leicht täuschen und die Unfähigkeit für Verrat halten kann. Und wenn das geschieht, welche Verantwortung trifft vor der Geschichte diese Regierung, diesen Trochu, der – mit so vollständigen Waffen zum Widerstand ausgerüstet, mit der Riesenarmee von einer halben Million Männern, ohne Schlacht, ohne den kleinsten Sieg, ohne die kleinste mutige Tat, ja sogar ohne einen grossen, wenn auch unglücklichen Versuch, kurz und gut ohne irgend etwas Intelligentes oder Kühnes oder blind Heldisches – diese Verteidigung zur schmählichsten aller geschichtlichen Zeiten gemacht hat, zu jener, die am lautesten den militärischen Verfall des heutigen Frankreichs erweist.

Wahrlich, Frankreich ist unselig! Alles ist gegen uns; wenn die Beschiessung und der Frost anhalten, wird es auch kein Wasser mehr geben, um Brände zu löschen. Das Wasser in den Leitungen der Häuser bis zu den Kaminen ist beinahe Eis.

Samstag, 31. Dezember. – Das Pferdefleisch ist ein Fleisch der bösen Träume und des Alpdrucks. Seit ich es esse, habe ich nur noch schlaflose Nächte.– – – – – – – – – – –

Die Neugier treibt mich, zu Roos, dem englischen Schlächter auf dem Boulevard Haussmann, hineinzugehen. Ich sehe dort alle möglichen bizarren Ueberbleibsel. An der Mauer ist auf einem Ehrenplatze der Rüssel des jungen Pollux, des Elefanten aus dem Jardin de l'Acclimatation, aufgehängt, und zwischen allerlei anonymen Fleischsachen und exzentrischen Hörnern bietet der Lehrling Kamelnieren an.

Der Meister selbst hält, umgeben von einem Kreis von Frauen, eine Rede: »Vierzig Franken das Pfund Filet und der Rüssel ... Ja, vierzig Franken ... Sie finden das teuer? Gut, ich aber weiss nicht, wie ich dabei auf meine Rechnung komme ... Ich rechnete auf 3ooo Pfund, und er hat nur 2300 ergeben ... Die Füsse ... Sie fragen nach dem Preis der Füsse? 20 Franken ... Die andern Stücke zwischen 8 und 40 Franken ... Ah, gestatten Sie mir, Ihnen diese Blutwurst aufs wärmste anzuempfehlen. Das Blut des Elefanten ist, wie Sie wohl wissen, das ergiebigste Blut ... Sein Herz, wissen Sie, wog fünfundzwanzig Pfund. Und ausserdem, meine Damen, ist in meiner Blutwurst sogar Zwiebel drin ...«

Ich handle schliesslich zwei Lerchen ein, die ich für morgen zum Frühstück heimbringe.

Beim Hinausgehen bemerke ich einen bärtigen Mann, der um die einzige Ente, die in der Auslage des Fruchthändlers der Rue Saint-Honoré zu sehen ist, feilscht. Es ist Arsène Houssaye.

Er beklagt sich auf drollige Art über das geringe Wissen der Mitglieder der Regierung und zitiert mir das hübsche Wort Mornys, der, gelangweilt durch die Ansprüche der Journalisten, die alles leiten und beherrschen wollen, sagte: »Eure Journalisten – ja, die sind ja nicht einmal Minister gewesen!«

Dann spricht der Dichter von dem finanziellen Untergang Frankreichs und wiederholt ein Wort Roulands, das eben erst, heute früh, gesprochen worden ist: »Wenn man bisher das Vermögen Frankreichs auf fünfzehnhundert Milliarden geschätzt hat, so muss man annehmen, dass es seit heute früh auf neunhundert gesunken ist.«

Das Neujahrsfest von Paris besteht in diesem Jahr aus einem Dutzend elender Kramladen, die da und dort über den Boulevard zerstreut sind, und in denen vor Kälte klappernde Händler den erfrorenen Passanten Karikaturen von Bismarck als Hanswurst anbieten.

Heute abend bei Voisin sehe ich die berühmte Elefantenblutwurst wieder und esse davon.


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