Nikolai Gogol
Tote Seelen
Nikolai Gogol

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Zweites Kapitel

Länger als eine Woche schon weilte der Fremde in der Stadt, wo er die Zeit mit Abendgesellschaften und Mittagessen äußerst angenehm verbrachte. Endlich beschloß er aber doch, den Schauplatz seiner Tätigkeit über das städtische Weichbild hinaus zu erweitern und versprochenermaßen die beiden Gutsbesitzer Manilow und Sabakewitsch heimzusuchen. Vielleicht hatte er damit noch etwas ganz Besonderes vor, vielleicht barg sich dahinter ein bestimmter Plan, der ihm aus unbekannten Gründen stark am Herzen lag . . . Aber das alles wird der wohlgeneigte Leser schon zu seiner Zeit erfahren, vorausgesetzt, daß er beim Lesen dieses Buches bloß unterwegs nicht die Geduld verliert. Denn ziemlich lang wird die Geschichte, und um so breiter strömt ihr Lauf dahin, je mehr sie sich dem Ende nähert, das das Werk bekrönen soll.

Der Kutscher Selifan hatte Befehl erhalten, bereits in aller Morgenfrühe die Pferde vor die uns ja schon bekannte Halbchaise zu spannen. Petruschka sollte zu Hause bleiben und dort das Zimmer und das Felleisen bewachen.

Aber der wißbegierige Leser hat wohl ein Recht darauf, die beiden Leibeigenen unseres Helden noch ein wenig näher kennen zu lernen. Sie sind zwar keine fesselnden Persönlichkeiten, sie spielen Nebenrollen zweiten, wenn nicht dritten Ranges, sie stehen in keiner engeren Verbindung mit den Rädchen und Federn in dem Uhrwerk dieser Dichtung, sondern sie werden von ihnen nur hie und da flüchtig berührt und für ein Weilchen mit in Gang gesetzt, doch der Verfasser schwärmt nun einmal sehr dafür, genau bis in die kleinste Einzelheit zu sein, und hat, trotzdem er ein geborner Russe ist, den Ehrgeiz, hier nicht weniger Gründlichkeit zu zeigen als der gewissenhafteste Pedant von einem Deutschen.

Übrigens wird das nur wenig Zeit und Raum in Anspruch nehmen. Denn es ist nicht gar viel zu dem hinzuzufügen, was der geneigte Leser ohnehin schon weiß: daß Freund Petruschka einen recht ausführlichen zimtbraunen Rock trug, der wohl früher einmal seinem Herrn gehört hatte, und daß er, wie seinesgleichen meistens, eine klobige Nase und wulstige Lippen im Gesicht hatte. Man durfte ihn eher wortkarg als geschwätzig nennen; doch war er von gewaltigem Bildungseifer beseelt, das heißt, er las ums Leben gerne Bücher, deren Inhalt ihm weiter aber nicht viel Kopfzerbrechen machte. Ob es die Abenteuer eines irrenden Ritters und Herzenbrechers waren, oder eine Kinderfibel, oder ein Gebetbuch, – das blieb sich für ihn gleich; er schlang das alles mit derselben andächtigen Aufmerksamkeit in sich herein. Wäre ihm einmal zufällig ein Lehrbuch der Chemie untergekommen, – so hätte er auch das nicht von der Hand gewiesen. Ihn fesselte ja nicht so sehr der Inhalt dessen, was er las, sondern vielmehr das Lesen selbst, präziser ausgedrückt, der wundersame Umstand, daß sich die Buchstaben doch immer wieder zu einem Worte fügten, von dem nun freilich oftmals der Teufel selbst nicht wissen konnte, was sich dahinter für ein Sinn verbarg. Petruschka las zumeist im Liegen, in seinem kleinen Vorraum, auf dem Feldbett, dessen Matratze eben infolge dieser Leidenschaft ganz flachgelegen und so dünn wie eine jüdische Mazze geworden war. Außer der Lesewut hafteten dem Bedienten noch zwei charakteristische Eigentümlichkeiten an: er schlief zur Nacht stets in den Kleidern, so wie er ging und stand, und tat nicht einmal den mehrfach schon erwähnten Rock von sich, und er war ferner von einem sehr persönlichen Arom umwittert, einem nur ihm allein gehörenden Geruch, der etwa an die Luft in lange Zeit und dicht bewohnten Räumen erinnerte. Sobald er irgendwo, und mochte auch das Zimmer seit der Erbauung immer leergestanden haben, sein Lager aufschlug und daneben seinen Mantel und die sonstigen Habseligkeiten unterbrachte, – dann hätte gleich ein jeder schwören mögen, in diesem Zimmer hause seit zehn Jahren eine zahlreiche Familie, die niemals ein Fenster öffne. Tschitschikow, der ein recht heikler, in mancher Hinsicht wohl auch übertrieben heikler Herr war, schnüffelte, wenn ihm des morgens früh, auf nüchterne Nase sozusagen, Petruschka in den Wurf kam, nach ihm hin und brummte kopfschüttelnd:

»Hol dich der Teufel, Kerl, du transpirierst schon unverschämt. Wär' höchste Zeit für dich, ein Bad zu nehmen.«

Petruschka erwiderte auf so etwas kein Wort und machte sich beflissen an irgendeine Arbeit: entweder fiel er mit der Bürste über den Frack seines Gebieters her, oder er räumte einfach irgend was von einem Platz auf einen andern. – Was dachte sich der Gute wohl in seinem Sinn, wenn er so, voll Verachtung schweigend, Tätigkeit markierte? Mag wohl sein, daß seine Meinung lautete: – Na, du bist auch 'ne Nummer! Daß dir das selber nicht zum Hals herauswächst, – jeden Morgen, den Gott werden läßt, die alte Leier . . .!

Wer kann enträtseln, was sich so ein leibeigener Diener denkt, wenn ihm sein Herr den Text liest! So, das wäre wohl das Wichtigste, was auf den ersten Anhieb von dem wackeren Petruschka zu vermelden ist.

Ein Mensch von gänzlich anderm Schlag war Selisan, der Kutscher . . . Aber wenn der Verfasser es sich näher überlegt, wagt er es doch nicht, seine lieben Leser jetzt noch des längeren mit solchen Leuten aus dem Volk zu langweilen, – weiß er doch ganz genau, wie wenig angenehm ein besseres Publikum der Umgang mir derartigem Pack bedünken muß. Das liegt nun einmal in der russischen Natur: der Russe brennt darauf, mit Leuten bekannt zu werden, die mindestens um eine Stufe höher auf der Gesellschaftsleiter stehen als er selbst: ein flüchtiges Grußverhältnis mit einem Grafen oder Fürsten wiegt ihm schwerer als jede Busenfreundschaft mit einem Bürgersmann. Den Autor plagen da sogar recht ernsthafte Bedenken von wegen seines Helden selber, der es ja leider auch bloß bis zum Kollegienrat gebracht hat. Hofräte werden es vielleicht noch nicht für einen Raub erachten, Bericht von seinen Taten zu erhalten; aber ein Staatsrat, – lieber Gott, ob der nicht schon in kühlem Stolz und Hochmut auf unseren Freund hinunterschaut wie auf ein still im Staube kriechendes Insekt, oder ihn gar, was für den Autor einfach tötlich wäre, vollkommen ignoriert und schläfrig über ihn hinwegliest? – Aber so bitter kränkend auch das eine wie das andre für uns wäre, – es kann nichts nützen: unsre Pflicht ruft uns zurück zu unserm Helden.

Tschitschikow hatte die nötigen Befehle abends zuvor erteilt. Er fuhr in aller Morgenfrühe aus dem Schlaf, wusch sich und rieb sich mit dem feuchten Schwamm am ganzen Körper ab, was er nur Sonntags tat – woraus man sehen kann, daß heute Sonntag war –, hierauf rasierte er sich so genau, daß seine Wangen es an Glanz und Glätte mit reinseidnem Atlas aufnahmen, zog seinen preißelbeerroten Frack mit helleren Pünktchen an und über ihn den Bärenpelz, dann stieg er, von dem Kellner dienstfertig umschwänzelt, ins Erdgeschoß hinab und setzte sich in seine Chaise. Mit Donnergepolter rollte der Wagen zum Torweg hinaus. Ein Pfarrer, der des Weges kam, zog seinen Hut, und ein paar Jungen in sehr schmutzigen Hemden streckten bettelnd die Hände aus: »Ach, lieber Herr, mein Vater ist tot, und meine Mutter ist krank . . .!« Der Kutscher zog einem von ihnen, der hinten aufspringen wollte, eins mit der Peitsche über; und nun ging's holterdipolter über die Kopfsteine dahin. Freudig begrüßt, tauchte zum Glück schon bald von fern der in den Landesfarben buntgestreifte Schlagbaum auf und tat zu wissen, daß nunmehr, wie schließlich jedes Leid auf dieser Welt, über ein kurzes auch das Pflaster der Provinzialhauptstadt ein Ende nähme. Tschitschikow stieß mit dem Kopf noch ein paarmal empfindlich an das Wagenverdeck und rollte dann auf weichem Boden hin. Kaum war man aus der Stadt heraus, da dehnte sich zu beiden Seiten, wie das bei uns nicht anders ist, das wohlbekannte Panorama von Häßlichkeit und Langeweile: Grashümpel, Tannenwäldchen, kümmernde Krüppelkiefern, verkohlte Stümpfe größerer Bäume, ruppiges Heidekraut und derlei gottverlassenes Zeug. Die Dörfer waren in geraden Zeilen angelegt, die Häuser glichen altersgrauen Brennholzstapeln. Von den bemoosten Dächern hingen als Schmuck grob ausgesägte Bretter nieder, die nach Gestalt und Mustern an primitiv bestickte Handtücher gemahnten. Hie und da saß wohl ein Bauer im Schafpelz gähnend auf der Bank vor seiner Tür. Und aus den oberen Fenstern schauten Weiber mit schwammigen Gesichtern und brettflach geschnürten Brüsten; zu den unteren streckte neugierig ein Kalb den Kopf hervor, oder ein Schwein den blinden Rüssel. Kurz: das bekannte Bild.

Als sie am fünfzehnten Werstpfosten vorbeigefahren waren, überlegte sich Tschitschikow, daß er nach der Beschreibung von Manilow bald auf dessen Gut ankommen müßte; doch auch der sechzehnte Werstpfosten flog vorüber, und von einem Gutshofe war weit und breit nichts zu erblicken. Und wären nicht zwei Bauern jetzt des Wegs gekommen, so hätten unsere Reisenden wohl niemals an ihr Ziel gefunden. Auf ihre Frage, ob es noch weit sei bis zu dem Gute Samanilowka, zogen die Bauern ihre Mützen, und der eine, ein Mann mit einem schmalgeschnittenen Bart, und offenbar der klügere von den zweien, erwiderte:

»Du meinst doch wohl: Manilowka, – nicht Samanilowka?«

»Na schön, Manilowka!«

»Manilowka, jawohl, so heißt es! Wenn du jetzt noch eine Werst so weiterfährst, dann hast du es auch schon; nämlich, dann biegst du rechts ab.«

»Rechts also?« fragte Selifan.

»Rechts, jawohl,« sagte der Bauer. »Da bist du dann schon auf der richtigen Straße nach Manilowka; aber ein Samanilowka gibt es hier überhaupt nicht. So und nicht anders heißt es, weil nämlich der Name von dem Gut so ist: Manilowka; aber ein Samanilowka gibt es hier in der ganzen Gegend nicht. Da oben auf dem Berge siehst du dann schon das Haus, es ist von Stein und zwei Stock hoch, – es heißt das Herrenhaus, weil nämlich der Herr drin wohnt. Und das ist dann Manilowka; aber ein Samanilowka gibt es hier nämlich gar nicht und hat es auch noch nie gegeben.«

So ging die Forschungsreise nach Manilowka denn weiter. Sie fuhren erst zwei Werst, da zweigte rechterhand ein Feldweg ab; aber dann fuhren sie wieder zwei Werst, und drei und vier, doch von dem zweistöckigen steinernen Herrenhaus war keine Spur zu sehen. Da gedachte Tschitschikow der alten Weisheitsregel: Lädt dich ein Freund aufs Land hinaus und spricht von fünfzehn Werst, so sind es reichlich dreißig Werst, die du zu fahren hast.

Man hätte schon eine schwärmerische Seele sein müssen, um durch die Lage des Gutshofes Manilowka entzückt zu werden. Das Herrenhaus stand mutterseelenallein auf einer Anhöhe, sämtlichen Winden schutzlos preisgegeben. Den Hang der Bodenwelle deckte geschorener Rasen. Darüber waren, nach englischem Geschmack, willkürlich ein paar Bosketts aus gelben Akazien und Flieder hingestreut. Kleinblättrige Birken mit kümmerlichen Wipfeln drängten sich da und dort zu Gruppen von sechs, sieben Stück zusammen. Zwei dieser Bäume beschirmten eine Laube mit flachem grünem Kuppeldach und blauen Holzpilastern, deren Gesims die Inschrift trug: »Tempel einsamer Träumerei«. Weiter den Berg herunter lag ein Teich, mit giftiggrüner Entengrütze überzogen, – was übrigens bei Teichen in den englischen Parken russischer Gutsbesitzer meist der Fall ist. Am Fuß der Höhe, teilweise noch am schrägen Hang, lagen die kreuz und quer sehr viele graue Blockhütten, die unser Held aus unbekannten Gründen gleich zu zählen anfing. Es waren ihrer gut zweihundert an der Zahl. Kein frisches Bäumchen und nicht eine Spur von Grün war zwischen ihnen zu erblicken, – nichts als die nackten Balken. Verschönert wurde das Bild der Landschaft durch zwei Weiber mit malerisch geschürzten und ringsum in ihre Gürtel eingesteckten Röcken. Die beiden wateten bis übers Knie im Teich und zogen an zwei Stangen ein vermorschtes Schleppnetz durch das Wasser, in dem zwei mittelgroße Krebse und ein silberblanker Plötz unruhig zappelten. Die Weiber hatten scheinbar eine kleine Meinungsverschiedenheit und schimpften heftig aufeinander ein. In der Ferne stand in langweiligem Dämmerblau ein Föhrenwald. Sogar das Wetter paßte merkwürdig gut zum Ganzen: der Himmel war nicht klar und nicht bedeckt, – er zeigte jenen unbestimmten Schimmer von Hellgrau, den man sonst nur an den verblichenen Uniformen unserer Garnisonssoldaten findet, dieses ganz ohne Zweifel nicht sehr kriegerischen, jedoch an Sonn- und Feiertagen ausgiebig besoffenen Truppenteils. Zur Vervollständigung des ländlichen Gemäldes fehlte auch nicht ein tüchtiger Wetterprophet von Hahn, der, ob ihm auch in Liebeshändeln der Kopf durch Schnäbelhiebe anderer Hähne bis auf das Hirn zerhackt war, mächtig krähte und dazu renommistisch mit den Flügeln schlug, die so verschlissen wirkten wie uralte Fußmatten.

Als er nun in den Hof bog, da erblickte Tschitschikow auf der Anfahrt des Herrenhauses den Gutsbesitzer in Person. Manilow stand in einem grünen Tuchrock da und schirmte seine Augen mit der Hand, um zu erkunden, was für ein Wagen da herankam. Je mehr die Chaise sich der Freitreppe näherte, desto heller erglänzten seine Augen, und desto breiter lächelte sein Mund.

»Herr Tschitschikow!« rief er dann endlich, als unser Held aus der Kalesche stieg. »Daß Sie uns doch nicht ganz vergessen haben!«

Die Freunde umarmten sich sehr herzlich, und Manilow führte den Gast ins Haus. Nun ist ja freilich die Zeit nur kurz, welche sie brauchen, um Flur, Empfangsraum und das Speisezimmer zu passieren, – versuchen wir es aber trotzdem, diese geschenkte Frist zu nutzen und ein paar Worte über den Herrn des Hauses einzuflechten. Aber da muß der Autor allerdings bekennen, daß dies ein ganz verteufeltes Stück Arbeit ist. Es ist viel leichter, einen Charakter von finsterer Größe darzustellen: da kannst du doch die Farben wie mit vollen Händen auf die Leinwand schmeißen, – kohlschwarze Feueraugen, zottige Brauen, gefurchte Stirn, dazu dann noch ein blutroter oder schwarzer Mantel kühn über eine Schulter arrangiert, – fertig ist das Porträt. Aber all diese andern Herren, die ohne Zahl auf Gottes Erde ihr Wesen treiben und sich bei flüchtiger Betrachtung frappierend ähnlich sehen, während doch jeder, wenn du ihn des näheren betrachtest, in tausend kaum faßbaren Besonderheiten von jedem andern abweicht, – die Herren sind für einen Porträtisten ein wahres Kreuz. Da darfst du deine Aufmerksamkeit krampfhaft zusammennehmen, um alle ihre kleinen, dem bloßen Auge beinah unsichtbaren Züge zu bemerken, darfst deinen in der Menschenkenntnis wohl geübten und geschärften Blick schon tief ins Innere dringen lassen.

Der liebe Gott allein mag wissen, wie Manilow im Herzensgrund beschaffen war. Es gibt so eine Sorte Menschen, von denen zwölf aufs Dutzend gehen, die weder dies noch das sind, weder Fisch noch Fleisch, wie es der Volksmund ausdrückt. Vielleicht gehörte auch Manilow zu der Sorte. Er sah gewiß nicht schlecht aus; seinen Zügen fehlte es keineswegs an Liebenswürdigkeit, doch war die Liebenswürdigkeit ein bißchen zu zuckersüß; aus seinen Redewendungen und seiner ganzen Art sprach ein gewisses Haschen nach Erfolg und Gunst. Er lächelte sehr liebenswürdig und war blondgelockt und blau von Augen. In der ersten Minute, die man mit ihm beisammen weilte, dachte man bei sich: »Was für ein netter und charmanter Kerl!« In der nächsten Minute dachte man gar nichts mehr, und in der dritten dachte man: »Mit dem kennt sich der Teufel aus!« und drückte sich schnellmöglichst. Und drückte man sich nicht, nun, dann verging man bald vor Langeweile. Nie hörte man von ihm ein lebhaftes oder gar wichtigtuerisches Wort, wie man es doch beinah von jedem Menschen hören kann, sobald die Rede darauf kommt, was sein besonderer Raptus ist. Kein Sterblicher ist schließlich ohne Steckenpferd: beim einen sind's die Windhunde; ein anderer hält sich für einen großen Musikverständigen und für befähigt, in alle Geheimnisse des Kontrapunktes einzudringen; der dritte ist ein Künstler im flotten Becherschwingen; der vierte gefällt sich darin, eine Rolle zu spielen, die wenigstens um eine Handbreit höher ist als die ihm vom Geschick beschiedene; der fünfte, dessen Wünsche enger begrenzt sind, träumt davon, stolz Arm in Arm mit einem Flügeladjutanten über die Promenade zu lustwandeln und damit seinen Freunden und Bekannten und auch ganz fremden Leuten ungemein zu imponieren; der sechste ist mit einer Hand begabt, die es fortwährend in den Fingern juckt, irgendeinem großen Tier oder einem bescheideneren Zeitgenossen »die Ohren langzuziehn«, während die Hand des siebenten den Drang verspürt, auf allen seinen Wegen Ordnung zu schaffen und sich zu dem Behuf an Postbeamten oder Droschkenkutschern zu vergreifen, – kurz, jeder Mensch hat seine kleine Schwäche, bloß Herr Manilow hatte nichts dergleichen.

Er verhielt sich zuhause meistens äußerst schweigsam und war gewöhnlich tief in grübelnden Gedanken; worum sich aber die Gedanken drehten, – auch das war wohl dem lieben Gott allein bekannt. Daß er sich eifrig mit der Wirtschaft beschäftigt hatte, läßt sich nicht behaupten. Er ritt das ganze Jahr hindurch kein einziges Mal auf seine Felder, – die Wirtschaft lief im ausgefahrnen Gleis von selber. Wenn der Verwalter kam und sagte: »Das oder jenes könnte man heut' machen,« so gab der Gutsherr ihm zur Antwort: »Ja, schon recht!« und sog an seiner Pfeife. Das Pfeifenrauchen war eine Angewohnheit von der Dienstzeit her, wo Herr Manilow als der bescheidenste, taktvollste und gebildetste Offizier des ganzen Regiments gegolten hatte. »Ja also, ist schon recht!« sprach er gemächlich zum Verwalter. Und kam von seinen Bauern einer zu ihm und kratzte sich den Kopf und fragte: »Gnädiger Herr, kann ich nicht morgen auswärts auf Arbeit gehn und mir das Geld verdienen für die Steuern?« so gab er ihm zur Antwort: »Meinetwegen schon!« und sog an seiner Pfeife. Fern lag ihm die Erkenntnis, daß der Kujon nur fortgehn wollte, um sich mal wieder tüchtig zu besaufen. Zuweilen, wenn Manilow von der Freitreppe über den Hof und den Teich weg ins Weite schaute, sprach er davon, wie praktisch es doch wäre, vom Haus aus einen unterirdischen Gang zu graben, oder eine steinerne Brücke über den Teich zu bauen, auf der dann rechts und links hölzerne Jahrmarktsbuden stehen müßten, in denen Händler zum Verkaufe stellen sollten, was so der Bauer an Kleinigkeiten braucht. Bei solchen Träumen wurden seine Augen zuckersüß, und seine Miene strahlte vor Entzücken. Übrigens kamen alle diese Projekte über das Stadium der Worte nicht hinaus. – In Manilows Kabinett lag mit einem bei Seite vierzehn eingelegten Zeichen ständig irgendein Buch, in dem er seit zwei Jahren las. In seinem Hause fehlte es immer irgendwo an irgend was; das Wohnzimmer hatte sehr schöne Möbel, die mit einem hochfeinen Seidenstoff bezogen waren, der sicher sein Stück Geld gekostet hatte; für zwei der Stühle aber hatte der Stoff nicht mehr gereicht, sie standen mit ihrem ganz gewöhnlichen Bastmattenüberzuge da. Durch mehrere Jahre machte der Hausherr jeden Gast eigens drauf aufmerksam und sagte: »Auf die zwei Stühle setzen Sie sich freundlichst lieber nicht, – sie sind noch nicht in Ordnung!« Ein andres Zimmer stand völlig leer, obgleich sich Herr Manilow schon in den ersten Tagen nach der Hochzeit des öfteren also geäußert hatte: »Du, Herzchen, morgen wird es Zeit, darüber nachzudenken, was wir von Möbeln zunächst mal provisorisch da in die Stube stellen.« Des Abends wurde ein Traum von einem Leuchter mit drei antikisierenden Grazien aus patinierter Bronze und einem eleganten Perlmutterschirm hereingebracht, und als Pendant dazu ein lahmer Kupferinvalide, der ganz verbogen und von oben bis unten mit Talg bekleckert war, was freilich weder dem Hausherrn, noch der Hausfrau, noch dem Gesinde irgendwie als störend aufzufallen schien. Manilows Frau . . . aber halten wir zunächst einmal das eine fest, daß dieses Ehepaar ganz prächtig harmonierte. Trotzdem schon bald neun Jahre seit der Hochzeit hingegangen waren, brachten sie sich immer noch hie und da ein Apfelschnitzchen, ein Stückchen Konfekt, ein Nüßchen und sagten mit so rührend sanfter Stimme, daß wirklich heiße Liebe daraus sprach: »Mach's Mündchen auf, mein Herzchen! Dann kriegt das Kind ein Guti-Gutchen.« Es braucht wohl kaum erwähnt zu werden, daß auf dergleichen Töne hin der Angeredete sein Mündchen mit höchster Anmut sehr weit aufriß. Zu den Geburtstagen überraschte man sich durch sinnige Geschenke, – so etwa durch ein Zahnbürstenfutteral in Perlenstickerei. Und saß das Pärchen still selbander auf dem Sofa, so legte er oft ohne besondere Veranlassung die Pfeife weg und sie die Handarbeit, wenn sie mit einer solchen beschäftigt war, und ihre Lippen fanden sich in einem so langen verliebten Kuß, daß einer währenddessen leicht eine kleinere Strohzigarre zu Ende rauchen konnte. Kurzum, sie waren, was man völlig glücklich nennt. Freilich hätte eine mißgünstige Seele einwenden können, daß es schließlich in einem Haushalt auch noch andere Dinge gibt, die fast genau so wichtig sind wie Fünfminutenküsse und Stickereien zum Geburtstag. Es drängten sich da manche Fragen auf. Zum Beispiel: warum das Essen bei Manilows so miserabel und trotzdem so wenig sparsam zubereitet war? Warum in ihrer Speisekammer diese Leere gähnte? Warum die Haushälterin wie eine Elster stahl? Weswegen das Gesinde so schmutzig und meistenteils betrunken war? Warum die Knechte und Mägde die halbe Arbeitszeit verschliefen und die übrige Zeit müßig herumlümmelten? – Aber, du lieber Gott, das sind verstimmend ordinäre Dinge, und Frau Manilow war so fein gebildet. Die feine Bildung erwirbt ein Wesen weiblichen Geschlechts bekanntlich nur in Pensionaten; und in den Pensionaten werden, wie man weiß, vor allem andern drei Disziplinen als Fundamente aller menschlichen Vollendung angesehen: französische Konversation, die ja für das Familienglück ganz unentbehrlich ist, Klaviergeklimper, das dem künftigen Gatten Minuten reinster Seligkeit bescheren soll, und schließlich der im engern Sinne hauswirtschaftliche Teil: das Häkeln von Geldbörsen und anderen sinnigen Geburtstagsgaben. Übrigens gibt es da neuerdings auch allerlei Variationen und fortschrittlich verbesserte Methoden, je nach den Kenntnissen und Fähigkeiten der Anstaltsleiterinnen. In manchen Pensionaten hält man es so, daß zuerst das Klaviergeklimper an die Reihe kommt, dann die französische Konversation, und als Krönung des Werkes endlich der hauswirtschaftliche Teil. Anderswo wieder kommt der hauswirtschaftliche Teil, das Häkeln von Geschenken, zuerst, nachher dann die französische Konversation, und als Krönung endlich das Klaviergeklimper. Ja, die Methoden sind verwirrend mannigfaltig. – Durchaus am Platze dürfte wohl noch die Bemerkung sein, daß Frau Manilow . . . aber ach, ich kann es nicht verhehlen: wenn ich von Damen reden soll, dann krieg ich's mit der Angst; und außerdem wird es für mich nun langsam höchste Zeit, zu unsern Helden heimzufinden, die sich schon seit ein paar Minuten vor der Wohnstubentür das Kreuz verrenken und einander aufs höflichste zum Vortritt nötigen.

»Ach bitte, sein Sie doch so gut und lassen Sie die Förmlichkeiten! Nach Ihnen!« sagte Tschitschikow.

»O nein, Herr Tschitschikow, o nein, Sie sind mein Gast,« entgegnete Manilow und zeigte auf die Tür.

»Ach bitte, machen Sie doch meinetwegen nicht Geschichten! Bitte, gehn Sie voran!« rief Tschitschikow.

»Nein, bitte um Entschuldigung, ich kann doch nicht vor so einem willkommenen und illustren Gast ins Zimmer gehn.«

»Wieso: illuster . . .? Ach bitte, gehn Sie doch voran!«

»Nein, bitte, gehen Sie voran!«

»Ja aber, warum?«

»Ganz einfach: darum!« sagte Manilow mit einem entzückend liebenswürdigen Lächeln.

Schließlich chassierten unsre beiden Freunde seitlings zur Tür hinein, Bauch leise gegen Bauch gedrückt.

»Darf ich Sie mit meiner Frau bekannt machen?« sagte Manilow. »Herzchen! Herr Tschitschikow!«

Richtig, da saß ja eine Dame! Tschitschikow hatte sie bisher vor lauter Komplimentemachen nicht bemerkt. Sie war eine recht hübsche Frau und reizend angezogen. Das Kleid aus ungebleichter Seide saß tadellos; die feinen, schlanken Finger warfen hastig die Handarbeit auf einen Tisch und griffen nach dem Tüchlein aus Batist mit den brodierten Ecken. Sie erhob sich von dem Sofa, auf dem sie saß. Tschitschikow küßte ihr genießerisch die Hand. Frau Manilow lispelte etwas davon, wie sehr sie beide sich über seine Ankunft freuten, und daß ihr Gatte Tag für Tag von ihm gesprochen hätte.

»Ja,« fiel Manilow ein, »und sie hat mich in einem fort gefragt: ›Was ist mit deinem Freund, daß er nicht kommt?‹ – ›Herzchen, laß dir nur Zeit,‹ hab' ich gesagt, ›er wird schon kommen.‹ – Nun, und jetzt schenken Sie uns endlich in der Tat die Ehre. Das ist uns eine solche Freude . . .! Sie bereiten uns damit einen wahren Maientag . . . einen . . . einen Geburtstag unserer Herzen . . .«

Da Tschitschikow so hohe Worte wie »Geburtstag unserer Herzen« hörte, wurde er ordentlich verlegen und wehrte bescheiden ab. Von dem, was man »Geburt« nennt, könne bei ihm ja keine Rede sein, und er besäße ja auch weder nennenswerten Rang, noch hohen Titel.

»Alles besitzen Sie!« so unterbrach ihn Herr Manilow mit seinem immer gleichen liebenswürdigen Lächeln. »Alles besitzen Sie! Und noch viel mehr als das!«

»Wie finden Sie denn unsere Stadt?« erkundigte sich Frau Manilow. »Und fühlen Sie sich wohl in ihr?«

»Ja, eine schöne Stadt, direkt bezaubernd!« rief Tschitschikow. »Ich fühl' mich dort ausnehmend wohl: so gastfreundliche Menschen!«

»Und wie gefällt Ihnen der Präsident?« erkundigte sich Frau Manilow.

»Nicht wahr, ein Ehrenmann vom rechten Schrot und Korn und ein vollkommner Kavalier?« fiel Herr Manilow ein.

»Das ist das Wort,« sagte Tschitschikow, »ein Ehrenmann vom rechten Schrot und Korn! Und diese hohe Auffassung, die er von seinem Amt hat! Gäb' es nur viele seinesgleichen!«

»Und, wissen Sie, wie er auch jeden zu nehmen weiß, und wie er, was er immer tun mag, den allerfeinsten Takt nie außer acht läßt!« bekräftigte Manilow lächelnd und kniff vor Wonne beide Augen zu, gleich einem Kater, der am Kopf gekraut wird.

»Ein ungewöhnlich netter und angenehmer Mensch,« antwortete Tschitschikow. »Und welch ein Künstler! Nie hätt' ich mir so was träumen lassen: die Broderien und die Handarbeiten, die er macht! Er hat mir eine selbstgehäkelte Börse gezeigt, – da wären viele Damen froh, wenn sie das könnten.«

»Und auch der Vizepräsident, nicht wahr, was für ein lieber Mensch!« sagte Manilow und kniff wieder die Augen zu.

»Ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle!« antwortete Tschitschikow.

»Nun, und der Polizeimeister? Ist er nicht ein entzückender Mensch?«

»Reizend; so klug und so belesen! Ich habe bei ihm mit dem Staatsanwalt und dem Gerichtsdirektor Whist gespielt, bis in der Früh die Hähne krähten. Ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle!«

»Was sagen Sie zur Frau des Polizeimeisters?« fiel Frau Manilow ein. »Ist es nicht eine nette Frau?«

»Eine der famosesten Frauen, die ich überhaupt zu kennen das Vergnügen habe!« erwiderte Tschitschikow.

Auch den Gerichtsdirektor und den Postmeister vergaß man nicht, und so kamen fast alle städtischen Beamten an die Reihe und erwiesen sich sämtlich als Ehrenmänner, wie sie im Buche stehen.

»Sie leben ständig auf dem Lande?« erkundigte sich schließlich Tschitschikow.

»Meist auf dem Land,« entgegnete Manilow. »Nur hie und da besuchen wir die Stadt, um doch mal wieder mit Leuten von Manier und Bildung zu verkehren. Man verbauert sonst, nicht wahr, wenn man bloß immer so für sich lebt.«

»Da ist schon etwas dran,« gab Tschitschikow nachdenklich zu.

»Natürlich,« fuhr Manilow fort, »wär' es 'ne andre Sache, hätte man angenehme Nachbarn, hätte man auch nur einen Menschen, mit dem man sich, gewissermaßen, freundschaftlich aussprechen, mit dem man sich über die Gesetze des guten Tones unterhalten, mit dem man irgendwelche Studien gemeinsam treiben könnte, wissen Sie, was einem so die Seele zu bewegen und einen, wissen Sie, in höhere Regionen, hm . . .« Er wollte noch sehr vieles sagen, merkte aber, daß er sich etwas verhaspelt hatte, so brach er denn mit einer malenden Handbewegung ab und schloß: »Dann allerdings hätten das Landleben und auch die Einsamkeit sehr ihre Reize. Aber wir haben wirklich niemand . . . Höchstens, daß man einmal die ›Illustrierte Zeitung‹ liest . . .«

Tschitschikow war ganz derselben Meinung und äußerte dann noch, es gäbe wohl nichts Schöneres, als solch ein Leben in der Einsamkeit zu führen, sich am erhabnen Schauspiel der Natur zu freuen und hie und da ein gutes Buch zu lesen . . .

»Ja aber,« wendete Manilow ein, »fehlt uns der Freund, mit dem man das alles teilen kann, dann ist . . .«

»Sehr richtig, o, vollkommen richtig!« so fiel ihm Tschitschikow ins Wort. »Was sind dann alle Herrlichkeiten dieser Erde! ›Erwirb dir Freunde statt des eiteln Mammons!‹ hat mal ein weiser Mann gesagt.«

»Herr Tschitschikow,« begann Manilow und machte ein Gesicht, so süß, daß es schon an das Widerliche grenzte, so süß, wie die Mixtur, die ein gefälliger Salondoktor phantastisch überzuckert, weil er sich einbildet, sie dadurch den Patienten schmackhafter zu machen – »Herr Tschitschikow, und das gewährt so einen, ich möchte sagen, geistigen Genuß . . . Zum Beispiel jetzt, wo mir ein Zufall das, wenn ich mich so ausdrücken darf, ganz singuläre, seltene Glück gewährt, daß ich mit Ihnen plaudern, mich Ihrer liebenswürdigen Unterhaltung freuen darf . . .«

»Ach Gott, wieso denn liebenswürdige Unterhaltung . . .? Ein Dutzendmensch, wie ich . . .!« rief Tschitschikow.

»O nein, Herr Tschitschikow! Nein, lassen Sie mich ehrlich sprechen: ich würde ohne Wimpernzucken die Hälfte aller meiner Habe opfern, wenn ich dafür nur einen ganz geringen Teil von Ihren Vorzügen eintauschen könnte!«

»Im Gegenteil: ich würde es meinerseits stets für das größte . . .«

Wer weiß, wie weit die wetteifernden Gefühlsergüsse der beiden Freunde noch gegangen wären, hätte der Diener nicht gemeldet, daß angerichtet sei.

»Ich bitte ganz gehorsamst,« sagte Manilow. »Sie müssen schon entschuldigen, wenn wir Sie nicht so großartig bewirten können, wie Sie es auf dem Residenz-Parkett gewohnt sind: bei uns gibt's nur den schlichten Löffel Suppe auf heimatliche Art; aber er kommt von Herzen. Ich bitte ganz gehorsamst!«

Sie stritten sich noch eine Weile, wer vorangehn solle, dann chassierte Tschitschikow seitlings ins Speisezimmer.

Hier fanden sie die Söhne der Manilows vor, zwei Knaben in dem Alter, wo Kinder schon am Tische essen, aber dabei doch noch auf hohen Stühlen sitzen. Hinter ihnen stand ihr Präzeptor und dienerte mit untertänigem Lächeln. Die Hausfrau nahm vor der Suppenterrine Platz; der Gast saß zwischen der Dame und dem Herrn des Hauses. Der Diener band den Kindern die Servietten um.

»Die netten Kinder!« sagte Tschitschikow. »Wie alt sind sie denn schon?«

»Der ältere ist acht, der jüngere ist gerade gestern sechs geworden,« erklärte Frau Manilow.

»Themistoklus!« so wendete sich Herr Manilow an den älteren, der sich die größte Mühe gab, sein Kinn freizubekommen, das ihm der Diener in die Serviette eingebunden hatte.

Tschitschikow hob leise überrascht die Brauen, als er den doch im wesentlichen griechischen Vornamen hörte, dem Herr Manilow aus unbekannten Gründen die Endung us verliehen hatte; aber er legte das Gesicht gleich wieder in seine gewohnten Falten.

»Themistoklus, kannst du mir sagen, welches die schönste Stadt von Frankreich ist?«

Der Herr Präzeptor konzentrierte all seine Aufmerksamkeit auf seinen Zögling und war anscheinend drauf und dran, ihm einfach ins Gesicht zu springen; doch seine Spannung legte sich gleich wieder, er nickte befriedigt mit dem Kopf, – Themistoklus antwortete sehr richtig:

»Paris.«

»Und nun die schönste Stadt von Rußland?« fragte Manilow.

Wieder konzentrierte der Herr Präzeptor all seine Aufmerksamkeit.

»Petersburg,« sagte Themistoklus.

»Und welche noch?«

»Moskau,« sagte Themistoklus.

»Nein, der gescheite kleine Kerl!« rief Tschitschikow. »Ja aber, gestatten Sie . . .« Er wendete sich voll eines großen Staunens an Manilow. »So jung und schon die Kenntnisse! Das muß man wirklich sagen: in diesem Kinde schlummern merkwürdige Fähigkeiten.«

»Sie kennen ihn noch nicht!« erwiderte Manilow. »Er hat wahrhaftig einen guten Kopf. Der Kleine, der Alkid, ist nicht so flink, der Junge aber, – es braucht ihm nur ein kleiner Käfer in den Weg zu laufen, da blitzen ihm die Augen schon, und er muß hin und ihn sich ganz genau betrachten. Er soll sich der diplomatischen Karriere widmen. – Themistoklus, willst du Gesandter werden?«

»Ja,« sagte Themistoklus und kaute an einem Stückchen Brot und wackelte bedächtig mit dem Kopf.

In diesem Augenblick wischte der Bediente, der hinter seinem Stuhle stand, dem Herrn Gesandten schnell die Nase. Und dies war ein sehr löbliches Beginnen, weil sonst ein umfangreicher Tropfen in die Suppe gefallen wäre, der dort gar nichts zu suchen hatte.

Das Tischgespräch drehte sich anfangs um die stillen Freuden des Landlebens; Zwischenbemerkungen der Hausfrau galten dem städtischen Theater und seinen Schauspielern. Der Herr Präzeptor blickte den Herrschaften in heftiger Spannung auf die Lippen, und wenn er merkte, daß sich da nur ganz von fern ein Lächeln zeigte, riß er sofort den Mund auf und lachte angelegentlichst. Er war ganz offenbar ein dankbares Gemüt und wollte sich auf diese Art seinem Brotgeber für die gute Behandlung erkenntlich zeigen. Einmal übrigens zog er ein grimmiges Gesicht, verschlang die Kinder drohend mit den Augen und klopfte streng verweisend auf den Tisch. Dies war nun freilich auch durchaus am Platze: der diplomatische Themistoklus hatte Alkid ins Ohr gebissen; und Alkid kniff schon die Augen zu und riß den Mund zum kläglichsten Gebrülle auf, als ihm gerade noch rechtzeitig einfiel, wie leicht ihn dies die süße Speise kosten könnte; drum schloß er schnell den Mund und nagte, mit Tränen in den Augen, stumm verzweifelt an seinem Bratenknochen, bis ihm die Backen leuchteten vom guten Hammelfett.

Die Hausfrau sagte wohl zehnmal zu Tschitschikow:

»Sie essen gar nichts; nein, Sie nehmen ja so wenig!«

Und Tschitschikow antwortete jedesmal:

»Heißesten Dank, ich bin vollkommen satt. Ein freundlich Gesicht ist das beste Gericht.«

Die Tafel wurde aufgehoben. Manilow war in strahlend guter Laune. Er schlang den Arm um seines Gastes Schultern und wollte ihn so in das Wohnzimmer geleiten, als plötzlich Tschitschikow ihm mit bedeutungsvoller Miene offenbarte, er müsse eine wichtige Angelegenheit mit ihm besprechen.

»Dann gestatten Sie mir wohl, Sie hier ins Kabinett zu bitten,« sagte Manilow und führte ihn in ein kleines Zimmer, dessen Fenster auf den ferneblauen Wald hinausgingen. »Dies ist mein Schmollwinkel,« erklärte Herr Manilow.

»Ein reizendes Gemach!« fand Tschitschikow und sah sich um. Tatsächlich hatte dieses Zimmer seine Reize: die Wände waren bläulichgrau getüncht; es gab vier Stühle, einen Lehnsessel und einen Tisch, auf dem das Buch mit dem hineingelegten Lesezeichen lag, das zu erwähnen wir bereits Gelegenheit genommen haben; auch ein paar vollgeschriebene Bogen Papier erblickte man; was aber in reicher Fülle überall herumlag, war Pfeifentabak. Es gab ihn in Paketen und in Dosen, ein Haufe davon war des ferneren einfach auf den Tisch geschüttet. Die beiden Fensterbretter trugen viele Aschenhäufchen, wie man sie aus der Pfeife klopft. Und diese waren voller Sorgfalt in schönen Zickzacklinien hingesetzt. Man sah genau, daß sich der Hausherr damit gelegentlich die Zeit vertrieb.

»Nun machen Sie mir das Vergnügen, hier in diesem Sessel Platz zu nehmen!« sprach Manilow. »Da sitzen Sie bequem.«

»Gestatten Sie, ich nehme einen Stuhl.«

»Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen dieses nicht gestatte!« sagte nun Manilow lächelnd. »Dieser Sessel ist ein für allemal für meine Gäste reserviert: ob Sie nun wollen oder nicht, – Sie müssen!«

Tschitschikow setzte sich.

»Gestatten Sie mir, Ihnen jetzt ein Pfeifchen anzubieten!«

»Danke, ich rauche nicht,« erklärte Tschitschikow mit Freundlichkeit und in dem Tone ehrlichen Bedauerns.

»O, aber warum?« sagte Manilow, gleichfalls mit Freundlichkeit und gleichfalls in dem Tone ehrlichen Bedauerns.

»Ich hab' es mir zur Sicherheit erst gar nicht angewöhnt. Rauchen gilt ja für ziemlich ungesund.«

»Gestatten Sie mir die Bemerkung, daß dies ein Aberglaube ist. Ich bin sogar der Ansicht, daß Rauchen viel gesünder ist als Schnupfen. Wir hatten einen Leutnant in unserm Regiment, einen famosen, wirklich feinen Menschen, der nahm die Pfeife niemals aus dem Munde, weder bei Tisch, noch, mit Respekt zu sagen, an irgendeinem andern Ort. Und heute ist er über vierzig und, unberufen, immer noch so gesund, wie es ein Mensch auf dieser Erde sich besser schwerlich wünschen kann.«

Tschitschikow entgegnete, daß so was allerdings vorkäme, und daß es unter Gottes Himmel Dinge gäbe, die selbst ein grundgescheiter Kopf sich nicht erklären könne.

»Aber gestatten Sie mir eine Frage . . .« begann er dann mit einer Stimme, die einen sonderbaren, oder doch zum wenigsten ein wenig fremden Tonfall hatte, und sah dabei ohne bestimmte Veranlassung schnell hinter sich. Manilow sah gleichfalls ohne bestimmte Veranlassung schnell hinter sich. Und Tschitschikow fuhr fort: »Wie lange ist es her, daß Sie zum letzten Male Ihr Leibeigenenregister zur Revision eingaben?«

»Das ist schon lange her; genauer ausgedrückt: ich weiß gar nicht, wie lange.«

»So? Und sind seit der Zeit recht viele von den Bauern weggestorben?«

»Ich habe keine Ahnung. Man wird den Verwalter fragen müssen. He, Kerl! Ruf mir mal den Verwalter! Er muß heute da sein.«

Der Verwalter erschien. Er war ein Mann so an die vierzig, mit glatt rasiertem Kinn und städtisch angezogen. Daß er ein sehr bequemes Leben hatte, sah man an seinem schwammig runden Gesicht; und seine gelbe Haut und die verquollnen Äuglein bekundeten, daß er mit Federbetten und mit Unterpfühlen sehr genau vertraut war. Es war leicht zu erkennen, daß er sein Schäfchen auf die Art ins Trockene gebracht hatte, wie es bei herrschaftlichen Gutsverwaltern so der Brauch ist: er war erst einfach Laufbursche im Haus gewesen, hatte sich das Lesen und das Schreiben angeeignet, hatte dann irgendeine Lise oder Trine geheiratet, die vielleicht Beschließerin war und bei der Gutsherrin einen besondern Stein im Brette hatte, war selber Hausbesorger und dann im Lauf der Zeit zum Schluß Verwalter auf dem Gut geworden. Und als er das erst einmal war, da trieb er es natürlich wie alle seinesgleichen: er spielte den Gevatter und den Freund von allen reichen Bauern und ließ die armen doppelt fronen; um neun Uhr in der Frühe stand er auf, dann saß er da und wartete, bis seine Frau die Teemaschine brachte, und trank gemächlich Glas um Glas.

»Sag, lieber Freund, wieviel von unsern Bauern können wohl gestorben sein, seit wir das letztemal die Liste zur Revision gegeben haben?«

»Was heißt: wieviel? Es sind 'ne ganze Menge seit der Zeit gestorben,« sagte der Verwalter und schluckste, wobei er sich manierlich die Hand vor seinen Mund hielt.

»Jawohl, ich muß schon sagen, das hab' ich mir doch gleich gedacht,« nickte Manilow. »Es sind 'ne ganze Menge seit der Zeit gestorben . . .« Er wendete sich an Tschitschikow und wiederholte: »Ja, 'ne ganze Menge . . .«

»Ja, und wieviel denn?« fragte nun Tschitschikow.

»Jawohl, wieviel denn?« echote Manilow.

»Was soll man denn da sagen, – wieviel? Das weiß ja doch kein Mensch, wieviel gestorben sind; wer hat sie denn gezählt?« gab der Verwalter zurück.

»Ja, eben,« sagte Manilow zu Tschitschikow, »ich dachte es mir gleich: die Sterblichkeit war groß; wieviel es sind, das weiß kein Mensch.«

»Du, sei so gut und zähle sie doch mal,« sprach Tschitschikow zu dem Verwalter. »Und mach uns ein genaues Register von den Namen!«

»Ja, mach uns ein genaues Register von den Namen!« stimmte Manilow ein.

Der Verwalter brummte: »Zu Befehl!« und ging.

»Aus welchem Grunde interessiert Sie das?« fragte Manilow, als er mit Tschitschikow allein geblieben war.

Die Frage schien den Gast ein wenig in Verlegenheit zu bringen. Auf seinen Zügen malte sich ein so verschärftes Nachdenken, daß ihm davon das Blut in beide Wangen stieg, – er suchte angestrengt nach Worten für etwas, was richtig auszudrücken ein schwieriges Stück Arbeit war. Und in der Tat mußte Manilow dann so seltsame und fabelhafte Dinge hören, wie sie wohl nie zuvor ein Menschenohr vernommen hatte.

»Sie fragen, warum mich das interessiert? Der Grund ist der: ich möchte Bauern kaufen . . .« begann Herr Tschitschikow, geriet jedoch ins Stottern und führte seine Rede nicht zu Ende.

»Gestatten Sie die Frage,« erwiderte Manilow, »wie Sie die Bauern kaufen wollen: mit Grund und Boden, oder zur Übersiedelung und deshalb ohne Grund und Boden?«

»Nein, nein, ich möchte ja nicht, sozusagen, richtige Bauern kaufen,« sagte Tschitschikow. »Ich möchte tote Bauern . . .«

»Wi–ie? Entschuldigen . . . ich hör' auf diesem Ohr nicht gut . . . Ich hab' Sie sicher falsch verstanden . . .«

»Ich möchte tote Seelen kaufen, die aber in den Listen noch als lebend aufgeführt sind,« erklärte Tschitschikow.

Manilow fiel die Pfeife aus den Zähnen auf den Boden; und da er seinen Mund nun einmal offen hatte, blieb er gleich ein paar Minuten lang mit offnem Munde sitzen. Die beiden Freunde, die vorhin so lebhaft die Freuden treuer Freundschaft ausgesponnen hatten, saßen schweigend, ohne sich zu rühren, und bohrten ihre Blicke ineinander, gleich zwei Porträts, wie man sie einst in guten alten Zeiten rechts und links vom Sofaspiegel aufzuhängen pflegte. Doch endlich bückte sich Manilow nach der Pfeife und schielte von unten herauf nach Tschitschikows Gesicht, um zu ergründen, ob dem nicht ein Lächeln um die Lippen zucke, zum Zeichen, daß er sich mit ihm ein Späßchen mache. Aber es war nichts davon zu erblicken; im Gegenteil: dieses Gesicht erschien beinah noch ernster als zuvor. Dann fuhr Manilow der Gedanke durch den Kopf, sein Gast litte vielleicht an einem Wahnsinnsanfall. Er sah ihn voller Todesangst und Spannung an. Tschitschikows Augen aber blickten vollkommen klar und ruhig und zeigten gar nichts von dem wilden Flackerfeuer, das in den Augen eines Irren brennt. Nein, nein, so weit war scheinbar alles ganz in Ordnung. Manilow überlegte scharf, wie er sich zu dem sonderbaren Ansinnen verhalten, und was er daraufhin beginnen solle. Jedoch ihm fiel und fiel nichts ein, und so begnügte er sich denn damit, den Rauch, den er im Munde hatte, in einem dünnen Strahl von sich zu blasen.

»Ich wollte also wissen,« fing Tschitschikow von neuem an, »ob Sie gewillt und in der Lage wären, mit Bauern, die in Wirklichkeit nicht mehr am Leben sind, wohl aber noch formell im Sinne des Gesetzes leben, – ob Sie gewillt und in der Lage wären, mir ihre Bauern dieser Art zu überlassen, respektive abzutreten; die Form steht ganz bei Ihnen.«

Manilow geriet in eine so tödliche Verwirrung, daß er den andern nur stumm anstarren konnte.

»Sie haben scheinbar noch Bedenken irgendwelcher Art?« erkundigte sich Tschitschikow.

»Ich . . .? Nicht im mindesten . . .« stotterte Manilow. »Bloß bin ich mir noch nicht vollkommen klar . . . Sie müssen schon entschuldigen . . . Ich hab' natürlich nicht so eine hervorragende Bildung genossen, wie sie, wenn ich so sagen darf, bei Ihnen hell aus jedem Wort hervorstrahlt . . . Ich besitze diese hohe Kunst der wohlgesetzten Rede nicht . . . Ich nehme an, dahinter . . . ich meine, hinter dieser Wendung, die Sie soeben zu gebrauchen die besondere Güte hatten, verbirgt sich irgendwie ein übertragener Sinn . . . Ich sehe darin wohl mit Recht eine, ja hm, stilistische Finesse?«

»Nein,« sagte Tschitschikow, »ich meine es ganz wörtlich, und ich denk' an Seelen, die schlecht und recht gestorben sind.«

Nun kannte sich Manilow überhaupt nicht mehr aus. Ihm war wohl klar, daß er da irgend etwas äußern und irgendeine Frage stellen müßte; doch was er fragen sollte, das mochte der leibhaftige Teufel wissen. Es fiel ihm nichts Gescheiteres ein, als wiederum den Rauch von sich zu blasen, nur diesmal nicht durch die gespitzten Lippen, sondern vielmehr durch beide Nasenlöcher.

»Also, wenn weiter nichts im Wege steht, dann könnte man in Gottes Namen unseren Kaufvertrag über die Leibeigenen wohl bald verbriefen lassen,« sagte Tschitschikow.

»Was?! Einen Kaufvertrag, und über – tote Seelen?!«

»Nicht doch!« antwortete Tschitschikow. »Wir sagen selbstverständlich, daß sie leben, genau, wie's auch im Revisionsregister steht. Es liegt mir fern, auch nur den kleinsten Schritt vom Pfad des bürgerlichen Rechtes abzuweichen. Und mag ich mir durch meine eiserne Prinzipientreue im Dienst bloß Unannehmlichkeiten zugezogen haben, – mein heiliger Leitstern bleibt die Pflicht. Und das Gesetz, vor dem Gesetz verstummt mein Mund in Ehrfurcht.«

Die letzten Worte nun gefielen Herrn Manilow sehr, aber der Sinn der ganzen Sache blieb ihm dunkel. Er gab noch immer keine Antwort und sog statt dessen so gewaltsam an der Pfeife, daß die zum Schluß näselnde Töne von sich gab, wie ein Fagott. Es sah so aus, als wolle er aus seiner Pfeife irgendeine Meinungsäußerung über die unglaubliche Geschichte locken; aber die Pfeife näselte bloß unartikuliert und sagte weiter nichts.

»Bitte, äußern Sie Ihre Zweifel nur, wenn Sie am Ende solche haben!« bat Tschitschikow.

»O, Gott soll mich bewahren! Keineswegs!« sagte Manilow lebhaft. »Es kann doch keine Rede davon sein, daß ich . . . daß ich Ihnen gegenüber von irgendeiner kritischen Voreingenommenheit befangen wäre. Aber gestatten Sie mir gütigst, es Ihnen zur Erwägung anheimzugeben, ob nicht am Ende dies Geschäft, oder, um es gewissermaßen schärfer zu umschreiben, diese Transaktion, – ob nicht vielleicht die Transaktion in irgendeiner Weise gegen die Bestimmungen des bürgerlichen Gesetzes und die höheren vaterländischen Gesichtspunkte zu verstoßen geeigenschaftet sein könnte?«

Manilow hob das Kinn und heftete seinen Blick bedeutungsvoll auf Tschitschikows Gesicht. Aus jedem seiner Züge und ganz besonders aus den fest zusammengekniffenen Lippen sprach eine so tiefbohrende Gescheitheit, wie man sie vielleicht niemals zuvor auf einem Antlitz hatte sehen können. Höchstens irgendein neunmalweiser Staatsminister mag irgendeinmal so bedeutend ausgesehen haben, jedoch auch der gewiß nur für den kurzen Augenblick, da er die härteste politische Nuß in seiner ganzen Laufbahn knacken mußte.

Tschitschikow sagte schlicht, ein solches Geschäft, oder eine solche Transaktion, verstieße nicht im geringsten weder gegen die Bestimmungen des bürgerlichen Gesetzes, noch gegen die höheren vaterländischen Gesichtspunkte. Und nach einem ganz kurzen Schweigen machte er des weiteren geltend, daß der Fiskus sogar Nutzen davon hätte, da er ja die gesetzlichen Gebühren einstreiche.

»Sie glauben also . . .

»Ich glaube, die Sache ist einwandfrei.«

»Nun, wenn die Sache einwandfrei ist, ist's was anderes. Dann hab' ich nichts dagegen,« erklärte Manilow und war völlig beruhigt.

»Jetzt hätten wir uns also nur noch über den Preis zu einigen . . .«

»Wieso denn: Preis?« sagte Manilow. »Sie werden doch nicht annehmen, ich ließe mir Geld zahlen für Seelen, die doch, gewissermaßen, aus dieser Zeitlichkeit geschieden sind? Nein, da Sie nun schon einmal diese, wenn ich so sagen darf, phantastische Kaprice haben, so lass' ich Ihnen diese Seelen selbstverständlich unentgeltlich und nehme die Verbriefungskosten voll auf mich.«

Es wäre eine grobe Unterlassungssünde von seiten des Geschichtschreibers dieser Begebenheiten, wenn er versäumte, zu berichten, daß Tschitschikow auf diese Worte seines Wirtes hin vor Wonne förmlich aus dem Häuschen kam. So gesetzt und überlegt er sich sonst für gewöhnlich zu benehmen pflegte, in diesem Augenblick hüpfte er einfach vor Freude wie ein Ziegenbock. Und solche Sprünge macht auch ein Ziegenbock nur, wenn sein Entzücken keine Grenzen kennt. Tschitschikow fuhr so heftig auf dem Sessel herum, daß dessen wollener Überzug mit einem schrillen Kreischen platzte. Sogar Manilow sah den Freund mit einiger Befremdung an. Vollkommen überwältigt von Dankbarkeit, äußerte Tschitschikow diese in so überströmenden Worten, daß der andere ordentlich verlegen wurde, heftig errötete, abwehrend den Kopf schüttelte und schließlich vorbrachte, das sei doch einfach gar nichts; er hätte ihm mit Freuden seine Herzensneigung und innerliche Sympathie durch diesen kleinen Dienst bewiesen; aber die toten Seelen seien doch, gewissermaßen, wenn ihm das derbe Wort gestartet wäre, der reinste Dreck und kaum der Rede wert.

»Das Gegenteil von Dreck!« versicherte Tschitschikow und drückte ihm die Hand.

Und dabei stieß er einen tiefen Seufzer hervor. Es drängte ihn sichtlich, sein Inneres auszuschütten; und schließlich sprach er mit schöner Wärme und wohlgesetztem Pathos also:

»O, ahnten Sie, welch hohen Dienst Sie eben durch das, was Sie als reinsten Dreck bezeichnen, mir armem Teufel ohne Stand und Namen zu erweisen so unendlich gütig waren! Ach Gott, was habe ich nicht alles durchgemacht! Ein kleiner Kahn in den empörten Wellen . . . Gehetzt, verfolgt und leidgeprüft . . . Und womit habe ich mir das verdient? Damit, daß ich unbeugsam einstand für Wahrheit und Gerechtigkeit, daß ich mir mein Gewissen rein erhalten wollte, daß ich ein Freund hilfloser Witwen und verlassener Waisen war!«

Er mußte mit dem Tüchlein eine Träne, die sich nicht hemmen ließ, aus seinem Auge wischen.

Manilow war zutiefst ergriffen. Die Freunde standen lange Hand in Hand und Aug' in Auge, und Tränen funkelten in ihrem Blick. Manilow wollte die Hände unseres Helden durchaus nicht fahren lassen und hielt sie so herzlich und so fest, daß Tschitschikow einfach nicht wußte, wie er loskommen solle. Endlich befreite er sich mit sanfter Gewalt, sagte, daß es gut sein würde, den Kauf baldmöglichst zu verbriefen, und daß es zu empfehlen wäre, wenn Manilow deswegen persönlich in die Stadt hineinkäme; dann griff er nach seinem Hut und machte Anstalten, sich zu empfehlen.

»Was? Sie wollen schon wieder fort?« rief Manilow, gleichsam in schreckhaftem Erwachen.

In diesem Augenblick trat Frau Manilow ins Kabinett.

»Mein Liselchen,« sagte Manilow mit tiefbetrübter Miene, »Herr Tschitschikow will uns verlassen!«

»Nun, unsere Gesellschaft langweilt Herrn Tschitschikow natürlich,« erwiderte die Hausfrau.

»Gnädige Frau! Hier,« sagte Tschitschikow, »hier drinnen,« er legte die Rechte auf sein Herz, »hier drinnen leben die wundervollen Stunden fort, die Ihre Güte mir geschenkt hat! Glauben Sie mir, es könnte kein höheres Glück für mich auf Erden geben, als immer hier bei Ihnen zu weilen; und kann's nicht unter einem Dache sein, so doch in Ihrer nächsten Nachbarschaft!«

»O Gott, lieber Herr Tschitschikow,« rief Manilow, der von dieser Vorstellung ganz hingerissen war, »wär' es nicht wirklich herrlich, sein Leben so zusammen zu verbringen, unter dem gleichen Dach zu hausen, im Schatten der gleichen Ulme miteinander zu philosophieren, sich in die Lebensrätsel zu vertiefen . . .

»Das wär' ein Leben wie im Paradiese!« sprach Tschitschikow und seufzte schwer. »Leben Sie wohl, gnädige Frau!« fuhr er dann fort und küßte ihr die Hand. »Leben Sie wohl, mein wertgeschätzter Freund! Vergessen Sie Ihr liebenswürdiges Versprechen nicht!«

»Da brauchen Sie nichts zu befürchten!« antwortete Manilow. »Ich halte es ja selbst nicht länger als zwei Tage fern von Ihnen aus.«

Sie verließen das Kabinett und traten in das Speisezimmer.

»Lebt wohl, ihr lieben Kinderchen!« sagte Tschitschikow zu Alkid und Themistoklus, die mit einem hölzernen Husaren spielten, der in den Stürmen des Lebens seine Nase und beide Arme eingebüßt hatte. »Lebt wohl, ihr kleinen Krabben! Seid mir nicht böse, daß ich euch beiden gar nichts mitgebracht hab'; ich hatte ja, ehrlich gestanden, leider noch gar keine Ahnung von eurer Existenz. Aber das nächste Mal bring' ich euch ganz bestimmt was mit. Dir bring' ich einen Säbel. Magst du wohl einen Säbel?«

»Ja,« antwortete Themistoklus.

»Und du kriegst eine Trommel. Nicht wahr, du magst 'ne Trommel?« fuhr Tschitschikow fort und beugte sich zu Alkid hinunter.

»Tommel haben,« sagte Alkid und senkte blöd den Kopf.

»Gut also, eine Trommel, und was für eine feine Trommel! Die macht dann immer: Rum . . . rum . . . rumpumpum . . . pumpumpum . . . Leb wohl, du kleiner Schelm! Leb wohl!«

Er küßte den Kleinen auf den Kopf und wendete sich wieder zu Herrn und Frau Manilow und zeigte ihnen das bekannte Lächeln, mit dem man Eltern zu verstehen gibt, wie rührend unschuldig die Wünsche ihrer Kinder sind.

»Nein aber, wirklich, bleiben Sie doch da, Herr Tschitschikow!« sagte Manilow, als sie schon auf der Anfahrt standen. »Sehn Sie doch: die Wolken!«

»Ach no, das bißchen Wolken . . .!« sagte Tschitschikow.

»Ja, wissen Sie denn auch den Weg zu Sabakewitsch?«

»Ich wollte Sie gerade danach fragen.«

»Gestatten Sie vielleicht, daß ich's gleich Ihrem Kutscher ganz genau erkläre?«

Und Manilow war bei dieser Erklärung auch gegen Selifan sehr liebenswürdig und sagte einmal sogar »Sie« zu ihm.

Als Selifan begriffen hatte, daß sie zwei Feldwege vorbeilassen und in den dritten einbiegen müßten, da erklärte er:

»Das kriegen wir schon, Euer Gnaden.«

Und Tschitschikow fuhr ab. Seine freundlichen Wirte hoben sich auf die Zehenspitzen und nickten und winkten mit den Taschentüchern lange hinter ihm her.

Manilow stand auf der Anfahrt und sah der immer kleiner werdenden Halbchaise nach, bis sie völlig verschwunden war; aber auch dann noch blieb er eine Weile stehen und zog an seiner Pfeife. Endlich ging er ins Zimmer, setzte sich auf einen Stuhl und gab sich freundlichen Gedanken hin. Er freute sich von Herzen, daß er seinem Gast den kleinen Gefallen hatte tun können. Unmerklich glitten seine Gedanken in andere Regionen hinüber und weilten schließlich, der liebe Gott weiß, wo, im Blauen. Er träumte von den Freuden der Freundschaft und sah sich mit seinem Freund zusammen behaglich am Ufer irgendeines Flusses hausen; und schon schlug sich vor seinen geistigen Augen eine Brücke über diesen Fluß, und aus dem Boden wuchs ein prächtiges Herrenhaus mit einem Aussichtsturm, so hoch, daß man von dort bis Moskau sehen konnte; da droben saß er abends unter freiem Himmel und trank Tee und philosophierte über die erbaulichsten Gegenstände. Und dann sah er sich in einer eleganten Karosse mit Tschitschikow zu einer großen Gesellschaft fahren, und dort bezauberten sie alle Welt durch Liebenswürdigkeit und vornehmes Benehmen; und der Kaiser, dem von ihrer vorbildlichen Freundschaft Meldung erstattet worden war, ernannte sie beide zu Staatsräten; und dann . . . ja, aber vielleicht weiß es der liebe Gott, er selber wußte nicht mehr deutlich, zu welchen Höhen seine Gedanken weiter schweiften,– alles zerfloß in nebelhafte Träumerei. Plötzlich aber riß die Erinnerung an Tschitschikows seltsames Anliegen ihn jäh aus der Versunkenheit. Auf diese Sache war und war kein Reim zu finden: wie immer er sie drehn und wenden mochte, – sie blieb ihm völlig unerklärlich.

So saß er grübelnd da und sog an seiner Pfeife, bis seine Frau zum Abendessen rief . . .

 


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