Nikolaus Gogol
Phantastische Geschichten
Nikolaus Gogol

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VI.

Aus diesem Kapitel kann der Leser alles erfahren, was es enthält

Wie sehr man auch im Gericht die Tatsache geheimzuhalten suchte: Es half nichts, am nächsten Tag schon wußte ganz Mirgorod, daß Iwan Iwanowitschs Schwein Iwan Nikiforowitschs Eingabe gestohlen hatte. Der Polizeimeister selbst war der erste, dem das Geheimnis in einem unbewachten Augenblicke entschlüpfte. Als man es Iwan Nikiforowitsch erzählte, sagte er weiter nichts als: »War es vielleicht das braune?«

Aber Agafja Fedossejewna, die gerade anwesend war, fiel über Iwan Nikiforowitsch her. »Was fällt dir ein, Iwan Nikiforowitsch? Wie wird man dich auslachen! Wie wird man sich über deine Dummheit lustig machen, wenn du dazu schweigst! Und du willst ein Edelmann sein? Du wärst ja schlimmer als das alte Weib, das die Honigkuchen verkauft, die du so gern ißt!« Und die Unermüdliche ließ nicht eher nach, als bis sie ihn überredet hatte. Sie trieb irgendwo einen Menschen in mittleren Jahren auf: einen brünetten Herrn, voller Flecken im Gesicht, in einem dunkelblauen Rock und mit geflickten Ärmeln – einen rechten Tintenkuli und Winkelkonsulenten. Dieser Mensch schmierte seine Stiefeln mit Teer, hatte immer drei Federn hinterm Ohr und trug eine mit einem Schnürchen befestigte Glasblase am Knopfe, die er als Tintenfaß benutzte. Er aß neun Pasteten auf einen Sitz und steckte die zehnte ein, dabei war er imstande, soviel Verleumdungen auf einen Stempelbogen zu schreiben, daß kein Schreiber es fertig brachte, sie in einem Zug herunterzulesen, ohne dazwischen mehrmals zu husten und zu niesen. Dieses kleine, menschenähnliche Wesen wühlte überall herum, strengte sich aus Leibeskräften an und braute endlich folgendes Schriftstück zusammen:

»An das Kreisgericht zu Mirgorod von dem Edelmann Iwan, Nikifors Sohn, Dowgutschchun.

»Betreffend der von mir, dem Edelmann Iwan, Nikifors Sohn, Dowgotschchun, eingereichten Eingabe gegen den Edelmann Iwan, Iwans Sohn, Pererepenko, welche das Kreisgericht zu Mirgorod anzunehmen sich bereit erklärt hat: Jenes freche, eigenmächtige Verfahren des braunen Schweins ist trotz der Geheimhaltung zu fremder Leute Ohren gedrungen. Diese Unterlassungssünde aber, und diese Nachsicht erfordert, als böswillig, und beabsichtigt, ein unverzügliches Eingreifen der Gerichte, denn jenes Schwein ist ein unvernünftiges Tier, und daher um so eher zum straflosen Raub von Dokumenten geeignet. Hieraus geht klar hervor, daß das oft genannte Schwein nicht anders als von dem Gegner, dem sogenannten Iwan, Iwans Sohn, Pererepenko, der schon häufig des Raubes, des Trachtens nach dem Leben anderer und der Gotteslästerung überführt wurde, dazu angestiftet worden ist. Aber das Gericht zu Mirgorod hat mit der ihm eigenen Parteilichkeit für seine Person sein geheimes Einverständnis zu erkennen gegeben, da ohne dieses Einverständnis jenes Schwein nicht zur Entwendung des Dokumentes zugelassen werden konnte, insbesondere, da das Mirgoroder Kreisgericht mit Amtsdienern wohl versehen ist: Hierfür genügt es als Beweis, zu erwähnen, daß sich zu jeder Zeit ein Soldat im Empfangszimmer befindet, der, obwohl er ein schielendes Auge und eine etwas verkrüppelte Hand hat, durchaus dazu geeignet ist, ein Schwein mit einem Knüttel zu schlagen und davonzujagen. Aus allem diesem geht die zu große Nachsicht des Gerichts von Mirgorod sowie die unzweifelhafte, jüdische Teilung eines Vorteils auf Grund gemeinschaftlichen Übereinkommens hervor. Jener obenerwähnte Räuber und Edelmann Iwan, Iwans Sohn, Pererepenko, hat, nachdem er sich dergestalt entehrt hat, im Vertrauen hierauf diese Affäre in Szene gesetzt. Daher bringe ich, der Edelmann Iwan, Nikifors Sohn, Dowgutschchun, dem Kreisgerichte zur Kenntnis, daß, falls jenem Schwein oder dem mit ihm im Einverständnis handelnden Edelmann Pererepenko die genannte Eingabe nicht abverlangt und das Urteil nicht nach Recht und Gerechtigkeit zu meinen Gunsten gesprochen wird, ich, der Edelmann Iwan, Nikifors Sohn, Dowgotschchun, fest entschlossen bin, dem Appellationsgericht eine Klage wider jenes Gericht als wegen gesetzwidriger Beihilfe einzureichen, mit der in gebührender Form vorgebrachten Bitte um Desolvierung der Sache zur Revision.

Der Edelmann des Mirgoroder Kreises Iwan, Nikifors Sohn, Dowgotschchun.«

Dieses Schriftstück tat seine Wirkung. Der Richter gehörte, wie alle gutmütigen Menschen, zu der ängstlichen Brüderschaft. Er wandte sich an den Sekretär. Aber der Sekretär öffnete seine dicken Lippen, stieß nur ein »Hm« hervor, . . . und sein Gesicht nahm jene gleichgültige, teuflisch-zweideutige Miene an, mit der etwa Satan eines seiner Opfer betrachtet, das ihm ins Garn ging und sich hilflos zu seinen Füßen windet. Es blieb nur noch ein Mittel übrig: die beiden Feinde zu versöhnen. Aber wie sollte man das anfangen, da bisher alle Versuche erfolglos geblieben waren? Man beschloß, immerhin noch einen letzten Versuch zu machen, aber Iwan Iwanowitsch erklärte kurz und bündig, er wolle nicht, und wurde sogar ernstlich böse. Iwan Nikiforowitsch kehrte dem Vermittler statt einer Antwort den Rücken und sagte kein Wort. So ging denn der Prozeß mit der bekannten Geschwindigkeit, durch die sich die Gerichte auszeichnen, weiter. Das Papier wurde abgestempelt, in die Listen eingetragen, numeriert, geheftet und unterschrieben, und dies alles geschah an ein und demselben Tage; dann wurde es endlich in den Schrank gelegt, und blieb ein, zwei, drei Jahre usw. liegen. Viele Bräute fanden Zeit, ihre Hochzeit zu feiern, in Mirgorod wurde eine neue Straße angelegt, der Richter verlor einen Backenzahn und zwei Schneidezähne, auf Iwan Iwanowitschs Hof liefen noch mehr Kinder herum als früher (Gott allein weiß, wo sie herkamen), Iwan Nikiforowitsch baute Iwan Iwanowitsch zum Trotz einen neuen Gänsestall, der sich freilich in einiger Entfernung von der Stelle befand, auf der der frühere gestanden hatte, ja er verbaute sich ganz gegen Iwan Iwanowitsch, so daß diese würdigen Männer sich fast nie mehr von Angesicht zu Angesicht sahen: die Prozeßakten aber lagen noch immer in schönster Ordnung im Schrank, der von den vielen Tintenklecksen allmählich ganz marmoriert wurde.

Unterdessen aber trat ein für ganz Mirgorod äußerst wichtiges Ereignis ein: Der Polizeimeister gab eine Assemblee. Wo nehme ich Pinsel und Farben her, um die ganze Großartigkeit der Auffahrt, den Glanz und die Pracht des Festmahls zu schildern. Nehmen Sie eine Uhr, öffnen Sie sie und sehen Sie sich an, was darin vorgeht. Nicht wahr, das ist ein furchtbares Durcheinander? Und nun stellen Sie sich vor, daß ebenso viele, wenn nicht noch viel mehr Räder auf dem Hofe des Polizeimeisters nebeneinanderstanden. Was gab es da nicht für Wagen und Kutschen! Die einen hinten ganz breit und vorn schmal, die anderen vorn breit und hinten schmal; die eine war eine leichte Kalesche und zugleich ein schwerer Lastwagen, die andere weder Kalesche noch Lastwagen, die eine glich einem gewaltigen Heuschober oder einer dicken Kaufmannsfrau, die andere einem flinken Juden oder einem Skelett, das sich noch nicht ganz aus seiner Haut gelöst hat. Die einen sahen im Profil geradezu aus wie eine Pfeife mit einem Pfeifenrohr, und andere ließen sich wieder überhaupt mit gar nichts vergleichen, sondern waren ganz seltsame Gebilde von furchtbarer Häßlichkeit und außerordentlich phantastischen Formen. Über dieses Chaos von Rädern und Kutschböcken erhob sich eine besondere Art von Wagen; er hatte ein riesengroßes Fenster, das von einem dicken Querholz durchkreuzt war. Die Kutscher in Kosakenröcken, grauen Bauernkitteln und -jacken, mit den verschiedensten Schaffell- und anderen Mützen, führten, mit der Pfeife im Munde, ihre ausgespannten Pferde im Hofe herum. Nein, was war das für eine herrliche Assemblee, die der Polizeimeister gab! Gestatten Sie, daß ich Ihnen die Namen aller Anwesenden aufzähle: Taraß Tarassowitsch, Jewpl Akinfowitsch, Jewtichij Jewtichijewitsch, Iwan Iwanowitsch (nicht der bekannte Iwan Iwanowitsch, sondern ein anderer), Ssawwa Gawrilowitsch, unser Iwan Iwanowitsch, Eleutherij Eleutherjewitsch, Makar Nasarjewitsch,Thomas Grigorjewitsch . . . nein, ich kann nicht weiter, ich habe keine Kraft mehr. Und wieviel Damen da waren! – brünette und weißwangige, lange und kurze, so dicke wie Iwan Nikiforowitsch und so magere, daß man meinte, sie in die Degenscheide des Polizeimeisters stecken zu können! Und wieviel verschiedene Hauben, wieviele Kleider es da gab! Rote, gelbe, kaffeebraune, grüne, blaue, neue, gewendete, umgearbeitete – und dann diese Bänder, Tücher, Ridiküls! Ade, ihr armen Augen! Nach diesem Schauspiel werdet ihr zu nichts mehr fähig sein. Und welch lange Tafel da gedeckt war! Wie alles durcheinander schwatzte! Welch ein Lärm sich überall erhob! Was ist eine Mühle mit all ihren Mühlsteinen, Rädern und ihrem Stampfwerk dagegen! Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, wovon man sprach, aber man darf annehmen, daß von vielen angenehmen und nützlichen Dingen die Rede war: vom Wetter, von Hunden, von Weizen, Hauben, Hengsten usw. Endlich sagte Iwan Iwanowitsch – nicht unser Iwan Iwanowitsch, sondern der andere, der mit dem schielenden Auge –: »Es wundert mich sehr, daß mein rechtes Auge (der schielende Iwan Iwanowitsch ironisierte sich immer selbst) Iwan Nikiforowitsch, Herrn Dowgotschchun nicht sieht.«

»Er wollte nicht kommen«, sagte der Polizeimeister.

»Warum denn nicht?«

»Herrgott, es sind schon bald zwei Jahre, daß sich Iwan Iwanowitsch und Iwan Nikiforowitsch entzweit haben, und wo der eine ist, geht der andere auf keinen Fall hin.«

»Was Sie sagen!« Hierbei erhob der schielende Iwan Iwanowitsch seinen Blick gen Himmel und faltete die Hände: »Was soll nur werden, wenn auch die Leute mit gesunden Augen sich nicht mehr vertragen wollen. Wie soll ich mit meinem schielenden Auge in Frieden leben!« Bei diesen Worten lachten alle aus vollem Halse. Der schielende Iwan Iwanowitsch war sehr beliebt, weil er immer Witze machte, die dem damaligen Zeitgeschmack angepaßt waren. Sogar der große, dürre Herr im Friesrock und mit dem Pflaster auf der Nase, der bisher unbeweglich in der Ecke gesessen und keine Miene verzogen hatte – auch da nicht, als ihm eine Fliege in die Nase flog –, sogar dieser Herr stand jetzt auf und näherte sich dem Kreise, der sich um den schielenden Iwan Iwanowitsch gebildet hatte. »Hören Sie,« sagte der schielende Iwan Iwanowitsch, als er sah, daß der Kreis um ihn herum genügend groß war, »hören Sie, statt daß Sie sich jetzt an meinem schielenden Auge ergötzen, wollen wir doch lieber unsere beiden Freunde versöhnen! Iwan Iwanowitsch unterhält sich gerade mit den Frauensleuten . . . Wollen wir doch heimlich nach Iwan Nikiforowitsch schicken und die beiden zusammenführen?«

Der Vorschlag Iwan Iwanowitschs wurde einstimmig angenommen; man beschloß, sofort nach Iwan Nikiforowitsch zu schicken und ihn zum Polizeimeister zu Tisch zu bitten, es koste, was es wolle. Aber vorher gab es noch eine wichtige Frage zu lösen: Wen sollte man mit diesem verantwortungsvollen Auftrag betrauen? Das brachte alle in Verlegenheit. Lange wurde hin und her gestritten, wer wohl für derartige diplomatische Missionen am geeignetsten sei. Endlich aber wurde einstimmig beschlossen, Anton Prokofjewitsch Golopusj zu diesem Zwecke zu entsenden.

Doch ich muß den Leser zuvor mit dieser außerordentlichen Persönlichkeit bekannt machen. Anton Prokofjewitsch war ein vollkommen tugendhafter Mensch in des Wortes höchster Bedeutung. Schenkte ihm einer der Mirgoroder Honoratioren ein Halstuch oder ein Paar Unterhosen, so bedankte er sich; gab ihm jemand einen Nasenstüber, so bedankte er sich gleichfalls. Fragte man ihn: »Anton Prokofjewitsch, warum haben Sie einen braunen Rock mit hellblauen Ärmeln an?«, so antwortete er gewöhnlich: »Sie haben ja nicht einmal einen solchen! Warten Sie, wenn er etwas abgetragen ist, wird sich schon alles ausgleichen.« Und tatsächlich: Mit der Zeit begann das hellblaue Tuch unter dem Einfluß der Sonne braun zu werden, und jetzt paßte es schon ganz gut zu bei Farbe des Rocks. Was aber am bemerkenswertesten war, war dies, daß Anton Prokofjewitsch die Angewohnheit hatte, im Sommer Tuch- und im Winter Nankinganzüge zu tragen. Anton Prokofjewitsch besitzt kein eigenes Haus. Einst besaß er eins am Ende der Stadt, aber er verkaufte es, erstand sich für den Erlös drei braune Pferde und einen kleinen Wagen, und fuhr von einem Gutsbesitzer zum anderen zu Besuch. Aber da die Pferde ihm doch viel Umstände machten und er in einem fort Geld für Hafer brauchte, so tauschte Anton Prokofjewitsch sie gegen eine Geige, ein Dienstmädchen und fünfundzwanzig Rubel ein. Die Geige verkaufte er später wieder, und das Mädchen tauschte er gegen einen Saffiantabaksbeutel ein – aber dafür hat er jetzt auch einen Tabaksbeutel wie kein zweiter. Allerdings mußte er diesen Genuß teuer erkaufen: Er kann nun nicht mehr von einem Dorf ins andere fahren, er muß in der Stadt bleiben und in den verschiedensten Häusern, gewöhnlich bei Edelleuten, übernachten, denen es Spaß macht, ihm Nasenstüber zu geben. Anton Prokofjewitsch liebt es, gut zu essen, und spielt recht gut Schafskopf oder auch »Müller«. Es war immer seine Art, sich unterzuordnen, und darum ergriff er auch jetzt Stock und Mütze und machte sich ohne weiteres auf den Weg.

Unterwegs überlegte er sich's, wie er Iwan Nikiforowitsch bewegen könnte, die Assemblee zu besuchen. Die schroffe Art des sonst gewiß würdigen Mannes machte sein Unternehmen fast zu einer Unmöglichkeit. Wie sollte sich auch Iwan Nikiforowitsch dazu entschließen, da ihm doch schon das bloße Aufstehen soviel Mühe machte? Aber angenommen selbst, daß er aufstünde, wie sollte er dahin gehen wollen, wo – und das wußte er zweifellos – wo sein unversöhnlicher Feind sich befand? Je länger Anton Prokofjewitsch darüber nachdachte, um so mehr Hindernisse türmten sich auf. Es war ein schwüler Tag, die Sonne brannte vom Himmel herab, Anton Prokofjewitsch war wie in Schweiß gebadet. Obschon er oft Nasenstüber bekam, war er in mancherlei Hinsicht ein gewiegter Mensch (nur beim Tauschen hatte er manchmal Unglück). Er wußte sehr gut, wann man den Narren spielen mußte, und fand sich mitunter in Situationen und Verhältnissen zurecht, in denen selbst ein Kluger sich keinen Rat gewußt hätte.

Während sein erfinderischer Geist nach Mitteln und Wegen suchte, Iwan Nikiforowitsch zu überreden, gelangte Anton Prokofjewitsch allmählich bis ans Haus und wollte schon mutig der Entscheidung entgegengehen, als ihn ein ganz unvorhergesehener Umstand ein wenig in Verlegenheit brachte. Hier ist es übrigens am Platz, dem Leser die Mitteilung zu machen, daß Anton Prokofjewitsch unter anderm auch ein Paar recht merkwürdige Hosen besaß; sobald er dieses Paar trug, bissen ihn die Hunde immer in die Waden. Unglücklicherweise mußte er gerade heute diese Hosen anhaben. Er war noch ganz in Gedanken vertieft, als ihn plötzlich ein fürchterliches Hundegebell aufschreckte, das von allen Seiten an sein Ohr schlug. Anton Prokofjewitsch begann so zu schreien (lauter als er kann man überhaupt gar nicht schreien), daß nicht nur das bekannte alte Weib und der Besitzer des unförmlichen Rocks ihm entgegenliefen, sondern auch die Jungens aus Iwan Iwanowitschs Hause hinzugerannt kamen. Und obgleich die Hunde nur Zeit gehabt hatten, nach einem seiner Beine zu schnappen, setzte doch dies Anton Prokofjewitschs Mut beträchtlich herab, und so trat er denn mit einer gewissen Befangenheit in den Flur.

VII

»Ah, guten Tag, warum necken Sie denn meine Hunde?« rief Iwan Nikiforowitsch, als er Anton Prokofjewitsch erblickte, denn man sprach allgemein nicht anders, als in scherzendem Tone mit ihm.

»Mögen sie alle verrecken! Wer denkt daran, sie zu necken!« versetzte Anton Prokofjewitsch.

»Sie schwindeln!«

»Bei Gott nicht! Peter Fjodorowitsch läßt Sie zu Tisch bitten.«

»Hm.«

»Bei Gott, er bittet Sie so dringend darum; ich kann es wirklich gar nicht ausdrücken. ›Was soll das heißen‹, sagt er, ›Iwan Nikiforowitsch geht mir ja aus dem Wege, wie einem Feinde. Er kommt nicht mehr zu mir; man sitzt nie mehr zusammen und plaudert nicht mehr miteinander‹«

Iwan Nikiforowitsch strich sich über das Kinn.

»›Wenn Iwan Nikiforowitsch heute wieder nicht kommt, dann weiß ich wirklich nicht, was ich davon halten soll. Sicher führt er etwas gegen mich im Schilde. Anton Prokofjewitsch, tun Sie mir doch den Gefallen, sehen Sie zu, ob Sie ihn nicht überreden können‹ Nun, was meinen Sie, Iwan Nikiforowitsch? Kommen Sie mit? Sie finden dort eine reizende Gesellschaft beisammen!«

Aber Iwan Nikiforowitsch lag ruhig da und betrachtete einen Hahn, der auf einem Fuße stand und aus voller Kehle krähte.

»Wenn Sie wüßten, Iwan Nikiforowitsch,« fuhr der eifrige Abgeordnete fort, »was Peter Fjodorowitsch für einen herrlichen Stör und für einen frischen Kaviar bekommen hat!«

Hier wandte ihm Iwan Nikiforowitsch das Gesicht zu und begann aufmerksamer zuzuhören.

Dies ermutigte den Abgesandten. »Kommen Sie schnell. Thomas Grigorjewitsch ist auch da. Was ist denn nur?« fügte er hinzu, als er sah, daß Iwan Nikiforowitsch noch immer in der gleichen Stellung liegen blieb. »Gehen wir – oder gehen wir nicht?«

»Ich mag nicht.«

Anton Prokofjewitsch war durch dieses »Ich mag nicht« ganz verblüfft. Er hatte geglaubt, daß seine überzeugenden Vorstellungen den so würdigen Mann schon völlig gewonnen hatten, und nun mußte er ein glattes Nein vernehmen.

»Warum wollen Sie denn nicht?« fragte er fast verdrießlich, obgleich ihm so etwas nur ganz selten passierte (nicht einmal dann, wenn man ihm, wie das der Richter und der Polizeimeister zu ihrem Vergnügen zu tun pflegten, ein Stück brennendes Papier auf den Kopf legte).

Iwan Nikiforowitsch nahm eine Prise.

»Nun denn, machen Sie, was Sie wollen, Iwan Nikiforowitsch, obgleich ich nicht verstehe, was Sie zurückhält.«

»Wozu soll ich hingehen,« sagte endlich Iwan Nikiforowitsch, »der Räuber ist ja doch da.« So nannte er gewöhnlich Iwan Iwanowitsch. Gerechter Gott! Und wie lange war es her . . .

»Bei Gott, er ist nicht da! So gewiß ein gerechter Gott im Himmel lebt, er ist nicht da! Mich soll auf der Stelle der Blitz treffen!« antwortete Anton Prokofjewitsch, der gewöhnt war, Gott in jeder Stunde zehnmal anzurufen. »Kommen Sie schnell, Iwan Nikiforowitsch.«

»Sie schwindeln ja, Anton Prokofjewitsch, er ist sicher da!«

»Bei Gott, nein, so wahr mir Gott helfe, nein! Ich will nie von dieser Stelle weichen, wenn er da ist! Urteilen Sie selbst, warum sollte ich lügen? Hände und Füße sollen mir verdorren . . . Wie, Sie glauben mir noch immer nicht? Ich will hier vor Ihren Augen verrecken! Mein Vater und meine Mutter und ich selbst, wir mögen alle um unsere Seligkeit kommen, wenn es nicht wahr ist! Glauben Sie mir noch immer nicht?«

Diese Beteuerungen beruhigten Iwan Nikiforowitsch vollkommen. Er befahl seinem Kammerdiener mit dem endlosen Frack, ihm seine Hosen und seinen Nankingrock zu bringen.

Ich halte es für ganz überflüssig, zu beschreiben, wie Iwan Nikiforowitsch seine Hosen anzog, wie man ihm die Halsbinde um den Hals wickelte und wie man ihm endlich in den Rock hineinhalf, der hierbei unter dem linken Ärmel platzte. Es genügt, wenn ich sage, daß er während dieser ganzen Zeit eine würdige Ruhe bewahrte und mit keinem Wort auf die Vorschläge Prokofjewitschs einging, der ihm durchaus seinen türkischen Tabaksbeutel gegen etwas anderes eintauschen wollte.

Unterdessen wartete die ganze Gesellschaft mit Ungeduld auf den entscheidenden Moment, da Iwan Nikiforowitsch erscheinen und da endlich der allgemeine Wunsch in Erfüllung gehen würde, die beiden Ehrenmänner miteinander zu versöhnen. Viele waren nahezu überzeugt, daß Iwan Nikiforowitsch gar nicht kommen würde. Der Polizeimeister wollte sogar mit dem schielenden Iwan Iwanowitsch eine Wette eingehen, daß er nicht kommen würde. Die Wette kam jedoch nicht zustande, weil der schielende Iwan Iwanowitsch vorschlug, der Polizeimeister solle sein angeschossenes Bein gegen sein schielendes Auge einsetzen; – der Polizeimeister fühlte sich ernstlich verletzt, aber die ganze Gesellschaft lachte im geheimen über diesen Scherz. Niemand wollte sich zu Tisch setzen, obwohl es schon längst zwei Uhr war, eine Zeit, zu der man in Mirgorod auch bei den feinsten Diners längst zu Mittag speist. Sowie Anton Prokofjewitsch in der Tür erschien, umringte ihn die ganze Gesellschaft augenblicklich, aber Anton Prokofjewitsch hatte auf die zahlreichen Fragen nur ein entschiedenes und lautes: »Er kommt nicht!« Kaum war das Wort gefallen, als ein Hagelwetter von Scheltworten, Vorwürfen und vielleicht sogar Püffen seinen Kopf für die verfehlte Mission bedrohte, doch da tat sich die Türe auf, und Iwan Nikiforowitsch trat herein.

Wenn in diesem Augenblick Satan in höchsteigener Person oder irgendein Verstorbener eingetreten wäre, – sie hätten bei den Anwesenden kein solches Erstaunen erregt wie das unerwartete Erscheinen Iwan Nikiforowitschs. Anton Prokofjewitsch aber hielt sich die Seiten vor Lachen und freute sich unbändig, daß er die ganze Gesellschaft so zum Narren gehalten hatte.

Wie dem auch sei, alle hielten es für völlig unwahrscheinlich, daß Iwan Nikiforowitsch sich in so kurzer Zeit hatte ankleiden können, wie es sich für einen Edelmann ziemt. Iwan Iwanowitsch war in diesem Moment gerade nicht im Zimmer, er war aus irgendeinem Grunde eben hinausgegangen. Als man sich vom ersten Erstaunen erholt hatte, äußerte die ganze Gesellschaft ihren lebhaften Anteil an dem Wohlbefinden Iwan Nikiforowitschs, und alle sprachen ihre Freude über die Zunahme seiner Körperfülle aus. Iwan Nikiforowitsch küßte alle Anwesenden und sagte: »Sehr verbunden.«

Unterdessen aber drang der Duft der Rübensuppe in das Zimmer und kitzelte in angenehmster Weise die Nasen der hungrigen Gäste. Alle gingen ins Eßzimmer. Eine lange Reihe von stillen und gesprächigen, dicken und dünnen Damen zog voran, und die lange Tafel erstrahlte in allen Farben. Ich werde nicht alle Speisen beschreiben, die aufgetragen wurden, werde nichts über die Knödel in saurer Sahne und das Gekröse, das es zur Rübensuppe gab, sagen, auch nicht von dem Truthahn mit der Pflaumen- und Rosinenfüllung, noch von der Speise, die einem in Kwas eingeweichten Paar Stiefeln gleicht, noch von der Sauce, dem Schwanenliede des alten Kochs, noch vom Pudding, der brennend serviert wurde, was die Damen immer sehr ängstigt und zugleich unterhält. Ich werde nicht von diesen Speisen sprechen, denn ich muß gestehen, daß ich sie viel lieber verzehre als mich des weiteren über sie auslasse.

Iwan Iwanowitsch hatte besonders einem mit Meerrettich zubereiteten Fisch Geschmack abgewonnen. Er beschäftigte sich eifrig mit dieser nützlichen und nahrhaften Veranstaltung, löste die allerkleinsten Gräten heraus und legte sie auf den Rand des Tellers. Dabei blickte er zufällig auf sein Visavis. Himmlischer Vater, war das merkwürdig! Ihm gegenüber saß Iwan Nikiforowitsch.

In demselben Augenblick sah auch Iwan Nikiforowitsch auf . . . Nein – ich kann nicht weiter! Man reiche mir eine andere Feder, nein – die meine ist viel zu matt und tot. Zu zart und schwächlich für dieses Bild. Der Ausdruck großer Verwunderung, die sich in ihren Gesichtern spiegelte, gab ihren Zügen etwas Steinernes. Jeder von ihnen erblickte das längst vertraute Gesicht, jeder von ihnen war dem Anschein nach unwillkürlich bereit, zum Freunde, der so unerwartet vor ihm saß, hinzutreten und ihm die Tabaksdose mit den Worten hinzuhalten: »Bitte, bedienen Sie sich!«, oder: »Darf ich Sie bitten, sich zu bedienen!« Zugleich aber hatten die Gesichter etwas Furchtbares und Unheilverkündendes. Iwan Iwanowitsch und Iwan Nikiforowitsch waren wie in Schweiß gebadet.

Alle Anwesenden, soviel ihrer bei Tische waren, verstummten vor Spannung und konnten die Augen nicht von den einstigen Freunden wegwenden. Die Damen, die bis dahin in ein sehr interessantes Gespräch über die Entstehung der Kapaunen vertieft waren, brachen plötzlich ab. Alles schwieg. Es war ein Bild, würdig des Pinsels eines großen Künstlers.

Endlich zog Iwan Iwanowitsch sein Taschentuch hervor und begann sich zu schneuzen. Iwan Nikiforowitsch aber sah sich um und suchte mit den Augen nach dem Ausgang.

Aber der Polizeimeister hatte schon bemerkt, was mit ihnen vorging, und ließ die Türe noch fester verschließen. Die beiden Freunde wandten sich daher wieder ihren Speisen zu und würdigten einander keines Blickes mehr.

Sowie jedoch das Diner zu Ende war, sprangen die beiden alten Freunde von ihren Sitzen auf und sahen sich nach ihren Mützen um, um sich schleunigst davonzumachen. Da jedoch winkte der Polizeimeister, und Iwan Iwanowitsch (nicht unser Iwan Iwanowitsch, sondern der andere, mit dem schielenden Auge) stellte sich hinter Iwan Nikiforowitsch, während der Polizeimeister hinter Iwan Iwanowitsch trat. Beide begannen, sie von hinten zu stoßen, um sie gegeneinander zu drängen und nicht eher loszulassen, als bis sie sich die Hände gereicht hätten. Iwan Iwanowitsch (mit dem schielenden Auge) schob Iwan Nikiforowitsch, wenn auch ein wenig schief, doch immerhin ganz geschickt, nach der Stelle, wo Iwan Iwanowitsch stand; der Polizeimeister dagegen nahm die Richtung etwas zu sehr nach der Seite, da er mit seinen störrischen Gehwerkzeugen, die ihrem Kommandanten diesmal gar nicht parierten, durchaus nicht zurechtkommen konnte. Wie zum Trotz schwenkte er das Bein gar zu weit zurück und nach der entgegengesetzten Richtung (das kam möglicherweise daher, weil bei Tisch sehr viel verschiedene Getränke gereicht worden waren) – jedenfalls fiel Iwan Iwanowitsch auf eine Dame in einem roten Kleide, die sich aus Neugierde bis in die Mitte gedrängt hatte. Dieses Omen ließ nichts Gutes vermuten. Um die Sache wieder einzurenken, trat der Richter an die Stelle des Polizeimeisters, sog mit der Nase allen Tabak von der Oberlippe auf und drängte Iwan Iwanowitsch nach der anderen Seite. Das ist die in Mirgorod übliche Art der Versöhnung, sie erinnert entfernt an das Ballspiel. Kaum aber hatte der Richter Iwan Iwanowitsch einen Stoß gegeben, als auch Iwan Iwanowitsch mit dem schielenden Auge sich aus allen Kräften gegen Iwan Nikiforowitsch stemmte und ihn vorwärts stieß. Der Schweiß floß Iwan Iwanowitsch von der Stirne herab wie das Regenwasser von einem Dach. Aber trotzdem beide Freunde sich heftig sträubten, wurden sie doch aneinandergedrängt, da beide Parteien von den Gästen tüchtig unterstützt wurden.

Man umringte sie von allen Seiten und ließ sie nicht früher auseinander, als bis sie sich die Hände gereicht hatten.

»Gott mit Ihnen, Iwan Nikiforowitsch und Iwan Iwanowitsch, sagen Sie doch ehrlich: Warum haben Sie sich entzweit? Es war doch nur ein Unsinn! Schämen Sie sich doch vor Gott und vor den Menschen!«

»Ich weiß nicht,« sagte Iwan Nikiforowitsch, der vor Müdigkeit laut schnaufte (kein Zweifel, er war durchaus nicht abgeneigt, sich zu versöhnen), »ich weiß nicht, was ich Iwan Iwanowitsch getan habe. Aber warum hat er meinen Stall zerstört? Warum wollte er mich zugrunde richten?«

»Ich bin mir keiner bösen Absicht bewußt,« sagte Iwan Iwanowitsch, ohne Iwan Nikiforowitsch anzusehen, »ich schwöre vor Gott und vor Ihnen allen, verehrte Freunde und Edelleute, ich habe meinem Feinde nichts getan! Warum verleumdet er mich, warum beschimpft er immer wieder meinen Rang und meinen Namen?«

»Was habe ich Ihnen denn für einen Schaden zugefügt, Iwan Iwanowitsch?« sagte Iwan Nikiforowitsch. Noch einen Augenblick der Aussprache – und die lange Feindschaft war dicht daran, ganz zu verlöschen. Schon griff Iwan Nikiforowitsch in die Tasche, um seine Tabaksdose hervorzuholen und zu sagen: »Bitte, bedienen Sie sich.«

»Ist das vielleicht kein Schaden,« antwortete Iwan Iwanowitsch, ohne die Augen zu erheben, »wenn Sie, geehrter Herr, mich, meinen Rang und meine Familie durch ein Wort beschimpft haben, das hier zu wiederholen nicht anständig wäre!«

»Iwan Iwanowitsch, erlauben Sie mir, Ihnen in aller Freundschaft zu sagen (hierbei packte Iwan Nikiforowitsch Iwan Iwanowitsch beim Kopf, ein Zeichen seiner innigsten Sympathie): »Der Teufel weiß, weswegen Sie sich beleidigt gefühlt haben: Weil ich Sie einen ›Gänserich‹ genannt habe!«

Iwan Nikiforowitsch sah sofort ein, was für eine Unvorsichtigkeit er begangen hatte, als er dies Wort aussprach aber es war schon zu spät, das Wort war heraus. Jetzt ging alles zum Teufel! War doch Iwan Iwanowitsch schon damals unter vier Augen und ohne Zeugen, bei Nennung dieses Wortes ganz außer sich und in eine Wut geraten, die ich, weiß Gott, keinem Menschen wünschen möchte; urteilen Sie also selbst, meine verehrten Leser, was sollte nun geschehen, jetzt, wo das tödliche Wort in Gesellschaft, in Gegenwart vieler Damen gefallen war – denn da liebte es Iwan Iwanowitsch besonders, seine noble Lebensart zu zeigen. Wäre Iwan Nikiforowitsch etwas anderes eingefallen, hätte er Vogel statt Gänserich gesagt, die Sache hätte sich noch einrenken lassen, aber so . . . war natürlich alles vorüber!

Iwan Iwanowitsch warf Iwan Nikiforowitsch einen Blick zu – einen Blick! Hätte dieser Blick ausübende Gewalt gehabt, Iwan Nikiforowitsch wäre zu Staub und Asche verbrannt worden. Die Gäste verstanden diesen Blick und bemühten sich, sie zu trennen. Und dieser Mann, das Muster aller Freundlichkeit, der keinen Bettler vorübergehen lassen konnte, ohne ihn anzusprechen und auszufragen, dieser Mann lief in maßloser Wut davon. So mächtig sind die Stürme der Leidenschaft!

Einen ganzen Monat hörte man nichts von Iwan Iwanowitsch. Er schloß sich in seinem Hause ein. Der vorsintflutliche Kasten wurde geöffnet, und es wurden alle möglichen Dinge aus ihm hervorgeholt – ja was denn? Silberrubel, alte, vom Großvater ererbte Silberrubel. Und diese Silberrubel wanderten in die schmutzigen Hände von Tintenklecksern hinüber. Die Sache ging an den Appellationshof weiter, und erst, als Iwan Iwanowitsch die freudige Nachricht erhielt, daß seine Sache morgen entschieden sein würde, erst da entschloß er sich endlich, wieder einen Blick in die Welt zu tun und etwas auszugehen. O weh! Seit jenem Tage benachrichtigt ihn das Appellationsgericht täglich im Laufe von zehn Jahren, daß die Entscheidung morgen fallen werde.

Vor fünf Jahren kam ich einmal durch Mirgorod. Ich hatte mir eine ungünstige Zeit zum Reisen ausgesucht. Es war Herbst, das Wetter war feucht und trübe, überall lag Schmutz und Nebel. Ein unnatürliches Grün – die Folge des trübseligen, ununterbrochenen Regens – bedeckte wie ein dünnes Netz die Felder und Wiesen, und das stand ihnen so an, wie einem Greise Torheiten oder einer alten Frau Rosen anstehen. Meine Stimmung war damals sehr vom Wetter abhängig: Ich wurde stets traurig, sowie das Wetter schlecht war. Nichtsdestoweniger fühlte ich mein Herz heftiger schlagen, als ich mich Mirgorod näherte. Herrgott, wieviel Erinnerungen drängten sich mir auf! Ich hatte Mirgorod zwölf Jahre lang nicht gesehen. Damals lebten hier zwei einzigartige Freunde in rührender Liebe vereinigt. Und wie viele berühmte Männer waren seitdem gestorben! Der Richter Demjan Demjanowitsch war schon tot, auch Iwan Iwanowitsch mit dem schielenden Auge hatte das Zeitliche gesegnet. Ich fuhr durch die Hauptstraße. Überall ragten Stangen mit aufgehefteten Strohbündeln empor; offenbar fand gerade eine neue Planierung statt. Einige von den Hütten waren abgetragen, und die Reste von Zäunen und Flechtwerk standen ganz melancholisch da.

Es war ein Feiertag, ich ließ meinen mit Matten gedeckten Wagen vor der Kirche halten und trat so leise ein, daß niemand sich umsah. Freilich, es war ja auch niemand da, der sich hätte umsehen können. Die Kirche war fast leer, es war kaum ein Mensch darin: Augenscheinlich fürchteten sich auch die Allerfrömmsten vor dem Straßenschmutz. Die Kerzen machten bei dem trüben oder besser kränklichen Tageslicht einen fast beängstigenden Eindruck; die Hallen waren düster, und die runden Scheiben der länglichen Kirchenfenster waren feucht von Regentränen. Ich trat in die Vorhalle und wandte mich an einen ehrwürdigen Mann mit grauen Haaren. »Gestatten Sie mir die Frage, lebt Iwan Nikiforowitsch noch?« In diesem Augenblick flackerte das Lämpchen vor dem Gottesbild heller auf, und das Licht fiel gerade auf das Gesicht meines Nachbars. Wie sehr erstaunte ich, als ich bei näherem Hinsehen bekannte Züge entdeckte. Das war Iwan Nikiforowitsch in eigener Person, aber wie hatte er sich verändert!

»Sind Sie gesund, Iwan Nikiforowitsch? Wie alt Sie geworden sind!«

»Ja, ich bin alt geworden«, antwortete Iwan Nikiforowitsch. »Ich bin heute aus Poltawa zurückgekommen.«

»Was Sie sagen! Bei dem schlechten Wetter sind Sie nach Poltawa gefahren?«

»Was soll man machen – der Prozeß!«

Unwillkürlich seufzte ich.

Iwan Nikiforowitsch hatte meinen Seufzer gehört und sagte: »Beunruhigen Sie sich nicht; ich habe die bestimmte Nachricht erhalten, daß die Sache in der nächsten Woche entschieden sein wird, und zwar zu meinen Gunsten.«

Ich zuckte die Achseln und ging, um mich nach Iwan Iwanowitsch zu erkundigen.

»Iwan Iwanowitsch ist hier, er ist oben auf dem Chor«, sagte mir jemand. Ich erblickte eine magere Gestalt. War das wirklich Iwan Iwanowitsch? Sein Gesicht war mit Runzeln bedeckt, die Haare waren schneeweiß, und nur die Pekesche hatte sich nicht verändert. Nach der ersten Begrüßung wandte sich Iwan Iwanowitsch mit dem heiteren Lächeln, das seinem trichterförmigen Gesicht so gut stand, zu mir hin und sagte: »Soll ich Ihnen eine frohe Neuigkeit mitteilen?«

»Eine Neuigkeit?« fragte ich.

»Morgen wird meine Sache entschieden; das Appellationsgericht hat es mir bestimmt versprochen!«

Ich seufzte noch tiefer und beeilte mich mit dem Abschied, da ich in einer sehr wichtigen Angelegenheit reiste. Ich bestieg meinen Wagen. Die elenden Gäule, die in Mirgorod unter dem Namen von Kurierpferden bekannt sind, zogen an und verursachten mit ihren, in der grauen Schmutzmasse einsinkenden Hufen ein unangenehmes Geräusch. Der Regen floß in Strömen auf den auf dem Bock sitzenden Juden herab, der sich durch eine Matte zu schützen suchte. Die Feuchtigkeit drang mir durch Mark und Bein. Der wehmütige Schlagbaum mit dem Wärterhäuschen, in dem der Invalide seine graue Uniform flickte, zog langsam an mir vorüber. Und wieder breitete sich das stellenweise aufgewühlte schwarze, hier und da grünlich schimmernde Feld vor mir aus: nasse Krähen und Raben, der monotone Regen und ein tränenfeuchter, trostlos grauer Himmel!

Es ist eine traurige Welt, meine Herren!


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