Nikolaus Gogol
Phantastische Geschichten
Nikolaus Gogol

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Der Wij

Übersetzt von Lolly König

Der Wij ist eine ins Riesenhafte gehende Schöpfung der Volksphantasie. So heißt nämlich bei den Kleinrussen der Fürst der Gnomen, dessen Augenlider bis an die Erde reichen. Die ganze folgende Erzählung ist eine Volkssage. Ich wollte sie völlig unverändert lassen, und erzähle sie daher fast ebenso schlicht und einfach, wie ich sie gehört habe.

Sowie die helle Glocke ertönte, die an der Pforte des Bruderschaftsklosters zu Kiew hing, kamen die Schüler und Seminaristen von allen Enden der Stadt in dichten Scharen herbeigeeilt. Die Grammatiker, die Rhetoriker, die Philosophen und Theologen, sie alle strebten mit ihren Heften unter dem Arm der Schule zu. Die Grammatiker waren noch sehr klein; sie balgten sich unterwegs und schimpften sich mit ihren feinen Sopranstimmen. Fast immer hatten sie zerrissene, schmutzige Kleider an, und ihre Taschen waren stets mit allerlei Plunder wie Knöcheln, Federkielpfeifen und angebissenen Pasteten vollgestopft. Manchmal trugen sie sogar junge Spatzen in der Tasche, und mitunter begann wohl der eine oder der andere, wenn tiefe Stille in der Klasse herrschte, zu zwitschern, was seinem Besitzer ein paar tüchtige Schläge auf beide Hände, und ab und zu auch eine Tracht Prügel mit der Rute aus jungen Kirschbaumzweigen eintrug. Bei den Rhetorikern ging es schon solider zu; ihre Kleider waren oft noch vollkommen heil, aber dafür waren sie im Gesicht fast immer mit einer Trophäe in Form einer rhetorischen Trope geschmückt: Entweder versteckte sich ein Auge ganz unter der geschwollenen Stirn, oder man bemerkte statt der Lippen eine große Blase oder auch ein anderes charakteristisches Merkzeichen. Diese Rhetoriker sprachen und fluchten im Tenor, die Philosophen aber griffen eine ganze Oktave tiefer. Ihre Taschen enthielten nichts außer kräftigen Tabakblättern. Sie legten sich keine Vorräte an, denn alles, was ihnen unter die Finger kam, wurde sofort verzehrt. Sie rochen oft schon von weitem so stark nach Tabak und Schnaps, daß ein vorübergehender Handwerker stets stehenblieb und wie ein Jagdhund in der Luft herumschnüffelte.

Um diese Zeit begann der Marktplatz langsam zu erwachen. Die Händlerinnen breiteten ihre Brezeln, Semmeln, Wassermelonen und Mohnsamen mit Honig aus und zupften die Vorübergehenden, die Kleider aus feinem Tuch oder schmuckem Baumwollstoff trugen, an den Rockschößen.

»Junge Herren, junge Herren, hierher! hierher!« riefen sie von allen Seiten. »Sehen Sie nur, was für Mohnkuchen, was für schöne Brötchen und Brezeln – sie sind ganz ausgezeichnet, bei Gott! Von feinstem Honig – ich habe sie selbst gebacken!«

Eine andere hielt ein langes, gewundenes Gebäck aus Teig in die Höhe und schrie: »He, he, die schöne Honigstange! Junger Herr, kaufen Sie doch diese Honigstange!«

»Kaufen Sie ja nichts bei der: Sehen Sie doch diese widerliche Person an, die häßliche Nase, die unsauberen Hände . . .«

Die Philosophen und Theologen aber ließen sie in Ruhe; denn diese liebten es nur, zu »probieren«, und zwar nahmen sie sich immer gleich eine ganze Hand voll.

Im Seminar angekommen, verteilte sich die ganze Schar sogleich in den Klassen, die sich in niedrigen, aber ziemlich geräumigen Zimmern, mit breiten Türen, kleinen Fenstern und schmutzigen Bänken befanden. Plötzlich erfüllte ein vielstimmiges Summen die Räume: Die älteren Schüler, die sogenannten Auditoren, hörten den jüngeren ihre Lektionen ab; hierbei war der helle Sopran der Grammatiker genau auf den Ton der kleinen Fensterscheibe abgestimmt, die ihn fast unverändert zurückwarf; in der Ecke brüllte ein Rhetor, dessen Mund und wulstige Lippen eigentlich mehr zu einem Philosophen paßten. Er rezitierte mit tiefer Baßstimme, und man vernahm von weitem nichts wie ein dumpfes Bu, bu, bu, bu . . . Die Auditoren, die den jüngeren Schülern ihre Lektion überhörten, schielten mit einem Auge unter die Bank, wo gewöhnlich aus der Tasche des ihnen unterstellten Seminaristen ein Brot, ein Quarkkuchen oder Kürbissamen hervorblickten.

Traf es sich, daß sich die ganze gelehrte Schar etwas früher als nötig versammelt hatte, oder wenn es bekannt wurde, daß die Professoren später als sonst kommen würden, dann inszenierte man unter allgemeinem Beifall eine »Schlacht«, an der alle Schüler, sogar die Zensoren, teilnehmen mußten, die verpflichtet waren, die Ordnung aufrechtzuerhalten, und die die Moral des ganzen Schülerstandes zu beaufsichtigen hatten. Gewöhnlich entschieden zwei Theologen, wie die Schlacht vor sich gehen, ob jede Klasse für sich kämpfen, oder ob alle zusammen zwei Lager, nämlich die Burssa und das Seminar, bilden sollten. Auf alle Fälle machten die Grammatiker den Anfang, sobald sich dann die Rhetoriker hineinmengten, liefen sie fort und stellten sich an erhöhten Plätzen auf, um den Gang der Schlacht zu beobachten. Dann kamen die Philosophen mit ihren langen, schwarzen Schnurrbärten an die Reihe, und ganz zuletzt griffen die Theologen mit ihren gräßlichen Hosen und den furchtbaren dicken Hälsen in die Schlacht ein. Gewöhnlich endete der Kampf damit, daß die Theologie sämtliche Kämpfer besiegte, die Philosophie aber wurde in die Klasse zurückgedrängt, rieb sich die Lenden und setzte sich auf die Bänke, um sich zu erholen. Der Professor, der zu seiner Zeit auch an ähnlichen Kämpfen teilgenommen hatte, merkte beim Eintritt in die Klasse sofort an den Gesichtern seiner Zuhörer, daß es keine üble Schlacht gegeben hatte, und klopfte den Rhetorikern mit Ruten auf die Finger, während sein Kollege in der anderen Klasse die Hände der Philosophen mit einer Holzleiste bearbeitete. Mit den Theologen wurde ganz anders verfahren: ihnen wurde, nach dem Ausdruck des Theologieprofessors, ein Maß »grober Erbsen«, und zwar vermittels eines kurzen Lederriemens, zugemessen.

An Festen und an Feiertagen zogen die Seminaristen und Schüler mit einem Puppentheater von Haus zu Haus; manchmal spielten sie auch selbst Komödie; und dann zeichnete sich immer ein Theologe besonders aus: irgendein Riese, der nicht viel kleiner war als der Glockenturm von Kiew. Er spielte die Herodias oder Frau Potiphar, die Gemahlin des ägyptischen Kämmerers. Zur Belohnung erhielten sie ein Stück Leinwand, einen Sack Hirse, die Hälfte einer gebratenen Gans und dergleichen. All diesem gelehrten Volk, der Burssa wie dem Seminar – die eine ererbte Antipathie gegeneinander hegten – fehlte es meist an den notwendigen Subsistenzmitteln, dabei aber waren sie außerordentlich gefräßig; es wäre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, die Zahl der Klöße anzugeben, die jeder von ihnen beim Abendbrot herunterschlang; so reichten denn auch die freiwilligen Spenden der wohlhabenden Gutsbesitzer gewöhnlich nicht aus. Daher schickte mitunter der Senat, der nur aus Philosophen und Theologen bestand, die Grammatiker und Rhetoriker unter Führung eines Philosophen – zuweilen aber schloß er sich auch selbst in corpore an –, mit Säcken auf den Schultern, in die fremden Gemüsegärten; an solchen Tagen gab's in der Burssa Kürbisbrei. Die Senatoren schlugen sich den Magen so mit Melonen und Wassermelonen voll, daß die Auditoren am nächsten Tage statt eines Vortrages deren zwei zu hören bekamen: der eine drang aus dem Munde, der andere kam aus dem Magen des Senators. Die Zöglinge der Burssa wie auch die des Seminars trugen lange Röcke, die »bis dahin« reichten; ein technischer Ausdruck, der soviel besagt als: »bis an die Fersen«.

Das feierlichste Ereignis für das Seminar aber war der Anbruch der Ferien, die Zeit vom Monat Juni an, wenn die Burssa gewöhnlich nach Hause entlassen wurde. Dann war die Landstraße wie besät von Grammatikern, Rhetoren, Philosophen und Theologen. Wer kein eigenes Heim besaß, zog zu einem seiner Kameraden. Die Philosophen und Theologen gingen in »Kondition«, das heißt, sie unterrichteten oder bereiteten die Kinder wohlhabender Leute für die Schule vor. Dafür erhielten sie einmal im Jahr ein Paar neue Stiefel und manchmal auch etwas Geld zu einem neuen Rock. Diese ganze Gesellschaft zog geschlossen aus wie eine Zigeunerbande, kochte sich ihre Grütze und übernachtete im Freien. Jeder trug einen Sack, in dem sich ein Hemd und ein Paar Fußlappen befanden. Die Theologen waren besonders sparsam und peinlich: Um ihre Stiefel zu schonen, zogen sie sie aus, hängten sie auf ihre Stöcke und trugen sie auf ihren Schultern; das taten sie besonders, wenn es auf der Straße sehr schmutzig war. Sie krempelten ihre Hosen bis zu den Knien auf und patschten furchtlos mit den bloßen Füßen durch die Pfützen. Sowie sie irgendwo ein Gehöft erblickten, schwenkten sie von der Landstraße ab, näherten sich der stattlichsten Hütte, stellten sich vor den Fenstern in Reih und Glied auf und begannen aus voller Kehle einen Kantus anzustimmen. Der Hausherr, der gewöhnlich ein alter, ansässiger Kosak war, stützte den Kopf auf beide Hände und hörte ihnen lange zu, dann fing er bitterlich an zu weinen und wandte sich an seine Frau: »Frau, was die Scholaren da singen, das muß etwas sehr Gescheites sein. Bring' ihnen doch etwas Speck hinaus, und was sonst noch da ist.« Dann wurde eine ganze Schüssel voller Quarkkuchen in den Sack geschüttet, dazu ein gehöriges Stück Speck; auch einige Laib Brot verschwanden darin und manchmal sogar ein zusammengebundenes Huhn. Nachdem sie sich so einen tüchtigen Vorrat angelegt hatten, zogen die Grammatiker, Rhetoren, Philosophen und Theologen wieder ihres Weges. Je weiter sie jedoch kamen, um so kleiner wurde die Schar. Allmählich zerstreute sich alles und wanderte nach Haus, und es blieben nur die übrig, deren Elternhaus weiter entfernt war als das der anderen.

Einst bogen während einer solchen Reise drei Burschen von der Landstraße ab, um beim ersten besten Gehöft, auf das sie stießen, den schon längst geleerten Sack mit neuen Vorräten zu versorgen. Dies waren der Theologe Haljawa, der Philosoph Choma Brut und der Rhetor Tiberius Gorobetzj.

Der Theologe war ein großer, breitschultriger Bursche und hatte die äußerst merkwürdige Gewohnheit, alles zu stehlen, was in seine Nähe kam. Übrigens hatte er einen sehr finsteren Charakter; wenn er betrunken war, versteckte er sich im Gebüsch, und das Seminar hatte viel Mühe, ihn von dort hervorzuholen.

Der Philosoph, Choma Brut, war von heiterer Gemütsart, er liebte es sehr, auf der Bank zu liegen und seine Pfeife zu rauchen; wenn er trank, ließ er sogleich »Musikanten« kommen und tanzte einen Trepak.Ein russischer Nationaltanz. Anm. des Herausg.

Er hatte schon oft ein Maß »grober Erbsen« zu kosten bekommen, aber er ertrug es mit stoischem Gleichmut und sagte nur: Niemand entgeht seinem Schicksal.

Der Rhetor, Tiberius Gorobetzj, hatte noch nicht das Recht, einen Schnurrbart zu tragen, Schnaps zu trinken und zu rauchen. Er trug nur einen Haarschopf auf dem Scheitel, und sein Charakter war damals noch wenig entwickelt. Aber aus den großen Beulen auf der Stirn, mit denen er oft in die Klasse kam, ließ sich schließen, daß er einmal einen tüchtigen Soldaten abgeben würde. Der Theologe Haljawa und der Philosoph Choma zupften ihn oft zum Zeichen ihrer Gönnerschaft am Schopfe und gebrauchten ihn als Boten.

Es war schon Abend, als sie von der Landstraße abbogen; die Sonne war eben untergegangen, und noch spürte man in der Luft die Wärme des Tages. Der Theologe und der Philosoph marschierten schweigsam mit der Pfeife im Munde dahin, und der Rhetor, Tiberius Gorobetzj, schlug mit seinem Stab den am Wege wachsenden Disteln die Köpfe ab. Der Weg zog sich zwischen Gruppen von Eichen und Nußbäumen dahin, die die Wiesen beschatteten; dann und wann unterbrachen Hügel und kleine grüne Berge, die so rund waren wie Kuppeln, die Ebene. Verstreute Ackerfelder, mit reifendem Getreide bestellt, ließen erkennen, daß irgendwo ein Dorf in der Nähe sein müsse. Aber es war schon mehr als eine Stunde vergangen, seit sie an dem Ackerfelde vorbeigekommen waren, und noch immer war kein Gehöft zu sehen. Die Dämmerung hatte schon den ganzen Himmel eingehüllt: Nur fern im Westen schimmerte noch ein schmaler, blauer Streifen Abendrot.

»Weiß der Teufel,« sagte der Philosoph Choma Brut, »es sah doch ganz so aus, als müßten wir gleich auf ein Gehöft stoßen!«

Der Theologe schwieg und sah sich nach allen Seiten um, dann steckte er seine Pfeife wieder in den Mund, und alle drei trabten weiter.

»Bei Gott,« rief der Philosoph und blieb wieder stehen, »es ist rein gar nichts zu sehen. Hol's der Henker!«

»Vielleicht erreichen wir doch noch ein Gehöft«, sagte der Theologe, ohne seine Pfeife aus dem Munde zu nehmen.

Unterdessen war die Nacht hereingebrochen, eine finstere, trübe Nacht; die kleinen Wolken am Himmel verstärkten die Finsternis nur noch mehr, und allem Anscheine nach durfte man weder auf Mond noch Sterne rechnen. Die Burschen merkten, daß sie sich verirrt hatten und längst vom richtigen Wege abgekommen waren.

Der Philosoph tastete mit dem Fuß nach allen Seiten und rief endlich kurz aus: »Ja, wo ist denn der Weg?«

Der Theologe schwieg und murmelte nach einigem Nachdenken: »Ja, die Nacht ist dunkel . . .!«

Der Rhetor kniete nieder und versuchte den Weg mit den Händen zu befühlen, aber seine Hände gerieten fortwährend in einen Fuchsbau hinein. Ringsumher lag die öde Steppe: scheinbar war hier noch nie jemand vorbeigefahren.

Die Wanderer machten noch einen Versuch, weiterzugehen: aber überall stießen sie auf die gleiche Wildnis. Der Philosoph fing an zu rufen, jedoch seine Stimme verhallte ohne in der Umgegend das geringste Echo zu wecken. Nach einer Weile hörten sie ein schwaches Stöhnen, das einige Ähnlichkeit mit dem Heulen eines Wolfes hatte.

»Teufel, was ist hier zu machen?« sagte der Philosoph.

»Was? Wir bleiben hier und übernachten im Feld«, erwiderte der Theologe und griff in die Tasche, um sein Feuerzeug hervorzuholen und sich von neuem die Pfeife anzuzünden. Aber der Philosoph wollte nicht darauf eingehen. Er hatte die Gewohnheit, vor dem Schlafengehen noch einen halben Zentner Brot und vier Pfund Speck zu vertilgen und fühlte eine unerträgliche Leere im Magen; auch fürchtete er sich trotz seiner heiteren Gemütsart ein wenig vor den Wölfen.

»Nein, Haljawa, das geht nicht«, sagte er. »Wollen wir uns etwa ohne jede Stärkung hinlegen und einschlafen wie die Hunde? Versuchen wir's doch noch einmal, vielleicht stoßen wir noch auf irgendein Haus, und vielleicht glückt es uns wenigstens, vor dem Schlafengehen noch ein Gläschen Schnaps herunterzugießen.«

Bei dem Worte »Schnaps« spuckte der Theologe aus und murmelte: »Natürlich, wozu sollten wir auch im Freien übernachten?«

Die Burschen gingen weiter und glaubten bald zu ihrer großen Freude in der Ferne etwas wie Hundegebell zu vernehmen. Sie horchten, von welcher Seite das Gebell herkam, und schritten fröhlich vorwärts. Nach einer Weile erblickten sie ein Licht.

»Ein Gehöft, bei Gott, ein Gehöft«, rief der Philosoph.

Seine Vermutung hatte ihn nicht betrogen. Nach einiger Zeit bemerkten sie eine Ansiedlung, die nur aus zwei Hütten und einem Hof bestand. In den Fenstern schimmerte Licht; ein Dutzend Pflaumenbäume ragte über den Zaun. Als die Burschen durch die Spalten zwischen den Brettern des Tores blickten, gewahrten sie einen Hof, der voller großer Lastwagen stand. Jetzt erglänzten auch einige Sterne am Himmel.

»Hallo, Brüder, jetzt heißt es energisch sein! Koste es, was es wolle, wir müssen uns ein Nachtlager erobern!«

Die drei Bildungsbeflissenen klopften einmütig an das Tor und riefen: »Macht auf!«

Die Tür der einen Hütte knarrte, und einen Augenblick darauf sahen die Burschen ein altes Weib in einem Pelzrock vor sich.

»Wer ist da?« rief sie, und hustete dumpf.

»Mütterchen, laß uns hier übernachten; wir haben uns verirrt, im Freien ist es ebenso schlimm wie in einem leeren Magen.«

»Was seid ihr für Volk?«

»Harmlose Leute: der Theologe Haljawa, der Philosoph Brut und der Rhetor Gorobetzj.«

»Es geht nicht,« knurrte die Alte, »mein Hof ist voll, jeder Winkel ist besetzt. Wo soll ich hin mit euch? Mit solchen großen, gesunden Burschen! Meine Hütte wird noch einstürzen, wenn ich solche Riesen in ihr unterbringe. Diese Theologen und Philosophen kenne ich: Wenn man sich erst einmal mit solchen Trunkenbolden einläßt, ist man bald ohne Haus und Hof. Macht, daß ihr weiter kommt, hier ist kein Platz für euresgleichen!«

»Erbarme dich, Mütterchen! Das geht doch nicht, daß ein Christenmensch so um nichts und wieder nichts umkommen soll. Steck uns, wohin du willst – wenn wir nur das geringste anstellen, dann mögen uns die Hände verdorren, dann mag uns doch . . . Hörst du?«

Wie es schien, ließ sich die Alte ein wenig erweichen. »Gut,« sagte sie nach kurzem Bedenken, »ich will euch hereinlassen, aber ich werde jedem von euch einen anderen Ort anweisen; ich habe keine Ruhe, wenn ihr zusammenbleibt.«

»Wie du willst, wir fügen uns in alles«, antworteten die Burschen. Die Pforte knarrte, und sie traten in den Hof.

»Nun, wie steht's, Mütterchen,« sagte der Philosoph, während er der Alten folgte, »wenn du, sozusagen . . . Bei Gott, mir ist's als ob mir jemand auf einem Wagen im Magen herumfährt. Seit heute morgen habe ich keinen Bissen im Munde gehabt!«

»Sieh einer an, was der für Gelüste hat,« sagte die Alte, »nein, ich habe nichts, und der Ofen ist heute auch gar nicht geheizt worden.«

»Wir würden ja morgen alles gehörig bezahlen,« fuhr der Philosoph fort, »wahrhaftig – bar bezahlen.« Und er setzte leise hinzu: »Hol dir's doch vom Teufel.«

»Vorwärts, vorwärts, seid zufrieden mit dem, was man euch gibt. Daß mir der Teufel auch solch feine Herren zuführen mußte!«

Bei diesen Worten wurde es dem Philosophen Choma ganz wehmütig ums Herz, plötzlich aber witterte seine Nase den Geruch von getrockneten Fischen. Er warf einen Blick auf die Hosen des Theologen, der neben ihm her ging, und sah, daß ihm ein riesiger Fischschwanz aus der Tasche ragte.

Der Theologe hatte nämlich schon Zeit gefunden, eine ganze Karausche aus der Fuhre wegzustibitzen. Da dies aber nicht aus Habgier, sondern mehr aus Gewohnheit geschehen war, hatte er seine Karausche längst vergessen und spähte schon wieder nach allen Seiten, was er nun noch erwischen könnte: selbst ein zerbrochenes Rad war nicht sicher vor ihm. Der Philosoph Choma steckte daher seine Hand in Haljawas Tasche, als sei's seine eigene, und holte die Karausche hervor.

Die Alte hatte die Burschen bald untergebracht: Der Rhetor kam in die Hütte, der Theologe in eine leere Kammer, und den Philosophen führte sie in einen Schafstall.

Als der Philosoph allein war, verspeiste er sofort die Karausche, untersuchte die geflochtenen Wände des Stalles, versetzte einem neugierigen Schwein, das den Rüssel aus dem anstoßenden Kober hineinsteckte, einen Stoß mit dem Fuß, und legte sich auf die rechte Seite, um sofort einzuschlafen wie ein Toter. Da öffnete sich plötzlich die niedrige Tür, und die Alte trat gebückt in den Stall.

»Ah, Mütterchen! Was willst du?« sagte der Philosoph.

Aber die Alte ging mit ausgebreiteten Armen gerade auf ihn zu.

»Ach so«, dachte der Philosoph. »Nein, mein Täubchen, du bist mir zu alt.«

Er rückte etwas ab, aber die Alte kam unbekümmert näher.

»Höre, Mütterchen, jetzt ist's Fastenzeit, und ich gehöre zu den Menschen, die die Fasten auch für tausend Goldstücke nicht verletzen«, sagte der Philosoph.

Aber die Alte sprach kein Wort; sie breitete ihre Arme aus und suchte ihn zu fangen.

Dem Philosophen wurde ganz unheimlich zumute, besonders als er merkte, daß ihre Augen in ungewöhnlichem Glanze aufleuchteten. »Mütterchen, was ist mit dir? Geh' mit Gott!« schrie er.

Aber die Alte sagte noch immer nichts und griff mit beiden Händen nach ihm.

Er sprang auf, um fortzulaufen, doch die Alte stellte sich in die Tür, sah ihn mit funkelnden Augen an und ging von neuem auf ihn los.

Der Philosoph wollte sie mit den Händen fortstoßen, aber er fühlte zu seinem Erstaunen, daß er die Arme nicht bewegen konnte. Seine Füße rührten sich nicht vom Fleck, er empfand mit Schrecken, daß ihm selbst die Stimme den Dienst versagte; er wollte etwas sagen, aber seine Lippen bewegten sich nur, ohne einen Laut hervorzubringen. Er hörte nur, wie sein Herz schlug, und sah, wie die Alte dicht an ihn herantrat, ihm die Hände zusammenlegte, ihm den Kopf hinabbog und mit katzenartiger Geschwindigkeit auf seinen Rücken sprang. Sie gab ihm mit dem Besen einen Schlag auf die Lenden, und er galoppierte wie ein Reitpferd davon und trug sie auf den Schultern fort. Dies alles geschah so schnell, daß der Philosoph gar nicht zur Besinnung kam; er griff mit beiden Händen nach seinen Knien und wollte die Beine festhalten; aber zu seiner größten Bestürzung bewegten sie sich gegen seinen Willen und machten Sprünge wie der beste Tscherkessen-Renner. Erst als sie aus dem Gehöft heraus waren, und sich die weite Schlucht und der kohlschwarze Wald zu ihrer Rechten ausbreitete, da sagte er zu sich selbst: »Aha, das ist eine Hexe.«

Die ihm zugewandte Mondsichel leuchtete hell am Himmel, der schüchterne, nächtliche Glanz breitete sich gleich einer durchsichtigen Decke über die Erde und wogte wie eine zarte Rauchwolke hin und her; Wald, Wiesen, Himmel und Täler, alles schien mit offenen Augen zu schlafen; es war ganz windstill, nirgends schien sich ein Lüftlein zu regen. Etwas Feuchtes und Laues lag in der mitternächtlichen Kühle; die Schatten der Bäume und Sträucher fielen gleich Kometenschweifen spitz und kantig auf die abschüssige Ebene. In solcher Nacht jagte der Philosoph Choma Brut, mit seinem seltsamen Reiter auf dem Rücken, dahin. Ein wunderbar quälendes, unheimlich süßes Gefühl erfüllte sein Herz. Er senkte den Kopf und sah, daß das Gras, das seine Füße noch kurz zuvor berührt hatten, jetzt tief, tief unter ihm lag, und darüberhin floß ein durchsichtiges Gewässer, kristallhell wie das einer Gebirgsquelle; das Gras schien den Boden eines hellen, durchsichtigen, bis zum Grunde klaren Meeres zu bilden, wenigstens sah er deutlich, daß er sich mit der auf seinem Rücken hockenden Alten darin spiegelte. Er sah dort unten statt des Mondes eine Sonne aufleuchten, er hörte die blauen Glockenblumen mit gesenkten Köpfchen läuten, und er bemerkte, wie eine Nixe aus dem Riedgras hervorschwamm – ihr Rücken und ihre vollen, prallen Lenden bebten und leuchteten, sie schien ganz aus Licht und Glanz gewebt. Sie wandte sich ihm zu, und er blickte ihr in ihr Antlitz mit den klaren, hellen, strahlenden Augen – sie kam näher, ihrem Munde entströmte ein Gesang, der ihm bis in die Tiefen der Seele drang – jetzt schwamm sie auf der Oberfläche, stimmte ein silberhelles Lachen an und entfernte sich wieder. Doch nun warf sie sich auf den Rücken. Ihre Brüste, die mit dem sanften Glanze des Porzellans, dem der Schmelz fehlt, wie durch eine Wolkenhülle hindurchschimmerten, leuchteten aus ihrer weißen, schwellenden, zarten Umgebung hervor; das Wasser rann wie ein Perlenregen in kleinen Tröpfchen auf sie herab, und sie zittert und bebt und lacht hell aus der Flut hervor. –

Sieht er es oder sieht er es nicht? Träumt er oder ist er wach? Und was soll das bedeuten? Ist das vielleicht der Wind, oder ist es Musik? Es klingt und klingt, steigt auf und kommt näher und dringt ihm in die Seele wie ein unerträglicher, jubelnder Triller.

»Was ist das«, dachte der Philosoph Choma Brut, während er hinunterblickte, und raste weiter. Der Schweiß floß ihm in Strömen von der Stirn; er hatte ein dämonisch-süßes Gefühl; eine durchbohrende, quälende, schreckliche Wonne rieselte durch seinen Körper. Manchmal glaubte er, daß er kein Herz mehr habe, und er griff erschrocken mit der Hand danach. Erschöpft und verwirrt begann er alle ihm bekannten Gebete vor sich hinzumurmeln; er wiederholte alle Geisterbeschwörungen und fühlte plötzlich etwas wie eine Erleichterung; er merkte, wie sein Schritt sich verlangsamte, die Hexe klammerte sich weniger fest an seinen Rücken, er berührte das dichte Gras, das für ihn alles Außergewöhnliche verloren hatte, wieder mit den Füßen. Die Mondsichel leuchtete hell am Himmel.

»Vortrefflich«, dachte der Philosoph Choma und begann seine Beschwörungen fast laut herzusagen. Endlich sprang er mit blitzartiger Geschwindigkeit unter der Alten fort, und setzte sich nun seinerseits auf ihren Rücken. Die Alte lief mit kurzen, kleinen Schritten vorwärts, aber so schnell, daß dem Reiter fast der Atem ausging. Er konnte die Erde kaum noch erkennen; alles war deutlich sichtbar, obgleich es nicht einmal Vollmond war. Die Täler waren flach, aber die große Schnelligkeit, mit der sie vorüberrasten, ließ dem Auge alles unklar und trügerisch erscheinen. Choma ergriff ein am Boden liegendes Holzscheit, und begann die Alte aus Leibeskräften zu prügeln. Sie stöhnte anfangs wütend und drohend auf, dann aber schwächer, angenehmer, immer reiner und leiser, und zuletzt klang es wie Silberglockengeläut, und drang ihm tief in die Seele. Unwillkürlich kam ihm der Gedanke: Ist das wirklich noch die Alte? »Ach, ich kann nicht mehr!« flüsterte sie ganz erschöpft und fiel zu Boden.

Er sprang auf und sah ihr in die Augen. Die Morgenröte stieg empor, in der Ferne erstrahlten die Kirchen von Kiew. Vor ihm lag ein wunderbar schönes Mädchen, mit einem herrlichen, zerzausten Zopf, und schweren, seidenweichen Wimpern, die so lang waren wie ein Pfeil. Sie breitete ohnmächtig ihre nackten, weißen Arme aus, richtete die tränenerfüllten Augen nach oben und stöhnte.

Choma zitterte am ganzen Körper wie ein Espenblatt. Etwas wie Mitleid, eine seltsame Aufregung, und eine ihm bis dahin ganz fremde Schüchternheit erfaßten ihn. Er sprang auf und lief so schnell er konnte. Sein Herz klopfte unruhig; er vermochte sich das neue Gefühl, das ihn gepackt hatte, gar nicht zu erklären. In das Gehöft zurückzukehren – dazu verspürte er keine Lust; so lief er denn nach Kiew, und dachte den ganzen Weg lang über das unerklärliche Abenteuer nach.

Es war kaum noch ein Seminarist in der Stadt. Alle waren auf den Dörfern »in Kondition«, oder einfach ohne Stellung, da man auf den kleinrussischen Gütern Käse, saure Gurken und Quarkkuchen, die so groß sind wie ein Hut, essen darf, ohne einen Heller dafür zu bezahlen. Die große baufällige Hütte, in der die Burssa einquartiert war, stand ganz leer, und soviel der Philosoph auch in allen Ecken herumsuchen mochte – er ließ selbst die Löcher und Spalten im Dach nicht unbeachtet –, nirgends fand er ein Stück Speck, ja, nicht einmal eine alte Brezel, die die Seminaristen an solchen Stellen zu verstecken pflegten.

Übrigens fand der Philosoph bald ein Mittel, um dies Übel abzustellen. Er ging auf den Markt, spazierte hier drei- bis viermal pfeifend auf und ab, winkte einer am anderen Ende sitzenden jungen Witwe mit einem gelben Kopftuch zu, die mit Bändern, Schrot und Rädern handelte, und wurde noch am selben Tage mit Quarkkuchen aus Weizenmehl, Hühnerbraten usw. versorgt – es ist unmöglich, aufzuzählen, was da alles auf dem Tische stand, der in einem kleinen Lehmhäuschen inmitten eines Kirschgartens gedeckt wurde. Am Abend sah man den Philosophen in der Schenke; er lag auf der Bank, rauchte wie gewöhnlich seine Pfeife und warf dem jüdischen Wirt vor allen Leuten ein kleines Goldstück hin. Vor ihm stand ein Krug mit Schnaps, er betrachtete die Kommenden und Gehenden mit gleichgültigen, zufriedenen Blicken und dachte nicht im geringsten mehr an sein seltsames Abenteuer.

 

Inzwischen aber verbreitete sich überall das Gerücht, die Tochter eines der reichsten Hauptleute – der ungefähr 50 Werst von Kiew eine Besitzung hatte – sei eines Morgens ganz zerschlagen von einem Spaziergang zurückgekommen. Sie hätte kaum noch die Kraft gehabt, das väterliche Haus zu erreichen, läge im Sterben, und hätte den Wunsch geäußert, der Seminarist Choma Brut aus Kiew solle nach ihrem Tode während dreier Nächte die Totenmesse bei ihr lesen. Der Philosoph erfuhr das alles durch den Rektor selbst, der ihn zu sich ins Zimmer beschied und ihn beauftragte, sich unverzüglich auf den Weg zu machen, da der berühmte Hauptmann zu diesem Zweck ein paar Leute und seinen Wagen hergeschickt hätte. Der Philosoph zitterte; ein unerklärliches Gefühl überkam ihn. Er konnte sich selbst keine Rechenschaft über den Grund geben, aber eine dunkle Ahnung sagte ihm, daß ihm nichts Gutes bevorstände. Ohne selbst zu wissen warum, erklärte er geradeheraus, daß er nicht hinfahren werde.

»Hör' mal, Domine Choma,« sagte der Rektor (es gab Fälle, wo er sehr höflich mit seinen Untergebenen umging), »kein Teufel fragt danach, ob du fahren willst oder nicht. Ich sage dir nur eins: Wenn du hier den Störrischen spielst und räsonierst, so lasse ich dir den Rücken und anliegende Körperteile so mit jungen Birkenruten durchbläuen, daß du dir den Gang ins Bad ersparen kannst.« Der Philosoph kratzte sich ein wenig hinter dem Ohr, ging wortlos hinaus, und setzte seine ganze Hoffnung auf seine Beine, von denen er bei der ersten günstigen Gelegenheit Gebrauch machen wollte. Ganz in Gedanken versunken stieg er die steile Treppe hinab, die in den pappelumstandenen Hof führte und blieb einen Moment stehen; er hörte den Rektor mit deutlicher Stimme dem Verwalter und noch jemandem, – wahrscheinlich einem Boten des Hauptmanns, der nach ihm gekommen war, – Befehle erteilen und sagen:

»Danke deinem Herrn für die Grütze und die Eier und sage ihm, sobald die Bücher, von denen er schreibt, fertig sind, würde ich sie ihm zusenden; ich habe sie dem Schreiber schon zur Abschrift übergeben. Und noch was, mein Lieber, vergiß deinen Herrn nicht daran zu erinnern, daß ihr auf eurem Gut so herrliche Fische habt, besonders einen ganz ausgezeichneten Stör: er könnte mir bei Gelegenheit etwas davon schicken; bei uns auf den Jahrmärkten ist er nicht gut und zu teuer. Und du, Jawtuch, gib den Leuten einen Becher Schnaps; den Philosophen aber bindet mir fest, sonst läuft er euch noch davon.«

»Sieh doch den Teufelskerl!« dachte der Philosoph. »Er hat es schon herausgeschnüffelt! So'n Schlammbeißer!«

Er ging hinunter und erblickte einen Wagen, den er zuerst für einen Getreideschuppen auf vier Rädern hielt; und wahrhaftig, er war so tief wie ein Ofen, in dem man Ziegel brennt. Dies war ein gewöhnlicher Krakauer Wagen, in dem an die fünfzig Juden samt ihrer Ware in allen Städten umherzufahren pflegten, wo sie nur einen Jahrmarkt wittern. Sechs gesunde, kräftige, ältere Kosaken erwarteten ihn. Die kurzen, mit Troddeln verzierten Röcke aus feinem Tuch bewiesen, daß die Kosaken einem reichen und angesehenen Herrn dienten. Die kleinen Narben auf der Stirn ließen erkennen, daß sie im Kriege gewesen und nicht ganz ruhmlos gekämpft hatten.

»Was bleibt mir übrig! Kein Mensch kann seinem Schicksal entgehen«, dachte der Philosoph, wandte sich an die Kosaken und rief mit lauter Stimme: »Grüß Gott, Kameraden!«

»Grüß Gott, Herr Philosoph«, erwiderten einige von den Kosaken.

»Ich soll also mit euch zusammen fahren? Der Wagen kann sich schon sehen lassen!« fuhr er fort und stieg ein. »Schade, daß keine Musikanten dabei sind, hier ließe sich's gut tanzen!«

»Ja es ist ein geräumiger Wagen«, sagte der eine Kosak und stieg mit dem Kutscher auf den Bock. Dieser hatte statt der Mütze, die er in der Schenke gelassen, ein Tuch um den Kopf gebunden. Die übrigen fünf krochen mit dem Philosophen in die Versenkung und setzten sich dort auf Säcke, die mit allerlei Waren, die die Kosaken in der Stadt gekauft hatten, angefüllt waren.

»Es wäre interessant, zu wissen,« begann der Philosoph, »wieviel Pferde nötig wären, um den Wagen von der Stelle zu bringen, wenn man ihn mit allerhand Waren, etwa mit Salz oder Eisenschienen, beladen würde.«

»Ja,« sagte nach einigem Schweigen der Kosak, der auf dem Bocke saß, »da wäre wohl eine große Menge dazu nötig.«

Mit dieser befriedigenden Antwort glaubte der Kosak sich das Recht erworben zu haben, den Rest des Weges über zu schweigen.

Der Philosoph hätte gern Genaueres über den Hauptmann erfahren: über seinen Charakter, was man über seine Tochter wußte, die unter so merkwürdigen Umständen nach Hause gekommen war und jetzt im Sterben lag, und deren Geschick nun mit seinem eigenen verknüpft wurde; wie sie leben und was sie zu Hause treiben. Er suchte seine Begleiter auszufragen, aber wahrscheinlich waren die Kosaken auch Philosophen, denn statt zu antworten, schwiegen sie still und rauchten, auf den Säcken hingestreckt, weiter.

Nur der eine wandte sich mit dem kurzen Befehl an den Kameraden auf dem Kutschbock: »Paß auf, Owerko, alter Maulaffe; wenn du bei der Schenke an der Straße nach Tschuchrailow vorbeikommst, so vergiß nicht anzuhalten und uns zu wecken, falls einer von uns einschlafen sollte.«

Hierauf schlummerte er ziemlich geräuschvoll ein. Übrigens war diese Ermahnung ganz überflüssig, denn kaum näherte sich das Riesengefährt der Schenke an der Straße nach Tschuchrailow, als alle wie aus einem Munde losschrien: »Halt!« Auch waren Owerkos Gäule schon so abgerichtet, daß sie von selbst vor jeder Schenke still standen. Trotz des heißen Julitages krochen alle aus dem Wagen und gingen in die niedrige, schmutzige Stube, wo der jüdische Schankwirt seine alten Bekannten voller Freude begrüßte. Der Jude holte sofort ein paar Würste aus Schweinefleisch herbei, die er unter seinen Rockschößen versteckt hielt, und legte sie auf den Tisch, um sich schleunigst von diesem vom Talmud verbotenen Gericht abzuwenden. Alle setzten sich um den Tisch herum, und bald hatte jeder Gast einen Tonkrug vor sich stehen. Auch der Philosoph, Choma Brut, mußte an dem gemeinsamen Mahle teilnehmen. Und da die Kleinrussen sofort anfangen, sich zu küssen oder zu heulen, wenn sie ein wenig angetrunken sind, so hallte die Hütte bald von schallenden Küssen wider. »Laß uns anstoßen, Spirid! Komm her, Dorosch, ich will dich küssen!« Einer der Kosaken, der etwas älter war als die anderen, und dessen Schnurrbart schon grau zu werden begann, stützte seinen Kopf auf die Hand und fing bitterlich an zu weinen. Er jammerte, daß er weder Vater noch Mutter habe und ganz allein auf der Welt dastehe. Ein anderer, der ein großer Schwätzer war, tröstete ihn fortwährend, und sagte: »Weine doch nicht, bei Gott, weine nicht, was ist denn dabei . . . Gott weiß schon, warum es so ist.«

Ein anderer, namens Dorosch, wurde plötzlich sehr neugierig, wandte sich an den Philosophen Choma und fragte ihn in einem fort: »Ich möchte gern wissen, was man euch in der Burssa eigentlich beibringt. Das, was der Vorsänger in der Kirche vorliest, oder etwas anderes?«

»Frag' doch nicht,« sagte der Räsoneur gedehnt, »laß es doch gehen wie es geht. Gott weiß schon, wie es am besten ist, Gott weiß alles!«

»Nein, ich will wissen, was in den Büchern steht,« sagte Dorosch, »vielleicht ist es etwas ganz anderes, als was der Vorsänger sagt!«

»Mein Gott, mein Gott,« sagte der würdige Moralist, »wie kann man nur so sprechen? Gott hat es nun einmal so angeordnet: Und was Gott gemacht hat, das läßt sich nicht ändern.«

»Ich will aber alles wissen, was in den Büchern steht; ich will in die Burssa eintreten, bei Gott, ich werde dort eintreten! Was? Was denkst du? Ich werde nichts lernen? Alles werde ich lernen, alles!«

»Mein Gott, mein Gott«, sagte der Tröster, und legte seinen Kopf auf den Tisch, er war wirklich nicht mehr imstande, ihn noch länger auf den Schultern zu halten. Die übrigen Kosaken sprachen von ihren Herrschaften und darüber, warum wohl der Mond am Himmel leuchte.

Als der Philosoph Choma merkte, wie es in ihren Köpfen aussah, beschloß er, den Moment auszunutzen und sich aus dem Staube zu machen. Zuerst wandte er sich an den graubärtigen Kosaken, der sich um Vater und Mutter grämte. »Was weinst du, Onkelchen?« fragte er. »Sieh, ich bin auch eine Waise. Freunde, laßt mich laufen! Gebt mir die Freiheit! Wozu braucht ihr mich?«

»Lassen wir ihn laufen,« sagten einige, »er ist ja eine Waise. Lassen wir ihn gehen, wohin er will.«

»O mein Gott, mein Gott,« stöhnte der Moralist, langsam seinen Kopf erhebend, »laßt ihn laufen! Mag er gehen, wohin er will!«

Und die Kosaken waren schon im Begriff, ihn selbst ins Freie zu führen, aber der, der so viel Wißbegierde gezeigt hatte, hielt sie zurück und sagte: »Rührt ihn nicht an; ich will mit ihm über die Burssa reden, ich werde selbst in die Burssa eintreten!«

Übrigens wäre ihm die Flucht kaum gelungen, denn als der Philosoph sich vom Tisch zu erheben suchte, fühlte er, daß seine Beine wie aus Holz waren, und er glaubte, im Zimmer so viel Türen zu erblicken, daß er kaum die rechte gefunden hätte.

Erst gegen Abend fiel es der Gesellschaft ein, daß sie sich wieder auf den Weg machen müßte. Sie machten sich's im Wagen bequem, und brachen auf, indem sie die Pferde antrieben und ein Lied anstimmten, dessen Sinn und Wortlaut wohl niemand enträtselt hätte. Nachdem sie die größere Hälfte der Nacht gefahren waren, wobei sie beständig vom Wege abkamen, obwohl sie ihn fast auswendig kannten, rollten sie endlich einen steilen Berg ins Tal hinab; der Philosoph erblickte zu beiden Seiten des Weges Lattenzäune, Hecken und Dächer, die hier und da zwischen den niedrigen Bäumen hervorschauten. Es war ein großes Dorf, das dem Hauptmann gehörte. Die Mitternacht war längst vorüber; der Himmel war dunkel, nur hier und da sah man einen einsamen Stern blinken, und in keiner Hütte war ein Licht zu entdecken. Sie fuhren, von Hundegebell begleitet, in das Dorf ein. Auf beiden Seiten standen Scheunen und kleine Häuser mit Strohdächern; das eine, das gerade in der Mitte und dem Tor gegenüber lag, war größer als die übrigen und schien dem Hauptmann als Wohnung zu dienen. Das Gefährt hielt vor einem kleinen Wagenschuppen, und unsere Reisenden legten sich nieder, um zu schlafen. Der Philosoph verspürte jedoch den Drang, sich die herrschaftlichen Wohnräume wenigstens von außen anzusehen, aber wie sehr er auch seine Augen anstrengte, er konnte nichts klar unterscheiden: Statt des Hauses erblickte er einen Bären, und der Schornstein schien ihm dem Rektor zu gleichen. – Der Philosoph gab daher seine Bemühungen auf und ging schlafen.

Als er wieder erwachte, war der ganze Hof schon in Bewegung: Die Tochter des Hauses war in der Nacht gestorben. Die Diener liefen atemlos hin und her; ein paar alte Weiber heulten, eine Menge Neugieriger versuchte es, durch die Ritzen im Zaune zu erspähen, was auf dem herrschaftlichen Hof vorging. Der Philosoph begann, in aller Ruhe die Stätte zu betrachten, die er in der Nacht nicht hatte erkennen können. Das herrschaftliche Haus war ein kleines, niedriges Gebäude, wie man solche in alten Zeiten in Kleinrußland zu bauen pflegte, und hatte ein Strohdach. Die kleine, spitz zulaufende, hohe Giebelwand mit dem einen Fenster, das wie ein nach oben gerichtetes Auge aussah, war ganz mit blauen und gelben Blumen und roten Halbmonden bemalt. Sie ruhte auf Eichenpfosten, die oben rund und kunstvoll gedrechselt und unten sechseckig waren. Unter der Giebelwand befand sich eine kleine Treppe, und rechts und links standen Bänke. An den Seiten des Hauses gab es Schutzdächer auf ähnlichen, hier und da gewundenen Säulen. Davor stand ein hoher Birnbaum mit pyramidenförmiger Krone in der grünen Pracht seiner leichtbewegten Blätter. In der Mitte des Hofes befanden sich mehrere, in zwei Reihen geordnete Speicher, wodurch gleichsam eine breite Straße gebildet wurde, die direkt zum Herrenhause führte. Hinter den Speichern, dicht am Tor, standen zwei dreieckige Kellergebäude, die einander gerade gegenüberlagen und gleichfalls mit Stroh gedeckt waren. Ihre dreieckigen Vorderwände hatten eine niedrige Tür und waren mit allerhand Bildern bemalt. Auf der einen war ein Kosak dargestellt, der auf einem Faß saß und einen Krug mit der Inschrift: Ich trinke Rest! in die Höhe hob. Die andere hatte der Künstler mit runden und flachen Flaschen bemalt, und zu beiden Seiten erblickte man, was wohl besonders schön sein sollte, je ein Pferd, das sich emporbäumte, und ferner mehrere Pfeifen und Schellen, worunter zu lesen war: »Der Wein ist des Kosaken Wonne!« Durch das riesige Bodenfenster guckten eine Trommel und ein paar kupferne Trompeten hervor. Am Tor standen zwei Kanonen. Dies alles ließ vermuten, daß der Hausherr sich zu amüsieren liebte, und daß der Hof oft von lustigen Gelagen widerhalle. Hinter dem Tor standen zwei Windmühlen. An der Rückseite des Hauses befanden sich Gärten, und zwischen den Wipfeln der Bäume sah man nichts als dunkle Kappen von den Schornsteinen der im dichten Grün verborgenen Hütten. Das ganze Dorf lag auf dem breiten und ebenen Vorsprung eines Berges. Im Norden wurde dies alles von dem steil aufsteigenden Felsen abgeschlossen, der mit seinem Fuß bis dicht an den Hof heranreichte. Von unten gesehen schien er noch steiler zu sein, und auf seinem Gipfel hoben sich die zerstreut stehenden Stengel des dürren Steppengrases schwarz vom Himmel ab. Die nackte Lehmerde war ganz von Wasserrinnen und Regenlöchern zerrissen und verbreitete eine seltsame Schwermut. Auf dem abschüssigen Abhang sah man an zwei Stellen je eine Hütte stehen, deren eine von einem Apfelbaum beschattet wurde, der an der Wurzel durch kleine Pflöcke gestützt, mit herangefahrener Erde bedeckt war, und dessen Äpfel, die der Wind herunterwarf, bis in den herrschaftlichen Hof rollten. Vom Gipfel führte ein Weg über den ganzen Berg am Hofe vorbei bis ins Dorf hinunter. Als der Philosoph den furchtbaren Abhang des Berges betrachtete und sich der gestrigen Fahrt erinnerte, sagte er sich, der Hausherr müsse fabelhaft kluge Pferde, oder die Kosaken enorm widerstandsfähige Köpfe haben, wenn sie nicht einmal im Rausche mitsamt dem riesigen Gefährt und dem Gepäck Hals über Kopf in den Hof hinabgerollt waren. Der Philosoph stand auf dem höchsten Punkte des Hofes: als er sich umwandte und auf die entgegengesetzte Seite blickte, bot sich ihm ein ganz anderes Bild dar. Das Dorf zog sich längs des Abhangs bis in die Ebene hin. Unabsehbare Wiesen erstreckten sich im Umkreis bis an den Horizont, deren helles Grün wurde in der Ferne immer dunkler. Im Hintergrunde sah man eine ganze Reihe von Gehöften im blauen Dämmerlichte daliegen, obgleich sie wohl zwanzig und mehr Werst weit entfernt sein mochten. Rechts von diesen Wiesen zog sich eine Hügelkette hin, und ganz hinten glühte ein dunkler Streifen des Dnjepr auf.

»Welch herrliches Stück Erde,« sagte der Philosoph, »wie schön ließe sich's hier leben; im Dnjepr und in den Teichen könnte man Fische fangen, und mit Gewehr und Netz nach Schnepfen und Zwergtrappen jagen; übrigens wird es in diesen Wiesen auch andere Trappen geben. Man könnte in Hülle und Fülle Früchte trocknen und sie in der Stadt verkaufen, oder noch besser Schnäpse daraus machen, denn Fruchtschnaps geht doch noch über Branntwein. – Herrgott, ich muß mich doch umsehen, wie ich am besten ausreißen könnte.«

Hinter dem Zaun bemerkte er einen kleinen Fußweg, der ganz mit Steppengras bewachsen war; mechanisch setzte er den Fuß darauf; er wollte anfangs nur ein wenig spazieren gehen, und dann still zwischen den Hütten hindurchschlendern und sich ins freie Feld schlagen. Da fühlte er plötzlich eine kräftige Hand auf seiner Schulter.

Hinter ihm stand der alte Kosak, der gestern über den Verlust von Vater und Mutter und über seine Einsamkeit geklagt hatte.

»Du hoffst vergeblich, aus diesem Hofe zu entfliehen, Herr Philosoph,« sagte er, »das ist kein Haus, wo man davonlaufen kann; – übrigens sind auch die Wege sehr schlecht und beschwerlich für Fußgänger – geh lieber zum Herrn, er erwartet dich schon längst in seinem Zimmer.«

»Gut denn, gehen wir, warum auch nicht – ich habe nichts dagegen«, antwortete der Philosoph und folgte dem Kosaken.

Der Hauptmann war schon alt. Er hatte einen grauen Schnurrbart und saß, den Kopf auf beide Hände gestützt, mit einem Ausdruck dumpfer Trauer am Tisch. Er mochte fünfzig Jahre alt sein; aber der tiefe Gram in seinen Zügen und die bleiche, schlechte Farbe bewiesen, daß sein Herz ganz plötzlich gebrochen und vernichtet, und daß seine ganze frühere Fröhlichkeit und das laute sorglose Leben für immer zerstört waren. Als Choma mit dem alten Kosaken in das Zimmer trat, nahm der Hauptmann die eine Hand vom Gesicht und nickte unmerklich mit dem Kopfe; Choma und der Kosak verbeugten sich tief vor ihm und blieben ehrfurchtsvoll an der Türe stehen.

»Wer bist du und wo kommst du her, mein Lieber? Was ist dein Beruf?« fragte der Hauptmann nicht eben freundlich, aber auch nicht schroff.

»Ich bin ein Seminarist und heiße Choma Brut, der Philosoph.«

»Und wer war dein Vater?«

»Ich weiß es nicht, gnädiger Herr.«

»Und deine Mutter?«

»Meine Mutter habe ich auch nicht gekannt. Bei richtiger Überlegung muß ich natürlich eine Mutter gehabt haben, aber wer sie war, woher sie stammte und wo sie gelebt hat, das weiß ich bei Gott nicht, gnädiger Herr!«

Der Alte schwieg und schien einen Augenblick in Grübeleien versunken.

»Wie hast du denn meine Tochter kennengelernt?«

»Ich habe sie gar nicht kennengelernt, gnädiger Herr, bei Gott, ich habe sie nie kennengelernt. Solange ich auf der Welt bin, habe ich noch nie mit einem Fräulein zu tun gehabt. Gott bewahre mich davor, um nichts Unschicklicheres zu sagen.«

»Warum hat sie denn aber gerade dich und keinen anderen dazu bestimmt, an ihrem Sarge zu beten.«

Der Philosoph zuckte die Achseln. »Mein Gott, wie soll ich das erklären? Es ist ja bekannt, daß die vornehmen Herrschaften manchmal auf Dinge kommen, die auch der gelehrteste Mensch nicht zu erklären vermag. ›Wenn der Herr will – muß der Knecht springen‹, sagt das Sprichwort.«

»Lügst du auch nicht, Herr Philosoph?«

»So wahr ich hier stehe, der Blitz soll mich treffen, wenn ich lüge!«

»Wenn sie nur noch einen Augenblick länger gelebt hätte,« sagte der Hauptmann traurig, »dann hätte ich gewiß alles erfahren. ›Laß niemand für mich beten, Vater, schicke gleich in das Kiewer Seminar und laß den Seminaristen Choma Brut kommen. Er soll drei Nächte lang für meine sündige Seele beten. Er weiß alles . . .‹ was er aber wissen sollte, das bekam ich nicht mehr zu hören. Nur dies konnte mein Liebling noch sagen, dann starb sie. Du bist sicherlich durch deinen reinen Lebenswandel und durch deine Gottesfurcht berühmt, mein Lieber, und sie hat vielleicht von dir gehört.«

»Wer? Ich?« sagte der Seminarist und trat vor Erstaunen einen Schritt zurück. »Ich, wegen meines gottesfürchtigen Lebens berühmt?« Er sah den Hauptmann gerade in die Augen. »Gott segne Sie! Herr, was sagen Sie da! Ich . . . ich . . . ich schäme mich fast, davon zu reden . . . aber ich bin am Abend vor Gründonnerstag noch zur Bäckerin gegangen!«

»Nun, nun . . . sie wird schon ihren Grund gehabt haben, als sie diese Bestimmung traf! Du mußt gleich heute beginnen.«

»Euer Gnaden, gestatten Sie mir, darauf zu erwidern . . . natürlich, jeder Mensch, der die Heilige Schrift kennt, kann ja – je nach den Verhältnissen . . . aber hier wäre ein Diakonus oder wenigstens ein Vorsänger mehr am Platz. Das sind doch verständige Leute, die da wissen, wie alles gemacht werden muß . . . ich dagegen . . . ich habe ja nicht einmal die Stimme, die dazu nötig ist, ich bin . . . weiß der Teufel, was ich bin! Ich sehe ja auch nach nichts aus!«

»Mach, was du willst, aber ich will alles erfüllen, was mein Liebling bestimmt hat, und nichts soll mich gereuen. Wenn du von heute an die üblichen drei Nächte bei ihr wachen und beten willst, sollst du reichlich belohnt werden. Wenn du dich dagegen weigerst – ich möchte selbst dem Teufel nicht raten, mich zu reizen!«

Der Hauptmann sprach diese letzten Worte mit solch einer Energie aus, daß der Philosoph ihren Sinn vollkommen begriff.

»Folge mir«, sagte der Hauptmann.

Sie traten in den Flur. Der Hauptmann öffnete die Tür des gegenüberliegenden Zimmers. Der Philosoph blieb einen Augenblick im Flur stehen, um sich die Nase zu putzen, und trat dann mit einem unwillkürlichen Schauder über die Schwelle.

Der ganze Boden war mit rotem chinesischen Tuch bedeckt. In der Ecke, unter den Heiligenbildern war die Tote auf einem hohen Tisch aufgebahrt. Sie lag auf einer blausamtenen Decke, die mit goldenen Fransen und Quasten geschmückt war. Am Kopf- und Fußende standen hohe mit Schneeballenblüten umwundene Wachskerzen, die ein mattes Licht verbreiteten, das in der Helle des Tages verblich. Vor der Leiche saß der untröstliche Vater; er hatte der Tür den Rücken zugekehrt und verdeckte das Antlitz der Entschlafenen, so daß Choma es nicht sehen konnte. Der Philosoph war aufs höchste erstaunt über die Worte, die er bei seinem Eintritt ins Zimmer vernahm.

»Ich weine nicht deshalb, liebes Töchterlein, weil du mir zum Kummer und Herzeleid, in der Blüte der Jahre die Erde verläßt, ohne das Alter erreicht zu haben, das dem Menschen vergönnt ist; ich klage darüber, daß ich nicht weiß, welcher grimme Feind deinen Tod verursacht hat. Wüßte ich, wer es gewagt hat, dich zu beleidigen, oder nur ein böses Wort über dich zu sagen – bei Gott, wenn er ein alter Mann ist wie ich, er sollte seine Kinder nicht wiedersehen; – und wenn er noch jung ist, sollte er nie wieder zu Vater und Mutter zurückkehren. Seine Leiche sollte den Vögeln und wilden Tieren der Steppe zum Fraße dienen! Weh' mir, du Blume des Feldes, meine kleine Wachtel, du Licht meiner Augen – ich muß den Rest meiner Tage freudlos und traurig verbringen und mit dem Saum meines Rockes die kargen Tränen trocknen, die aus meinen alten Augen tropfen, während meine Feinde sich des Lebens freuen, und sich in der Stille über den schwachen Greis lustig machen werden!«

Er schwieg, ein heftiger Schmerz erschütterte ihn und machte sich in einem Tränenstrom Luft.

Der Philosoph war tief gerührt von diesem namenlosen Kummer. Er hustete ein wenig, stieß einen dumpfen krächzenden Ton aus und räusperte sich.

Der Hauptmann wandte sich um und wies ihm einen Platz am kleinen Lesepult zu Häupten der Toten an. Auf dem Pult lagen mehrere Bücher.

»Ich will die drei Nächte schon irgendwie hinbringen und mein Pensum absolvieren,« dachte der Philosoph, »dafür wird mir der Herr auch beide Taschen mit neuen glänzenden Goldstücken anfüllen.«

Er ging näher, räusperte sich noch einmal und begann zu lesen, ohne sich umzusehen, denn er hatte nicht den Mut, der Toten ins Gesicht zu blicken. Eine tiefe Stille umfing ihn: er merkte, daß der Hauptmann hinausgegangen war. Langsam wandte er den Kopf um, um die Tote anzusehen und . . .

Ein Zittern lief durch seine Glieder: vor ihm lag das schönste Mädchen, das je auf Erden gelebt hatte. Wohl nie noch war in der Form der Gesichtszüge strenge Schönheit so mit Harmonie vereinigt gewesen wie hier. Sie lag da wie eine Lebende; die herrliche, zarte, schnee- und silberweiße Stirn schien auf eine intensive Gedankenarbeit hinzudeuten, die feinen edlen Brauen, die wie ein nächtliches Dunkel die sonnige Helle des Tages durchbrachen – schwangen sich stolz über die geschlossenen Augen; lange Wimpern senkten sich wie eine Schar spitzer Pfeile auf die vom Feuer geheimer Wünsche glühenden Wangen; die rubinroten Lippen schienen zu einem seligen Lächeln und zu Ausbrüchen des Glücks und der Freude bereit . . . Und doch glaubte er in diesen Zügen etwas Schauerliches zu entdecken, das sich tief in seine Seele bohrte. Choma fühlte einen quälenden Schmerz in seinem Herzen; es war, wie wenn mitten im Wirbel ausgelassener Fröhlichkeit und einer sich im wilden Taumel drehenden Menge jemand einen Choral angestimmt hätte. Die Rubinlippen leuchteten so rot wie Herzblut. Plötzlich glaubte er in ihrem Gesicht etwas furchtbar Vertrautes zu erkennen; mit völlig veränderter Stimme schrie er auf: »Es ist die Hexe . . .«, erblaßte, wandte die Augen ab und begann von neuem die Gebete herunterzulesen. Es war dieselbe Hexe, die er getötet hatte.


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