Emil Gött
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Die Philosophie Friedrich Nietzsches
von Henri Lichtenberger

Eingeleitet und übersetzt von Elisabeth Förster-Nietzsche, 1899

»Was ich Wagnern nie vergeben habe? Daß er zu den Deutschen kondeszendierte, – daß er reichsdeutsch wurde . . .« Nietzsche über Wagner, 1888 (S. XLVII)

Muß das durchaus Kondeszendenz sein, wenn ein Mann zu seinem Stamme hält, bei allem Schmachvollen an dessen Zukunft glaubt, und seine eigne Kraft in zorniger Liebe einsetzt, um ihn auf die Höhe heraufzuarbeiten, aus der er ihn vermißt? Und, frage ich Nietzsche von jenem Standpunkte, stünde es mit Deutschland und den Deutschen besser, wenn sie nicht reichsdeutsch – das Gott erbarm genug! – geworden wären? Hätten sie sich hauen lassen, oder wieder heimzotteln sollen, ohne einen Meißelsatz und Hammerschlag an sich versucht zu haben? War der Versuch einer Reichsgründung nicht eine Aufwallung nach oben, nach der Zukunft, nach dem Anstande hin? Wozu also dieser Hohn ohne Bitterkeit enttäuschten Stolzes, und der Überlauf zu unsern Verächtern? Ich finde Kondeszendenz zu den Franzosen darin, echte deutsche Kondeszendenz, Schönfärberei der Fremde und – Selbstentwertung. Ich aber sage: man kann sehr deutsch sein, und sehr – Mensch! großer Mensch, wahrer Mensch. An der geistigen und menschlichen Größe und Gesundheit Nietzsches bildet für mich sein Verhältnis zum Vaterlande seines wahren Kinderlandes einen Flecken der Schwäche; der dadurch nicht gut wird, Frau Elisabeth, daß er an Nietzsche sitzt!

Noch eins: warum hat Nietzsche für den ›Willen zur Macht‹, wenn er in seinem Volke aufzuckt, diese Verachtung? – Übrigens möge es die tiefe Kluft zwischen ihm und mir – Ihm und mir! – charakterisieren, daß er über den Brand des Louvre weinen konnte, ich aber über die stümperhafte Reichsgründung.

 


 

»Was dient dir zur Erholung? – O du Neugieriger, was sprichst du da! Aber gib mir, ich bitte – – Was? Was? sprich es aus. – Eine Maske mehr. Eine zweite Maske.« Werke VII, 262 (S. 16)

Den Verkleinerern des Mannes: es gibt Dinge, Bilder, Gefühle, Gesichte, die unerfindlich sind; d. h. wenn sie nicht autochthon aus einer großen Natur quellen, der Witz allein, auch nicht der der Trauer, erfindet sie nicht. Für mein Gefühl öffnet sich hier die ungeheure Tiefe und die hohe Kunst dieses Geistes, dieser Natur.

 


 

»Nietzsche ward buchstäblich Atheist aus Religion und darum ward er es auch ohne Verzweiflung und moralische Beklemmung.« (S. 23)

Ich vermisse hier etwas: eine Unterscheidung zwischen dem Tode des alten, überlieferten Gottes und dem des eignen, den wir auf den Thron gehoben. Wenn Nietzsche schon beim ersten Thronwechsel Gott auf Nimmerwiedererwachen begrub, und zwar ohne Beklemmungen, so fehlt in seinem Leben ein Schmerz, ohne den ich ihn mir nicht denken kann, und die eben vorgetragene Rede des Tollen [W. V, 163] zeugt dafür, daß sein Leben von dem Sturze Gottes nicht unerschüttert blieb. Wie wollte ihm sonst die Größe dieser Menschentat so ungeheuer vorkommen! So ungeheuer, daß er ihr keine andere Kompensation weiß, als die Gottwerdung des Menschen, die in seinem Munde keine zweideutige und leichtfertige Phrase bildet.

 


 

»Mag Nietzsche denken oder handeln – denn Handeln und Denken sind für ihn eins –, so denkt und handelt sein ganzes Wesen.« (S. 32)

Wenn er so ganz und harmonisch war, wie man hier will, wo war dann die Quelle seiner viel und stark betonten Leiden! Glaubt man, der Erkennende litte nur etwa an den Schranken seiner Erkenntnis? Nein, ist er ein lebendiger Mensch, so leidet er an sich, und leiden heißt: sich zwiespältig und unharmonisch, gequält und im Kriege, und in nicht allzuimmer siegreichem, fühlen. – Dies soll nur eine Kritik der Darstellung sein, nicht etwa ein Einwand gegen den Wert der Persönlichkeit.

 


 

»Nietzsche kommt zu dem Schlusse, daß es für den Menschen notwendig ist, ›die Illusion zu wollen‹.« Werke X, 161 ff. (S. 78)

Ich stelle, gereizt durch diese Forderung, noch den Satz auf: daß es wie ein Jenseits von Gut und Böse auch eines von Wahrheit und Illusion gibt. Der Weg dahin führt – über beide; man muß beide ausgemessen haben.

 


 

»Für Nietzsche ein Problem bis zum Ende seines bewußten Lebens: Worin besteht die moderne Decadence . . .« (S. 82)

Es ist sonderbar, wie wenig ich diese vielbesprochene und belästerte Decadence spüre! Überall wittre ich Morgenluft, freilich über genug Moder und Unrat. Eine Phase der Menschheit liegt in der Agonie, und eine junge Zeit steht schon auf der Schwelle – es wird wieder eine Lust zu leben.

 


 

»Durfte Nietzsche seinen ›Richard Wagner in Bayreuth‹ in jenem dithyrambischen Stile schreiben, den er gewählt hat? Schon hier ist die Frage erlaubt, ob dies nicht – ich sage nicht Verstellung – sondern eine Unklugheit gewesen ist.« (S. 86)

Ich verstehe diese Handlung als eine Tat der Unmündigkeit großen Stils, als eine Inkongruenz von Trieb und Zug, von Gefühl und Einsicht, wie sie leicht bei geistig-moralischen Riesenkindern zur Zeit ihrer Mutation – hier hab ich den rechten Ausdruck! – vorkommen mögen. Die ebenmäßigen Zwerge haben da wohl gute Gelegenheit, aber kein Recht zur Kritik.

 


 

»Diese Tatsachen scheinen keinen Zweifel zuzulassen, daß Nietzsches Schriften zu einer Zeit verfaßt worden sind, wo der Autor noch aller seiner Fähigkeiten Herr war.« (S. 94)

Er goß seinen ganzen Geist hinein – der Rest war Wahnsinn. – Nicht die Zurechnungsfähigkeit dieses Geistes dürfen wir anzweifeln – dies tun nur die Zwerge, die den Riesen weder widerlegen, noch in sich auflösen können – wohl aber steht uns das Recht der Kritik frei, ob dieser sein gesunder Geist (d. h. sein Geist in seiner Gesundheit) oder besser: wie weit er zureichend war, also wie weit seine Lehre Gültigkeit hat.

 


 

»Nietzsche erklärt, daß die Menschheit, im ganzen gerechnet, keine Art von Ziel verfolgt.« (S. 103)

Sie verfolgt freilich kein ›Ziel‹, aber sie nimmt einen ›Weg‹! den Weg ihrer organischen Entwicklung.

 


 

»Ich bin überzeugt, daß Nietzsche tatsächlich ein wohl gefügtes und gegliedertes System im Kopfe hatte und es lediglich deshalb nicht in systematischer Form entwickelt hat, weil sein Gesundheitszustand ihn zwang, seine Gedanken in aphoristischer Form niederzulegen.« (S. 110)

Eine ganz falsche Anschauung. Nietzsches ›große Vernunft‹, die war wohl ein Ganzes, das heißt die prästabilierte Summe von Welterkenntnis, welche sie ihrer Anlage nach enthielt, und bei ungebrochener Entwicklung am Ende auch gezeitigt hätte, aber vielleicht auch da nur in diesen chaotisch hervorgewirbelten Bruchstücken, zu deren Ordner und Füger – Homeros! – er nicht geboren war. Dies die Art seiner Natur zu produzieren, die einen eigentümlichen Vergleich mit der des Buddha, Sokrates, Mohammed, und genug andrer kleinerer Feuergeister zuläßt. Es ist hier weder zu tadeln noch zu jammern, einfach seines Geistes Fülle zu genießen. Freilich ist nicht jedes Meer heiß genug, das Getriebe dieser Eisblöcke zu zerschmelzen und, sich selber kühlend, zu sich zu verwandeln.

 


 

»Nietzsche fürchtet sich nicht, die kühne Frage aufzuwerfen: Warum Wahrheit? Warum nicht lieber Irrtum? Warum Gut und nicht lieber Böse?« (S. 113)

Weil die Menschheit wie alles Leben nach dem positiven Wertzeichen hin schafft! Wahr, recht gut, stark, weise, schön, sind lebenerhaltende, fördernde, erhebende Eigenschaften. Sollen wir wirklich nach dem Irrtum, der Häßlichkeit, der Schlechtigkeit, der Dummheit hinstreben? Denn im Willen zu diesen Dingen liegt unsere Moral. Die christlich-pessimistisch-plebejischen Krankheiten dieser Moral zu heilen, das ist unsere Aufgabe, die eine ewige sein wird. – ›Nichts ist wahr, alles ist erlaubt‹ – auch etwa ein Zweifel an diesem Satze? Nun, ich bezweifle sein Recht nicht, aber wenn alles erlaubt ist, so wird – das Starke recht haben!

 


 

»Aber der Mensch, der so [gemäß dem christlichen Ideal] denkt und danach handelt, wird ebenfalls nur durch einen Instinkt getrieben, denn der Instinkt ist der letzte Beweggrund aller unserer Handlungen; nur daß hier der Instinkt verdorben ist.« (S. 115)

Verdorben! vielleicht nur nicht so erkenntnisreich wie dieser greise Denker. Der Trieb nach Wahrheit ist nichts andres als der Entwicklungsdrang unseres Erkenntnisvermögens; ihm wissentlich und willentlich zuwiderhandeln, das könnte nur ein erkrankter Geist, der an seinen natürlichen Wachstumsgrenzen angelangt ist. Der Trieb nach dem Guten aber, wenn er auf einer höheren Stufe der Reife von der abergläubischen, kindermäßigen Hoffnung auf eine Belohnung durch den Himmelspapa befreit ist, ist kein anderer als der nach Erhöhung und Verschönung des Lebens, oft nicht anders zu erfüllen als durch Preisgabe des eignen. Die Feigheit ist das gemeinste Mittel zur Auslöschung des Triebes zur Macht.

 


 

(Nietzsche:) »Ich sage Ja zu allem, was das Leben schöner, intensiver und liebenswürdiger macht. Wenn es mir erwiesen scheint, daß die Instinkte, welche die gegenwärtige Moral als schlecht bezeichnet – zum Beispiel Härte, Grausamkeit, List – imstande sind, die Vitalität des Menschen zu vermehren, so werde ich zum Bösen und zur Sünde Ja sagen.« (S. 116)

Dies – unterstreiche ich, das alles sogar doppelt. Nun aber: Was macht das Leben schöner, intensiver, liebenswürdiger? Dies ist die Frage! Und nun sage er mir des Folgesatzes wegen sofort, ob Grausamkeit und List (Lüge! Treulosigkeit!) es tun, oder ob sie sich nicht vielmehr als dumme Teufel vom Schwanze her abweiden! – Aber freilich, da alle Dinge zum Leben führen, dem Leben dienen, so tun es auch die Dummeteufeleien: indem wir sie energisch verneinen, bejahen wir unser Leben; virescit volnere virtus.

 


 

(Nietzsche:) »Und wenn ich entdecke, daß die Wahrheit, die Tugend, das Gute, mit einem Worte alle von den Menschen bisher verehrten und geachteten Werte, dem Leben schädlich sind, werde ich zu Wissenschaft und Moral Nein sagen.« (S. 117)

So spintisiert er, aus Liebe zum Guten! Und preist am andern Orte die Tugend, die seinen Untergang will! – Vielleicht liegt das Zuviel in dem übertriebenen ›wenn – so‹ für ›wo – da‹.

 


 

»Der Staat ist in seinen Anfängen wahrscheinlich eine furchtbare Tyrannei, die eine Horde von mächtigen Raubtieren, die sich zu Raub und Plünderung verbündet haben, einer friedlichen, aber schlecht organisierten Masse aufzwang.« (S. 128)

Ich halte diese Anschauung für falsch. Der Menschenstaat, sicher, ging von der Familie aus, von der Herde, in der sich dann freilich eine Unterdrückung der Instinkte als Gesetze des Zusammenlebens (vor allem mit größeren Herren!) herausbildete.

 


 

»Der Mensch hatte von nun an ein inneres Leben, das ihn zu einem ungleich interessanteren Tiere machte, als die bestia triumphans, – aber auch zu einem kranken . . .« (S. 129)

Konnte er, auf dem Weg zum Übertier, ›der Krankheit entraten‹?

 


 

»– das aristokratische und klassische Ideal Frankreichs nach zweihundertjähriger Größe in den blutigen Stürmen der Revolution untergegangen –« (S. 133)

Eigentlich wo Nietzsche dies Wort anwendet, vergißt er immer, daß sein aristokratisches Ideal, sein Typus Herr, sich nur in wenig Menschenriesen, nie aber in ganzen Generationen realisiert hat. Es steckte freilich was Großes und Herrenmäßiges in den Grandseigneurs jener Zeit, aber wer mag aristokratische Ideale in dieser elenden Wirtschaft sehen? Napoleon aber ward von der heiligen Allianz besiegt, weil er nicht ›heilig‹, groß oder doch gescheit genug war, dem auch von Nietzsche verkannten Großmenschenzug in den aufgewachten und aufwachenden und noch mehr aufzuweckenden ›Völkern‹ zu genügen oder ihn doch zu benutzen. Sein größtes Verdienst war ja, daß an ihm das Gesindeltum derer von Gottes Gnaden zutage trat. Daß er dessen Überbleibsel sich zuliebe schonte, ist sein Verhängnis geworden – eben die heilige Allianz. Er wußte mit den Sehnsuchten und Idealen der Menschen und der Völker nichts anzufangen, weil er selber davon leer war. Und er hätte über sie herrschen können, wie ein Herr und Halbgott, und das Herrenmäßige im Menschen nähren und mehren. An seiner Dummenteufelei ging er zugrunde.

 


 

»Die psychologische Analyse des Mitleidens offenbart uns zunächst, daß dieses Gefühl weder so uninteressiert ist, noch so bewundernswert, wie man von ihm behauptet.« (S. 134)

Dies ist alles eine beklagenswerte Entstellung. Nietzsche kehrt sich gegen eine Sorte von Mitleid oder eine seiner Seiten und schmäht nun – unwürdig und ohne Glück dabei – totum pro parte. Das Mitleid oder das Mitleiden mag ein Irrtum, eine Torheit oder eine Krankheit sein – wohlan, so belehre und heile man es! – aber es ist kein Unfug. Es ist eigentlich nur eine Tatsache, eine naturnotwendige, schwere Tatsache – mit der freilich der schnödeste Unfug getrieben wird. Werde ich einen Meßkrüppel bemitleiden oder einen Kretin (oder die Pfleger und Pflegerinnen solcher), in einer dieser Greuelanstalten? Nein! Ich werde vielleicht den einen sogar hassen, weil er frech und widerlich ›vom Mitleid‹ lebt; aber ich werde, besonders in manchen Stunden am andern zu leiden haben – fast nur aus Grimm über das jammersälige Mitleid der christlichen Menschheit, über eine Humanität, die solches Unleben auf Kosten des Lebens pflegt und Zeter und Mord schreien würde, wenn ich solchen Greuel ›entfernen‹ wollte. –

Das Mitleid ist vielleicht weniger eine Altersschwäche, als eine Jugendkrankheit des Menschen. Von Jugendkrankheiten aber gibt es – Genesungen. Und mancher ist nicht gesund zu nennen, der sie nicht gehabt hat!

 


 

»Die Zucht des Leidens, des großen Leidens – wißt ihr nicht, daß nur diese Zucht alle Erhöhungen des Menschen bisher geschaffen hat?« W. VII, 180 (S. 138)

Man könnte hier eine Prinzipienfrage stellen: wie und wodurch und wozu leidet der höhere Mensch, und warum ist sein Leiden lebenerhöhend? Auch er leidet durch Unterdrückung von Instinkten, wie der Herdenmensch und Sklave, einem höheren Willen gehorchend – aber dieser höhere Wille ist sein eigener! Er will dies und jenes am Leben höher und liebenswürdiger haben, er treibt Zuchtwahl unter seinen Instinkten und Begriffen und muß daher grausam in seinen Unterdrückungen sein. Er ist sich Herr und Knecht, und daher der ewige Krieg und Schmerz.

 


 

»Der Demokrat macht alle Menschen vor dem Gesetze gleich.« (S. 139)

Ah! vor dem Gesetz! Nicht überhaupt gleich. Was hieran falsch ist, ist nur, daß der ›Adelige‹, der eigentlich ohne Gesetz adelig zu sein hat, wenn er sich gegen die Gesetze verfehlt – die doch alle nur Anstandsgesetze sind – nicht zehnmal härter behandelt wird als der Plebejer.

 


 

»Nietzsche betrachtet die natürliche Ungleichheit der Geschlechter als ein notwendiges Gesetz, da die Liebe für den Mann nicht von derselben Bedeutung sei, wie für das Weib.« (S. 140)

Wenn die Liebe im Leben des Mannes nur eine Episode ist, so ist sie doch jene Episode, die ihm die Kraft und das Glück für seine Epochen macht. – Das gilt aber nur dem gereiften und fruchtbaren Mann; der wachsende Knabe stählt sich in der Entbehrung. Und der Unfruchtbare?

 


 

»Die Neuzeit – wie sie versucht hat, den Sklaven zu verherrlichen, trachtet sie danach, das Weib zu vergöttlichen.« (S. 142)

Vergöttlichen wäre natürlich Unsinn. Wie aber ›vermenschlichen‹? Soll das Weib auf dem Weg zum Übertier zurückbleiben, und das Weib des Menschen keine Menschin sein? Dies ist gar keine Frage, und noch weniger das: daß Mann und Weib aneinander in die Höhe wachsen, bei vollkommener natürlicher Geschiedenheit ihrer Rollen. Werde nur der Mann größer und stärker und schöner, und das Weib – ebenso, ad maiorem hominis gloriam. Und wenn mich ein Skeptiker auslacht, so sag ich ihm, daß das Weib bei diesem Programm durchaus nicht aus ihrer Rolle zu fallen braucht. Wenn es natürlicher, wilder und heißer wird, so wird es wohl gerade größer, stärker und schöner.

 


 

»Und darum bedarf das Weib auch eines starken Herrn, der imstande ist, es zu leiten und seine Mutwilligkeiten im Notfalle zu zügeln.« (S. 143)

Wie abgeschmackt! Man sage einfach: ›imstande, ihm zu genügen‹.

 


 

»Was Nietzsche vor allem bekämpft und mit seinem wildesten Hohne verfolgt, das ist das emanzipierte Weib, das die Furcht und Achtung vor dem Manne verloren hat.« (S. 143)

Ich möchte doch auch mal gern diesen Mann sehen, der Furcht und Achtung einflößt!

 


 

»Wir haben das Glück erfunden – sagen die letzten Menschen und blinzeln –« Werke VI, 19 f. (S. 145)

Ich spüre etwas in mir von »letztem Menschen«, aber es schmeckt nicht nach erfundenem Glück. Wir haben noch den Willen und den Mut – unsere Feinde sagen auch: den Trotz – zum Leben, aber wir kämpfen schwer. Wir wollen ja nicht schlechtweg leben, leben um jeden Preis, sondern wir wollen nur unter gewissen Bedingungen leben; z. B. es soll schön sein, es soll einen Sinn haben – und die Häßlichkeiten und Sinnlosigkeiten, gegen die wir nichts vermögen, drohen uns zu ersticken. Und doch bahnen wir uns unsern Weg weiter, wie ein Nacktkämpfer durch die Schlacht – und es ist nicht immer schön – –

 


 

»Der Philosoph . . . ist in Wirklichkeit nicht ›reiner Geist‹, sondern ein abgefeimter Advokat der Sache seiner Vorurteile – und zwar meistens moralischer Vorurteile.« (S. 154)

Diese Hyperbel kommt vom Gewohnheitsschimpfen! Wie mag Nietzsche nur so wenig die heiße und tief menschenehrliche Mühe anerkennen, mit der schon so mancher Denkergeist das Geheimnis der Welten zu durchdringen suchte!

 


 

»Für Nietzsche ist die Illusion, die Lüge vielleicht die wesentlichste Lebensbedingung.« (S. 158)

Das ist ganz sicher: die Illusion ist die schützende Atmosphäre des Lebens. Ohne Illusion leben bedeutet ein so fürchterliches Dasein, daß es nur der ausgesuchteste Geist durch eine lange Vorschule aller seelischen Martern ertragen lernt, dem Indianer gleich, der sich seine Lehr- und Friedensjahre hindurch im Ertragen von Qualen übt, um einmal am Marterpfahle des Feindes würdig zu bestehen. Wäre es möglich, der Menschheit (oder auch nur einem einzelnen Menschen) plötzlich alle, aber auch alle Illusionen zu nehmen, wirklich zu nehmen, sie würde sofort erfrieren und verdorren. Die meisten Selbstmorde sind vielleicht nichts anderes, als plötzliche Anfälle absoluter Desillusion. Selbstverständlich ist die Menschheit gegen diese Gefahr wohl geschützt. Und spaßhaft genug hat selbst der desillusionierte Starkgeist noch seine Illusionen, mindestens die, ›die Wahrheit‹ zu haben! Und in dieses dünne, aber ihm köstlich dünkende Gefühl wickelt er sein fröstelndes Gebein.

 


 

»Es ist kein Zweifel, der Wahrhaftige in jenem verwegenen und letzten Sinne, wie ihn der Glaube an die Wissenschaft voraussetzt, bejaht damit eine andere Welt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte . . .« W. V, 275 (S. 159)

In diesem Geständnis findet man sich wieder ganz in seinen Armen! Und es bliebe nun nur übrig, ihm lachend und weinend zugleich zu zeigen, daß – er sich täuscht! Daß es doch keine andere Welt ist, die der Wahrhaftige bejaht, und daß er dieser einen und einzigen dennoch unverloren bleibt, selbst wenn ihn ›die Wahrheit‹ um Verstand und Leben bringt. Ich will gleich den Modus davon in einem Gleichnis andeuten: Es ist ein kolossaler Unterschied, ob einem Weltkörper die Atmosphäre weggeblasen wird, oder – ob er sie verschluckt! Im ersteren Falle wird er durch Verdunstungskälte erstarren, im letzteren durch Verdichtung erglühen. Es ist dies nur ein Gleichnis und eine Andeutung. Auf die Eiszeit der Wahrheit, die über verschluckten Illusionen triumphiert, folgt eine neue und erhöhte Lebensformation. Denn auch die Arbeit bleibt unverloren.

 


 

»Kant hat sich nicht gefragt: warum soll denn der Mensch diese Natur um jeden Preis erkennen wollen, die in prachtvoller Fruchtbarkeit unablässig neue Daseinsformen erschafft, um sie dann wieder unbarmherzig dem sinnlosen Zufall zu opfern . . . Nietzsche erscheint die Leidenschaft zur Wahrheit als die moderne Form jener asketischen Grausamkeit, die zu jeder Zeit den Menschen getrieben hat, seinem Gotte das Kostbarste zu opfern.«

Hier ließe sich gleich – vielleicht vorlaut – die letzte Hoffnung oder Glaube oder Gewißheit des ewigen Suchers einwerfen: daß die Daseinsformen ›in Stufen steigen, sich überwindend erhöhen‹, also das Leben jedes Opfers wert ist, wenn es nur dem Leben dient. – Und siehe, hier find ich mich ja wieder mit dem geliebten Lehrer zusammen. Ja, alles haben wir geopfert, selbst jene letzte Hoffnung, jenen letzten Glauben, jene letzte Gewißheit, den letzten Hauch einer Illusion, der uns noch erwärmte, nämlich: daß es unbedingt auch noch von uns, dem Menschen aus, mit Grazie ad infinitum in die Höhe ginge, und gaben uns dem Gedanken preis, – – – nein, wir gaben uns ihm nicht preis! Wir fühlten uns zwar zerschmettert auf der hoffnungslosen Höhe des Lebens angelangt, aber noch atmeten wir und spürten das Blut kreisen, und erhoben uns wieder und fragten kampfbegierig: ›Was nun?‹ – Doch die Antwort braucht einen Frühling!

 


 

»Der höhere Mensch ist wie ein Gefäß, in dem sich die Zukunft der Menschheit zusammenbraut; in ihm gären, brodeln und arbeiten dunkel alle Keime, die eines Tages im Sonnenlichte sich entfalten werden (S. 164)

Ich bin weit davon entfernt, dieser schönen Hoffnung, diesem innigen Glauben, dieser seligmachenden Gewißheit (! woher stammt sie denn anders als aus unserer Illusionenfabrik?) die Daseinsberechtigung abzusprechen; aber ich muß doch den großen Gottes-, Priester- und Philosophentöter fragen: Ist denn das keine Metaphysik? Wenn ich im tiefsten eigenen moralischen und physischen Elend das Herz an der künftigen, höheren Menschheit hochhalte und der unsichtbaren noch zujauchzen kann: ›Vorwärts! vorwärts! heraus! über mich! über mich!‹ – Ist es, daß das zukünftige Leben schon einen so fühlbaren Keim in unser heutiges Herz, in das Menschenherz von jeher gepflanzt hat, daß wir an ihm in die Höhe leben? Dann reicht es, das Kommende, aber auch zurück ins Tierherz, in die Pflanzenseele, in das erste Zucken des Protoplasmas, und wohin noch? – Wenn aber dies keine Metaphysik ist, so ist es doch mindestens – höhere Biologie!

 


 

»Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde.« W. VI, 13 (S. 164)

Käme nichts von diesem Geiste auf die Nachwelt, als diese heiligen Worte allein, es genügte, ihn unsterblich und zum Schöpfer eines neuen Lebens zu machen!

 


 

». . . Für die Herren – und für sie allein – ist die Moral des Übermenschen geschaffen.« (S. 168)

Einen Tropfen Gerechtigkeit, Reinlichkeit, Verstand und Mut in die heute bestehende Ordnung der menschlichen Gesellschaft, und es wird sich etwas bilden, wovon dies unpraktische Gehirn träumte. Warum aber diese Rangordnung so komisch klingt, liegt vermutlich zumeist in dem Imperativ, in dem es gegeben wird. Tatsächlich wird sich die menschliche Gesellschaft von selbst immer mehr nach diesem Plan kristallisieren. Wer könnte sie auch dazu zwingen, als das natürliche Gewicht der Dinge? Wie die Herde schaffen muß, um ihr Leben zu finden, so muß auch der Herr seinen Thron erwiegen durch die Macht seiner geehrfürchteten Persönlichkeit.

 


 

»Das Mitleid ist ihm [Zarathustra] nicht nur keine Tugend, sondern eine höchste Versuchung und die schrecklichste aller Gefahren.« (S. 170)

Es gibt noch eine Gefahr, noch eine Versuchung hinter dem Mitleid: unter sich, soweit das Leben reicht, nur noch minderes Leben sehen, annehmen müssen, daß es den gleichen Weg nehmen müsse, um über sich hinauszukommen, in die gleiche Höhe, und diese Höhe entweder nicht erreiche, also drunten bleibe, oder sie erreiche und dann einen ebenso trostlosen Blick hinunterwerfe, wie er selbst, der Melancholiker, dem die lebendigen Farben der Welt verblaßt sind. Das ist schlimmer denn Mitleid: es fehlt ihm die Güte.

 


 

»Der Weise . . . sucht also nicht das Glück, sondern die Aufregung des Spiels; und wenn er einen guten Wurf geworfen hat, fragt er sich mißtrauisch: Sollte ich mit falschen Würfeln gespielt haben?«(S. 172)

Die guten Würfe dienen zu höheren Einsätzen.

 


 

»So sorgt doch, daß das Leben aufhört, welches nur Leiden ist.« W. VI, 64 (S. 173)

›Eh du das lebende Leben beschwerst,
Sorge, daß du von hinnen fährst!‹
Den Lehrer aber frag ich, schmerzbeklommen:
Wie fang ich's an, um nicht zu spät zu kommen?

 


 

». . . der mächtigste Gedanke, der von der ewigen Wiederkunft aller Dinge . . .« W. XII, 122 (S. 178)

Ich ehrfürchte wahrhaftig die Welt auch; aber die Annahme dieser Absurdität, um mir ihre Ungeheuerlichkeit zu beweisen und meinen Mut an ihrer Dochnochbejahung trotz dieser Langweilerei zu erproben, das hab ich nicht nötig. Ich hab an der einfach unendlichen Welt, an der ewigen Unerschöpflichkeit ihrer Kombinationen gerade genug. – Übrigens habe ich hier zu wiederholen, was ich in der Fröhlichen Wissenschaft zu Aph. 341 angemerkt: ohne die Rück- (und da es ein Ring ist auch Vor-?) erinnerung der unzähligemal erlebten Fälle wiegen diese alle Male nicht schwerer als das jetzige mir bewußte einmal.

 


 

»Wenn das Leben an sich keinen Sinn hat, so weiß ich ihm einen zu geben.« (S. 182)

Dies ist die höchste und glanzvollste Rebellenschaft. Um ihretwillen hat das Leben, wenn es an sich keinen Sinn hat, dadurch einen Sinn, daß es diesen Sinnträger schuf.

 


 

»›War das – das Leben?‹ will ich zum Tode sprechen. ›Wohlan. Noch einmal.‹« W. VI, 461 (S. 184)

Ja, so, als Gebet oder Kernfluch, als Gesinnung läßt sich der Gedanke mitdenken. Nun, ich sagte ja auch dort schon (F. W. 341): wer das Leben einmal bejaht, bejaht es für immer wieder. Aber meine Form braucht deswegen nicht ewig wiederzukehren – dafür kehre ich, der schmerzhafte und glorreiche Funke Leben, in unendlichen Formen wieder. Das ist meine ewige Wiederkehr des Gleichen!

 


 

»Was mehr wert ist als jedes System, das ist die Natur des Philosophen selbst.« (S. 195)

Dies ist das Wort! Denn nun kommt erst der Zwiespalt für das praktische Leben: zwischen dem, was einer ist, und dem, was er tut, oder fast besser: was ihn das widerstrebende Leben tun läßt. Der ungemessenen Entwicklung nach innen steht nach außen eine niedrige Stalldecke entgegen. Der nach innen nahezu schrankenlos freie Mensch bewegt sich in einem engbegrenzten, geschlossenen Raum, und das Gefängnis seines freien Willens fängt noch innerhalb seiner eigenen Haut an, und eben diese immer und immer wieder zu durchbrechen, erschöpft oft das ganze Tun einer Natur.

 


 

»Alle Menschen sind zwar gleichzeitig Individuen und Herdentiere; aber bei dem einen ist die Sorge um seine eigene Persönlichkeit, bei dem andern die Sorge um die Herde, der er angehört, vorherrschend.« (S. 198)

Und wohlbemerkt: die vernünftige Sorge um die Herde schließt die um die eigene Persönlichkeit ein, insofern diese ein Glied jener ist. Und hier ergibt sich ein nicht unwichtiges Unterscheidungsmerkmal: es ist Schafsnatur, blind und taub für sich zu sorgen; aber Sorge um die Herde verrät – Hirtenblut. Dies den Übermenschen!

 


 

»Die faktische Übertragung der Lehre vom Übermenschen ins Praktische erfordert eine Tatkraft, wie man sie nur selten antrifft.« (S. 200)

Erlaube: die faktische Übertragung der Lehre vom Übermenschen ins Praktische würde sie und damit ihn – verwandeln! Nietzsche ist ein reiner Denker (also reiner Tor!) er hat nie die staatenbildende, Völker lenkende und schmiedende Hand an einen Stoff gelegt. Wenn Gott seine Kraftbücher liest, wird er manchmal lächeln und brummen: Fritzle, du renommierst.

 


 

»Nietzsche wird aller Wahrscheinlichkeit nach ein Einsamer, ein ›Einsiedler‹ auch für die Nachwelt bleiben, wie er es für die Mitwelt gewesen ist.« (S. 201)

Dies glaub ich nicht! Er wird im Gegenteil die schönste Gemeinde haben, die je ein Lehrer der Menschheit gefunden hat. Das Beste vom Menschen wird ihm zufliegen, und ich hoffe als der Nächste an seiner Brust zu liegen.

 


 

Schlußbemerkung Götts zum

›Anhang‹

in dem dargelegt wir, daß eine der anscheinend paradoxesten Hypothesen Nietzsches nicht das rein individuelle Ergebnis einer »anormalen« und »krankhaften« Einbildungskraft sei, sondern von 1871 bis 1881 gewissermaßen in der Luft gelegen, da drei so verschiedene Denker wie Nietzsche, Blanqui und Le Bon sie jeder auf seinem Wege gefunden hat. (S. 209)

Ich kenne noch einen vierten, der im Jahre 1891 oder 1892 auf dieselben Sprünge kam, ein oder zwei Jahre bevor er die wirkliche Bekanntschaft Nietzsches machte. Aber ich war doch wohl glücklicher; denn ich kam wieder davon los.

Zur selben Zeit, aber unabhängig von dieser Spekulation, war ich der Schauplatz noch einer andern – zugleich ein Beispiel, wie Ideen selbständig auftreten, sowohl im gleichen Kopf als auch in verschiedenen Gehirnen: ich dachte mir nämlich wie die Bewegung im Raum (und in der Kausalität), auch die in der Zeit kreisläufig, so daß wir nach einer unendlichen Umdrehung, nach einer Ewigkeit wieder zum selben Zeitpunkt zurückkehrten – was auch eine ewige Wiederkehr des Gleichen ergäbe, aber nicht mehr das Gleiche noch einmal und ewig noch ewigmal, sondern immer nur wieder das eine, das ewig eine Mal, das wir heute leben. Diese ewige Wiederkehr geschähe aber nur auf einem müßigen Spaziergang eines denkenden Gehirns, nicht in der absoluten, leidenden und streitenden Wirklichkeit, und man ist nicht gezwungen, die Ewigkeit spazieren zu denken. Sie spiegelt sich nur in diesem Gedanken.

 

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