Johann Wolfgang Goethe
Italienische Reise
Johann Wolfgang Goethe

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Januar

Korrespondenz

Rom, den 5. Januar 1788.

Verzeiht, wenn ich heute nur wenig schreibe. Dieses Jahr ist mit Ernst und Fleiß angefangen worden, und ich kann mich kaum umsehen.

Nach einem Stillstand von einigen Wochen, in denen ich mich leidend verhielt, habe ich wieder die schönsten, ich darf wohl sagen Offenbarungen. Es ist mir erlaubt, Blicke in das Wesen der Dinge und ihre Verhältnisse zu werfen, die mir einen Abgrund von Reichtum eröffnen. Diese Wirkungen entstehen in meinem Gemüte, weil ich immer lerne, und zwar von andern lerne. Wenn man sich selbst lehrt, ist die arbeitende und verarbeitende Kraft eins, und die Vorschritte müssen kleiner und langsamer werden.

Das Studium des menschlichen Körpers hat mich nun ganz. Alles andre verschwindet dagegen. Es ist mir damit durch mein ganzes Leben, auch jetzt wieder, sonderbar gegangen. Darüber ist nicht zu reden; was ich noch machen werde, muß die Zeit lehren.

Die Opern unterhalten mich nicht, nur das innig und ewig Wahre kann mich nun erfreuen.

Es spitzt sich bis gegen Ostern eine Epoche zu, das fühl' ich; was werden wird, weiß ich nicht.

 
Rom, den 10. Januar.

»Erwin und Elmire« kommt mit diesem Brief, möge dir das Stückchen auch Vergnügen machen! Doch kann eine Operette, wenn sie gut ist, niemals im Lesen genugtun; es muß die Musik erst dazu kommen, um den ganzen Begriff auszudrücken, den der Dichter sich vorstellte. »Claudine« kommt bald nach. Beide Stücke sind mehr gearbeitet, als man ihnen ansieht, weil ich erst recht mit Kaysern die Gestalt des Singspiels studiert habe.

Am menschlichen Körper wird fleißig fortgezeichnet, wie abends in der Perspektivstunde. Ich bereite mich zu meiner Auflösung, damit ich mich ihr getrosten Mutes hingebe, wenn die Himmlischen sie auf Ostern beschlossen haben. Es geschehe, was gut ist.

Das Interesse an der menschlichen Gestalt hebt nun alles andre auf. Ich fühle es wohl und wendete mich immer davon weg, wie man sich von der blendenden Sonne wegwendet, auch ist alles vergebens, was man außer Rom darüber studieren will. Ohne einen Faden, den man nur hier spinnen lernt, kann man sich aus diesem Labyrinthe nicht herausfinden. Leider wird mein Faden nicht lang genug, indessen hilft er mir doch durch die ersten Gänge.

Wenn es mit Fertigung meiner Schriften unter gleichen Konstellationen fortgeht, so muß ich mich im Laufe dieses Jahres in eine Prinzessin verlieben, um den »Tasso«, ich muß mich dem Teufel ergeben, um den »Faust« schreiben zu können, ob ich mir gleich zu beiden wenig Lust fühle. Denn bisher ist's so gegangen. Um mir selbst meinen »Egmont« interessant zu machen, fing der römische Kaiser mit den Brabantern Händel an, und um meinen Opern einen Grad von Vollkommenheit zu geben, kam der Züricher Kayser nach Rom. Das heißt doch ein vornehmer Römer, wie Herder sagt, und ich finde es recht lustig, eine Endursache der Handlungen und Begebenheiten zu werden, welche gar nicht auf mich gerichtet sind. Das darf man Glück nennen. Also die Prinzessin und den Teufel wollen wir in Geduld abwarten.

 
Rom den 10. Januar.

Hier kommt aus Rom abermals ein Pröbchen deutscher Art und Kunst, »Erwin und Elmire«. Es ward eher fertig als »Claudine«, doch wünsch' ich nicht, daß es zuerst gedruckt werde.

Du wirst bald sehen, daß alles aufs Bedürfnis der lyrischen Bühne gerechnet ist, das ich erst hier zu studieren Gelegenheit hatte: alle Personen in einer gewissen Folge, in einem gewissen Maß zu beschäftigen, daß jeder Sänger Ruhpunkte genug habe etc. Es sind hundert Dinge zu beobachten, welchen der Italiener allen Sinn des Gedichts aufopfert, ich wünsche, daß es mir gelungen sein möge, jene musikalisch-theatralischen Erfordernisse durch ein Stückchen zu befriedigen, das nicht ganz unsinnig ist. Ich hatte noch die Rücksicht, daß sich beide Operetten doch auch müssen lesen lassen, daß sie ihrem Nachbar »Egmont« keine Schande machten. Ein italienisch Opernbüchelchen liest kein Mensch, als am Abend der Vorstellung, und es in einen Band mit einem Trauerspiel zu bringen, würde hierzulande für ebenso unmöglich gehalten werden, als daß man deutsch singen könne.

Bei »Erwin« muß ich noch bemerken, daß du das trochäische Silbenmaß, besonders im zweiten Akt, öfter finden wirst; es ist nicht Zufall oder Gewohnheit, sondern aus italienischen Beispielen genommen. Dieses Silbenmaß ist zur Musik vorzüglich glücklich, und der Komponist kann es durch mehrere Takt- und Bewegungsarten dergestalt variieren, daß es der Zuhörer nie wiedererkennt. Wie überhaupt die Italiener auf glatte, einfache Silbenmaße und Rhythmen ausschließlich halten.

Der junge Camper ist ein Strudelkopf, der viel weiß, leicht begreift und über die Sachen hinfährt.

Glück zum vierten Teil der »Ideen«! Der dritte ist uns ein heilig Buch, das ich verschlossen halte; erst jetzt hat es Moritz zu lesen gekriegt, der sich glücklich preist, daß er in dieser Epoche der Erziehung des Menschengeschlechts lebt. Er hat das Buch recht gut gefühlt und war über das Ende ganz außer sich.

Wenn ich dich nur einmal für alle das Gute auf dem Kapitol bewirten könntet Es ist einer meiner angelegensten Wünsche.

Meine titanischen Ideen waren nur Luftgestalten, die einer ernsteren Epoche vorspukten. Ich bin nun recht im Studio der Menschengestalt, welche das non plus ultra alles menschlichen Wissens und Tuns ist. Meine fleißige Vorbereitung im Studio der ganzen Natur, besonders die Osteologie, hilft mir starke Schritte machen. Jetzt seh' ich, jetzt genieß' ich erst das Höchste, was uns vom Altertum übrigblieb: die Statuen. Ja, ich sehe wohl ein, daß man ein ganzes Leben studieren kann und am Ende doch noch ausrufen möchte: »Jetzt seh' ich, jetzt genieß' ich erst.«

Ich raffe alles mögliche zusammen, um Ostern eine gewisse Epoche, wohin mein Auge nun reicht, zu schließen, damit ich Rom nicht mit entschiedenem Widerwillen verlasse, und hoffe, in Deutschland einige Studien bequem und gründlich fortsetzen zu können, obgleich langsam genug. Hier trägt einen der Strom fort, sobald man nur das Schifflein bestiegen hat.


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