Johann Wolfgang Goethe
Italienische Reise
Johann Wolfgang Goethe

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Castel Gandolfo, den 12. Oktober 1787.

An Herder

Nur ein flüchtig Wort, und zuerst den lebhaftesten Dank für die »Ideen«! Sie sind mir als das liebenswerteste Evangelium gekommen, und die interessantesten Studien meines Lebens laufen alle da zusammen. Woran man sich so lange geplackt hat, wird einem nun so vollständig vorgeführt. Wie viel Lust zu allem Guten hast du mir durch dieses Buch gegeben und erneut! Noch bin ich erst in der Hälfte. Ich bitte dich, laß mir so bald als möglich die Stelle aus Camper, die du pag. 159 anführst, ganz ausschreiben, damit ich sehe welche Regeln des griechischen Künstlerideals er ausgefunden hat. Ich erinnere mich nur an den Gang seiner Demonstration des Profils aus dem Kupfer. Schreibe mir dazu und exzerpiere mir sonst, was du mir nützlich dünkst, daß ich das Ultimum wisse, wie weit man in dieser Spekulation gekommen ist; denn ich bin immer das neugeborne Kind. Hat Lavaters »Physiognomik« etwas Kluges darüber? Deinem Aufruf wegen Forsters will ich gerne gehorchen, wenn ich gleich noch nicht recht sehe, wie es möglich ist; denn ich kann keine einzelnen Fragen tun, ich muß meine Hypothesen völlig auseinandersetzen und vortragen. Du weißt, wie sauer mir das schriftlich wird. Schreibe mir nur den letzten Termin, wann es fertig sein, und wohin es geschickt werden soll. Ich sitze jetzt im Rohre und kann vor Pfeifenschneiden nicht zum Pfeifen kommen. Wenn ich es unternehme, muß ich zum Diktieren mich wenden; denn eigentlich seh' ich es als einen Wink an. Es scheint, ich soll von allen Seiten mein Haus bestellen und meine Bücher schließen.

Was mir am schwersten sein wird, ist: daß ich absolut alles aus dem Kopfe nehmen muß, ich habe doch kein Blättchen meiner Kollektaneen, keine Zeichnung, nichts hab' ich bei mir, und alle neusten Bücher fehlen hier ganz und gar.

Noch vierzehn Tage bleib' ich wohl in Castello und treibe ein Badeleben. Morgens zeichne ich, dann gibt's Menschen auf Menschen. Es ist mir lieb, daß ich sie beisammen sehe, einzeln wäre es eine große Sekkatur. Angelika ist hier und hilft alles übertragen.

Der Papst soll Nachricht haben, Amsterdam sei von den Preußen eingenommen. Die nächsten Zeitungen werden uns Gewißheit bringen. Das wäre die erste Expedition, wo sich unser Jahrhundert in seiner ganzen Größe zeigt. Das heiß' ich eine sodezza! Ohne Schwertstreich, mit ein paar Bomben, und niemand, der sich der Sache weiter annimmt! Lebt wohl. Ich bin ein Kind des Friedens und will Friede halten für und für, mit der ganzen Welt, da ich ihn einmal mit mir selbst geschlossen habe.

 
Rom, den 27. Oktober 1787.

Ich bin in diesem Zauberkreise wieder angelangt und befinde mich gleich wieder wie bezaubert, zufrieden, stille hinarbeitend, vergessend alles, was außer mir ist, und die Gestalten meiner Freunde besuchen mich friedlich und freundlich. Diese ersten Tage hab' ich mit Briefschreiben zugebracht, habe die Zeichnungen, die ich auf dem Lande gemacht, ein wenig gemustert, die nächste Woche soll es an neue Arbeit gehn. Es ist zu schmeichelhaft, als daß ich es sagen dürfte, was mir Angelika für Hoffnungen über mein Landschaftszeichnen unter gewissen Bedingungen gibt. Ich will wenigstens fortfahren, um mich dem zu nähern, was ich wohl nie erreiche.

Ich erwarte mit Verlangen Nachricht, daß »Egmont« angelangt und wie ihr ihn aufgenommen. Ich habe doch schon geschrieben, daß Kayser herkommt? Ich erwarte ihn in einigen Tagen, mit der nun vollendeten Partitur unsrer Scapinereien. Du kannst denken, was das für ein Fest sein wird! Sogleich wird Hand an eine neue Oper gelegt, und »Claudine« mit »Erwin« in seiner Gegenwart, mit seinem Beirat verbessert.

Herders »Ideen« hab' ich nun durchgelesen und habe mich des Buches außerordentlich gefreut. Der Schluß ist herrlich, wahr und erquicklich, und er wird, wie das Buch selbst, erst mit der Zeit und vielleicht unter fremdem Namen den Menschen wohltun. Je mehr diese Vorstellungsart gewinnt, je glücklicher wird der nachdenkliche Mensch werden. Auch habe ich dieses Jahr unter fremden Menschen achtgegeben und gefunden, daß alle wirklich kluge Menschen mehr oder weniger, zärter oder gröber, darauf kommen und bestehen: daß der Moment alles ist, und daß nur der Vorzug eines vernünftigen Menschen darin bestehe: sich so zu betragen, daß sein Leben, insofern es von ihm abhängt, die möglichste Masse von vernünftigen, glücklichen Momenten enthalte.

Ich müßte wieder ein Buch schreiben, wenn ich sagen sollte, was ich bei dem und jenem Buch gedacht habe. Ich lese jetzt wieder Stellen, so wie ich sie aufschlage, um mich an jeder Seite zu ergötzen, denn es ist durchaus köstlich gedacht und geschrieben.

Besonders schön find' ich das griechische Zeitalter; daß ich am römischen, wenn ich mich so ausdrücken darf, etwas Körperlichkeit vermisse, kann man vielleicht denken, ohne daß ich es sage. Es ist auch natürlich. Gegenwärtig ruht in meinem Gemüt die Masse des, was der Staat war, an und für sich; mir ist er wie Vaterland etwas Ausschließendes. Und ihr müßtet im Verhältnis mit dem ungeheuern Weltganzen den Wert dieser einzelnen Existenz bestimmen, wo denn freilich vieles zusammenschrumpfte und in Rauch aufgehn mag.

So bleibt mir das Coliseo immer imposant, wenn ich gleich denke, zu welcher Zeit es gebaut worden, und daß das Volk, welches diesen ungeheuren Kreis ausfüllte, nicht mehr das altrömische Volk war.

Ein Buch über Malerei und Bildhauerkunst in Rom ist auch zu uns gekommen. Es ist ein deutsches Produkt und, was schlimmer ist, eines deutschen Kavaliers. Es scheint ein junger Mann zu sein, der Energie hat, aber voller Prätension steckt, der sich Mühe gegeben hat, herumzulaufen, zu notieren, zu hören, zu horchen, zu lesen. Er hat gewußt, dem Werke einen Anschein von Ganzheit zu geben, es ist darin viel Wahres und Gutes, gleich darneben Falsches und Albernes, Gedachtes und Nachgeschwätztes, Longueurs und Echappaden. Wer es auch in der Entfernung durchsieht, wird bald merken, welch monstroses Mittelding zwischen Kompilation und eigen gedachtem Werk dieses voluminose Opus geworden sei.

Die Ankunft »Egmonts« erfreut und beruhigt mich, und ich verlange auf ein Wort darüber, das nun wohl unterwegs ist. Das Saffianexemplar ist angelangt, ich hab' es der Angelika gegeben. Mit Kaysers Oper wollen wir es klüger machen, als man uns geraten hat; euer Vorschlag ist sehr gut, wenn Kayser kommt, sollt ihr mehr hören.

Die Rezension ist recht im Stil des Alten, zuviel und zu wenig. Mir ist jetzt nur dran gelegen, zu machen, seitdem ich sehe, wie sich am Gemachten, wenn es auch nicht das Vollkommenste ist, Jahrtausende rezensieren, das heißt, etwas von seinem Dasein hererzählen läßt.

Jedermann verwundert sich, wie ich ohne Tribut durchgekommen bin; man weiß aber auch nicht, wie ich mich betragen habe. Unser Oktober war nicht der schönste, ob wir gleich himmlische Tage gehabt haben.

Es geht mit mir jetzt eine neue Epoche an. Mein Gemüt ist nun durch das viele Sehen und Erkennen so ausgeweitet, daß ich mich auf irgendeine Arbeit beschränken muß. Die Individualität eines Menschen ist ein wunderlich Ding, die meine hab' ich jetzt recht kennen lernen, da ich einerseits dieses Jahr bloß von mir selbst abgehangen habe und von der andern Seite mit völlig fremden Menschen umzugehen hatte.


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