Johann Wolfgang Goethe
Italienische Reise
Johann Wolfgang Goethe

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Man versetze sich in die zweite Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts und den wüsten Zustand, in welchem Rom unter verschiedenen Päpsten wie ein aufgeregtes Element erschien, und man wird eher begreifen, daß ein solches Verfahren wirksam und mächtig sein mußte, indem es durch Neigung und Furcht, durch Ergebenheit und Gehorsam dem innersten Wollen des Menschen die große Gewalt verlieh, trotz allem Äußern sich zu erhalten, um allem, was sich ereignen konnte, zu widerstehen, da es befähigt, selbst dem Vernünftigen und Verständigen, dem Herkömmlichen und Schicklichen unbedingt zu entsagen.

Eine merkwürdige, obgleich schon bekannte Prüfungsgeschichte wird man hier wegen ihrer besondern Anmut nicht ungern wiederholt finden. Dem heiligen Vater war angekündigt, in einem Kloster auf dem Lande tue sich eine wunderwirkende Nonne hervor. Unser Mann erhält den Auftrag, eine für die Kirche so wichtige Angelegenheit näher zu untersuchen; er setzt sich auf sein Maultier, das Befohlene zu verrichten, kommt aber schneller zurück, als der heilige Vater es erwartet. Der Verwunderung seines geistlichen Gebieters begegnet Neri mit folgenden Worten: »Heiligster Vater, diese tut keine Wunder, denn es fehlt ihr an der ersten christlichen Tugend, der Demut; ich komme durch schlimmen Weg und Wetter übel zugerichtet im Kloster an, ich lasse sie in Eurem Namen vor mich fordern, sie erscheint, und ich reiche ihr statt des Grußes den Stiefel hin, mit der Andeutung, sie solle mir ihn ausziehen. Entsetzt fährt sie zurück, und mit Schelten und Zorn erwidert sie mein Ansinnen; für was ich sie halte! ruft sie aus, die Magd des Herrn sei sie, aber nicht eines jeden, der daherkomme, um knechtische Dienste von ihr zu verlangen. Ich erhub mich gelassen, setzte mich wieder auf mein Tier, stehe wieder vor Euch, und ich bin überzeugt, Ihr werdet keine weitere Prüfung nötig finden.« Lächelnd beließ es auch der Papst dabei, und wahrscheinlich ward ihr das fernere Wundertun untersagt.

Wenn er aber sich dergleichen Prüfungen gegen andere erlaubte, so mußte er solche von Männern erdulden, welche, gleichen Sinnes, den nämlichen Weg der Selbstverleugnung einschlugen. Ein Bettelmönch, der aber auch schon im Geruch der Heiligkeit stand, begegnet ihm in der gangbarsten Straße und bietet ihm einen Schluck aus der Weinflasche, die er vorsorglich mit sich führt. Philipp Neri bedenkt sich nicht einen Augenblick und setzt die langhalsige Korbflasche, den Kopf zurückbiegend, dreist an den Mund, indes das Volk laut lacht und spottet, daß zwei fromme Männer sich dergestalt zutrinken.

Philipp Neri, den es ungeachtet seiner Frömmigkeit und Ergebung einigermaßen durfte verdrossen haben, sagte darauf: »Ihr habt mich geprüft, nun ist die Reihe an mir«, und drückte zugleich sein vierecktes Barett auf den Kahlkopf, welcher nun gleichfalls ausgelacht wurde, ganz ruhig fortging und sagte: »Wenn mir's einer vom Kopf nimmt, so mögt Ihr's haben.« Neri nahm es ihm ab, und sie schieden.

Freilich dergleichen zu wagen und dennoch die größten sittlichen Wirkungen hervorzubringen, bedurfte es eines Mannes wie Philipp Neri, dessen Handlungen gar oft als Wunder anzusehen waren. Als Beichtiger machte er sich furchtbar und daher des größten Zutrauens würdig; er entdeckte seinen Beichtkindern Sünden, die sie verschwiegen, Mängel, die sie nicht beachtet hatten; sein brünstiges ekstatisches Gebet setzte seine Umgebungen als übernatürlich in Erstaunen, in einen Zustand, in welchem die Menschen wohl auch durch ihre Sinne zu erfahren glauben, was ihnen die Einbildungskraft, angeregt durchs Gefühl, vorbilden mochte. Wozu denn noch kommt, daß das Wunderbare, ja das Unmögliche, erzählt und wieder erzählt, endlich vollkommen die Stelle des Wirklichen, des Alltäglichen einnimmt. Hierher gehört, daß man ihn nicht allein verschiedentlich während des Meßopfers vor dem Altare wollte emporgehoben gesehen haben, sondern daß sich auch Zeugnisse fanden, man habe ihn, knieend um das Leben eines gefährlichst Kranken betend, dergestalt von der Erde emporgehoben erblickt, daß er mit dem Haupte beinahe die Decke des Zimmers berührt.

Bei einem solchen durchaus dem Gefühl und der Einbildungskraft gewidmeten Zustande war es ganz natürlich, daß die Einmischung auch widerwärtiger Dämonen nicht ganz auszubleiben schien.

Oben zwischen dem verfallenen Gemäuer der Antoninischen Bäder sieht wohl einmal der fromme Mann in äffischer Ungestalt ein widerwärtiges Wesen herumhupfen, das aber auf sein Geheiß alsogleich zwischen Trümmern und Spalten verschwindet. Bedeutender jedoch als diese Einzelheit ist, wie er gegen seine Schüler verfährt, die ihn von seligen Erscheinungen, womit sie von der Mutter Gottes und andern Heiligen beglückt worden, mit Entzücken benachrichtigen. Er, wohl wissend, daß aus dergleichen Einbildungen ein geistlicher Dünkel, der schlimmste und hartnäckigste von allen, gewöhnlich entspringe, versichert sie deshalb, daß hinter dieser himmlischen Klarheit und Schönheit gewiß eine teuflische, häßliche Finsternis verborgen liege. Dieses zu erproben, gebietet er ihnen: bei der Wiederkehr einer so holdseligen Jungfrau ihr gerade ins Gesicht zu speien; sie gehorchen, und der Erfolg bewährt sich, indem auf der Stelle eine Teufelslarve hervortritt.

Der große Mann mag dieses mit Bewußtsein oder, was wahrscheinlicher ist, aus tiefem Instinkt geboten haben; genug, er war sicher, daß jenes Bild, welches eine phantastische Liebe und Sehnsucht hervorgerufen hatte, nun durch das entgegenwirkende Wagnis von Haß und Verachtung unmittelbar in eine Fratze sich verwandeln würde.

Ihn berechtigten jedoch zu einer so seltsamen Pädagogik die außerordentlichsten, zwischen den höchst geistigen und höchst körperlichen schwebend erscheinenden Naturgaben: Gefühl einer sich nahenden noch ungesehenen Person, Ahnung entfernter Begebenheiten, Bewußtsein der Gedanken eines vor ihm Stehenden, Nötigung anderer zu seinen Gedanken.

Diese und dergleichen Gaben sind unter mehreren Menschen ausgeteilt, mancher kann sich derselben ein und das anderemal rühmen, aber die ununterbrochene Gegenwart solcher Fähigkeiten, die in jedem Falle bereite Ausübung einer so staunenswürdigen Wirksamkeit, dies ist vielleicht nur in einem Jahrhundert zu denken, wo zusammengehaltene unzersplitterte Geistes- und Körperkräfte sich mit erstaunenswürdiger Energie hervortun konnten.

Betrachten wir aber eine solche nach unabhängigem grenzenlosen, geistigen Wirken sich hinsehnende und hingetriebene Natur, wie sie durch die streng umfassenden römisch-kirchlichen Bande sich wieder zusammengehalten fühlen muß.

Die Wirkungen des heiligen Xaverius unter den abgöttischen Heiden mögen freilich damals in Rom großes Aufsehen gemacht haben. Dadurch aufgeregt, fühlten Neri und einige seiner Freunde sich gleichfalls nach dem sogenannten Indien gezogen und wünschten mit päpstlicher Erlaubnis sich dorthin zu verfügen. Allein der wahrscheinlich von oben her wohl instruierte Beichtvater redete ihnen ab und gab zu bedenken, daß für gottselige, auf Besserung des Nächsten, auf Ausbreitung der Religion gerichtete Männer in Rom selbst ein genugsames Indien zu finden und ein würdiger Schauplatz für deren Tätigkeit offen sei. Man verkündigte ihnen, daß der großen Stadt selbst zunächst ein großes Unheil bevorstehen möchte, indem die drei Brunnen vor dem Tore St. Sebastian trüb und blutig seit einiger Zeit geflossen, welches als eine untrügliche Andeutung zu betrachten sei.

Mag also der würdige Neri und seine Gesellen, hiedurch beschwichtigt, innerhalb Roms ein wohltätiges wunderwirkendes Leben fortgesetzt haben, so viel ist gewiß, daß er von Jahr zu Jahr an Vertrauen und Achtung bei Großen und Kleinen, Alten und Jungen zugenommen.

Bedenke man nun die wundersame Komplikation der menschlichen Natur, in welcher sich die stärksten Gegensätze bereinigen, Materielles und Geistiges, Gewöhnliches und Unmögliches, Widerwärtiges und Entzückendes, Beschränktes und Grenzenloses, dergleichen aufzuführen man noch ein langes Register fortsetzen könnte; bedenke man einen solchen Widerstreit, wenn er in einem vorzüglichen Menschen sich ereignet und zutage tritt, wie er durch das Unbegreifliche, was sich aufdringt, den Verstand irre macht, die Einbildungskraft losbindet, den Glauben überflügelt, den Aberglauben berechtigt und dadurch den natürlichen Zustand mit dem unnatürlichsten in unmittelbare Berührung, ja zur Vereinigung bringt; gehe man mit diesen Betrachtungen an das weitläufig überlieferte Leben unseres Mannes, so wird es uns faßlich scheinen, was ein solcher, der beinahe ein ganzes Jahrhundert auf einem so großen Schauplatze in einem ungeheuern Elemente ununterbrochen und unablässig gewirkt, für einen Einfluß müsse erlangt haben. Die hohe Meinung von ihm ging so weit, daß man nicht allein von seinem gesunden, kräftigen Wirken Nutzen, Heil und seliges Gefühl sich zueignete, sondern daß sogar seine Krankheiten das Vertrauen vermehrten, indem man sie als Zeichen seines innigsten Verhältnisses zu Gott und dem Göttlichsten anzusehen sich bewogen fand. Hier begreifen wir nun, wie er schon lebend der Würde eines Heiligen entgegenging und sein Tod nur bekräftigen konnte, was ihm von den Zeitgenossen zugedacht und zugestanden war.

Deshalb auch, als man bald nach seinem Verscheiden, welches von noch mehr Wundern als sein Leben begleitet war, an Papst Clemens VIII. die Frage brachte, ob man mit der Untersuchung, dem sogenannten Prozeß, welcher einer Seligsprechung vorausgeht, den Anfang machen dürfe, dieser die Antwort erteilte: »Ich habe ihn immer für einen Heiligen gehalten und kann daher nichts dagegen einwenden, wenn ihn die Kirche im allgemeinen den Gläubigen als solchen erklären und vorstellen wird.«

Nun aber dürfte es auch der Aufmerksamkeit wert gehalten werden, daß er in der langen Reihe von Jahren, die ihm zu wirken gegönnt wurden, funfzehn Päpste erlebt, indem er, unter Leo X. geboren, unter Clemens VIII. seine Tage beschloß; daher er denn auch eine unabhängige Stellung gegen den Papst selbst zu behaupten sich anmaßte und als Glied der Kirche sich zwar ihren allgemeinen Anordnungen durchaus gleichstellte, aber im einzelnen sich nicht gebunden, ja sogar gebieterisch gegen das Oberhaupt der Kirche bewies. Nun läßt es sich denn auch erklären, daß er die Kardinalswürde durchaus abschlug und in seiner Chiesa nuova, gleich einem widerspenstigen Ritter in einer alten Burg, sich gegen den obersten Schutzherrn unartig zu betragen herausnahm.

Der Charakter jener Verhältnisse jedoch, wie sie sich am Ende des sechzehnten Jahrhunderts aus den früheren, roheren Zeiten seltsam genug gestaltet erhielten, kann durch nichts deutlicher vor Augen gestellt, eindringlicher dem Geiste dargebracht werden als durch ein Memorial, welches Neri kurz vor seinem Tode an den neuen Papst Clemens VIII. ergehen ließ, worauf eine gleich wunderliche Resolution erfolgte.

Wir sehen hieraus das auf eine andere Weise nicht zu schildernde Verhältnis eines bald achtzigjährigen, dem Rang eines Heiligen entgegensehenden Mannes zu einem bedeutenden, tüchtigen, während seiner mehrjährigen Regierung höchst achtbaren souveränen Oberhaupte der römisch-katholischen Kirche.

Memorial des Philipp Neri an Clemens VIII.

»Heiligster Vater! Und was für eine Person bin ich denn, daß die Kardinäle mich zu besuchen kommen, und besonders gestern abend die Kardinäle von Florenz und Cusano? Und weil ich ein bißchen Manna in Blättern nötig hatte, so ließ mir gedachter Kardinal von Florenz zwei Unzen von San Spirito holen, indem der Herr Kardinal in jenes Hospital eine große Quantität geschickt hatte. Er blieb auch bis zwei Stunden in die Nacht und sagte so viel Gutes von Ew. Heiligkeit, viel mehr, als mir billig schien; denn da Sie Papst sind, so sollten Sie die Demut selber sein. Christus kam um sieben Uhr in der Nacht, sich mir einzuverleiben, und Ew. Heiligkeit könnte auch wohl einmal in unsre Kirche kommen. Christus ist Mensch und Gott und besucht mich gar manchmal. Ew. Heiligkeit ist nur ein bloßer Mensch, geboren von einem heiligen und rechtschaffenen Mann, jener aber von Gott Vater. Die Mutter von Ew. Heiligkeit ist Signora Agnesina, eine sehr gottesfürchtige Dame; aber jenes die Jungfrau aller Jungfrauen. Was hätte ich nicht alles zu sagen, wenn ich meiner Galle freien Lauf lassen wollte. Ich befehle Ew. Heiligkeit, daß Sie meinen Willen tun wegen eines Mädchens, das ich nach Torre de' specchi schaffen will. Sie ist die Tochter von Claudio Neri, dem Ew. Heiligkeit versprochen hat, daß Sie seine Kinder beschützen will; und da erinnere ich Sie, daß es hübsch ist, wenn ein Papst sein Wort hält. Deswegen übergeben Sie mir gedachtes Geschäft, und so, daß ich mich im Notfall Ihres Namens bedienen könne; um so mehr, da ich den Willen des Mädchens weiß und gewiß bin, daß sie durch göttliche Eingebung bewegt wird, und mit der größten Demut, die ich schuldig bin, küsse ich die heiligsten Füße.«

Eigenhändige Resolution des Papsts, unter das Memorial geschrieben

»Der Papst sagt, daß dieser Aufsatz in seinem ersten Teil etwas vom Geiste der Eitelkeit enthält, indem er dadurch erfahren soll, daß die Kardinäle Dieselben so oft besuchen; wenn uns nicht etwa dadurch angedeutet werden soll, daß diese Herren geistlich gesinnt sind; welches man recht gut weiß. Daß Er nicht gekommen ist, Dieselben zu sehen, darauf sagt Er, daß es Ew. Ehrwürden nicht verdienen, da Sie das Kardinalat nicht haben annehmen wollen, das Ihnen so oft angetragen worden. Was den Befehl betrifft, so ist Er zufrieden, daß Dieselben mit Ihrer gewöhnlichen Befehlshaberei denen guten Müttern einen tüchtigen Filz geben, die es Denenselben nicht nach Ihrem Sinne machen. Nun befiehlt Er Denselben aber, daß Sie sich wahren und nicht Beichte sitzen ohne seine Erlaubnis. Kommt aber unser Herr Dieselben besuchen, so bitten Sie für uns und für die dringendsten Notdurften der Christenheit.«


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