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Die Eule

Eigentlich war ich gar nicht mit ihm verwandt, obwohl ich ihn Onkel nannte. Er war nur der Schwager meiner Stiefmutter, und das ist eigentlich kein behördlich zugelassener Verwandtschaftsgrad. Aber ich hatte ihn gern, weil er dem Helden meines damaligen Lieblingsbuches glich, dem Onkel Benjamin von Claude Tillier. Im Gehaben und in der Ausdrucksart glich er diesem Romanhelden, und beide hatten sie den gleichen Beruf: Mein Onkel Léon war Landarzt. Seine Körpergestalt aber war eher dürftig: mittelgross, sehr mager, mit hängenden Schultern und konkavem Brustkasten; ein weisser Spitzbart verlängerte das knochige Gesicht. Onkel Léon hustete viel und trug bis in den Juni hinein einen schweren Pelzmantel, den er vorne offen hielt, die Fäuste tief in den Hosentaschen vergraben. Und die Notabeln des Dorfes, der Bürgermeister – ein Genfer Aristokrat, der wie ein pommerscher Krautjunker aussah –, der Gemeindeschreiber, Herr Corbaz, der zugleich Lehrer und Leiter des Gemischten Chores war, die Mitglieder des Gemeinderates, voran der Gastwirt Raymond und der Schmied Vuillettaz, grüssten von ferne ehrerbietig den Herrn Doktor – saluaient de fort loin Monsieur le Chevalier, an diesen Vers Henri de Regniers musste man unwillkürlich denken –, und als Antwort wurde ihnen ein kurzes Nicken des stets hutlosen Hauptes zuteil.

Es war erstaunlich, dass man ihn immer noch grüsste, den Dr. Léon Courvoisier, denn seine Glanzzeit war vorbei, seit der neue Arzt, Dr. Trémoillère, sich in Jussy niedergelassen hatte. Aber nicht von der Rivalität zwischen diesen beiden Ärzten möchte ich erzählen, sondern von den Umständen, die den Tod meines Onkels herbeigeführt haben. Denn er ist wirklich an Kummer gestorben; aber das Merkwürdige ist, dass das Schicksal oder die höhere Macht ihm den erduldeten Kummer scheinbar hoch angerechnet hat. Sein Tod war schön, er wirkte auf uns wie ein Geschenk, und eine Eule spielte dabei eine merkwürdige Rolle. Es ist aber notwendig, vorerst von den Kümmernissen zu erzählen.

Onkel Léon war katholisch, hatte in Löwen studiert und war dann nach Genf gekommen. Dort hatte er sich in die Tochter eines angesehenen Bürgers verliebt, dessen Name unwichtig ist, der aber mit vielen Kindern gesegnet war. Dr. Courvoisier heiratete, nachdem er sicher war, die Stelle als Gemeindearzt in Jussy zu erhalten. Die Bedingungen waren günstig: Ein Haus wurde ihm zur Verfügung gestellt, dazu ein jährliches Fixum. Die Privatpraxis erstreckte sich über die französische Grenze bis nach Savoyen hinein. Das war in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.

Die Ehe blieb kinderlos, und meine Tante Amélie begann sich zu langweilen. Sie hatte eine hübsche Stimme und begleitete selbst die Lieder, die sie sang – aber auf die Dauer genügte ihr das nicht. So kam es, dass das Ehepaar ein kleines Mädchen von fünf Jahren zu sich nahm. Berthe sah zerrauft und vernachlässigt aus, als sie ins Doktorhaus kam, denn sie war ziemlich heftig in der Welt herumgeschupft worden. Sie entstammte nämlich einer kurzen Liebschaft des ältesten Bruders meiner Tante Amélie mit einem Modell (der Bruder war, glaub' ich, Bildhauer gewesen, Schüler von Rodin, aber er verkam dann), und das Kind wanderte eine Zeitlang von Hand zu Hand: Von einer Pariser Portierfamilie zu Weinbauern in der Provence – die Mutter hatte eine ausgedehnte Verwandtschaft –, dann wollte es plötzlich niemand mehr, den Vater ergriff eine späte Reue, er schrieb an seine Schwester – kurz, Berthe kam nach Jussy, Tante Amélie war nicht mehr allein, das Mädchen verstand es, den eingenommenen Platz zu behaupten, und blieb.

Als Kind wird Berthe wohl nicht viel anders gewesen sein als später, als ich sie erwachsen sah: Die Haare waren von einem stumpfen Braun, das Gesicht wirkte scharf, vielleicht wegen der farblosen Augen, die Haut wurde auch im Sommer nicht braun, sie blieb bleich. Dies alles zusammen mit dem kühlen, altklugen Gehaben, musste auf die Pflegeeltern aufreizend wirken, weil beide warme, offene Menschen waren. Nun wird ja behauptet, Wesensfremdheit stosse ab, doch ist viel häufiger das Gegenteil der Fall. Sobald der erste Widerstand überwunden ist, wird der Reiz Notwendigkeit. Verschwände der Reiz, so entstünde eine Leere, die ärger wäre, als die zuerst empfundene Störung.

Berthe ging zuerst zu Herrn Corbaz in die Schule. Ihre braunen Zöpfe waren lang und weich. Sie spielte wenig mit den Kindern des Dorfes. Später fuhr sie alle Morgen nach Genf in die Sekundarschule; sie lernte fleissig und eifrig, kam abends zurück und machte still ihre Aufgaben. Sie sang mit Tante Amélie zusammen Duette aus alten Operetten: »Ma mère, j'entends le rigodon ...« oder Volkslieder in Moll: »C'était Anne de Bretagne, duchesse en sabots ...« Das Wohnzimmer war gross, in einer Ecke stand das Spinett, im Winter brannte ein helles Feuer im offenen Kamin, im Sommer stand die Glastüre offen, die in den etwas verwilderten Garten führte; mein Onkel Léon sass immer in einem Lehnstuhl aus Rohrgeflecht und hörte dem Gesang zu. Später, viel später, etwa ein Jahr vor seinem Tode, sagte er zu seiner Frau: »Hab' ich dir nicht schon damals gesagt, dass die Kleine kein Herz hat?« Dieser Ausspruch bezog sich auf Berthes Stimme. Sie wirkte ... Kennen Sie jene Zitronendrops, die mit Minze parfümiert sind? Zuerst schmecken sie erfrischend. Aber sie hinterlassen im Munde einen so abscheulichen Geschmack von falscher Frische und schaler Säuerlichkeit – Berthes Stimme wirkte ähnlich.

Als ich in das Haus meines Onkels kam, war Berthe seit einem Jahre verheiratet, mit einem gewissen Calve, der, wie mein Onkel behauptete, seinem Namen alle Ehre machte. Denn er war trotz seiner Jugend schon kahlköpfig, und das französische »chauve« kommt ja vom lateinischen »calvus«. Ich merkte gleich, dass mein Onkel nur mit einem gewissen Widerwillen in diese Heirat eingewilligt hatte, obwohl jener Jules Calve aus guter Familie stammte und später einmal reich sein würde. Merkwürdigerweise hatte gerade mein Onkel Angst vor diesem zukünftigen Reichtum, und, wie sich herausstellen sollte, mit Recht. Übrigens war schon die Vorgeschichte dieser Heirat mit einigen Kümmernissen verbunden.

Berthe war mit zwanzig Jahren Lehrerin geworden und unterrichtete an einer Primarschule in Carouge. Abends kam sie immer nach Jussy zurück. Zu ihren Pflegeeltern war sie zärtlich, aber mit Distanz, hilfsbereit, aber mit Mass. Das magere Geschöpf, das seine langen braunen Zöpfe kranzförmig um den Vogelkopf trug, hatte viele Verehrer. Es liefen ihr nach: der Sohn des Pastor Leblanc, ein hübscher Bursche von neunzehn Jahren, der jeden Morgen ins College fuhr und knapp vor der Matur stand, der Sohn des Gastwirtes Raymond, bäuerlich plump, mit groben Händen, ja sogar der Sohn des Bürgermeisters, ein sechzehnjähriger Junge, der ebenso zart war wie seine Mutter. Berthe war mit allen von einer stillen, klugen Freundlichkeit. Aber sie schien zu warten.

Dann wurde sie krank, und während ihrer Krankheit tauchte zuerst jener Calve auf, der sie später heiraten sollte. Berthes Krankheit aber war der Auftakt zu den nachfolgenden Kümmernissen. Sie hatte irgendwo eine Angina aufgelesen, und zugleich mit ihr erkrankte auch der Sohn des Bürgermeisters, und zwar auch an Halsschmerzen. Für solche Fälle hatte mein Onkel eine Rosskur auf Lager, die er bis jetzt stets mit Erfolg angewandt hatte. Er liess seine Patienten ein halbes Glas Diphtherieserum trinken, hernach Lindenblütentee mit Rum und gab dazu massive Dosen Aspirin. An mir hat er später diese Kur mit ausgezeichnetem Erfolg praktiziert. Aber die beiden andern Patienten waren wohl zu zart; statt nach drei Tagen wieder aufzustehen und, als ob nichts gewesen wäre, herumzulaufen, blieben sie boshaft im Bett liegen, klagten über allgemeine Schwäche und geschwollene Beine und wollten nicht gesund werden. Mein Onkel Léon entschloss sich, die Universitätsbibliothek in Genf aufzusuchen, dort verschiedene Wälzer zu konsultieren, kam zurück, versuchte Diät, gab Arsen zur Kräftigung. Es nützte alles nichts. Die Kranken blieben wie lahme Fliegen. Da berief Pastor Leblanc eines Tages, als mein Onkel nach Savoyen gefahren war, heimlich einen Homöopathen. Dieser, ein unauffälliger Mann mit glattem Gesicht, sah sich die beiden Kranken an, zog dann ein Röhrchen aus der Tasche (Anticanceroso stand darauf, und die Medizin stammte aus der Offizin des Grafen Mattei), entnahm dem Röhrchen ein weisses Kügelchen, kleiner als ein Stecknadelkopf, warf es in ein Glas Wasser und verordnete, man solle den Kranken jede Stunde einen Kaffeelöffel dieser Lösung eingeben. Für die nächsten Tage liess er noch einige Kügelchen zurück. Die Patienten genasen überraschend schnell.

Hier taucht zum ersten Male die Eule auf. Von jener Fahrt nach Savoyen hatte sie mein Onkel mitgebracht, und er hatte ihr das Leben gerettet. Ein Hauer hatte sie über seinem Scheunentor kreuzigen wollen, denn er behauptete, sie bringe den Tod ins Haus. Mein Onkel hatte sie dem Mann aus der Hand genommen, ihn bös angefaucht und den Vogel mitgenommen. Zu Hause angekommen, hatte er sie in einem hohlen Baum im Garten abgesetzt, und die Eule war geblieben. Am Abend setzte sie sich vor das geschlossene Fenster des Wohnzimmers und wartete, bis ihr geöffnet wurde. Dann blickte sie mit ihren grossen, gelben Augen eine Weile ins Zimmer, liess sich sogar streicheln, aber nur von meinem Onkel, und flog dann wieder fort. Manchmal verzehrte sie auch gnädig ein Stück kaltes Rindfleisch. Zuerst hasste meine Tante das Viehzeug, wie sie sagte, aber sie gewöhnte sich an den stillen Vogel, besonders später, als Berthe nicht mehr im Hause war. Die Eule war auch schuld, dass die Geschichte mit dem Homöopathen so gnädig verlief.

Als nämlich mein Onkel von dieser geheimen Konsultation erfuhr, wurde er, wie mir meine Tante erzählte, ganz blau im Gesicht. Er wankte ein wenig, stand dann gerade, ging mit steifen Schritten zum Kamin, nahm von der oberen Leiste eine kleine Pendule und warf sie mit Schwung auf den grauen Herdstein. Dann schwankte er zu seinem Lehnstuhl zurück und liess sich hineinfallen. Er sagte nur: »Und ich hab' doch eine ganze Nacht bei ihr gewacht.« Es war merkwürdig, weder dem Pastor, der doch die Konsultation einberufen hatte, noch dem Bürgermeister war er böse. Nur Berthe, die sich eigentlich passiv verhalten hatte, konnte er den »Mangel an Vertrauen«, wie er es mir gegenüber nannte, nicht verzeihen. »Siehst du«, sagte er – und suchte auf dem kleinen Sofa, auf dem er lag, eine bequeme Stellung – »das Vertrauen. Das ist die Hauptsache. Wenn Vertrauen da ist, kannst du Kröteneier geben oder pures Wasser, der Mensch wird doch gesund. Aber wenn das Vertrauen fehlt...« Dann schwieg er eine lange Weile und sah in den rötlichen Schimmer, der durch die Glastüre sickerte. In der Küche nebenan klapperte Tante Amélie mit Tellern. »Und wie sie uns diesen Calve ins Haus gebracht hat. Er war plötzlich einmal da, und dann hat sie ihn geheiratet. Gut und recht. Der Mann wird einmal reich sein, und ich mag es Berthe gönnen. Ich habe nicht gespart und werd' es einmal brauchen können, und Amélie auch. Aber Berthe hätte doch wenigstens ein Wort sagen können. Ich mag ihn nicht, diesen Calve, er ist ja jetzt sozusagen mein Schwiegersohn, aber was soll man mit Leuten anfangen, die beim Essen den Ringfinger abspreizen und den kleinen Finger einklemmen und die faule Witze erzählen, über die man beim besten Willen nicht lachen kann...« Da ging die Türe auf, meine Tante trat ein, der Boden des Zimmers zitterte unter ihren Tritten, sie war sehr voll und rheumatisch auch, das gab ihr ein so hartes Auftreten. Mein Onkel Léon fuhr vom Sofa auf, ergriff ein altes Buch, das auf dem Tisch lag, und begann mit seiner lautschallenden Stimme vorzulesen. Es war jenes Kapitel im Gargantua, in welchem verschiedene Versuche mitgeteilt werden, ein durchaus natürliches Geschäft zu absolvieren. Meine Tante hielt sich die Ohren zu und sagte: »Mais Léon.« Dann aber hörte sie doch auch zu und lachte Tränen.

Dass es viele Kämpfe gegeben hat und viele Schwierigkeiten, bis Berthes Heirat zustandekam, ist mir von den verschiedensten Seiten bestätigt worden. Pastor Leblanc zum Beispiel, der ausser für Homöopathie noch für Verlaine schwärmte und dessen »Alles übrige ist Literatur« gern zitierte, wurde doch einmal ganz pathetisch und sagte: »Dein Onkel hat sich aufgeopfert, und was hat er nun als Dank?« Ein andermal, als es feststand, dass die beiden alten Leute das Haus verlassen mussten, in dem sie dreissig glückliche und ruhige Jahre gelebt hatten, während Berthe es hätte verhindern können, sagte meine Tante: »Er hat doch recht gehabt, sie hat kein Herz.« Das war nun eine ziemlich billige Behauptung; denn irgendein Rest blieb, ein ungeklärter Rest, der Berthes Verhalten, wenn nicht entschuldigte, so doch irgendwie verständlich machte. Ich kam durch einige sonderbare Andeutungen meines Onkels auf die Spur, will aber nicht behaupten, dass diese »Imponderabilien«, wie psychologisch geschulte Leute sagen, diese »Unwägbarkeiten«, in Berthes Verhalten eine Rolle gespielt haben.

Wenn nämlich Onkel Léon über seine Adoptivtochter sprach (er hatte Berthe kurz vor der Heirat regelrecht adoptiert, um den »Schandfleck der unehelichen Geburt« zu tilgen, wie die Mutter Calve Berthens zivilrechtliche Stellung nannte), so kam er fast immer auf zwei Bücher zu sprechen. »Kennst du«, fragte er dann, »das greuliche Buch jenes Erzschmierers Zola? Es heisst Doktor Pascal. Und es ist weniger schlecht als seine übrigen. Ein alter Doktor, der sich mit siebzig Jahren in ein junges Mädchen verliebt, es heiratet und mit ihr glücklich wird? Kennst du nicht? Schadet nichts. Aber das Buch Ruth kennst du? Booz und Ruth? Schön, nicht wahr?« Dann schwieg er meistens, blickte schweigend die Decke an, und dabei stach sein kurzer Spitzbart senkrecht in die Luft. Er schnaufte geräuschvoll. »Es war doch schön, als sie krank war«, sagte er still. »Ich hab' bei ihr gewacht. Du wirst es noch erfahren, deine Tante versteht nichts von Krankenpflege. Hühnersuppe kann sie kochen, das ist alles. Aber ich habe bei Berthe gewacht. Ich bin mit ihr spazieren gegangen, trotz ihrem Verrat«, damit meinte er die Konsultation des Homöopathen, »und die Abende waren schön. Ihre Hand war ganz leicht, wenn sie auf dem Ärmel meines Pelzmantels lag.« Ich muss wohl ziemlich erstaunt dreingesehen haben, derart lyrische Ergüsse war ich bei meinem Onkel nicht gewohnt, denn mit einem »Das verstehst du nicht, du junger Hund!« sprang er auf, holte seinen Pelzmantel und storchte mit weit ausholenden Schritten zum Gastwirt Raymond ins Dorf, um dort seine Flasche Bier zu trinken. Sie bekam ihm gewöhnlich schlecht, denn er hustete dann viel, auch war manchmal Blut in seinem Taschentuch zu finden.

Die Hochzeit Berthes! Sie wurde in Jussy gefeiert. Die Schwiegereltern der Braut müssen ein Albdruck gewesen sein. Frau Calve, eine dürre, distinguierte Dame, ganz in Lila, mit teuern Spitzen um den sehnigen Hals, ihr Mann, klein, gepolstert, mit einem rosigen Babygesicht, der seine Gattin mit kindlichem Respekt behandelte. Er hatte Grund zu dieser Haltung, denn er war stets mit einem schlechten Gewissen belastet. Seine Frau hatte das Geld, er vegetierte so nebenher und war bei allen Damen beliebt. Seine kleinen Seitensprünge waren stadtbekannt. Dann habe ich noch die Photographie des Brautpaares gesehen. Jules Calve, kahlen Hauptes, schaut missmutig vor sich hin; sein Gehrock ist auf Seide gearbeitet, aber die groben Schuhe passen nicht zu diesem Tenue. Berthe neben ihm hat ein merkwürdiges Lächeln in den Mundwinkeln. Dieses Lächeln, sagte Tante Amélie, sei immer um Berthes Mund erschienen, wenn ihr Bräutigam zärtlich mit ihr geworden sei, ihr die Hände geküsst oder ihr Haar gestreichelt habe. Ich habe über dies Lächeln nachgegrübelt, denn es kam mir sonderbar vor, obwohl ich seine klare Ursache zuerst nicht recht zu begreifen wusste. Bis ich es verstand. Es ist ganz einfach das Lächeln des kleinen Kindes, das sich lange Zeit im Dunkeln gefürchtet hat, und plötzlich sieht es den tröstlichen Schein der Lampe, welche die Mutter in Händen hält. Dann ist die Sicherheit da. Unsicher war Berthes Kindheit gewesen, die Pariser Portierloge und der Bauernhof in der Provence müssen noch sehr lebendig in ihr gewesen sein. Und war etwa Onkel Léons Haus Sicherheit? Der Doktor verdiente gut, gewiss, besonders früher, aber er hielt ein gastfreies Haus, er hatte nichts erspart. Sollte sie Lehrerin bleiben, ihr Leben lang, die alten Leute unterstützen mit ihrem kleinen Gehalt? Jules war die Sicherheit, der kahle Jules, über den sich Onkel Léon immer lustig machte. Jules bedeutete eine Wohnung, ein sicheres Auskommen, später eine Villa, ein Auto vielleicht. Ich mochte Berthe nicht, aber zu begreifen war ihre Heirat immerhin.

Die Trauung fand in der Kirche in Jussy statt, und Pastor Leblanc hielt die Rede. Tante Amélie spielte die Orgel. Lange hatte sich mein Onkel besonnen, ob er mit seiner zehnjährigen Gewohnheit brechen und offen in die protestantische Kirche gehen wollte, entschloss sich aber dann, sich selbst treu zu bleiben. Er wartete, bis alle in der Kirche versammelt waren, dann stahl er sich behutsam durch die offene Tür, der Küster hatte ihm, wie sonst, einen Stuhl hinter die Orgel gestellt, und dort wohnte er verborgen der Feierlichkeit bei. Es waren wenig Leute geladen, man ass im Garten des Doktorhauses. Die Eltern Calve wurden durch die ziemlich freie Tischrede meines Onkels leicht skandalisiert, verbargen es aber. Sonst verlief die Feier ohne Zwischenfall. Die Hochzeitsreise machte das Paar an die Riviera. Ein ziemlich ausgefallener Gedanke, denn es war Sommer.

Und dann wurde den alten Leuten noch ein ruhiges Jahr geschenkt, ein schwerer Herbst mit vielen Birnen im verwilderten Garten und dem Trommeln der herabfallenden Rosskastanien an den windigen Abenden, ein Winter, mit dem klagenden Pfeifen der Bise ums Haus, und ein warmer Frühling mit dem feuchten Brausen des Föhns. Im Sommer aber begann es, Schlag auf Schlag.

Der neue Arzt, Dr. Trémoillère, hatte Kapital. Er baute sich ein eigenes Haus, auch ein Auto schaffte er sich an. Es sprach sich herum, dass er moderner sei als der alte Courvoisier. Nun war mein Onkel Léon noch immer Gemeindearzt, aber das Fixum, das er neben dem Hause für die Funktion erhielt, war gering genug. Seine Praxis ging zurück. Das Wenige, das er erspart hatte, war für Berthes Aussteuer draufgegangen. »Wenn man etwas tut, soll man es recht tun«, hatte er auf seiner Frau Vorhaltungen geantwortet. Es kamen aber neue Leute in den Gemeinderat, ein neuer Bürgermeister, und meinem Onkel wurde das Haus auf den einunddreissigsten Dezember gekündigt. Er hing an dem Haus, das er dreissig Jahre lang bewohnt hatte. Es war ein alter Bau aus der Barockzeit, ganz mit Glyzinien überwuchert, und es wohnte sich gut in ihm. Mein Onkel ging betteln, obwohl es ihm schwer wurde. Betteln ist vielleicht übertrieben, er suchte einen Käufer für das Haus, einen Käufer, dem er gerne Miete zahlen würde, bis – wie mein Onkel sagte – »bis ich den Löwenzahn an der Wurzel benagen werde«. Er fand keinen. Der alte Bürgermeister sprach vom Krieg (der hatte gerade begonnen), von der Unsicherheit der Zeiten, Berthe wollte sich nicht an ihre Schwiegereltern wenden: »Du verstehst, Papa«, sagte sie, »ich kann das nicht. Sie lassen es mich immer fühlen, dass ihr Sohn eine viel bessere Partie hätte machen können. Sie mögen dich nicht, das fühle ich. Du musst dich eben einrichten.«

»Einrichten!« wiederholte Onkel Léon, als er am Abend aus der Stadt zurückkam. Trotzdem er beim Coiffeur gewesen war, stand sein weisses Haar widerspenstig vom runden Kopf ab. »Hundert Franken im Monat will sie uns geben, hat sie gesagt. Damit sollen wir leben. Und die Calves haben eine Villa. Vielleicht hat's die Berthe auch nicht leicht«, seufzte er noch. Tante Amélie hatte Tränen in den Augen, sie war leicht gerührt. Ich war wütend auf Berthe. Dann klopfte es ans Fenster. Onkel Léon nahm ein schwarzes Tuch, breitete es über die Lampe. Der Riegel kreischte, ein dunkler Schatten huschte ins Zimmer; Tante Amélie ging still hinaus, kam wieder. Sie trug einen Teller in der Hand mit einem Stück Fleisch. Die Eule hockte auf dem Tisch, sehr ruhig und sehr weise, sie verzehrte das Fleisch mit vielem Anstand. Onkel Léon lachte. »Der Vogel der Athene«, er sprach das »th« englisch aus, und nie hätte er die Göttin der Weisheit anders genannt, etwa Minerva, »der ist uns geblieben. Ich bin neugierig, ob er bei uns bleiben wird.« Da nickte die Eule, ihr krummer Schnabel verschwand im dichten Federkleid ihrer Brust, dann sass sie wieder still und glich einem riesigen Briefbeschwerer. Plötzlich flog sie auf, stiess Laute aus, die an das zarte Klagen von jungen Katzen erinnerten, flog auf und mit ausgebreiteten Schwingen ein paarmal durchs Zimmer, dann zum Fenster hinaus. Die ganze Nacht klagte sie in den Bäumen. Es war weder schauerlich noch störend, eher tröstend. Ich habe meinen Onkel nur einmal weinen sehen. Das war, als in den Zeitungen die Nachricht kam, die grosse Bibliothek in Löwen sei eingeäschert worden. Er murmelte vor sich hin, während ihm die Tränen über die Wangen liefen, die Barbaren hätten seine Jugend verbrannt. Dann fluchte er über sich selbst, über seine Rührseligkeit, erzählte einige Studentenstreiche, die lustig sein sollten. Sie wirkten müde. Im Oktober starb Jules Calves Mutter und hinterliess ihrem Sohn ihr gesamtes Vermögen; eine Klausel bestimmte, dass Jules seinem Vater bis an dessen Lebensende eine Rente auszahlen sollte.

Als Onkel Léon die Todesanzeige in der Zeitung gelesen hatte, freute er sich. »Nun wird alles gut«, sagte er, »nun kann Berthe das Haus kaufen.« Aber es kam anders. Berthe schrieb einen Brief (sie kam nicht einmal selber), in welchem sie mitteilte, ihr Mann habe über das Vermögen schon anderweitig verfügt, auch hätte er verschiedene schwere finanzielle Lasten auf sich nehmen müssen, aber sie sei bereit, ihre Eltern nach Möglichkeit zu unterstützen. Eine bescheidene Wohnung werde sich wohl in Jussy finden. Zwei Tage sprach Onkel Léon kein Wort. Er ging morgens und abends ins Dorf, trank dort beim Gastwirt Raymond seine Flasche Bier, hustete viel, besonders in der Nacht. Als Tante Amélie ihn einmal mit »mein armer Alter« anredete, wurde er direkt böse, seine Erbostheit war schweigsam und drohend. Am liebsten hockte er am Abend vor dem offenen Kamin, bei gelöschter Lampe, starrte ins Feuer (der Oktober war kühl) und hob manchmal die Augen zur Eule auf, die auf dem Kaminsims sass, genau an der Stelle, an der einstmals die nun zerschmetterte Pendule gestanden hatte.

Merkwürdigerweise schloss er sich in dieser Zeit an den Pastor Leblanc an. Dies war ein älterer, unauffälliger Herr, Vegetarier, Abstinent, und, wie ich schon erzählt habe, Homöopath, alles Attribute, die meinem Onkel in der Seele zuwider sein mussten. Und doch verstand er sich sehr gut mit diesem tugendhaften Herrn, der im Grunde, und besonders andern Leuten gegenüber, sehr large Ansichten hatte. Darum überraschte es mich, dass er in den Gesprächen mit meinem Onkel sehr scharf, sehr boshaft sogar, gegen Berthe loszog. Er tat dies aber hinterhältig und verbarg dabei seine Augen hinter den schweren Lidern. Anfangs pflichtete mein Onkel ihm bei, beklagte sich bitter über die Undankbarkeit der Menschheit, ohne andere Antworten zu erhalten als: Das sei nun einmal so, schön sei es nicht, aber ... und dann griff Herr Leblanc Berthes Charakter von einer andern Seite an. Auch hier stimmte ihm mein Onkel zuerst zu, bis ihn Herr Leblanc durch das Preisen der homöopathischen Behandlungsart (ich höre noch seine leise, spitze Stimme, wenn er sagte: »Mein lieber Doktor, es hilft Ihnen alles nichts, es ist nicht nur Suggestion, selbst Pferde werden von den Pillen des Grafen Mattei gesund«) so in Harnisch gebracht hatte, dass Onkel Léon, sobald die Rede wieder auf Berthe kam, diese zu verteidigen begann. Zuerst unwillig, dann eifriger, bis er sich an einem Abend zu einer Erklärung verstieg, die etwa folgenden Sinn hatte: Die nachfolgende Generation fühle sich immer verpflichtet, genau das Gegenteil von dem zu tun, was sie bei den Eltern gesehen habe. Die Kinder von Geizkragen seien gewöhnlich Verschwender, die Söhne von Trunkenbolden Abstinenten (womit er nicht persönlich zu werden gedenke, fügte er hinzu, mit einem Neigen des Oberkörpers – und der Pastor quittierte die Entschuldigung mit einem kaum merkbaren Lächeln); nun, er, der Dr. Courvoisier, habe immer gerne breit gelebt, nichts gespart, das sei vielleicht bei Berthe ins gerade Gegenteil umgeschlagen. Man kenne übrigens viele Beispiele, dass gerade reiche Leute viel ängstlicher mit ihrem Gelde umgingen als arme. Wer gebe die reichlicheren Trinkgelder, der Millionär oder der Schwerarbeiter? Pastor Leblanc solle sich einmal bei den Kellnerinnen erkundigen. Daher sei es nicht verwunderlich, wenn Berthe nun, da sie reich geworden sei, plötzlich anfangen wolle zu sparen. Das sei nun einmal so, und menschlich sehr begreiflich. Wozu er aber immerhin zu bemerken wünsche, dass ein Begreifen einer Handlung noch lange nicht ein Verzeihen dieser Handlung bedeute ...

An dieser Stelle unterbrach ihn der Pastor sehr ruhig: Mehr habe er auch gar nicht erwartet, ihm genüge vollauf diese Einstellung, und er sei froh, den Doktor zu einer vernünftigen Auffassung der ganzen Angelegenheit zu bringen. Onkel Léon schwieg zuerst, dann zog er die Lippen ein, wölbte sie wieder vor und sagte dann scharf: »Sie hätten Jesuit werden sollen, Pastor.« – »Ach Gott«, erwiderte Herr Leblanc. »Jesuit? Warum den heiligen Ignatius bemühen? Genügt Ihnen Sokrates nicht? Ich habe meine Methode eher von diesem gelernt. Und mir scheint, er passt auch besser zu Ihrer Eule als der Spanier.« Mein Onkel nickte. Er schaute auf zum Kaminsims. Aber dieser war leer. Die Eule war ein einsamer Vogel und abhold jeglicher Geselligkeit.

Der endliche Käufer des Hauses, ein Genfer Bankier, brauchte das Haus erst im Frühling. So feierten wir noch Neujahr im alten Hause. In der Silvesternacht standen die beiden Alten Arm in Arm vor der Tür, als es zwölf Uhr schlug. Strenge Kälte war in der Luft, der Himmel war schwarz, aber deutlich klang das Dröhnen der grossen Glocke von St.Pierre durch die Nacht. Dann tranken wir Grog. »Dreissig Jahre, meine Alte«, sagte mein Onkel und stiess mit seiner Frau an. Da pickte die Eule an die Fensterscheibe.

Im Frühjahr bezog mein Onkel eine kleine Wohnung ausserhalb des Dorfes. Er lebte ärmlich, man hatte ihn abgesetzt als Gemeindearzt, wenig Patienten suchten ihn auf, und von diesen nahm er kein Geld. An einem Sonntag, Ende Juni, kam ich ihn besuchen. Es war gegen Abend, und nur meine Tante war daheim. Sie war unruhig, weil ihr Mann schon seit zwei Stunden fortgegangen war. Sie erzählte mir, der Onkel sei sehr gealtert; in diesem Jahre sei er zum ersten Male ganz offen in die Predigt des Herrn Leblanc gegangen. Nicht dass er sich bekehren wolle; übrigens, ob ich das nicht auch merkwürdig gefunden hätte, dass sie, obgleich verschiedenen Glaubens, doch immer so gut mit ihrem Léon ausgekommen sei? Ich fand das gar nicht sonderbar. Die beiden hatten eben viel zu gut zueinander gepasst. Tante Amélie nickte. Dann wurde sie wieder ängstlich: Wo auch Léon bleibe?

Der Sommerabend war weich, und die trägen weissen Wolken, hinter denen die schon tiefe Sonne stand, hatten silberne Ränder. Ich suchte den Alten lange, aber die Strassen waren leer. Nur ganz in der Ferne trommelte ein verspäteter Wagen. Die Dämmerung kam, und immer noch suchte ich die gebeugte Gestalt. Dann sah ich rechts von der Strasse einen schmalen Grasstreifen, der zwischen zwei Feldern lief, auf denen der Roggen hoch stand. Die Halme waren schon gelb, aber sie reckten sich auf, sehr gerade, denn die Ähren waren noch leicht. Und auf diesem Grasweg fand ich meinen Onkel.

Er lag halb aufgerichtet, den Kopf auf seinem zusammengelegten Mantel, und rechts und links von ihm standen die gelben zierlichen Speere; einige von ihnen waren rot gesprenkelt. Dem Toten zu Häupten aber sass, auf dem Zweig des wilden Birnbaums, die Eule.

Als Pastor Leblanc vorschlug, dem alten Doktor als Grabstein eine Eule zu setzen, begegnete er nur Widerspruch. Das sei heidnisch, warf man ihm vor, und da er nur von mir unterstützt wurde, fiel er mit seiner Anregung durch. Berthe kam übrigens nicht ans Begräbnis, obwohl sie in Graubünden war. Meine Tante ist ein Jahr darauf in einem Altersheim gestorben. Berthe hat ein kleines Mädchen zur Welt gebracht, aber das hat nicht lange gelebt. Wir wollen da nicht von ausgleichender Gerechtigkeit sprechen, das sind heikle Dinge. Besonders da Berthe scheinbar sehr glücklich ist. Sie besitzt ein Auto und zwei Windhunde.


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