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Kuik

Dass es Pechvögel gibt, werden nur Pädagogen und Philosophieprofessoren leugnen wollen. Und ihnen hätte ich gerne die Geschichte erzählt vom Ackermann Adolf, der mit mir in Metz engagiert hatte – auf fünf Jahre wie ich. Und warum er engagiert hatte – in die Fremdenlegion nämlich –, das hat er mir dann auf der Fahrt von Marseille nach Oran auf dem »Sidi-Brahim« erzählt. Die anderen waren seekrank, denn der Golf du Lion, der Löwengolf, ist im April immer aufgeregt, aufgeregter, als man es vom braven Mittelmeer erwarten würde. Aber von den Launen dieses grösseren Sees, der nicht einmal weiss, was Ebbe und Flut ist und darum wahr- und wahrhaftig nicht zu den Meeren gerechnet werden kann (nur salzig ist er), hat schon der heilige Paulus ein Lied zu singen gewusst.

Nun, der Ackermann erzählte mir, dass er mit seinem Vater in Frankfurt Krach bekommen habe. Man schrieb damals das Jahr neunzehnhunderteinundzwanzig, knapp drei Jahre nach dem Krieg, den gewisse Leute den »grossen« nennen, als ob eine Schlachtbank einen Anspruch auf Grösse erheben könnte; und damals war der Abgrund, der zwischen zwei Generationen klaffte, sehr gross – unüberbrückbar, würde ich sagen, wenn ich nicht wüsste, dass man mit grossen Worten vorsichtig umgehen muss. Papa Ackermann war Grosskaufmann zu Frankfurt gewesen, hatte gut verdient während des Krieges, während der nachfolgenden Teuerung – kurz, es war ihm gelungen, in die Kreise einzudringen, die man die »besseren« nennt. Und der Sohn Ackermann (Adolf mit Vornamen, ich nannte ihn schon damals Dolf) hatte sich in eine kleine Verkäuferin vergafft, ein armes, aber wie der alte Gemeinderat gesagt hätte, »honettes Frauenzimmer«. Mit zwanzig Jahren wird eine simple Liebesgeschichte leicht zur Tragödie, und bei Dolf war eine Tragödie daraus geworden. Papa Ackermann wollte nichts von einer Heirat wissen (die »besseren« Kreise!), da nahm der Junge Abschied von seinem honetten Frauenzimmer und von der Stadt Frankfurt und trug seine tragische Liebesgeschichte in die Fremdenlegion. Er war zu jung gewesen, um den Krieg mitzumachen – vielleicht sehnte er sich nach etwas Romantik. Sport hatte er getrieben, hübsch sah er aus mit seinen blonden Haaren über einem blühenden Gesicht. Sein Schädel war lang und schmal, und die Schläfen buchteten sich ein. Ich erklärte ihm, er sei ein Trottel, aber als er darauf Tränen in die Augen bekam, dämpfte ich meine Philippika und sagte ihm: Ja, ich verstünde seinen Kummer. In Bel-Abbès bekamen wir am zweiten Tag unsere diversen Uniformen: eine blaue, eine resedagrüne, zwei khakifarbene, dazu Bauchbinde, Schuhe und Socken; die Socken hatten die merkwürdige Eigenschaft, nach dem ersten Tragen in Staub zu zerfallen. Sie verschwanden ganz einfach aus den Schuhen. Nun, das sind Dinge, die vorkommen und über die man sich nicht weiter aufregt. Dann wurden wir wie eine Herde Schafe dem Herrn Major zugetrieben – Herr Major nennt man dort unten den Arzt – und alle mit der gleich rostigen Hohlnadel gegen Typhus geimpft. Schwellung des Schulterblattes... Ich kannte das und riet dem Dolf (dem jungen Ackermann also), einen Liter Wein zu trinken. Er folgte leider meinem Ratschlag nicht, bekam Fieber wie die andern, so dass ich allein das ganze Zimmer versorgen musste: mit Kaffee am Morgen, mit Mittag- und Abendessen. Die Kost war gut und reichlich, es war wirklich nichts gegen sie einzuwenden.

Am fünften Tage wurden wir getrennt. Weil ich gut deutsch und französisch konnte, fischte mich der Hauptmann der Maschinengewehrkompagnie aus dem Rudel der Neuangekommenen und steckte mich in die Unteroffiziersschule. Der Dolf konnte kein Wort von der dort üblichen Sprache, und so kam er in eine Rekrutenschule für Mottenstüpfer, wie wir bei uns sagen.

Nun ist es aber in der Legion mit dem Geld also bestellt: Man bekommt eine »Prime« (wie sie sagen), ein Handgeld von fünfhundert Franken – wenigstens war es damals so, heute soll es mehr sein. Die Hälfte (also zweihundertfünfzig Franzosenfranken) wird einem am ersten Donnerstag nach der Ankunft ausbezahlt, die zweite Hälfte drei Monate später. Logisch. Bekäme einer auf einen Schlag die ganze Summe in die Hand, er wäre wohl am nächsten Tag nicht mehr am Abendappell anwesend, sondern hätte sich empfohlen. Und schwer wäre es, ihn wiederzufinden, da er sozusagen noch unbekannt ist, ein unbeschriebenes Blatt.

Ich traf den Dolf beim Auszahlen der Prime, und ich riet ihm noch: »Sei sparsam mit dem Geld. Man kann nie wissen, wie es uns gehen wird. Vielleicht bist du später froh, ein wenig Geld im Sack zu haben. Komm mit uns, wir gehen irgendwo anständig essen, kaufen uns einen Vorrat Zigaretten, halten uns fein still, im arabischen Quartier gibt es wunderbaren Kaffee für zwanzig Centimes die Tasse, und Tee, mit Minzenblättern parfümiert, der genau soviel kostet. Du lernst ein wenig das Land kennen und hast deinen Spass, ohne dass es dich viel kostet.«

Das war sehr weise gesprochen. Und Dolf folgte mir. Er kam am ersten Tag mit uns, am zweiten auch. Am dritten wartete ich vergebens auf ihn.

Aus den vielen Geschichten, die über die Legion geschrieben worden sind, ist bekannt, dass alte Legionäre, seien sie nun einfache Soldaten oder Gradierte, für junge Leute in der Art des Dolf eine grosse Gefahr bedeuten. Sie biedern sich an (denn sie sind immer auf dem Hund und immer durstig), schmeicheln, und da sie sich eine gewisse primitive Psychologie angeeignet haben, gelingt es ihnen, unschuldige Schäfchen mitzuschleppen, um sie zu verleiten, in ihrer Gesellschaft alles Geld zu versaufen. Es hat's auch einer bei mir probiert – aber nur einmal. Ich hatte immerhin ein Jahr in Paris verlebt, in einer Gesellschaft, die nichts mit den »besseren« Kreisen des Papa Ackermann zu tun hatte, und ich hatte bei meinen Freunden, die gewöhnlich als »lichtscheue Elemente« bezeichnet werden, allerhand gelernt: Kopfstoss unters Kinn und sonst ein paar nützliche Griffe. Dies nur, um zu erklären, dass mich einmal ein alter Legionär ansprach – aber dann nicht wieder. Und vor den Kollegen dieser flüchtigen Bekanntschaft blieb ich verschont.

Dolf war verschwunden. Ich hatte kein zu übles Leben in der Unteroffiziersschule, vier Stunden Dienst am Morgen – und zwei davon verbrachten wir sitzend, weil der Leutnant uns Theorie gab, eine Stunde Schiessen am Nachmittag und von fünf Uhr nachmittags bis zehn Uhr abends freien Ausgang. Die bösen Tage sollten erst später kommen, in Marokko.

Dolf blieb unsichtbar, ein paarmal ging ich zu seiner Kompagnie, quer über den Hof, in dem die Mittagssonne die Luft zum Kochen brachte, und immer hiess es, auch während des Nachmittagsschlafes, der »Sieste«, er sei soeben fortgegangen. »Mit wem?« wollte ich wissen. Achselzucken. »Bald mit diesem, bald mit jenem«, hiess es. Ich liess die Sache auf sich beruhen, denn ich hatte die Bekanntschaft Baskakoffs gemacht, und da dieser Russe in meiner Geschichte eine Rolle spielt, muss kurz über ihn berichtet werden.

Kennengelernt hatte ich ihn auf folgende Art: Nach drei Wochen war unsere Kompagnie auf Wache kommandiert worden – die ganze Maschinengewehrkompagnie samt uns Schülern. Man zieht um sechs Uhr auf, steht zwei Stunden Wache, ruht vier Stunden, steht wieder zwei Stunden und so fort. Ich hatte die Wache von acht bis zehn. Von zehn bis zwei war ich frei. Um elf Uhr erscheint vor dem Posten ein Sergeant und verlangt einen Mann, um eine Ronde zu machen. Ich bin nicht schläfrig und melde mich; fünf Schritte vom Posten stellt sich der Mann vor, als ob wir auf einer Gesellschaft wären: Baskakoff. Ich nenne meinen Namen. Verbeugung. Händedruck. Nach fünfzig Schritten diskutieren wir über das Ende von Dostojewskys »Schuld und Sühne«: ob es verfehlt sei, Konzession an die Moral, oder ob es sich dichterisch verantworten lasse. Von Dostojewsky kommen wir auf Schopenhauer, über einen kleinen Umweg zu Rilke – dann erzählt Baskakoff von Tschechow und von Andrejeff. Kurz, aus der Ronde wurde ein ausgedehnter Spaziergang rund um die Stadt Bel-Abbès, und ich kam fünf Minuten vor zwei in die Kaserne zurück, gerade zur rechten Zeit, um wieder auf Posten zu ziehen. Sie werden mich der Aufschneiderei zeihen, aber mit Unrecht. Baskakoff war ein gebildeter Mann, was ja an sich nichts Aussergewöhnliches wäre, es gibt viele Gebildete – aber dazu war Baskakoff noch gescheit, und das ist seltener. Er war Rechtsanwalt in Odessa gewesen und am Morgen in Pyjama und Schlafrock rasch über die Gasse gegangen, um sich von seinem Barbier rasieren zu lassen. Als er zurückkam, hatten die Bolschewiken sein Haus besetzt – er war obdachlos, im Hafen war noch ein französisches Detachement, das einige »Reaktionäre« für die Legion eingefangen hatte. Es war vollständig, bis auf einen Mann, der sich wieder verflüchtigt hatte. Der Fürsprech (seinen richtigen Namen hat er mir nie verraten) nahm die Stelle des Fehlenden ein, der Fehlende hiess Baskakoff und war von Beruf Tischler. So wurde der Herr Rechtsanwalt zum Tischler Baskakoff, was merkwürdige, lustspielartige Verwechslungen ergab, als er in Bei-Abbès ankam. Bis der Colonel (der Oberst) ihn entdeckte. Von da an war er gerettet. Er verfertigte die Anklageschriften fürs Kriegsgericht und war in seinem alten Beruf tätig. Und so zufrieden war der Oberst Desjardin mit ihm, dass er ihn nach Monaten zum Korporal vorschlug. Nach sechs Monaten war Baskakoff Sergeant. Sein Französisch war ein wenig mangelhaft, so gab ich ihm regelrechte Sprachstunden. Er war zufrieden, und wir haben ein paar schöne Abende zusammen verbracht. Aber merkwürdig, geduzt haben wir uns nie ...

Es ist begreiflich, dass ich über meiner Bekanntschaft mit Baskakoff den jungen Ackermann mit den blonden Haaren auf dem langen Schädel vergass.

Bis ...

Nach drei Wochen zogen wir wieder auf die Wache, und diesmal war ich zum Gefängnis abkommandiert. Das ist ein einstöckiges Viereck, die niederen Bauten, die es einfassen, bestellen aus Zellen: Pritsche, Eimer, Fenster mit vier senkrechten Eisenstangen. In der Mitte ein grosser Hof, in dem die Bestraften von morgens sechs bis um elf Uhr und von zwölf bis sieben Laufschritt, Freiübungen, »nieder! auf!« mit einem zwanzig Kilo schweren Sandsack machen. Wenigstens war dies zu meiner Zeit so, es soll abgeschafft worden sein. Um die Quälerei zu verstärken, wurden den Bestraften die Schnürsenkel aus den Schuhen entfernt. Resultat: blutige Füsse. Der Vorsteher dieses Gefängnisses war Korse, und in der Legion herrscht das Sprichwort: Ein Korse ist entweder sehr gut oder teuflisch schlecht. Ich glaube nicht, dass der Teufel so gemein ist, wie der Sergeant Cattaneo es war. Er kannte sich in den Quälereien aus: in die Abendsuppe eine Handvoll Salz und kein Wasser in die Zelle, die Gamelle des Mittagessens diente ihm zum Fussballspielen. wenn sie voll war. Dabei sah er sehr gut aus, der Sergeant. Schlank, mittelgross, mit bläulich-schwarzen Haaren, stets elegant angezogen (der Regimentsschneider arbeitete seine Uniformen um und gab ihnen Offiziersschnitt), war er der bestgehasste Mann in der Kaserne. Er wagte es nicht, allein in die Stadt zu gehen, immer mussten ihn drei Kollegen begleiten – und von diesen vier Mann trug jeder einen geladenen Browning in der Tasche. Ich zog auf Wache und hatte die Hälfte des Rechtecks abzupatrouillieren. Hinter mir wurde eine eiserne Türe geschlossen, deren Schlüssel man mir einhändigte. Aber der Schlüssel passte nicht in die Schlösser der Zellen. Mit aufgepflanztem Bajonett spazierte ich also auf und ab – es war acht Uhr, im Juni, der Himmel noch sehr hell, erst später ging die Sonne unter. Es stank in den beiden Schenkeln des Rechtecks, die meiner Aufsicht anvertraut waren, es stank ganz gemein, trotzdem der Gang kein Dach trug. Es stank – man möge mir das grosse Wort verzeihen –, es stank nach Angst. Nach Todesangst, wahrhaftig. Ein Geruch, der sich einem nicht nur auf die Lungen legte, nein, er ging tiefer, er nistete sich in der Magengrube ein. Ich war froh, dass mein Freund Baskakoff, der Fürsprech aus Odessa, geraten hatte, vor der Wachablösung einen Liter Wein zu trinken; aber der Angstgeruch war stärker als der leichte Weinrausch. In meinen Patronentaschen hatte ich ein paar Päcklein Job-Zigaretten verstaut. Es war verboten, auf der Wache zu rauchen, aber da ich nicht überrascht werden konnte – die eiserne Tür, zu der ich den Schlüssel hatte, war schlecht geölt und kreischte, wenn man sie öffnete –, so hatte ich wenig zu riskieren.

Rot wurde der Himmel, erdbeerfarben, dann violett wie Stiefmütterchen, und die Stadt sandte ihren Staub über die Umfassungsmauer. Acht Zellen im Schenkel, den die Tür verschloss, zehn Zellen im andern Schenkel, der rechtwinklig zum ersten stand und am Ende von einer hohen Mauer abgeschlossen wurde. Achtzehn Zellen ...

Zuerst war es still. Es schienen Tote hinter den schweren Türen zu liegen, die nur ein winziges Guckloch in Augenhöhe hatten. Aber um halb neun wachten die gefangenen Vögel auf. Sie pfiffen ganz leise, verschüchtert. Ich horchte an einer Zelle, fragte: »Was gibt's?« – »Zigarette!«

Selbstverständlich. Ich schob die angezündete Job durchs Guckloch. Eine Zelle, zwei Zellen – und so weiter. Das machte siebzehn Zigaretten. Fast ein Paket. Ich war froh, dass ich damals, als mir die »Prime« ausbezahlt worden war, einen ordentlichen Vorrat von Zigaretten angelegt hatte. Und dass ich auch genug Zündhölzchen hatte. Und Wasser wollten die Vögel in den Käfigen auch. Aber Wasser hatte ich keines. Ich versprach, um zwei Uhr eine Feldflasche einzuschmuggeln. Man denkt eben nicht an alles, wenn man so unversehens in die Hölle kommt – überhaupt, man ist meist gedankenlos im Leben, denn dächte man ein wenig nach, so wüsste man, dass die Verdammten Durst leiden.

Siebzehn Zigaretten (drei blieben noch im Zwanzigerpäckchen) und achtzehn Zellen. Eine Zelle, gerade an der Ecke, wo die beiden Schenkel des Rechtecks zusammenstiessen, blieb stumm. War sie leer? Nein. Ich hatte die »Consigne«, den Wachtbefehl erhalten. In ihm war mir mitgeteilt worden, dass alle Zellen besetzt seien. Ein guter Gefangenenwärter muss das wissen.

Eine Zelle blieb also stumm. Ich klopfte vorsichtig mit dem Zeigfingerknöchel an die dicken Bohlen – keine Antwort. »Ist er tot?« fragte ich mich, »oder krank?« und überlegte, ob ich den Doktor, den Herrn Major, alarmieren solle. Aber nein, das ging nicht. »Hallo!« rief ich, leise noch immer, »schläfst du?«

Schweigen.

Das war unheimlich. Ich rief lauter, auf die Gefahr hin, von draussen gehört zu werden. Da endlich kam eine Antwort.

Die Stimme! Die Stimme kannte ich, obwohl sie rauh war. Und die Stimme rief mich beim Namen: »Chlaus!« sagte sie. »Bist du da?«

»Aber Kind Gottes!« ruf' ich und muss mich zusammennehmen, um nicht allzu laut zu schreien. »Was machst denn du hier?« Und ich bin erstaunt. Denn bei der Wachablösung hatten wir die Bestraften noch im Hofe exerzieren sehen (das, was der korsische Hund Exerzieren nannte), ein paar Kameraden hatte ich erkannt – aber ich war sicher, dass Dolf, der blonde Ackermann, nicht unter ihnen gewesen war.

»Ich werde erschossen!« sagte Dolf. »Sie haben mich angeklagt wegen Mord. Sie lassen mich nicht aus der Zelle heraus. Ich bekomme nur gesalzene Suppe, mittags und abends, und keinen Schluck Wasser. Und er gibt mir Fusstritte. Fünfmal war ich schon vor dem Hauptmann, und ich soll gestehen, dass ich den Fleiner umgebracht habe, wegen seiner ›Prime‹, um ihm das Geld zu rauben, und ich bin es nicht gewesen.«

»Du«? sag' ich. »Den Fleiner umgebracht? Das ist doch Blödsinn.« Und ich erinnere mich gut an die Geschichte. Vor vierzehn Tagen war es. Da mussten wir eines Morgens im Kasernenhof antreten. Unsere Kompagnie zuerst, in Ausgehuniform, die weisse Flanellbinde um die Hüften und darüber an der Koppel das Bajonett. Zwei Zivilisten schreiten unsere Reihen ab. Wir müssen das Bajonett, das aussieht wie ein langes Stilett aus bläulichem Stahl, vorzeigen und die Binde auftun und die Ärmel zurückschlagen, damit man das Hemd sehen kann.

Die beiden Zivilisten schreiten unsere Linien ab, unser Capitaine, dicht hinter dem Obersten Desjardin, trabt hinter den beiden. Jeden von uns besehen sich die zwei – schwer ist es nicht, ihren Beruf zu erraten: kleiner Schnauz, breite Schuhe, steifer Kragen mit fertiger Masche; einer raunt es dem andern zu: »Geheimpolizei«. Aber wir wissen noch gar nicht, was passiert ist. Die beiden Detektive, die der Franzose respektlos »Kühe« nennt, sind mit unserer Kompagnie fertig.

»Abtreten.«

Nachher erfahren wir, dass ein Deutscher, namens Fleiner, der mit dem letzten Transport gekommen ist, an selbigem Morgen ermordet aufgefunden worden ist. Im schlammigen Bett des Bächleins, das östlich vom Araberviertel vorbeifliesst. Drei Bajonettstiche: Lunge, Herz, Unterleib. Taschen leer. Ausgeraubt. Von unserem Zimmer aus sehen wir, wie die anderen Kompagnien der Garnison antreten, die beiden mit den breiten Stiefeln und den in dieser Hitze höchst lästigen steifen Hüten, schreiten auch dort die Front ab. Aber dann bläst das Horn zum Essen, wir sehen nicht mehr zu. Am Abend heisst es, einer von der zweiten Instruktionskompagnie sei verhaftet worden. Der Name war nicht zu erfahren, und wir haben auch nicht weitergeforscht.

Also den Dolf, den Sohn des Kaufmanns Ackermann aus Frankfurt, hat es erwischt. Grosse Neuigkeit! Warum hat mir mein Freund Baskakoff nichts von der Geschichte erzählt? Und ich frage auch gleich:

»Aber Dolf, hast du nie mit dem Sergeanten Baskakoff gesprochen?«

»Nein«, sagte Dolf. »Nur mit dem Hauptmann von der Militärjustiz und den zwei Polizisten aus der Stadt.«

»Haben sie dich geschlagen?«

»Nein. Aber einmal zehn Stunden ausgefragt.«

Zehn Stunden! Allerhand! Und daneben Salzsuppe und kein Wasser!

»Willst du eine Zigarette, Dolf?«

»Doch gern, gern, sehr gern!« Und dann Schluchzen. Ich muss gestehen, dass ich sonst nicht sentimental bin. Aber mir sitzt auch eine Kugel im Hals. Das also war's! Der Gestank nach Todesangst! ... Drei Zigaretten, und eine ist angezündet ... »Und um zwei bring' ich dir Wasser. Morgen sprech' ich mit Baskakoff. Aber jetzt sei still. Die Ablösung kommt. Und pass auf mit meinem Nachfolger. Er ist nicht dicht.«

»Danke«, sagte die heisere Stimme. Das Schloss kreischt. Ablösung.

Zehn Uhr. Nein; Baskakoff kann ich jetzt nicht aufsuchen. Der ist in der Stadt. Er kennt eine Dame, die ihn manchmal zum Tee einlädt, in allen Ehren, jawohl.

Wir sind allesamt Sünder, und ich will gestehen, dass ich in der ersten halben Stunde nur an eines dachte: »Hast du dich«, dachte ich, »so sehr getäuscht? Hat dich der Dolf angeschwindelt? Ist er gar kein Kaufmannssohn, sondern ein verlottertes Bürschlein der Nachkriegszeit, das aus Frankfurt geflohen ist (Frankfurt? Es kann geradesogut Essen oder Hamburg oder Mannheim oder Karlsruhe sein), weil es etwas ausgefressen hat und ihm die Luft zu dick geworden ist?« Wie gesagt, wir sind allesamt Sünder und eitel obendrein. Es ist doch nicht gut möglich, dass man sich so getäuscht hat!

Bei mir war es verletzte Eigenliebe. – Aber dann sehe ich den Dolf auf dem Schiff, und deutlich klingt in meinen Ohren seine Stimme. Ich höre ihn die Geschichte erzählen von seiner unglücklichen Liebe, höre ihn von seinem Vater sprechen ... Jung, kaum zwanzig. So sauber ist sein blondes Haar, seine Ohren sind wohlgeformt, sein Schädel ist lang, gesund und glatt seine Gesichtshaut. Schliesslich und endlich, ich bin doch kein heuriger Hase, ich habe schon genug Menschen gesehen ...

Aber andererseits: Man mag über die Legion denken wie man will. Wenn nicht Indizien, schwerwiegende Indizien, wie die Kriminalisten sagen, vorhanden gewesen wären, dann hätte man den Dolf nie eingesperrt. Unnütz, über die Frage weiter nachzudenken, man wird den Dolf fragen müssen...

Zwei bis vier – acht bis zehn – und wieder zwei bis vier morgen nachmittag. Das sind die Stunden, die ich noch stehen muss. Sechs Stunden. Zeit genug. Und dann hab' ich gedankenlos die Feldflasche ausgetrunken – zwei Liter fasst sie, ich habe sie füllen lassen, bevor ich auf die Wache gezogen bin, ein Liter war noch vorhanden. Schwerer Rotwein... Und dann schläft man ein, tief und fest. Aber man wacht auf, ohne Wecker, Viertel vor zwei, und hat gerade noch Zeit, die Feldflasche mit Wasser zu füllen...

Den andern habe ich nichts gegeben. Dolf hat zwei Liter Wasser getrunken, nun ist ihm besser, seine Stimme tönt nicht mehr heiser, er kann Antwort geben. Aber es ist nicht viel, was er zu berichten weiss.

Seine »Prime« hat er schon am Sonntag verputzt gehabt. Nun ja, begreiflich. Wenn die Erzählung von seinem Leben richtig ist, so ist er in einem gutbürgerlichen Haus aufgewachsen. Dort ist das Taschengeld immer knapp. Und nun bekommt er plötzlich eine grössere Summe in die Hand. Was tut er damit? Er ist glücklich, wenn er sie verputzen kann. Eine sehr verständliche Reaktion. Wahrscheinlich hätte ich es vor fünf Jahren nicht anders gemacht. Gut. Er hat kein Geld mehr. Aber er möchte die Herrlichkeiten weiter geniessen. Sold? Fünfundzwanzig Centimes im Tag? Es langt kaum für Zigaretten. Fleiner ist ein Landsmann. Dolf ist mit ihm ausgegangen. – Fleiner, der Ermordete, ist ein Landsmann!... Er hat ihn freigehalten. Man – das heisst viele Kameraden – hat die beiden zusammen ausgehen sehen.

Und dann?

An jenem Abend, an dem Fleiner ermordet worden ist, hat Dolf kaum den Heimweg gefunden. Heimweg! Das ist auch so eine Redensart: den Weg in die Kaserne. Dolf war betrunken, Fleiner auch. Unterwegs ist Dolf eingeschlafen, dann ist er aufgewacht, Fleiner war verschwunden, und dem Dolf hat es geschienen, als habe sich jemand an seinem Rock zu schaffen gemacht. Mehr noch, es kommt ihm vor, als habe er nicht mehr den gleichen Uniformrock an. Es ist ein Rock aus Khakistoff, natürlich, in der Legion trägt man ihn nicht, wie gewöhnliche Sterbliche ihn tragen, nein, man zwängt seine Schösse in die Hosen, knöpft die Hosen darüber zu und windet sich dann die flanellene Leibbinde, dreifach zusammengelegt, um die Hüften.

Der Rock war ein anderer – er hatte einen höheren Kragen –, und die Leibbinde war ganz lose.

Und am nächsten Tage, als die Geheimpolizisten die Front der zweiten Instruktionskompagnie abschritten, fanden sie, dass die Ärmel von Dolfs Khakirock vorn Blutspuren trugen. Wenige zwar, aber gut sichtbare – wenn man aufmerksam hinsah. Und das Bajonett – stilettartig, aus bläulichem Stahl – trug in seinen Rinnen Rostflecken. Kein Rost, nein, die nähere Untersuchung zeigt, dass es Blut ist. Menschenblut. Mein Gott, sogar in Bel-Abbès hat die Polizei gelernt, die Hämoglobin-Probe zu machen und die roten Blutkörperchen unter dem Mikroskop zu untersuchen. Ja, mehr noch: Das Blut am Bajonett, das Blut an den Ärmeln gehört zur selben Blutgruppe wie das Blut des ermordeten Fleiner...

Das alles hat man in den Verhören, die jeweils acht bis zehn Stunden dauerten, dem Dolf hundert-, zweihundertmal an den Kopf geworfen. Und der korsische Sergeant hat dafür gesorgt, dass der Durst die begonnene Einschüchterungsarbeit mit Erfolg kröne...

Mit Erfolg kröne... So spricht Dolf. Er scheint ein wenig Mut gefasst zu haben. Aber wir haben so lange miteinander geflüstert, dass ich nach meinen andern gefangenen Vögeln sehen muss. Sonst werden sie eifersüchtig. Ein zweites Päcklein Job muss daran glauben.

Vier Uhr... Bis acht schlafe ich. Nützlicheres kann man nicht tun. Um acht Uhr ist der korsische Sergeant Cattaneo vollauf beschäftigt, seine Tiere zu dressieren. »Auf! Nieder! Laufschritt! Eins – zwei – drei – vier! Nieder! Auf! Kniebeuge! Eins – zwei!« Alles mit einem zwanzig Kilo schweren Sack auf dem Buckel, Steine und Sand.

Ich habe also nur den Dolf zu bewachen. Aber am Tage heisst es vorsichtig sein. Der Sergeant ist ein schlauer Hund. Also frage ich zuerst, ob Cattaneo schon seine Morgenvisite gemacht hat. – Nein. – Gut. Also warten.

Nach einer Viertelstunde kommt er. Das Kommando im Hof hat er seinem Assistenten, einem Korporal, übergeben. Es geht dort stiller zu, scheint es. Der Korse blickt mich böse an, wie eine Katze, die Lust hat, einem gerade ins Gesicht zu springen; denn er hat so kleine Ohren, dass es aussieht, als lege er die Ohren zurück. Mit viel Gerassel schliesst er Dolfs Zelle auf, schnuppert... Der Rauch hat sich verzogen.

Dafür schreit er: »Mörder! Raus mit dem Mörder!« Ein ganzer Rosenkranz von Flüchen wird heruntergeleiert – und sie gelten alle dem Sohn des Herrn Kommerzienrat Ackermann aus Frankfurt.

Schön sieht er nicht aus, der Sohn. Kahlgeschoren, der Kopf voll Schorf. Hebt nicht Cattaneo gerade den Schlüsselbund? Da stehe ich ganz zufällig neben ihm, Gewehr bei Fuss, das Bajonett aus bläulichem Stahl drängt sich, als habe es einen eigenen Willen, zwischen den Herrn Gefängnisdirektor und sein Opfer – da sinkt der Schlüsselbund herab. Danke für den Blick! Dolf trägt einen Khakirock mit hohem Kragen – aber was ist das? Während Dolf in der Tür steht, den vollen Kübel in der Hand, beuge ich mich über den Ärmel.

Fadenenden, schwarze Fadenenden. Ein, zwei, drei Knöpfe, wie man sie eben in das Fadenende knüpft, wenn man verhindern will, dass der Faden wieder aus dem Stoff rutscht. Am rechten Ärmel ist es deutlich, am linken weniger...

Was näht man auf einen Ärmel? Zwischen Handgelenk und Ellbogen? Die »Schnüre«, die Abzeichen des Grades. Korporal, Wachtmeister tragen die »Schnüre« zwischen Ellbogen und Handgelenk, Fourier und Feldweibel noch andere zwischen Ellbogen und Schulter. Zwischen Ellbogen und Schulter ist der Ärmel von Dolfs Khakirock glatt. Nicht einmal leere Nadelstiche sind sichtbar, die ja immer entstehen, wenn wir etwas annähen. Wir brauchen dicke Nadeln zum Nähen und nicht feine. Wir sind keine Schneiderinnen...

Korporal? Sergeant?...

Dolf scheint nicht gelogen zu haben mit seiner verworrenen Erzählung vom Vertauschen seiner Khakikutte. Die Ärmel blutig, vorn am Rand... Ja, die Militärjustiz arbeitet anders als die Ziviljustiz. Sie lässt dem Angeklagten ruhig das Corpus delicti. Nur das Bajonett wird sie beschlagnahmt haben...

Sonst noch etwas?

Der Rock ist umgearbeitet worden. Der Kragen ist höher, als beispielsweise bei meinem Rock, er ist auf Taille geschnitten...

Eigentlich war meine Inspektion sehr kurz.

Ich schultere nachlässig das Gewehr und kehre dem Gefängnisdirektor und seinem Opfer den Rücken. Ich habe gar keine Lust, dass mich der Korse auf den Rapport gibt, besonders jetzt könnte ich das durchaus nicht brauchen, heute abend muss ich unbedingt mit Baskakoff sprechen... Mit Baskakoff, dem Juristen... Vielleicht hat er mich angeschwindelt – es wird soviel geschwindelt hier, alle Deutschen sind mindestens Grafen und alle Russen Fürsten oder Prinzen... Vielleicht ist Baskakoff gar kein Fürsprech? Dummes Zeug! Auch Skepsis kann weiter nichts sein als ein Zeichen von Müdigkeit – eine Reaktion...

Es ist gefährlich, aber ich tue es doch. Um zwei schmuggle ich noch einmal eine Feldflasche ins Gefängnis: halb Wasser, halb Wein. Die Feldflasche hat an der Seite ein dünnes Röhrchen, aus dem man trinken kann, das passt gerade ins Guckloch der Zellentür. Der Dolf bekommt einen leichten Rausch. Aber er ist folgsam und legt sich auf sein Bett... Sein Bett! Ein würfelförmiger Zementklotz, aus dessen rauher Oberfläche scharfe Kieselsteine ragen. Dolf weiss, dass ich seine Angelegenheit mit andern besprechen will...

Ein Sergeant? Ein Korporal?

Eher ein Sergeant. Die Korporale der Garnison, die ihre Uniformen zum Umschneidern geben, lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen: Pierrard, der Klavierspieler, der nie Dienst tut, weil er den Kindern des Colonels Musikstunden geben muss (Pierrard: 1. Preis des Brüsseler Konservatoriums), Lavery, der Küchenkorporal (passt nicht, ist zu klein); wer noch?...

Sechs Uhr: Ablösung. Ins Zimmer hinauf, Patronentaschen abgeschnallt, Capotte fortgeworfen. Kein Hunger.

Am Tor wartet Baskakoff.

»Hören Sie, Baskakoff, haben Sie von diesem Mordfall gehört? Ackermann?«

Zuerst sieht sich Baskakoff um, und so habe ich Zeit, ihn wieder einmal in Augenschein zu nehmen. Er ist hässlich. Unzweifelhaft. Eine lange Nase, die vorne dick wird, hängt über seine Lippen, die bläulich angelaufen sind. Schlechte Blutzirkulation. Dazu ist er mager, mit richtigen Kavalleristenbeinen – O-Beinen, besser gesagt. Und ganz zusammenhanglos frage ich ihn:

»Haben Sie eigentlich bei den Kosaken gedient?«

Baskakoff nickt schweigend, lässt einen Augenblick Stille herrschen und sagt dann leise: »Ich war He...« und schlägt sich auf den Mund.

Hetman hat er sagen wollen, denke ich. Ist das nun wieder gelogen (obwohl Baskakoff mich noch nie angelogen hat, soweit ich dies kontrollieren kann) oder... Aber ein Rechtsanwalt Hetman einer Kosaken... Wie sind die Kosaken eingeteilt? In Schwadrone? Gleichgültig. Wir laufen schweigend nebeneinander her.

Geschminkte Offiziersfrauen führen ihre Männer spazieren – am Tage machen uns diese Männer Angst. Aber jetzt im staubig-heissen Abend sehen sie aus wie blaugestrichene Riesenköter, die brav neben dem »Fraueli« herzotteln. Wo ist die Leine? Unsichtbar.

»Am besten«, sagt Baskakoff, »wir gehen ins Hammam. Dort kann man ungestört reden. Dorthin verirrt sich kein Europäer.«

Also, auf ins Dampfbad! Eintritt fünfzig Centimes. Das demokratischste Lokal von ganz Bel-Abbès. Dort hockt der reiche Seidenhändler neben dem Strassenkehrer, der eine seift dem andern den Rücken ein, und der reiche Handelsmann vergilt gleiches mit gleichem. Vor Allah sind alle Menschen gleich. Aber was das Wichtigste ist, im Hammam wird nicht gestohlen.

Wir schweigen, während wir schwitzen, wir schweigen, während man uns massiert – eine andere Massage ist das, als die in Europa. Ein riesiger Neger renkt uns nach und nach alle Gelenke aus und wieder ein und grinst mit seinen schneeweissen Zähnen. Dann liegen wir auf Alfamatten, und der Besitzer bringt uns eigenhändig eine Tasse Kaffee. Der ist im Badepreis inbegriffen.

»Der Colonel!« sagt Baskakoff, »hat sich über den Fall Ackermann sehr aufgeregt.« Baskakoff spricht ein ausgezeichnetes Deutsch, er hat sicher lange im Baltikum gelebt. »Aber der Fall ist ihm aus den Händen genommen worden. Erst wenn die Untersuchung reif ist und eine Klage für das Kriegsgericht fällig, wird ihm der Fall unterbreitet werden – vorgekaut, ja. Und was haben Sie von der Sache erfahren?«

Ich erzähle: Die Überfahrt, Ackermanns Lebens- und Liebesgeschichte und auch vom Kommerzienrat Ackermann in Frankfurt. Baskakoff nickt. Er liegt auf seiner Matte, eingehüllt in ein weiches, weisses Tuch. Sein Hinterkopf ruht, wie der meine, auf einer Rolle, die hart ist wie Holz. So reden wir beide in die leere Luft hinein, aber beileibe nicht aneinander vorbei. Und dann berichte ich von meinen Beobachtungen, von den abgetrennten Schnüren am Rocke Dolfs. Ich bin fertig und schweige.

Da reckt Baskakoff seine schwarzbehaarte Hand in die Höhe und beginnt aufzuzählen:

»Dunoyer, Sergeant, erste Kompagnie, dritte Sektion; Veyre, erste Kompagnie, zweite Sektion; Schützendorf, zweite Kompagnie, zweite Sektion; Hassa, zweite Kompagnie, vierte Sektion. Vier Sergeanten mit über zehn Jahren Dienstzeit. Alkoholiker, alle vier. Nie einen Centime Geld im Sack. Und vergessen Sie nicht bei Ihrer Untersuchung: Cattaneo, Sergeant, Prison.« Er sagt Prisong und meint damit das Gefängnis. Ich korrigiere mechanisch und spreche ihm den Nasallaut »on« überdeutlich vor. Er wiederholt, sagt danke, schweigt.

»Aber, Baskakoff, ich kann doch nicht die Zimmer von fünf Sergeanten durchsuchen!« jammere ich.

»Es zwingt Sie niemand dazu. Ich dachte nur, Sie wollten Ihrem Freunde helfen.«

Ich wollte widersprechen: Dolf ist nicht mein Freund. Aber da sind Baskakoffs graue Augen auf mich gerichtet. Merkwürdige Augen, streng, mit einem kleinen Lächeln, das auftaucht, verschwindet, wie der Hals eines Schwanes auf ruhigem Wasser.

»Ich will Ihnen schon helfen«, sagt Baskakoff. »Wir können in die Kaserne zurück, ich führe Sie zu den Zimmern der vorhin aufgezählten Sergeanten, Sie machen Ihre Untersuchung, während ich draussen Wache stehe. Mir wird niemand etwas vorwerfen, wenn ich meine Kollegen besuchen gehe. Kommen Sie?«

Es ist erst halb acht, als wir durch das Tor der Kaserne schreiten.

Was hoffe ich zu finden? Ich weiss es selbst nicht. Angenommen, ein Sergeant hat Dolfs Rock angezogen, dann muss er sich mit einem Mannschaftsrock begnügt haben. A priori, wie die Herren Philosophieprofessoren sagen, von vornherein, wie wir gewöhnliche Sterbliche dies ausdrücken, wäre der Sergeant verdächtig, der einen frisch umgearbeiteten Rock in seinem Spind hätte...

Dunoyer (tätowiert am ganzen Körper) liegt auf seinem Bett. Baskakoff ist die Freundlichkeit selbst. Er lädt den Dunoyer zu einem Liter Wein in die Kantine ein. Ich bleibe zurück. Dunoyer: nichts Verdächtiges ...

Veyre, in der gleichen Kompagnie, hat sein Zimmer nebenan. Das Zimmer ist leer, der Spind offen. Der arme Veyre! Er kann mit seinen Uniformstücken keinen Staat machen. Ein verrumpfelter Khakirock, sonst nichts ...

Aber vielleicht trägt er den andern auf sich? Nein, da kommt er gerade über den Hof. Er ist lang, lang und dürr. Er kommt nicht in Frage. Denn der Rock, den Dolf trug, der sass! Hätte Veyre mit Dolf den Rock getauscht, das Kleidungsstück würde meinem Freund (gut, sei's drum! meinem Freund!) fast bis an die Kniekehlen reichen.

Nichts bei Hassa, nichts bei Schützendorf. Übrigens erinnerte ich mich jetzt, dass Schützendorf sehr korpulent ist, er ist Bayer und pflegt seinen Bierbauch. Er kann dies ungescheut tun, denn er hat einen Druckposten in der Küche. Und Hassa? Hassa ist fast ein Zwerg, ein Zwerg, der aus dem Riesengebirge stammt. Kein Rübezahl ... ein Zwerg, ein Gnom, mit schmalen Schultern. Dolf würde den Rock sprengen, zöge er ihn an ...

Warum kommen die Überlegungen postnumerando – nachträglich?

Bliebe also nur – es fröstelte mich –, bliebe nur der Korse. Aber des Korsen Zimmer liegt im Gefängnis. Ich habe keinen Zutritt dazu. Ich stehe vor einer Mauer ...

Halt! Und Baskakoff? Wer sagt eigentlich, dass es ein Sergeant sein muss, der viele Dienstjahre hat. Ein Rengagierter, wie wir sie nennen?

Merkwürdig ist doch immerhin, dass Baskakoff, der jahrelang Advokat gewesen ist, sich keinen Deut um die ganze Kriminalaffäre gekümmert hat. Er, der doch die Klage fürs Kriegsgericht aufzusetzen hat.

Wovon hat er zuerst mit mir gesprochen? Von Dostojewskys »Schuld und Sühne«. Von Raskolnikoff. Raskolnikoff, dem Studenten, der eine Wucherin und ihre blödsinnige Schwester ermordet. Warum hat er nach fünfzig Metern von diesem, immerhin abgelegenen Thema angefangen? Hier in der Legion, wo man sich, weiss Gott, nicht mit literarischer Kritik beschäftigt? Und dann noch zu mir, den er gar nicht kannte? Das schlechte Gewissen nimmt sonderbare Verkleidungen an. Es treibt nur allzu oft Mummenschanz, das schlechte Gewissen. Weiss ich das nicht? Gewiss! Ich weiss es nur zu gut ...

Die Kantine. Sie liegt merkwürdigerweise gerade neben dem »Prisong«, wie Baskakoff sagt, neben dem Gefängnis. Ein dicker Spaniol schenkt dort Wein aus. Gläser gibt es nicht, man trinkt aus den Flaschen. Auch Sardinenbüchsen sind erhältlich, Brot, Wurst, Schokolade, Zigaretten.

Blau ist die Luft im Raume. Die Tische, die nie recht gefegt werden, haben einen schwarzen Schmutzüberzug, der in allen Regenbogenfarben schillert, wie Teer. In einer Ecke sind sechs versammelt. Zehn Flaschen vor ihnen. Sie singen: »Ja, das war die böse Schwiegermamama, Schwiegermamama, Schwiegermamama ...«

Dort sitzt er, vor dem Schanktisch. Aber nicht Dunoyer sitzt bei ihm, sondern wahrhaftig der Korse.

Der Korse ohne Leibgarde. Ganz allein. Vielleicht fühlt er sich in Begleitung eines Kollegen sicher?

Baskakoff? ... Cattaneo? ...

Ganz unmerklich, nur mit den Augen, winkt mir Baskakoff, näherzutreten. Vor dem Korsen steht eine Flasche jenes giftgrünen Gesöffs, das aufgekommen ist, als der Absinth verboten wurde. Zur Hälfte leer. Cattaneos Backen glühen, und dies ist keine Metapher – sie glühen wirklich, oder, um ganz genau zu sein, sie erinnern an glühende Holzkohlen.

Baskakoff ist nüchtern und bleich, seine Nase hängt traurig über seine Lippen. Und jetzt erst bemerke ich, dass der Rechtsanwalt aus Odessa, der für einen Tischler, der sich verflüchtigt hatte, eingesprungen ist, einen simplen Uniformrock trägt, der von keinem Schneider einen Offiziersschnitt erhalten hat. Lose sind die goldenen Borten, der spitze Winkel auf dem Unterarm, lose sind sie angenäht.

Die beiden diskutieren. Auch das stimmt nicht ganz. Der Korse erzählt etwas, mit leicht gelähmter Zunge (der Pernod, wie man den Absinthersatz getauft hat, ist ein verräterisches Gesöff), und hin und wieder wirft der ehemalige Fürsprech ein Wort ein. Sie sprechen Französisch. Cattaneo erklärt etwas und fährt mit dem Zeigefinger in einer Lache herum, die von verschüttetem Wein herrührt. Ich schleiche näher, der korsische Sergeant bemerkt mich nicht, auch dann nicht, als ich endlich das Hockerli neben seinem Stuhl eingenommen habe. Es scheint, als sei er blind.

Er hebt die Flasche, nimmt einen langen Zug. Und beginnt wieder zu sprechen. Seine Rede ist klar. Er hat sich nüchtern getrunken, aber mir scheint, ich weiss es nicht warum, dass es eine gefährliche Nüchternheit ist.

»Kuik«, sagt er. Er hat aus der Weinlache einen Mann gemacht – das heisst, die primitive Zeichnung eines menschlichen Wesens: der Kopf: ein Kreis; der Rumpf: ein grösserer Kreis; zwei waagrechte Striche: die Arme; zwei senkrechte Striche: die Beine. »Kuik«, wiederholt er und trennt mit dem Zeigefinger den Kopf vom Rumpf – will es vielmehr tun, aber der Wein ist klebrig. Es gibt nur einen Strich, der dem Arm zur Linken des Korsen parallel läuft. »Kopfabhauen, das wird das beste sein. Sind alles Mörder, Spione, Verräter, Diebe. Die Neuen, die kommen. Spione, von Deutschland gesandt. Man muss sie vertilgen. Fort mit dem Hals, fort mit dem Kopf. Aber ich darf nicht, nur quälen! Das ist erlaubt! Sandsack schleppen! Auf! Nieder! Laufschritt! Hahahahah ...«

Und dabei passt der Ausdruck gar nicht zum Gesprochenen. Die Augen sind braun, sanft, mild. Sie schauen in weite Fernen.

»Bei uns daheim – Blutrache!« sagt er leise, und seine Hände (schöne, glatte Hände) trommeln auf dem Tisch. »Blutrache! Heilig! – Aber hier? Das gleiche. Ein ganzes Volk übt Blutrache am andern.«

Ganz leise, kaum hörbar, sagt Baskakoff:

»Und das Geld?« Er macht den gleichen Fehler wie vorhin, spricht die Endsilbe von »argent« zu hart aus, mit einem »g« am Ende.

»Ich brauche kein Geld«, sagt Cattaneo ruhig und lässt seine Finger kleine Tänze aufführen. »Ich habe zehn Jahre Dienst. Zweihundertfünfzig Franken im Monat, und ich gehe nicht in die Mess. Nein, nein. Ich esse Mannschaftskost. Meine Vögel müssen fasten, dann singen sie schöner. An einem Tag dieser, am andern jener... Ich bekomme immer genug. Und spare. Aber du brauchst Geld!« schreit er plötzlich Baskakoff ins Gesicht. »Sechs Monate hast du erst und issest in der Mess. Hundert Franken Mess, bleiben dir lumpige zehn Franken. Glaubst du, ich habe dich nicht durchschaut? Hast Geld gebraucht, hast dem... dem Ackermann deinen Kittel angezogen, hast dem Fleiner das Geld genommen. Aber...« Flüsternd: »Das bleibt unter uns. Ein Kamerad verrät den andern nicht. Denk an die plombierten Wagen, Kamerad – Revolution in plombierten Wagen, wunderbarer Import. Wer hat importiert? Die Deutschen! Die Deutschen sollen die Suppe auslöffeln – und auch der... der... Ackermann!«

Schweigen. Am Tisch der sechs singen sie jetzt:

»Ich weiss nicht, was soll es bedeuten...«

»Ruhe dort!« schrie der Korse. Baskakoff war ein wenig blass geworden. Seine Lippen hatten ihre Bläue verloren, und seine Nasenspitze war weiss. Auf den Nasenflügeln standen winzige Schweisstropfen. Der Korse hatte den Kopf gesenkt. Da blickte mich Baskakoff voll an, und seine Lippen, seine bleichen Lippen formten ein Wort, ein deutsches Wort. Dreimal musste er seine Lippen verziehen, deutlich die Zähne des Oberkiefers zeigen, den Mund weit öffnen, ihn schliessen, bis ich verstand: »Wache!«

Ich sollte die Wache rufen! Nein, ich wollte nicht. Sachte rutschte ich von meinem Stuhl herab, zahlte beim Kantinenwirt eine Flasche, schlich zum Tisch der sechs Sänger, zog einen am Ärmel (er war von meiner Kompagnie), zeigte ihm die Flasche und flüsterte ihm ins Ohr: »Für dich, wenn du zwei Mann von der Wache holst. Sag, es sei Befehl vom Obersten.«

Der Sänger glaubte mir. Er nahm die Flasche, liess sie in seiner Capotte verschwinden. Dann stand er auf und ging. Ich wollte die Wache dirigieren, wenn sie kam. Baskakoff oder der Korse? Fünf Minuten, dann war es entschieden.

»Sergeant«, sagte Baskakoff (und wenn er hundertmal geduzt wurde, immer siezte er seinen Partner), »Sergeant«, wiederholte Baskakoff, und sein Zeigefinger tippte auf das Männchen, das aus einer Weinlache entstanden war. »Sie haben gesagt: Kuik! und dazu die Gebärde gemacht des Halsabschneidens ...« Wie mühselig war Baskakoffs Französisch; ohne Zweifel, das Schreiben in dieser Sprache ging ihm besser von der Hand. »Kennen Sie den Bach beim Araberviertel?«

»Den Bach? Gewiss kenn' ich den Bach.« Lachen. Schluck aus der Pernodflasche. »Was weiter?«

Baskakoff schwieg. Er sass mit dem Rücken zum Schanktisch und behielt die Türe im Auge. Der Korse sah nur die vielfarbigen Flaschen, die der spanische Kantinenwirt sehr malerisch auf seinen Gestellen gruppiert hatte: den braunen Wermut, den purpurnen Byrrh, die giftgrüne Minze, den wasserhellen Dattelschnaps und die Pernodflasche mit dem silbernen Hut ...

»Ich brauche Geld«, sagte Baskakoff leise. Und als wolle er die Worte verwischen, fügte er hinzu: »Trinken Sie!« So zwingend war die Aufforderung, dass der Korse einen langen Schluck aus der Pernodflasche nahm. Das war unvorsichtig, denn ich sah es ganz deutlich, wie seine augenblickliche Nüchternheit plötzlich verflog und ein ganz schwerer Rausch seine Zunge lähmte.

»Ich brauche Geld«, sagte Baskakoff lauter. »Können Sie mir etwas leihen? Fünfzig Franken? Sie bekommen sie zurück am Ende des Monats.«

»Geld?« lallte Cattaneo. Er griff in seine Hosentasche, zog Banknoten hervor. »Geld haben wir genug.« Und warf eine Fünfzigernote über den Tisch. Ich konnte sie nicht recht sehen. Der Korse hielt seine Hand darüber.

»Aber natürlich!« Die glatte, schöngeformte Hand gab die Note frei. »Bei mir«, sagte Cattaneo, »ist immer Geld. Wenn sie ins Prison kommen, meine Vögel, haben manche die Taschen voll Geld. Das sehen sie nie wieder. Wozu auch? Hahahaha. Gegen Sergeant Cattaneo aufmucken? Gibt es nicht. Da hast du. Willst du mehr?«

Eine Hunderternote, noch eine.

Die Tür der Kantine ging auf. Im Türrahmen standen zwei Mann mit aufgepflanztem Bajonett. Ein Korporal begleitete sie.

»Mein Herr«, sagte Baskakoff und wandte sich an mich. »Sie sind Zeuge, dass mir Sergeant Cattaneo zwei blutbefleckte Banknoten übergeben hat. Korporal, treten Sie näher. Führen Sie den Mann ins Zivilgefängnis. Sie sind verantwortlich für ihn. Sie haften dem Obersten! Verstehen Sie?« Baskakoff sprach Deutsch, sonderbarerweise, und der Korporal von der Wache verstand ihn und seine Begleiter auch. »Im Wachtlokal können Sie ihn fesseln. Ihren Rapport erwarte ich im Büro des Obersten.«

Einen Augenblick zweifelte ich noch. War es nicht ein Taschenspielerkunststück meines Freundes Baskakoff? Hatte er vielleicht die Noten, die der Korse aus der Tasche gezogen hatte, vertauscht? Aber dann sah ich das Gesicht Cattaneos. Keine Spur von Rausch war mehr in den Zügen festzustellen. Die kleinen Ohren verschwanden fast, wie bei einer wütenden Katze, die ihre Muscheln fest an den Kopf gepresst hält und faucht. Die zwei Soldaten der Wache (kräftige, junge Kerle) packten den Gefängnisdirektor, zogen ihn hoch. Ein Stuhl fiel um. Die Sänger schwiegen. Und plötzlich war es, als habe den Korsen ein Faustschlag an der Schläfe getroffen. Er sank zusammen. Die beiden von der Wache, die nicht recht wussten, was sie mit dem Gewehr anfangen sollten, stützten ihn – und so, die Fussspitzen am Boden schleifend, verliess Sergeant Cattaneo (glasig und halbgeschlossen waren seine Augen) die Kantine.

Ich starrte ihnen nach. Da weckte mich eine Stimme, und die Stimme sagte:

»Die Flasche Pernod müssen Sie bezahlen, mein Freund. Das ist meine Spesenrechnung. Und nun gehen wir wieder fort. Im arabischen Viertel werden Sie mich zu einem Tee einladen. Das werde ich als mein Honorar betrachten. Denn Sie wissen ja«, ein Glucksen, das wie ersticktes Lachen klang, »wir Rechtsanwälte stellen immer eine ziemlich hohe Rechnung für unsere Arbeit.« Er sah meinen Blick, der sich an seinem Soldatenrock festgesehen hatte. »Ich bin zu arm, um mir schneidern zu lassen«, sagte er. »Und ein Hexenstück war das Ganze nicht. Ich weiss seit einer Woche, dass Cattaneo manchmal ohne Begleitung in die Stadt geht. Eine schwarze Brille verbirgt seine Augen, nur lose sind seine Galons angenäht. Und haben Sie gehört, mit welchem Plaisir (Plaisir! sagte Baskakoff) er vom ›Kuik‹, vom Halsabschneiden, vom Mord sprach? Ich freue mich, ich werde eine schöne Klage zu schreiben haben für das Kriegsgericht, denn wissen Sie, diesmal werde ich den Angeklagten selbst verhören. Aber ich verdiene nichts dabei. Untersuchungsrichter sind Staatsangestellte. Darum habe ich meine Sporteln als Advokat auf Ihre Rechnung geschrieben ...«

Er schritt zur Türe. Der Abend, der im Kasernenhof ruhte, war still und staubig. Ein Horn blies irgendein Signal. Wir kümmerten uns nicht darum.


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