Jean Giraudoux
Bella
Jean Giraudoux

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel

Der Monat August war heiß. Doch Rebendart hatte befohlen, den Springbrunnen im Garten abzusperren. Er nutzte die Kammerferien, um die Anklageschrift gegen meine Familie vorzubereiten, und das Murmeln des Springbrunnens störte ihn in seiner Arbeit. Die mit den Dubardeau zugleich bestraften Amseln warteten jeden Tag vergeblich auf ihr Mundwasser und auf ihr Bad. Gegen neun Uhr abends, wenn Rebendart fortging, schlich sich der Hauswart im Dunkeln hinein, drehte den Hahn auf und ließ ihn eine Stunde geöffnet. Dann kehrte er in seine Loge mit dem Bewußtsein zurück, die Erde von einer Kongestion befreit zu haben, und mit der etwas schuldbewußten Miene jenes Vaters im Gefängnis, der, um seine Tochter zu erleichtern, die Milch ihres Busens trank. Rebendart, der im Mittelpunkt der Justiz saß, fiel es nicht schwer, für jede Geste meiner Onkel und meines Vaters die genau entsprechende Sanktion festzusetzen. Die Haltung Onkel Jules', der einen ganzen Erdteil mit einem zu altruistischen Banksystem befruchtete, verdiente das Zuchtpolizeigericht; die Tat Onkel Emiles, der eine Internationale der Radiotelephonie geschaffen hatte, gehörte vor das Handelsgericht, die meines Vaters, der ein Zerwürfnis mit England und Amerika vermieden hatte, mußte vor den Staatsgerichtshof. Die Griechen hatten Rebendart mit Erfolg die Aufgabe übertragen können, kompetente Rechtssprüche für diejenigen ihrer mythischen und historischen Helden zu finden, die ihre Weisheit oder ihre Initiative zu weit getrieben und die dafür nicht genügend bestraft worden waren: das Gericht der Zwölf für Ikarus und die Verbannung für Aristides. Da er wußte, daß die Franzosen die Urteile ihrer ordentlichen Gerichtshöfe anfechten, dagegen die Verdikte der Gerichte ohne Berufsrichter für unumstößlich halten, bemühte er sich mit um so mehr Gehässigkeit, die Fälle Dubardeau vor die Disziplinarkammern oder vor die Geschworenengerichte zu bringen ... Es war kurz vor den Wahlen. Er hatte glücklicherweise gerade den Moment erwischt, da die herrschenden Parteien, statt der Regierung ihren Willen aufzuerlegen, von seinem abhingen. Die Stimmung des Parlaments befand sich Rebendart gegenüber in einem Zustand geringsten Widerstandes, und Rebendart diktierte mit den Bewegungen eines Arztes, doch mit der Stimme eines Hypnotiseurs den schlummernden Bänken die Haltung, die sie nach ihrem endgültigen Erwachen anzunehmen hatten. Schon bei der Erwähnung des Namens Dubardeau zitterte jeder Abgeordnete, ungewiß, wie er auf diese drei Silben zu reagieren habe, doch mit dem bestimmten Gefühl, daß es nicht mehr von ihm abhinge, und daß sein Verhalten ihm endgültig von Rebendart vorgeschrieben werden wird. Seine Agenten sorgten auch dafür, daß unser Name mit Namen, die in Verruf standen, zusammengekoppelt wurde. Der Fall Emile Dubardeau sollte auf den Prozeß Landru folgen, die Affäre Jules Dubardeau wurde zwischen zwei Verratsprozessen eingeschoben. Es braucht mehrere Jahrhunderte, damit man sich in den Augen des Publikums rehabilitiert, daß man zwischen zwei Schachern ausgestellt war. Weder das Parlament, noch die Gesellschaft protestierte. Die wenigen unabhängigen Männer, die es in Frankreich noch gab, befanden sich in Contréreville, die zuverlässigen und kühnen Frauen in Luxeuil. In zwei Monaten war unser Name genügsam verblichen, daß Rebendart es wagen konnte, die Verhaftung des Onkels Jules als nahe bevorstehend anzukündigen.

Wir waren diesen Sommer nahe bei Paris auf der Höhe bei Saint-Germain geblieben, denn wir wußten, daß, sobald einer von uns ins Ausland gereist wäre, Rebendart das Gerücht ausgestreut hätte, wir seien über die Grenze geflohen. Ich stieg jeden Abend hinauf, um bei meiner Familie zu essen, jedesmal der Bote schlechter Nachrichten. Ich brachte auch Zeitungen und Briefe mit. Wir wohnten fast auf der Spitze des Hügels, wo sich der Aquädukt von Versailles erhebt, und vor dem Aquädukt von Marly. Wir sahen auf Paris hinab. Die Tage waren lang, und die Sonne stand noch hoch, wenn ich ankam. Meine Onkel und mein Vater wollten von der Hitze ebensowenig wissen, wie sie Krankheit nicht beachteten. Auf diesem kahlen Hügel, dessen einzige Kühle der Anblick der Aquädukte spendete, auf steilen und schattenlosen Chausseen, auf einem wie vom Skorbut zerfressenen Makadam, hatten sie sich in den Kopf gesetzt, das Radfahren zu erlernen, indem jeder der Reihe nach auf einem Grenzstein seinen Gehrock ablegte, der neben dem grünen Frack der Akademie die Uniform meiner Familie war. Sie hatten bis zu diesem Tage weder Zeit noch Gelegenheit dazu gefunden. Ich traf diese Fünfzigjährigen mit all den Zeichen an, die an einem alleingelassenen Kinde den Ungehorsam und die Zerfahrenheit verraten, eine Beule auf der Stirn des Physikers, eine zerrissene Hose bei dem früheren Minister. Während des Abendessens entdeckte man, daß der eine sich empfindlich am Sitzbein verletzt, der andere einen Daumen ausgerenkt hatte. Sie trugen diese Verletzungen mit der gleichen Unbekümmertheit und dem gleichen Ernst wie die Narben, denen die Welt so viel verdankte, und die sie sich bei der Beschäftigung mit dem Radium oder bei einer Gasexplosion zugezogen haben. Sie bedauerten nur, daß sie nicht zwei Räder besaßen, denn jeder behauptete der schnellere zu sein, und warfen einander Herausforderungen zu. Sie stellten sich, als fühlten sie nicht das Seil, das sie vor den Toren von Paris als Verbannte zusammenhielt. Doch als Onkel Charles an den Abhängen von Marly bis zum Wasserhebewerk hinuntergefahren war, weil er sein Rad nicht aufhalten konnte, rief er ein Auto an, um so rasch als möglich damit wieder hinauf zu kommen. Mit Ausnahme des Physikers, der seit dem Kriege auf einem benachbarten Turm drahtlose telegraphische und optische Apparate eingerichtet hatte, sah sich jeder von ihnen durch die Entfernung von seinem Arbeits- und Studiengebiet in seinen Arbeiten behindert. Doch in Ermangelung eines seltenen Insekts warf sich der Naturwissenschaftler auf die Ameise, und der Bankier knüpfte mit einem Beamten der Filiale des Credit Lyonnais in Saint-Germain Bekanntschaft an. Keiner von ihnen litt darunter, daß er auf diese Weise seine Wissenschaft von neuem anfing. In ihrem unbezwinglichen Optimismus schrieben sie die Seltenheit von Besuchen, von Briefen, das Verschwinden unserer nächsten Bekannten den Ferien zu. Der Zeitabschnitt zwischen dem 1. Juli und 15. November ist eine leicht zu ertragende Zeit für die in Ungnade Gefallenen. Oder sie entschuldigten, weil sie als angehende Radfahrer die Schwierigkeit, bis zu unserm Haus hinaufzugelangen, zu schätzen wußten, ihre alten Freunde, von denen die Zeitungen meldeten, daß sie gerade in Paris seien; als wenn der frühere Präsident der Republik, der Finanzminister oder jene berühmte Dichterin das Zweirad hätten benützen müssen, um sie zu besuchen. Doch ich, wenn ich in Paris zu Mittag aß, sah sehr wohl, wie alles, was zur Gesellschaft und zum Bürgertum gehörte, mit größerer oder geringerer Vorsicht sich von uns fernhielt. Innerhalb zweier Monate konnte ich feststellen, daß die Art, über uns zu urteilen, uns zu verstehen, sich geändert hatte. Das Glück und der Erfolg haben eine wunderbare Akustik; die früher überall kolportierten Aussprüche des Onkels Jules trugen nicht mehr weit, die ganze Art und Weise unserer Familie interessierte auf einmal weniger. Die größten Gelehrten der Welt, die nützlichsten Staatsmänner verfielen der gleichen Ungnade wie die Sänger der Varietés und die Boxer. Hätte ich eine Mätresse gehabt, so würde ich an der von Liebe Überströmenden, an unmerklichen Zeichen es gefühlt haben, daß sie sich an den Sohn eines Ausgestoßenen hingab. Doch meine Onkel wollten an der Art, wie die Wissenschaft sich zu ihnen verhielt, nichts bemerken. Sie lehnten es ab, für ihre Entdeckungen und ihre Schriften jene Feinhörigkeit sich nutzbar zu machen, die das Mißgeschick verleiht. Man schrieb ihnen weniger? Man kam nicht sie besuchen? Doch nur wegen der Ferien. Die Geschenke, mit denen die Gärtner, die in einer Mission reisenden Prinzen sie zu überhäufen pflegten, waren versiegt. Wegen der Ferien. Es waren Ferien für die Orchideen, Ferien für die persischen Manuskripte. Der Botschafter, der auf der Rückreise aus dem fernen Osten die Absicht hatte, sie aufzusuchen, nahm, als er in Singapore oder in Port Said seine Post erhielt, eine Richtung, welche ihn nach Versailles in den Sommersitz Rebendarts führte und nicht nach Saint-Germain zu uns. Es waren Ferien für die Dankbarkeit, für den Mut. Nur die Kataloge der großen Geschäfte, Todes- und Hochzeitsanzeigen kamen noch an. Sie hatten genug Phantasie, um sich mit diesem abstrakten Kontakt mit der Menschheit zu begnügen. Eines Tages brachte ihnen der Postbote ein ganz neues Fahrrad, das Geschenk eines Unbekannten. Ich wars, der es gekauft hatte. Sie schrieben es jedem der tausend Undankbaren zu. Alles war wieder gut. Sie waren glücklich.

Doch sie litten. Zumindest am Tage und bei ihren Studien. Das tägliche Untertauchen in eine Welle vertrauter und halb unbekannter Menschen, von Stimmen und Lächeln war ihnen notwendig. Es war nicht allein die Wirkung der Gewohnheit, daß sie es liebten, im Lärm zu arbeiten, in Durchgangsräumen, wo Menschen hin und her gingen, Leute, die Durand oder Dupont, Bloch oder Bejochamort, La Rochefoucauld und Uzés hießen. Die Menschheit war der Gärungsstoff, der ihre Untersuchungen fruchtbar machte. Bei allen ihren Versuchen über Gasmischungen, über hybride Pflanzen, über die Lebenskraft Österreichs konnten sie bei der Aufzählung der Kreuzungsprodukte hinzufügen: dazu kommt noch ein Mensch. Die Anwesenheit eines mittelmäßigen Wesens namens Labaville hatte den Erfolg der Synthese herbeigeführt. Wenn Labaville mit seinen Pickeln, mit seiner durch einen Ring gezogenen Kaschmirkrawatte nicht da war, arbeitete Onkel Charles schlecht. Alle hatten sie gleichsam als Federwischer oder als Augenwischer, wenn sie ihre Augen von den Schmelztiegeln und Retorten erhoben, ein Gesicht nötig. Sogar der Astronom konnte am Abend angesichts des Firmaments nicht ohne das bleiche Gesicht seines Sekretärs sein. Der Rhythmus des menschlichen Lebens war ihnen während ihrer Experimente, die Zyklopen oder Marsbewohner vielleicht ebenfalls fertig gebracht hätten, notwendig, damit ihre Forschung nicht über die Grenzen der Menschheit hinausschweife. Doch dieser Zufluß von Freunden, dieses irdische Serum hörte auf. Eines Abends fand ich sie ganz allein, was zeit meines Lebens nicht vorgekommen war. Denn selbst in unsere Familienfeste pflegte einer von ihnen einen langjährigen Freund oder einen zufälligen Besucher einzuschieben. Es war im Hause stets ein schönes oder häßliches Menschenwesen zum Streicheln da, das die Brüder sich wie eine Pensionskatze von Hand zu Hand reichten und dem sie wie einer richtigen Katze sogar ihre Geheimnisse erzählten ... An diesem Tage waren sie allein. Sie gaben sich keine Rechenschaft darüber, was sie heute weniger gesprächig, weniger heiter machte. Dieser Abend bedeutete für sie eine Art kleinen Weltuntergangs. Paris leuchtete auf, Paris strahlte. Von den fünf Millionen Menschen, die da unter uns angesammelt waren, war keiner mit uns. Unsere Radioapparate sprachen; von den zwei Milliarden über die Kontinente verstreuter Wesen dachte in diesem Augenblick keines an uns oder ließ sich unsere Geschichte des Versailler Vertrags erzählen. Die Abendpost kam. Doch sie empfingen keine Briefe mehr, es sei denn von Männern gleichen Ranges in der Wissenschaft oder an Lebensgenie. Es gab an diesem Abend keine Briefe, deren Unterschriften Namen gewesen waren, wie sie gleichsam als die Visitenkarten der Menschheit auf den Ladenschildern stehen. Es gab nur eine telephonische Botschaft von Frau Curie und einen langen Brief von Anatole France ... Die Roudinot hatten uns vergessen, diese kleinen Beamten, für die wir uns aus irgendeinem Grunde – sie selbst waren nichts wie Mittelmäßigkeit – so viel Mühe gaben, um ihnen die schönsten Schauspiele, die schönsten Erinnerungen des Krieges zu bieten: für die Marneschlacht brachten wir sie nach Paris, wir quartierten Pershing bei ihnen ein, wir verschafften ihnen Tribünenplätze vor dem Triumphbogen für die letzte Truppenparade. Die Bahut hatten uns vergessen, denen unsere Familie wiederum – deshalb wohl, weil sie immer untereinander verzankt waren – die Teilnahme an den Feierlichkeiten beim Friedensschluß ermöglichte, die sie mit Logen für das russische Ballett und Eintrittsbilletts für die Jahrhundertfeiern beschenkte. Das Telephon klingelte. Aber es war nur Vincent d'Indy ... Es hätte ebensogut Wagner sein können! Die einzigen Wesen, die einzigen Namen, mit denen wir uns berührten, waren jetzt die großen Berühmtheiten, Namen von relativer Unsterblichkeit, die mit uns nicht nur dadurch verbunden waren, daß sie lebten, sondern die auch nach ihrem Tode nicht minder gegenwärtig gewesen waren. Sollten wir zu einer höheren Etage der Menschheit, zu Thomas Hardy, zu Einstein, zu Foch, zu einer Art Totengespräch unter Lebenden verurteilt worden sein, zu Vercingetorix, Fénelon, Lavoisier? Im geistigen Gebiet blieb uns alles treu, war alles fest und unveränderlich, doch diese Signale von Berühmtheit zu Berühmtheit glichen wahrlich zu sehr den ersten Feuerzeichen, welche die Menschen von Hügel zu Hügel miteinander tauschten, als es noch keine Menschheit gab. Die Batterieen, aus denen der Strom gewichen war, sprachen miteinander, doch sie lebten nicht mehr. Selbst die Flugzeuge, die, vor Sonnenuntergang heimkehrend, vor ihrer Landung in Cháville zu Dutzenden um uns kreisten, waren nur eine abstrakte Liebkosung! So wie sie dasaßen, waren sie unter Erfindern. Es war da der Entdecker des Serums gegen den Krebs, der Erfinder der elektrischen Lampe, welche Gase zu mischen ermöglicht, der Theoretiker der menschlichen Wanderungen, doch es fehlte unter ihnen der Erfinder der hygienischen Gürtel, des Patentkragenknopfs, mit einem Wort: Menschen.

Doch die Nacht brach an. Die Nacht erst, welche den Durchschnitt seinen Zusammenhang mit den sogenannten ewigen Elementen empfinden läßt, die ihn dem Gott nähert, den er gewählt hat, und ihn von der Welt absondert, gab meiner Familie den verlorenen Kontakt mit den Bewohnern des Planeten wieder. Über der Stadt wiederholten die großen Lichtreklamen die für ihre Arbeit so notwendigen Namen: Duval, Citroën. Die hier besonders vollkommenen Radioapparate brachten uns eine Fülle von Nachrichten, stellten uns die Solisten des Eiffelturms: Peignecod und Millard, mit Namen vor und rafften auf einmal alles zusammen, was die Wellen von Nauen bis Schanghai diese Nacht an Varieté, Finanzen und Politik enthielten. Die Gemeinschaft mit den undankbaren und verräterischen Freunden wurde durch eine Musiknummer der Staatspolizei, durch eine Ankündigung der Heilsarmee wiederhergestellt. Es war die populäre Stunde für die durch die Wissenschaft entfesselten Elemente. Es war der Rummelplatz von Neuilly mit seinen elektrischen Männern. Meinen Onkeln und meinem Vater, welche übrigens gern in die Buden von Neuilly hinabstiegen und bei der Fliegenden Frau eintraten, machte diese Kirchweih Spaß. Von jener Terrasse, auf welcher während des Krieges der Horchposten für die deutschen Unterseeboote aufgestellt war, deren Signale mit harten Stößen von der Nordsee und sanfter vom Mittelmeer zu uns drangen, als vermittelte sie uns das Wasser und nicht die Luft, von der Stelle, wo sich zugleich mit zwei kindischen und verlogenen Berichten die wahren Ereignisse des Krieges abzeichneten, erreichten uns heute die Stimme der Damia, Monologe und die Resultate der Rennen. Am Dienstag war Kinovorstellung in Louveciennes, und wir gingen zusammen hin, die Drei Musketiere und die Wochenschau zu sehen. Doch diese Bilder, die einige Monate alt waren, schienen uns Jahrhunderte alt und verstärkten in mir den Eindruck, als seien wir eine Familie, die nach einer Sintflut zurückgeblieben ist und die, um sich an die Zeiten des Überflusses zu erinnern, die von der ertrunkenen Polizei hinterlassenen Mikrophone öffnet oder die Platten spielen läßt, die in den Kellern des Gewerbemuseums aufbewahrt werden. Von der Stadt unter uns sahen wir nur die Fülle des Feuers, Lichtlinien der Straßen, Lichtblocks der Denkmäler, Lichtkreise der Plätze. Die einzigen Tiere, die uns streiften, waren Fledermäuse, prähistorische Tiere. Unser Gesinde hatte plötzlich jene gedämpfte Stimme und übernatürlichen Eigenschaften, die in Schiffbrüchen und Katastrophen den treuen Diener offenbaren. Wir kamen so weit, die Barometer und die Thermometer zu befragen, als hätten wir eine Besteigung zu unternehmen, oder als sollten wir einen Höhenrekord schlagen. Auch unsere Lektüre stieg auf ein höheres Niveau. Ohne daß man es merkte, hatten die modernen und leichten Bücher, deren Lesen und Durchsprechen höchstens einen Tag erfordert, den großen klassischen Werken Platz gemacht. Onkel Charles las wieder den Faust, Onkel Jules die Einleitung in die Experimentalmedizin, mein Vater Robinson Crusoe. Wenn ich nach Paris hinunterging, hatte ich bei mir ein Verzeichnis von Büchern, die ich in einer modernen Buchhandlung holen sollte. Es war die Bibel oder Montesquieu. Doch eines Tages hielt ich es nicht mehr aus und brachte Fontranges zum Frühstück mit.

Selten wohl ist ein Fremder, der zu einem gastfreundlichen und neugierigen Stamm eindringt, selten eine Entsatztruppe, die zur Verdoppelung einer belagerten Garnison eintrifft, mit mehr Begeisterung empfangen worden als Fontranges von meiner Familie. Dieser Überlebende einer verschwundenen Menschheit hatte alle Attribute an sich, mit denen ihn auch Beobachter von einem anderen Planeten auf den Tafeln einer Beschreibung ohne weiteres vermerkt haben würden: seine Lavallierekrawatte, seinen goldbeknopften Rohrstock, sein Monokel. Die vornehme Nachlässigkeit, durch die man bereits im Hundertjährigen Krieg an der Rüstung einen Fontranges erkannte, war noch an seinem mit schwarzem Band bordierten Jackett auffallend. Sein Taschentuch hing übermäßig aus der Brusttasche, das Monokel am Seidenbande schien der Pendel seiner Gedanken zu sein, doch seine Nägel waren gepflegt, sein Haar parfümiert und trocken. Ich hatte unter allen sicherlich das menschliche Wesen ausgesucht, dessen Seife am besten roch. Er hatte große Bewegungen, die Wohlwollen ausdrückten, und verhielt sich mit großer Güte zu Kreaturen und Dingen, so wie sich etwa die Marsbewohner vorstellen mögen, daß die Menschen seien. Vor dem Frühstück gingen meine Onkel mit ihm nach Marly hinunter. Er grüßte die Priester, die Nonnen, die Denkmäler für die Toten; das ganze Bürgertum von Marly betrachtete aus den Fenstern mit Hochachtung diese Geisel aus der Welt, welche die Dubardeaus spazieren führten. Er bemerkte über unserm Kamin ein Porträt von Renan. Er hatte viel von Renan sprechen hören. Familienleben tadellos, nicht wahr? Religiöse Haltung vielleicht weniger zuverlässig? Er verbeugte sich. Er bezeigte der Wissenschaft die gleiche Höflichkeit wie einer Frau, die man vom Sehen kennt. Er grüßte sie. Und dieses Porträt? Ist das Kipling? Er habe zu seinem Bedauern keine Gelegenheit gefunden, Kipling zu lesen. Meine Onkel bemühten sich eifrig um ihn. Sie hatten seinetwegen Robinson, Montaigne und die Evangelien liegen lassen. Ein jeder suchte in seiner Spezialität, um durch irgendeinen Glücksfall dieses sanfte, unwissende und gütige Wesen in ein Gespräch zu locken. Glücklicherweise gab es bei uns zahlreiche Dinge, die ihm nicht vertraut waren; das Zweirad zum Beispiel. Alle diese Mitglieder der Akademie machten sich ein Vergnügen daraus, ihm diese fabelhafte moderne Erfindung, das Zweirad, zu erklären: man montierte das Hinterrad vor ihm ab. Die Kugellager, die Übersetzung interessierten ihn lebhaft. Würden nicht viele Krankheiten, ansteckende Krankheiten zum Beispiel, vermieden werden, wenn unsere Glieder nach diesem System funktionierten? Vor diesen Wirten, die alles wußten, allmählich immer mehr ermutigt, riskierte er Fragen, die er seit seiner Jugend keine Gelegenheit mehr hatte zu stellen und die ihm mit mäßigem Erfolg sein Sohn vorzulegen pflegte. Auf welche Weise funktionieren die Leuchttürme? Was ist eigentlich Ebbe und Flut? Ist es wahr, daß sie vom Mond bewirkt werden? Hat das Meer als Kraftquelle so viel Zukunft wie die Wasserfälle? Kurz, ein ganzer Fragebogen über das Meer, das er von einem Tag, den er in Dieppe zugebracht hatte, kaum kannte, oberflächlich kannte, wie Kipling und Renan. Als er ins Hôtel de Louvre zurückkehrte, war er schwer belastet mit genauer Wissenschaft über die Wanderung der Aale und ihre Fortpflanzung im Sargassomeer, über die kleine Fabrik, welche Ebbe und Flut im Gascogner Golf nützt, über die Schönheit der grünen Farbe unserer festen Leuchtfeuer, um die uns die Engländer beneiden. Onkel Jules versprach ihm, die wichtigsten Modelle der Leuchtturmlaternen auf dem Turm montieren und ausprobieren zu lassen, was ihm nicht schwer fiel, da er der Freund des Konservators im Museum war. Fontranges mußte einige Tage später und ohne zum Diner zu uns zurückzukommen, Paris verlassen, aber die Pariser konnten während der Septembernächte Leuchtfeuer in allen Farben, von verschiedener Stärke und von verschiedener Dauer über Marly aufsteigen sehen; es waren die Feuer, welche das Kap Raz, die Klippen von Sanguinaires, die Blockade des Mittelmeeres, die Pest in Saigon signalisierten. Es waren meine Onkel, welche dem letzten Menschen Signale gaben.


 << zurück weiter >>