Jean Giraudoux
Bella
Jean Giraudoux

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Zweites Kapitel

Ich beschloß, an diesem Tag zu der Einweihung eines Denkmals für die im Krieg gefallenen Schüler meines Gymnasiums zu gehen, denn ich hatte freie Zeit. Jene Rendezvous, welche die jungen Leute zwischen fünf und sechs Uhr abends sich geben und die sie den ganzen Tag über beschäftigen, hatte ich um sieben Uhr früh ... Meine Freundin war nur bei Sonnenaufgang frei ... Die Freuden, welche andern Liebenden in einer schon müden und übersättigten Stadt vorbehalten sind, empfingen wir zu einer Stunde, da wir, meine Freundin und ich, ganz allein waren, um uns zu lieben in der Stadt Paris. Ich begab mich in unsern Zwischenstock zu gleicher Zeit mit den Erdarbeitern, die zu ihrer Arbeit gehen, und die Arbeiterfahrkarten zum halben Preis waren für diese Leidenschaft gültig. Jede Ulme auf ihrem Platz, jede Linde in einem Hof, das Bois de Boulogne, der Monceau-Park hatten extra für uns durch zwölf Stunden der Atmung und des Destillierens die reinste Luft bereitet, in welcher zwei Liebende sich jemals in Paris umarmt haben mochten. Sie, wenn ich sie traf, hatte noch kein Parfüm. Sie machte ihre Toilette für die Liebe, während sie aus dem Bett stürzte, die verschlafenen Augen kaum geöffnet, noch betäubt vom Wecker. Für die Liebe, welche von jedem von uns nur verlangte, daß er den Sonnenaufgang sähe. Ich ging durch Straßen, in denen allein die Milchverkäufer wach waren, wo nur die Brüste der schlafenden Stadt zum Spielen da waren, wo alle Wohnungen, welche Psychologen, Industrielle, Schauspielerinnen hinter geschlossenen Läden einschlossen, Tote enthielten. Diesen ruckweise fortschreitenden Gang zu ihren Geliebten, der die Liebhaber gewöhnlich durch die Läden der Antiquare, der Juweliere und der seltenen Bücher führt, machte ich jeden Tag durch Straßen mit geschlossenen Läden, jeden Tag wie durch einen Sonntag. Es war die einzige Stunde, da man in Paris die Glocken läuten hört. Allein die Sonne bot sich auf den geschlossenen Auslagefenstern als das einzige Lebensmittel, das einzige Bekleidungsstück, die einzige Antiquität zum Verkaufen dar. Ich kaufte alles ohne einen Mitbietenden. Diese Kraft der frühen Stunde, die der Jockei nutzt, um sein am meisten widerspenstiges Pferd zu besteigen, der Holzhauer, um die stärkste Eiche zu fällen, war ich allein in Paris so glücklich der Liebe zu widmen. Ich überschritt die Concorde-Brücke und war schon angelangt. Niemand wohl hat je eine kürzere Brücke zwischen dem letzten seiner Träume und seiner Freundin zu überschreiten gehabt. Sie stieg an der Untergrundbahnstation der Champs-Elysées aus, zu dieser Stunde eine ebenfalls sehr erlesene Station, fast ausschließlich den Maurern und Bauarbeitern vorbehalten, deren Spuren sie zuweilen auf ihrem Kleid behielt, als einzige Schminke. Ich verzieh es ihr, daß sie sich von der Arbeit hat streifen lassen. Wir umschlangen uns, nicht in der Atmosphäre der Börse, in dem üblen Nachgeschmack der Kurse, der Wetten, in den Tagesneuigkeiten, die für die Menschen bereits verdorben von den Nachmittagszeitungen verbreitet werden, sondern in den Schlaglichtern der großen Morgenberichte, eines Erdbebens in Japan, einer Revolution in Brasilien oder des Untergangs von Panzerschiffen. Eine einstündige Nacht wurde für uns wieder geboren, gewebt aus allem Glanz, den Sonnenaufgang und Sonne nur bieten konnten. Wir waren nüchtern. Wir hatten niemand gesehen. Wir hatten nur zu Leuten gesprochen, die anders als Pariser Beamte und Diener des Magistrats, Funktionäre der Erde selbst waren, die Besprenger der Straßen, die Gärtner. Wir ließen die Vorhänge herab, schlossen die Augen und tauchten mit ganzer Seele unter in diese Nacht, die wir aus der Vergangenheit für uns noch heranrissen! ... Es schlug neun Uhr. Man mußte gehen. Statt uns in die Frivolitäten des Abends, in den Schlaf, in den Luxus hinein zu trennen, breitete sich für uns die Liebe über arbeitende und lebende Wesen aus, und unser ganzer Arbeitstag war davon gesättigt. Wir waren die zwei einzigen Menschen in Paris, die von der Sorge um sie entlastet, schwer von ihrem Segen waren. Eine innere Freiheit sollte uns in den Trams und in den Restaurants noch reichlich zufließen. Wir stiegen in diese tätige und junge Menge hinab, die gleichsam aus unserer Umarmung geboren wurde. Jedes junge Mädchen mit seiner Mappe, jeder Schüler auf dem Weg in seine Schule schien uns ihre Frucht. Wir hatten Feuerwehrmänner, ein Blumenmädchen, einen buckligen Radfahrer zur Welt gebracht ... Wir trennten uns. Sie ließ mich plötzlich vor dem besonnten Morgen allein, mit der Scham und Bescheidenheit einer jungen und zärtlichen Kupplerin, die sich vor diesem Tag zurückzieht, wie vor einem Mädchen, das sie einem zugeführt hat. Sie wandte sich nicht um, sie wollte nichts sehen. Nie hat eine Frau besser die Rolle der Frau begriffen. Sie hatte mir zu einer verschwiegenen Umarmung die Bitterkeit in ihrer ganzen Willfährigkeit, die Freude in ihrer ganzen Hingegebenheit gebracht, und alle Nachkommenschaft, die man von diesen Mädchen haben kann, hatte ich in einer Stunde. Man kannte keinen Liebhaber von ihr. Man kannte keine Mätresse von mir. Wir entschlüpften allen Blicken, eingehüllt in Frühlicht.

Es war Rebendart, welcher das Denkmal einweihte. Der Advokat Rebendart, früher Minister der Öffentlichen Arbeiten, vor kurzem Kammerpräsident, seit einem Monat Justizminister, verfolgte mit seinem Haß meinen Vater, welcher zusammen mit ihm Bevollmächtigter für den Vertrag von Versailles gewesen war. Doch abgesehen von diesem Streit, litt ich, seit ich an Rebendart zu denken hatte. Ich hörte ihn so oft in seinen Reden wiederholen, daß er Frankreich verkörpere, ich las in so vielen Zeitungen, daß Rebendart das Sinnbild für die Franzosen sei, daß in mir Zweifel aufstiegen über mein Land. Mein Land sollte diese Nation sein, in der nur die Stimme der Advokaten Widerhall fand! Die Advokaten meines Landes, waren das diese mit dem Gesicht stets der Vergangenheit zugekehrten Männer, in einem Rock, der auch schon seine Vergangenheit hinter sich hatte, mit mehr Haarschinnen bedeckt als Lot, nachdem er seine in eine Salzsäule verwandelte Frau umarmt hatte, und die bei Nacht nach dem Rhein zu und in den Seelen der Franzosen die gemeinsamen Grenzen verrückten! Dank Rebendart gewann die Heuchelei, die schlechte Laune in allen Behörden Frankreichs, in den Provinzialständen, in den Absteigquartieren bis in die Herzen der Schulkinder hinein immer mehr an Raum. Jeden Sonntag, wenn er am Fuß eines dieser gußeisernen Soldaten, der geschmeidiger war als er selbst, sein wöchentliches Totendenkmal einweihte und zu glauben vorgab, daß die Getöteten sich nur abseits zurückgezogen hätten, um über die Summen zu beratschlagen, die Deutschland uns schuldig ist, übte er seinen Erpressungsversuch auf diese stumme Jury, deren Schweigen er anrief. Die Toten meines Landes waren dann wohl nach Gemeinden wie zu einem Aufgebot von Amtsdienern versammelt und zankten sich in der Unterwelt mit den toten Deutschen herum. Es war schauderhaft zu denken, wie Rebendart, der bei seinem Übergang zu den öffentlichen Arbeiten sich für verpflichtet hielt, in die im vollen Betrieb befindlichen Minen von Anzin, in die im Aufbau begriffenen Minen von Lens und in die überschwemmten Minen von Courrisères hinabzusteigen, sich die Unterwelt vorstellte, den ewigen Frieden und die Ankunft der Schatten an der Furt, und wie Charon den Schatten, der über Bord gestoßen wurde, wieder auffischt. Alsdann hielt er im Namen der Toten, die in diesem Augenblick als langgezogene Nebel oder als geballte Schatten oder als farblose Ströme vereinigt waren, eine Lobrede auf die Klarheit, auf unser Zahlensystem, auf das Latein, in einer schmierigen zänkischen Sprache von falscher Exaktheit, die einen fast die Sprache der Radikalsozialisten, deren gebräuchlichste Ausdrücke die Worte ›erhaben‹ und ›glühend‹ sind, vermissen ließ. Wenn die Sonne strahlte, war alles, was der Frühling oder der Sommer von ihm erlangen konnte, daß er seinen Schwatz mit weiblichen Mehrzahlwörtern spickte. Die Realitäten, die richtunggebenden Probabilitäten, die Direktiven trafen sich dann unter tausend Liebkosungen, und dieses Lesbos des greulichsten abstrakten Amtsstils erfüllte ihn mit Wonne. Gelehnt an einen Marmor von Bartholomé, einen Marmor kälter, als es je ein Leichnam war, und durch diese Berührung auf seine höchste Temperatur gebracht, stand er da, und der Tod aller dieser Franzosen war für ihn das, was der Tod in einer Familie ist, was für ihn, bei allem Schmerz, der Tod seines Vaters und der Tod seines Sohnes gewesen war: ein Erbschaftsstreit. Der Krieg? Man hat nicht alle Tage eine so schöne Entschuldigung, um den widerwärtigsten politischen Charakter in seinen eigenen Augen zu rechtfertigen! Aber ich hatte nicht vergessen, daß selbst im Frieden noch, selbst in seinen frühesten Reden der Ton schon sauer war, und wenn er damals Ausstellungen eröffnete, Denkmäler unserer großen Männer enthüllte, konnte man in seinem Redefluß schon eine Spur von Anspruch an Europa hören, als wenn Europa uns Gutmachung schuldig sei, weil wir Pasteur, die Alexander-Brücke oder die Jungfrau von Orleans hervorgebracht haben.

Im Hof des Gymnasiums hatte die Zeremonie begonnen. Der Klassenvorstand, in dem gleichen Trauergewand, in das er einst gehüllt war, um sie beim Eintritt in die Schule oder an Festtagen zu empfangen, enthüllte die Marmorplatte, auf der die Namen der für das Vaterland gefallenen Schüler schwarz eingraviert waren, während die goldenen Buchstaben auf den benachbarten Platten den preisgekrönten vorbehalten blieben. Mit Ausnahme von Charles Péguy, Emile Clermont, Pergaud und einiger älterer, habe ich alle diese Kollegen gekannt, die heute nach dem Alphabet geordnet in die Vergessenheit und in den Ruhm eingingen, in der gleichen Reihenfolge wie bei den Hauptprüfungen. Der Klassenvorstand las langsam diese Namen, die er bisher nur zu verlesen pflegte, um sie mit einer Arbeits- oder Führungsnote zu versehen. Er bemühte sich, die letzten Namen nicht wie bei der Verlesung der Klassifikation mit steigender Verachtung auszusprechen. Er sagte sich, daß dies die einzige Klassenaufgabe in seinem Leben war, wo es nur Erste gab. Das waren hundertundein Toter von gleichem Rang; ex aequo. Er war vor allem erstaunt, zu fühlen, daß, was bei dem Namen gewisser Schüler seine Bewegung bewirkte, nicht die Erinnerung war, die er von der Anzahl ihrer guten oder schlechten Noten hatte, sondern vielmehr Erinnerungen, die er nicht einmal in sich vorhanden glaubte, nämlich an die Farbe ihrer Augen, ihres Haares, an den Schnitt ihrer Lippen. Alle diese Toten hatten plötzlich ihm, der gegen alles, was nicht die Schule und das Studium war, so nachlässig und so unempfindlich blieb, ihre menschliche Erbschaft hinterlassen, der eine seine Roxelane-Nase, jener seine spitzen Ohren, ein andrer wieder jene im ganzen Gymnasium wohlbekannte unabnutzbare Krawatte, die er von der Quarta bis zur Prima getragen hatte. Eine Fülle zuckender frischer Leiber, blonder und brauner Haare erstand vor ihm zum erstenmal aus diesen Schülern, diesen Schatten. Aber er wußte sich zu fassen. Zum Glück hatte er aus seinem Zimmer die Preise, die man im Juli 1914 nicht mehr Zeit gefunden hatte zu verteilen, herunterbringen lassen; er übergab sie den ausgezeichneten Familien, und damit war die Hierarchie der Toten langsam in der einzig zulässigen Reihenfolge in ihm wieder hergestellt, denn einer der Gefallenen hatte acht Preise. Er bemerkte, daß die meisten Bücher den Namenszug lebender Autoren trugen, schämte sich ein wenig dessen. Doch schon hatte man die Platte enthüllt, und ich sah da oben von dem Buchstaben D bis zum Buchstaben E alle jene, die mich bei den Prüfungen umgaben, die mich zwar nicht vor dem tapferen Lintilhac und dem schrecklichen Gazier beschützen konnten, mich jedoch vor dem Tod beschützt hatten. Da verbeugte sich die Menge der Mütter und Väter noch tiefer wie vor einem erhabenen Leichnam, und Rebendart erschien. Es gab weder ein Podium noch eine Stufe. Er begann vom Boden aus zu sprechen. Er schien diesmal leibhaft aus dem Grab gesprungen. Er spreche, sagte er, im Namen dieser jungen Menschen ... Und er log. Denn von jedem dieser Toten wußte ich, was er dachte, was er an seiner Stelle gesagt hätte. Ich hatte noch die letzten Worte mehrerer von ihnen, die dicht neben mir gefallen, in den Ohren. Ich hatte die letzte Mahlzeit mit einigen andern geteilt, das Brot, den roten Wein, die Wurst, die ihr Abendmahl waren. Ich kannte ihre letzten Briefe, von denen jeder der Beginn eines langen und glänzenden Daseins hätte sein können, so sehr strotzten sie vor Lebenslust. Ich kannte jene, welche Feinde getötet hatten, die ihrem eigenen Tode den Schatten eines Ulanen oder eines Gardejägers vorangehen ließen, jene, die keusch gestorben waren, jene, für die der Krieg ein Kampf gegen einen abstrakten Feind war, den sie nie gesehen, nie wahrgenommen, und die gestorben waren mit reinen Händen an einem der Tage, da die Theorieen lastend und tödlich werden; da die Adern, die Schädel uns weniger von Granaten als unter dem Druck des Schicksals zu platzen scheinen. Ich wußte, daß sie alle sich in den Krieg gestürzt hatten, nicht mit dem Schwung des Hasses, sondern mit der Freude darüber, sich mit der Pflicht, mit dem Kampf, mit diesem Idioten von Klassenvorstand, mit sich selbst einig zu finden. Sie hatten sich an diesem Augustanfang in ihn hineingeworfen wie in die Ferien, nicht eines Schuljahres allein, sondern des Jahrhunderts, des Lebens. Wenn sie die Erlaubnis gehabt hätten, heute eine Klage vorzubringen, so wäre es vielleicht darüber gewesen, daß sie den Monat, die Woche, den Tag wenigstens, der ihrem Tod voranging, nicht von Zahnschmerzen befreit waren, von einer Darmentzündung oder auch vom General Antoine, der die Halstücher verbot. Wenn sie geruht hätten, eine posthume Beschwerde vorzubringen, so darüber, daß sie im Kriege, während sie durch Dreck und Wasser marschierten, keine wasserdichten Leiber hatten, kühl bei der Gluthitze und im Sommer, in den baumlosen Ebenen, einen größeren Schatten spendend als sie selbst, und darüber, daß sie den General Dollot hatten, der sie zwang, die Mantelkragen im August hochzuknöpfen. Vom Schöpfer und von zwei Generalen, davon hätten sie heute zu ihren Familien gesprochen, lächelnd, sie entschuldigend und durchaus nicht, wie Rebendart es in ihrem Namen tat, vom Erbfeind ... Der Tod allein ist erblich, und um sich nicht um ihn zu kümmern, genügte es, ohne Nachkommenschaft zu sterben, wie sie es taten. Kein Waisenkind stand vor diesem Totendenkmal. Wie viele künftige Tote erspart doch der Tod eines Schülers! Das wäre es, was sie gesagt hätten, alle diese Gefallenen, die ich kannte, sie hätten mir auch wohl gesagt – viele von ihnen waren Söhne von Beamten –, daß sie so gern Rodez, Le Puy wiedergesehen hätten, daß Marokko so schön sei, seine Luft so rein, und einer, der nie Zeit und Gelegenheit gefunden hatte, die ›Kartause von Parma‹ zu lesen, hätte gebeten, mich zu treffen, daß ich sie ihm zusammenfasse, wenn möglich in einem Wort ... Keine Phrasen mit den Toten. Ein einziges Wort mit ganzer Kraft aus tiefster Seele in eine tönende Landschaft hinausgeschrieen, das war es, was sie verlangt hätten, das war alles, was sie hätten vernehmen können! So daß mir Rebendart den Haß, den Zank und die Bitterkeit nur im Namen dreier Schüler zu predigen schien, im Namen von Pergaud, der die Tiere liebte, sogar den Dachs und den blutdürstigen Marder, im Namen von Clermont, der die Menschen liebte, selbst die unlenksamen Seelen und mörderischen Herzen, im Namen von Péguy, der alles liebte, schlechthin alles; und seine Rede war eine Gotteslästerung. Als er, vom Klassenvorstand aufgefordert, dazu überging, die Hände der in der Front dekorierten Schüler zu drücken und mir seine rechte Hand entgegenhielt, diese Hand, von der man sagte, daß sie im Begriff war, den Haftbefehl gegen meinen Vater zu unterzeichnen, versteckte ich meine beiden Hände hinter dem Rücken. Er hielt mich für einen Verstümmelten und grüßte.

Ich sah dann, daß zwei Personen seiner Umgebung meine Bewegung bemerkt hatten, Madame Georges Rebendart und Emanuel Moïse.

Madame Georges Rebendart war die Witwe von Rebendarts Sohn. Dieser, Vertreter des Generalprokurators, war an der Lungenschwindsucht gestorben. Sie wohnte bei ihrem Schwiegervater. Es war eine Frau von fünfundzwanzig Jahren, groß, zart, die bei ungünstigstem Licht jene Maske aus Samt und Schatten hatte, welche die Photographen, mittels verschleierter Lampen, Vorhängen und eines besondern Puders, eine Viertelsekunde lang auf die Gesichter der Schauspielerinnen und der Amerikanerinnen hinzuzaubern pflegen. Arme von einer schönen Flügelweite, welche sie in einer Art seelischer Langeweile zu spreizen liebte. Es war ein idealer Galgen, um darauf die Reiher, die Schwäne zu kreuzigen. Züge von einer Feinheit, daß jeder von ihnen einen unendlich subtilen Handwerker voraussetzte, die Brauen bogenförmig und in jene vollkommenen Zeichnungen verzweigt, wie sie an winzigen Algen nach dem Sturm zu sehen sind, Brauen, die nach dem Ozean riefen. Verheiratet gleich nach dem Austritt aus der Pension, die sie in einem schwarzen, kurzen Kleid verlassen hatte, vertrug sie am Abend infolge einer wesenhaften Verwandlung, die übrigens von jeder Koketterie frei war, keine andern Farben als Silber und Gold und war mit Schmuck behängt. Wie andre Brotkrumen zerbröckeln, baute sie bei Tisch auf dem blütenweißen Tischtuch vor sich innerhalb zehn Minuten ganze Stäbe und Kästchen von Gold und Perlen auf. Jede ihrer Bewegungen war die Einfachheit selbst, setzte aber einen Diamanten hin. Was soll man von ihren Blicken, von der Neigung ihres Kopfes sagen? Sie hatte nichts gemein mit den Frauen der politischen Welt, welche für eine aufgestülpte Nase bestenfalls durch Leibesumfang und breite Ohren entschädigen. Alle ihre Züge waren wie von einem göttlichen Bimsstein gerundet, und ihre Gesamtheit war eine Art Zeichen des Unendlichen, nicht das winzigste Käferchen hätte die Möglichkeit gefunden, sich auf diesem Gesicht zu halten. Jenen Kopf, den jede Frau an Tagen der Leidenschaft und des Sturmes aus großer Entfernung im Spiegel wahrnimmt, hatte Madame Georges Rebendart, ganz nah und bei schönster Sonne gesehen. Allen Frauen gab sie den Eindruck, daß sie nur zu wollen brauchten, damit das Drama oder die Seelenangst in ihr eigenes Leben eindringe. Die Ministerinnen für Ackerbau und für die Kolonieen gerieten in ihrer Nähe in Begeisterung, die der Post und Telegraphen erbebten. Sie hieß Bella de Fontranges und stammte aus Bar-sur-Seine, wo ihr Vater von Mauern eingeschlossene zwei- bis dreitausend Hektar besaß. Die Seine hatte sie an der Stelle ihres höchsten Gefälls, dort wo das Holz stromabwärts geflößt wird, aufgenommen und in der Umgebung des Palais Bourbon sanft ausgeschifft. Ihre Zwillingsschwester Bellita, im gleichen Jahr an einen Deputierten der Partei Rebendarts verheiratet, war nicht viel zu Haus, seit jenem Abend, da Bella wegen einer Migräne Rebendart bat, ihre Schwester statt ihrer zu dem Diner der Advokaten mitzunehmen. Alle jene Scherze der Zwillingsschwestern, welche ihre Jugend verdoppelt und erheitert hatten, hatte Rebendart aus Bellas Leben entfernt und sie selbst von ihrem Doppelbild, ihrem Spiegel, getrennt; er hatte übrigens dieses Talent allen menschlichen Wesen gegenüber. Ziemlich gleichgültig für die Tätigkeit der Männer, versuchte Bella übrigens nie zu verstehen, was der Beruf eines Advokaten ist, noch womit sich ihr Mann beschäftigte. Wenn ihr Georges Rebendart sagte, daß er ins Palais gehe, glaubte sie lange Zeit, daß er nach Versailles führe, um den Park zu besuchen.

Emanuel Moïse erwischte mich und hielt sich für verpflichtet, mich vorzustellen.

»Philippe Dubardeau«, sagte er zu Bella.

Bella sah mich an. Ich hielt den Blick aus. Sie grüßte, indem sie die Augen senkte. Ich sah von ihr das einzige Fleckchen ihres Körpers, das ermüdet war, das Spuren des Lebens trug: ihre Lider. Sie erriet meine Gedanken, öffnete groß ihre Augen, zeigte mir zur Vergeltung zwei Augäpfel, deren Glanz den Tag selbst in Schatten stellte, und ging, indem sie mich mit Moïse zurückließ. Sie war bleich, ich war es auch. Moïse sah uns mit Erstaunen an und fragte sich wohl, welcher Art von Schauspiel, welchem Blitzschlag er da beiwohnte.

Ich sah Moïse, den Direktor der mächtigsten Wechselbank von Europa, oft, aber ich sah ihn meistens ganz nackt. Jeden Morgen gegen zehn Uhr konnte ich fast sicher sein, ihn mit geschlossenen Fußspitzen, die Arme träge ausgestreckt, am Schwimmbassin des Sporting zu treffen. Er verharrte manchmal eine ganze Minute lang in dieser Haltung, gleichsam an ein unsichtbares Kreuz geheftet, für mich der Maßstab seiner Rasse, bevor er untertauchte; was er im Grunde verabscheute. Der Bademeister versuchte seine Arme zu heben und zu strecken. Doch er widerstrebte solchen jansenistischen Zumutungen. Es war ein fetter Gekreuzigter, genährt von allem, was unsere Küche an Kohle und Stickstoff am reichlichsten enthält. Ein Gekreuzigter, der an seinem Kreuz eine Riesenzigarre rauchte, sich plötzlich darauf besann und sie vom Bademeister sich aus dem Mund nehmen ließ. Endlich ließ er sich mit einem Schwung, den er für kraftvoll hielt, der aber nichts als Verzweiflung war, statt zu springen fallen, streifte die Wand, fand sich just zwischen dem Wasser und dem Zement des Bassins und überließ sich schließlich, ohne weiterzukämpfen, nicht diesem Sport, sondern diesem Unglücksfall. Von dem arrogantesten Bankier der ganzen Erde tauchte über einem unwirklichen Körper, der zwischen den Sonnenreflexen und den Kanten verschwamm, ein erstaunlich scharf geschnittener, doch vor Entsetzen verkrampfter Kopf auf, ein Kopf, den er innerhalb seiner glücklichen Laufbahn noch nicht Gelegenheit hatte dem Pogrom, dem Gefängnis und dem Bankerott hinzuhalten. Aus Respekt für die von Gott geregelte Wechselordnung, kraft derer die Krokodile zu dieser ersten besonnten Stunde die Flüsse verließen, um ans Land zu gehen, blieb Moïse eine Viertelstunde im Bassin, paffte, Rauchwolken ausstoßend, in Abständen seine Zigarre, welche der Bademeister knieend sich abmühte ihm zu geben und wieder abzunehmen und welche die berühmtesten Vertreter des Adels und der Banken von Frankreich auszulöschen versuchten, indem sie plötzlich in seiner Höhe vom Sprungbrett ins Wasser sich stürzten. Er aber an seinem Pranger nahm die Scherze und Zumutungen der Montmorency, Mirabaud und Murat sanftmütig hin. Ebenso wie er, sobald er seinen Fuß wieder auf den Kachelboden setzte, brutal und sarkastisch wurde, bemühte er sich jetzt, ihnen liebenswürdig und höflich zu antworten. Alles Freundliche, das er im Laufe seines Lebens zu äußern hatte, fühlte er sich im Schwimmbassin auszudrücken genötigt, in diesem zwischen sezessionistischen Fliesen aufbewahrten Stück der Sintflut, in das ihn sein Aberglaube täglich untertauchen ließ. Schwerlich hat der richtige kleine Moses beim Verlassen des Nils sich aus den Armen der Begleiterinnen der Pharaonentochter mit mehr Sanftheit gelöst, als Emanuel Moïse in dem Wasser, das für ihn aus der Arve bis zur Concorde geleitet wurde, aus den plötzlichen Umschlingungen eines Maginot oder Treviso. Mein Vater war das einzige Wesen, dessen Namen er in beiden Elementen mit der gleichen Scheu und der gleichen Sympathie aussprach ... Ich muß hinzufügen, daß die Feuerprobe allerdings niemals versucht worden ist.

Es war auch gerade mein Vater, über den er mit mir sprach. »Lieber Philippe,« sagte er, indem er mir die Hand gab, diese Hand, die immer etwas feucht war, nur dann nicht, wenn er aus dem Wasser kam, »Sie werden Enaldo nicht mehr mich jeden Vormittag aus dem Bassin jagen sehen. Er ist tot. Er wird zur Stunde in ein viel festeres Element hinabgelassen. Jetzt sind meine zwei letzten Todfeinde gestorben, Porto-Pereire im letzten Jahr, Enaldo gestern, beide von unserer portugiesischen Gemeinde, Abkömmlinge derer, die, wie Sie wissen, für den Tod Christi nicht gestimmt haben. Für meinen haben sie gestimmt. Sie sehen mich ganz heiter. Ich kann es nicht mißbilligen, daß Sie abgelehnt haben, Rebendart die Hand zu drücken. Um so weniger, als er, wie ich weiß, entschlossen ist, die Angriffe auf Ihren Vater fortzusetzen ...«

Wir befanden uns auf dem Pyramidenplatz. Aus einem Auto, das sie plötzlich halten ließ, winkte eine junge Frau einem andern Auto, stieg hastig aus dem ersten, zahlte, ohne sich herausgeben zu lassen, sprang ins zweite und verschwand. Wir waren Zeugen eines Umstiegs auf der Bahn einer bewegten Seele, einer verfolgten Kleptomanin, einer überwachten Ehebrecherin. Es war der letzte Versuch der Hirschkuh, ihre Spur zu verwischen, bevor sie erreicht wird und reichliche Tränen vergießt. Moïse, der die Frauen liebte, war plötzlich von einer Zärtlichkeit ergriffen, die meinem Vater zugute kam.

»Ich liebe Ihren Vater«, sagte er. »Auf dem Marmor Ihres Urgroßvaters im Pantheon las ich den Vers von Dante: ›Licht der Weisheit voller Liebe!‹ Jedes Mitglied Ihrer Familie regt mich zu einer anderen Variante dieses Verses an. Ihr Vater: Licht der Politik voller Wohlwollen! Ihr Onkel, der Botaniker: Licht der Physiologie voller Zärtlichkeit, bis zu Ihrem Vetter, dem Geologen: Licht der Mineralogie voller Menschlichkeit! Ich liebe die Leuchte der Menschlichkeit, die jedes Mitglied Ihrer Familie voranträgt, die das Tageslicht vergoldet und verklärt, diese Grubenleuchte, mit welcher sie hinabsteigen zur Wahrheit und ihrem Glanz. Sobald einer der Ihrigen an die Macht kommt, ist es ein Zeichen von Reichtum, ein Zeichen, daß Frankreich in der Fülle seines Öls, der Liebe und der Vernunft steht. Sagen Sie Ihrem Vater, daß er auf mich gegen Rebendart rechnen darf. Denn Rebendart wird sich in seinen Gedanken zu kämpfen versteifen. Ihm schmeichelt weniger die Macht als die Befehlsgewalt und sein Ruf in der Öffentlichkeit. Er ist einer von jenen Generalen, die ihren Sieg nicht am Abend vor der Schlacht in den Sternen lesen, sondern tags drauf in den Zeitungen. Er will ein Urteil, einen Richterspruch an Ihren Namen geheftet wissen, damit alle sehen, daß in dem Großhandelshause der Wissenschaft, der Vernunft und der Menschlichkeit ein Konkurs möglich war. Ihr Großvater, Ihr Urgroßvater sind im Pantheon? Nun, Rebendart ist imstande, sich sogar für die großen Männer zu rächen. Ich hatte letzte Woche den Gedanken, eine Parallele zwischen Ihrem Vater und Rebendart zu schreiben. Die Parallele ist eine Stilübung, der ich mich seit meiner Kindheit, in allen Ländern, wo ich war, gewidmet habe und die mir ganz besonders meine Gedanken geschärft und die Arbeit erleichtert hat. Sie würden es nicht glauben, wie wenig die Einzeldarstellung für den Handel, die Finanzen und selbst für die Verfeinerung der Bildung nützen kann, wie sehr dagegen die Parallele dadurch, daß sie die Seele und das Urteilsvermögen nach beiden Seiten hin in Bewegung setzt, diese Werkzeuge schärft. Versuchen Sie es. Schreiben Sie eine Parallele, Sie sind gerade im richtigen Alter dazu, zwischen einer dunklen und einer blonden Frau, und sagen Sie mir dann, ob Sie dabei nicht zu einer Entscheidung kommen, wie Sie Ihren Tag nützen sollen, ja wer weiß, ob nicht Ihr Leben. Was mich betrifft, sobald ich auf dem Schiff, mit welchem ich nach Casablanca fuhr, eine Parallele zwischen Abd el Aziz und Mulai Hafid geschrieben hatte, war mein Plan gefaßt, und ich erhielt die Konzession für die Phosphate. Am Abend des Tages, an dem ich in Palästina die Parallele zwischen dem französischen Regierungskommissar und Lord Allenby gezogen hatte, verkaufte ich zu meinem Glück die Bank in Jaffa. In Marseille hat mich die geschäftliche Erleuchtung von dem Tage an nicht verlassen, an dem ich auf zwei Seiten die Familien Vlasto und Charles-Roux miteinander verglichen hatte. Seit dem Tage, als Kabbin, mein Rabbiner, mir die Parallele zwischen dem Gott der Juden und dem Gott der Christen diktiert hat, ließ ich für jeden Triumph meiner Firma einen schwarzen und einen silbernen Engel kämpfen.«

Ich bat ihn, mir seinen Vergleich meines Vaters mit Rebendart vorzulesen.

»Nein,« sagte er, »Sie werden sich lustig machen. Ich habe unglücklicherweise, wenn ich schreibe, vom Orient her einen blumigen Stil bewahrt. Ich mußte es aufgeben, Rechenschaftsberichte für den Verwaltungsrat zu schreiben, weil unter meiner Feder ein Murmeln von Pappeln und süßem Wasser sich einschlich und den Bericht lächerlich gemacht hätte. Im übrigen ist diese Parallele wahrlich zu leicht. Ihr Vater glaubt die Starken zu lieben und liebt die Schwachen. Er geht ungestüm auf befestigte Stellungen los. Wenn er Cäsar, Napoleon, Jules Ferry liebt, so ist es aus Mitleid für die unvollkommenen Seiten ihres Genies. Er liebt die Vergünstigung, die ein für sein ganzes Leben zur Mittelmäßigkeit verurteiltes Wesen entschädigt. Er behandelt die Menschen, wie die Milliardäre die Frauen zu behandeln lieben, indem sie ihnen die besondere Gunst gewähren, sich über das Leben zu erheben. Dort, wo er befiehlt, erblüht eine fünfte Jahreszeit, welche Pflaumen auf den Apfelbäumen, Himbeeren auf den Eichen wachsen läßt ... Da sehen Sie, wie ich abschweife ... Rebendart dagegen glaubt die Starken zu verachten und verachtet die Schwachen.«

»Wer wird sich durchsetzen?« fragte ich.

»Der Stärkere!« antwortete er. »Doch wer das ist, darüber sind die Meinungen verschieden.«

Wir waren bei seiner Bank angelangt. Sie lag am Vendôme-Platz, im Mittelpunkt der Welt. Jugendlich geschminkte, mit dem Puder des Vormittags gepuderte Frauen kamen in Autos vorbei, die sie nicht wechselten. Das war eine Menge treuer Frauen, Frauen, die nicht stahlen, Gattinnen, die nicht verfolgt wurden. Moïse verschwand im Eingangstor, der einzige Besucher, den der Portier nicht grüßen durfte; er tat, als kenne er ihn nicht. Ich genoß die schönen geöffneten Läden, diesen graublauen Himmel, dies Herz von Paris, das nur nach dem ersten Frost recht genießbar ist. Mir schien, daß der verflossene Winter die Armee der Ausschweifung endlich aufgelöst habe, in welche die jüngsten Jahrgänge des starken und alle Jahrgänge, selbst die ältesten, des schwachen Geschlechts für fünf Jahre, für die Dauer des Krieges, eingetreten waren. Alle die hübschen Frauen, die jetzt allein spazierten, schienen mir von dieser Verbindlichkeit in Bausch und Bogen befreit. Alles was jung und kühn war, kehrte endlich zu seiner individuellen Liebe und zu seinem individuellen Laster zurück, – und nur jene übten sie noch gemeinsam, welche bei dieser Gemeinschaft verdienten. Es war endlich der Wiederbeginn für mancherlei Tugenden und Sünden. Ebenso wie jeder Mann jetzt tapfer war auf eigene Rechnung, auf ganz eigene Rechnung, war jede dieser Pariserinnen seit einigen Tagen schön auf eigene Rechnung und Gefahr. Die alte Ehrbarkeit war in den Familien in der Form der Liebe oder des klassischen Ehebruchs wiederhergestellt. Ich dachte an Bella Rebendart, wie sie zusammengefahren war, als sie erfuhr, wer ich bin. Denn sie war jene Freundin des frühen Morgens, ich hatte ihr bis jetzt meinen wirklichen Namen verschwiegen.


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