Friedrich Gerstäcker
Sträflinge
Friedrich Gerstäcker

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22

Die Dämmerung brach schon an, als Frau Hohburg oder ›die arme Witwe‹, wie sie die Nachbarn gewöhnlich nannten, den Heimweg nach ihrer ärmlichen Wohnung einschlug. Sie hatte ihr kleines Mädchen an der Hand und ging still die breite staubige Straße entlang.

»Warum bist du nur so traurig heut abend?« sagte die Kleine, als sie sich dem Hause näherten.

»Bin ich traurig, mein Lieschen?« entgegnete Frau Hohburg, den Kopf der Kleinen streichelnd.

»Du denkst wohl wieder an den Vater, Mama?«

Die Frau antwortete nicht, faßte ihres Kindes Hand und schritt rascher als bisher der kleinen Wohnung zu, deren Tür sie aufschloß. In dem kahlen und traurigen Raum angekommen, zündete sie ein Talglicht an und nahm dann aus ihrer Tasche eine von Lischkes mitgebrachte Flasche Milch, um für sich und die Tochter das Abendbrot zu bereiten.

Nach dem Abendessen räumte Frau Hohburg den Tisch ab, wusch die Blechbecher draußen am Bache, und rückte sich den einzigen im Zimmer befindlichen Stuhl zum Tische, um ihre Näharbeit wieder vorzunehmen.

»Bist du müde, Lieschen, und willst du schlafen gehen?« fragte sie das Kind, das am Tische stand und ihr aufmerksam zuschaute.

»Nein, liebe Mama«, sagte die Kleine, »ich will mich noch ein wenig zu dir setzen, und du erzählst mir dann wieder etwas von Deutschland und von Großmama, und von den großen schönen Schulen, die dort sind, und den vielen kleinen Mädchen, die da hineingehen und so viele und hübsche Dinge lernen dürfen. Nicht wahr, Mama?«

Die Frau seufzte, ließ ihre Arbeit in den Schoß sinken, winkte ihr Kind zu sich heran und küßte, es an sich pressend, dessen Scheitel.

»Aber du mußt nicht weinen, Mama«, sagte die Kleine bittend. »Der Vater wird schon wiederkommen. Er schlägt dich gewiß nicht mehr. Du bist ja so brav und arbeitest so viel – in einem fort, Tag und Nacht fast.«

»Sei ruhig, mein Kind – sei ruhig«, bat die Mutter, die Kleine fester an sich pressend; »hol' dir ein Holzbänkchen und setze dich hier neben mich.«

»Und wann wird der Vater wiederkommen, Mama?«

»Ich weiß es nicht, mein Lieschen, – wenn er noch lebt, wohl recht bald.«

»Gewiß wird er noch leben!« rief die Kleine, rasch zur Mutter aufschauend.

»Ja, er wird wiederkommen, mein Lieschen«, rief die Mutter, jetzt nicht mehr imstande, die Tränen zurückzuhalten, »er ist ja nur fortgegangen, um Geld für uns zu holen, daß wir wieder zur Großmama kommen können.«

»Ach, wie freu' ich mich darauf, Mama – wenn nur der Vater recht bald das Geld brächte!«

»Geh hinaus, mein Herz«, sagte jetzt die Mutter, die einen Augenblick allein zu sein wünschte, um sich zu sammeln, »und hole mir einen Trunk frischen Wassers – aber nimm dich in acht, daß du nicht fällst.«

»Der Mond scheint ja, Mama«, sagte Lieschen, die einen Blechbecher nahm und hinauslief.

Frau Hohburg schaute, während die Arbeit im Schoße ruhte, still und traurig vor sich nieder. Aber Lieschen hätte schon zurück sein können – war es ihr doch fast, als ob sie draußen die Stimmen von Sprechenden hörte. Sie horchte nach dem verhangenen Fenster hinüber – draußen sprach eine Mannsstimme, und das Kind antwortete. Als sie rasch nach der Tür wollte, kam ihr Lieschen schon entgegen.

»Mit wem sprachst du, Lieschen – wer war draußen?«

»Ein armer Mann, Mama, der hungrig ist und mich um ein Stück Brot gebeten hat.«

»Ein armer Mann?« fragte Frau Hohburg erstaunt, denn Bettler gab es in der Kolonie gar nicht – »und hast du ihm nicht gesagt, daß er nach dem Gasthause gehen solle?«

»Ja, Mama, aber er meinte, er habe kein Geld – und er fragte mich auch, ob er die Nacht hier schlafen könne.«

Die Frau schüttelte den Kopf, nahm aber das Brot wieder aus dem Kasten und schnitt ein Stück davon ab.

»Bleib hier, Lieschen, bis ich zurückkomme«, sagte sie, indem sie damit der Tür zuschritt – »setze den Becher nur dort auf den Tisch, ich bin gleich wieder bei dir.«

Sie öffnete die Tür und trat vor die Hütte. Wenige Schritte davon, auf einem umgeschlagenen Gumbaume, saß die zusammengebeugte Gestalt eines Mannes.

»Hier, Freund, ist Brot für Euch«, sagte die Frau in englischer Sprache zu ihm, »seid Ihr krank?«

»Ich glaube – ja«, antwortete der Mann, der sich, als er die Stimme hörte, aufrichtete und dankend das Brot nahm – »wie Blei liegt es mir in den Gliedern und ich kann kaum noch fort. Hättet Ihr nicht eine Stelle hier für mich, wo ich schlafen könnte?«

»Wie heißt Ihr?« fragte sie mit leiser, zitternder Stimme, ohne seine Frage zu beantworten.

»Miller«, sagte der Mann – »ich komme weit aus dem Busche.«

Die Frau stieß einen tiefen Seufzer aus und sagte dann: »Es tut mir leid, ich kann Euch nicht hier behalten. Ich wohne hier allein mit meinem Kinde, und habe kaum Bettzeug für mich selber. Das Gasthaus ist aber wenig mehr als eine Meile entfernt.«

»Ich dank' Euch«, sagte der Mann, indem er langsam von dem Holze aufstand, den Hut abnahm und sich die wirren Haare mit der Hand aus dem Gesicht strich – »aber so weit zu gehen bin ich heut abend nicht mehr imstande – da werd' ich mich unter einen Baum legen.«

Er setzte den Hut wieder auf und wandte sich ab.

»Ihr seid kein Engländer«, sagte die Frau, und ihre Stimme klang hohl und heiser. Es war, als ob sie die Worte nur mühsam über die Lippen brachte.

»Nein«, sagte der Mann, »aus einem andern Lande.«

»Ihr seid Deutscher – Euer Name« – fuhr sie heftiger fort – »ist auch nicht Miller.«

Erstaunt drehte sich der Fremde nach ihr um, als sie auf ihn zutrat, ihn am Handgelenk ergriff und nach der Tür der Hütte zog.

»Nicht Miller?« rief der Angeredete erstaunt, fast erschreckt – »und Ihr?« Aber die Frau antwortete ihm nicht – mit zitternder Hand zog sie ihn hinein, an das Licht, das auf dem Tische brannte. Hier drehte sie sich rasch nach ihm um und schaute ihm forschend ins Gesicht. Plötzlich ließ sie seinen Arm los, barg ihr Gesicht in den Händen und sank laut schluchzend an dem Stuhle in die Knie.

»Luise!« rief da der Fremde und mußte sich selber an dem Tische aufrecht halten.

Die Frau antwortete nicht; ihr Körper zitterte wie im Fieberfroste; vor Schluchzen konnte sie kein Wort über die Lippen bringen.

»Ist das der Vater, Mama, der uns das Geld bringen wollte, um zur Großmama zurückzugehen?« rief die Kleine, die sich schüchtern in die Ecke und an das Bett gedrängt hatte.

Niemand antwortete ihr. Vernichtet, zusammengebrochen, stand Miller – oder Hohburg, wie wir ihn jetzt nennen müssen – noch zwischen der Tür und dem Tische, und blickte mit glanzlosen Augen auf das Bild des Jammers und Leides nieder, das vor ihm am Boden kniete. Tränen hatte er nicht, aber sein Gesicht war bleich, seine Lippen zitterten – seine ganze Gestalt bebte vor innerer Aufregung, vor Scham, Reue und Zerknirschung, er wagte nicht einmal, die Arme nach dem Kinde auszustrecken.

Viele Minuten dauerte diese Stille, die nur durch das leise, krampfhafte Schluchzen der Frau und das schwere Atmen des Mannes unterbrochen wurde. Diesen aber verließen endlich die Kräfte. Erschöpfung, Hunger und Aufregung vereinigten sich in ihren Folgen; die Glieder versagten ihm den Dienst, der Kopf schwindelte ihm, und nach der Wand taumelnd sank er am Fenster nieder.

Da endlich ermannte sich die Frau zuerst. Sie stand auf, aber sie sprach kein Wort. Auch in dem Ausdruck ihrer Züge war nicht zu erkennen, was ihre Seele jetzt bewegte – nicht Haß, nicht Schmerz, nicht Mitleid, nicht Liebe lag in den tränenfeuchten Augen, auf der weißen Stirn. Dann wandte sie sich nach dem Kinde, schritt auf die noch ängstlich in der Ecke stehende Kleine zu, nahm sie in ihre Arme, küßte sie und sagte:

»Komm, mein Kind – es ist spät geworden, und du magst zu Bett gehen.«

»Ist das der Vater, Mama?« flüsterte die Kleine ihr leise und schüchtern in das Ohr. Die Mutter wandte den Kopf zur Seite. Sie wollte antworten, aber sie konnte es nicht; es schnürte ihr die Kehle zusammen, und keinen Laut brachte sie über die Lippen.

»Und darf ich nicht zu ihm gehen und ihn küssen, Mama?« bat das Kind, indem es sein Köpfchen an der Mutter Wange legte. – »Er ist so traurig und so krank – der arme Papa!«

»Geh zu ihm, mein Lieschen, – geh zu ihm«, sagte die Mutter, die Kleine auf die Erde niedersetzend.

Leise und schüchtern schritt dieses über den Boden hin dem Vater zu, legte sein Händchen auf dessen Schulter und flüsterte scheu und bittend:

»Papa!«

Der Mann fuhr empor, als ob das leise Wort ein Dolchstich gewesen wäre.

»Mein Kind«, sagte er, »mein liebes, liebes Kind!«

»Die Mutter hat gesagt, ich soll zu Bette gehen«, flüsterte jetzt die Kleine – »gute Nacht, Papa.«

»Gute Nacht, mein Lieschen – gute Nacht, mein Kind.«

Als Frau Hohburg das Kind zu Bett gebracht hatte, deckte sie aufs neue den Tisch. Brot trug sie herbei, füllte den Blechbecher mit Milch, und nahm aus dem Koffer einen zinnernen Teller mit kaltem Fleisch – ihr Mittagsmahl für den morgigen Sonntag.

»Komm und iß, Eduard«, sagte sie jetzt mit leiser, heiserer Stimme, indem sie nach dem Tische deutete. Sie selber setzte sich zugleich auf den Rand des Bettes, in dem die Kleine mit ihr schlief. Der Mann schritt langsam zum Tische, rückte sich den Stuhl zurecht und verzehrte mit Heißhunger alles bis auf die letzte kleinste Krume Brot. Kein Wort wurde dabei gesprochen.

Endlich hatte Hohburg sein Mahl beendet. Die Frau stand auf und räumte den Tisch ab. Dann trat sie vor ihn hin und sagte leise:

»Und so bist du zurückgekehrt? – So hat Gott mein Gebet erhört, daß er dich – als Bettler mir vor die Hütte sandte?«

Der Mann erwiderte keine Silbe. Vor sich nieder starrte er eine Weile, dann fiel sein Arm auf den Tisch, und er lehnte den Kopf darauf in Scham und Reue.

»Und was soll nun werden, Eduard? Dein Körper ist erschöpft und aufgerieben, dein Geist gebrochen, oder du hättest nie so die Ansiedlungen wieder betreten können. Was soll mit dir jetzt werden? Mich und das Kind erhalte ich schon mit meiner Hände Arbeit. Wie willst du selbst dir helfen?«

Hohburg antwortete nicht – er schien nicht mehr zu atmen, und als die Frau seine Hand faßte, glitt er langsam von dem Stuhle nieder, auf dem er saß, und wäre zu Boden gestürzt, wenn sie ihn nicht in ihren Armen gehalten hätte.

Vorsichtig ließ sie ihn auf die Erde nieder, hob dann ihr schlafendes Kind vom Bett und zog die Matratze weg, hinter der sie die ruhig fortschlummernde Kleine auf das blanke Stroh zurücksinken ließ. Die Matratze trug sie dann an die Wand und wollte ihn hinaufheben – aber ihre Kräfte reichten nicht aus. Nur unter den Kopf schob sie ihm die weichere Unterlage und kühlte ihm Stirn und Schläfe mit frischem Wasser, bis er wieder zu sich kam. Hohburg öffnete die Augen; als er aber die über ihn gebeugte Gestalt der Frau erkannte, schloß er sie wieder und stöhnte nur leise:

»Arme – arme Luise!«


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