Friedrich Gerstäcker
Irrfahrten
Friedrich Gerstäcker

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1. Der Entschluß.

Im Zimmer des Regierungsrats Wessel saß dessen Sohn, der etwa achtundzwanzigjährige Fritz Wessel, ruhig am Frühstückstisch, trank seinen Kaffee, rauchte seine Zigarre und las dabei die neben der Tasse liegende Zeitung.

Der Vater schritt indessen in tiefem Nachdenken in demselben Zimmer auf und ab. Er hatte, während er mit der Linken die lange Pfeife hielt, die rechte Hand auf den Rücken gelegt, und stieß, fast unbewußt, dichte blaue Dampfwolken wirbelnd aus. Auch sein Blick streifte zuweilen wie in schwerer Sorge den Sohn, obgleich dieser, in größter Gemütsruhe, nichts davon zu ahnen schien, daß das ernste, vielleicht sogar schmerzliche Grübeln des Vaters ihm oder seiner Zukunft gelten könne. Weshalb auch? Die Zigarre schmeckte ihm ausgezeichnet, der Kaffee ebenfalls – in der Zeitung stand nicht das Geringste, was ihn hätte aufregen oder betrüben können – er bekümmerte sich nicht einmal um Politik – was sonst also sollte eine Falte auf seine Stirn rufen?

Fritz Wessel war einer der beliebtesten Porträtmaler in der ganzen Stadt, und seine Arbeit, besonders in Kinderbildern, so gesucht, daß er jeden geforderten Preis bekam und dann noch nicht einmal alle ihm übertragene Arbeit bewältigen konnte. Außerdem galt sein Vater, – die Mutter hatte er schon vor langen Jahren verloren – wenn nicht gerade für reich, doch für sehr wohlhabend, und er als einziger Sohn besaß in dem eigenen Hause ein prächtiges und bequem eingerichtetes Atelier, in dem er ungestört schaffen konnte. Fritz Wessel ließ denn auch die Zeit ruhig an sich kommen, und da er sich selber niemals Sorge machte, dachte er natürlich nicht daran, daß ein anderer das für ihn tun könne.

Der Regierungsrat mußte aber in der Tat Ähnliches auf dem Herzen haben. Er blieb ein paarmal stehen, nahm die Pfeife aus dem Mund und sah seinen Sohn gerade so an, als ob er etwas mit ihm zu besprechen wünsche; und doch setzte er seinen Spaziergang immer wieder fort, bis er endlich zu einem Entschluß gekommen schien, vor dem noch immer ruhig fortlesenden Sohn stehen blieb und mit ernster Stimme sagte:

»Hör' einmal, Fritz, das geht nicht länger! In der Sache muß eine Änderung eintreten.«

»In der Sache? in welcher Sache, Papa?« sagte Fritz und sah erstaunt von seiner Zeitung zu ihm auf, ohne jedoch seine Stellung im mindesten zu verändern.

»In welcher Sache? – und das fragst du auch noch?« sagte der Vater, »du kannst dir doch sicher denken, von was ich rede.«

»Aber ich habe keine Ahnung, Papa,« sagte Fritz wirklich mit der unschuldigsten Miene von der Welt.

Der Vater sah ihn scharf und forschend an, endlich schüttelte er mit dem Kopf und fuhr fort:

»Ich hätte nie im Leben geglaubt, daß gerade du dich so verstellen könntest. – Du weißt doch, was diese Nacht vorgefallen ist?«

»Diese Nacht? – keine Ahnung davon, Papa. Woher soll ich das wissen?«

»Woher du das wissen sollst? Höre, Fritz, jetzt wird's mir zu bunt und leugnen hilft dir auch nichts mehr, denn es sind zu viele Zeugen gegen dich. Ich habe auch bis jetzt geschwiegen. Wie du neulich abends aus der Harmonie nach Hause kamst und den Nachtwächter geprügelt hattest, sagt' ich kein Wort; die Beweise waren nicht klar genug, um dich zu überführen, und du kannst dir wohl denken, daß mir, als ältestem Stadtrat, nichts daran lag, meinen eigenen Sohn wegen solcher – Kinderstreiche öffentlich bloßgestellt zu sehen.«

»Aber, Papa,« lachte Fritz, »Nachtwächter lassen sich doch eigentlich gewöhnlich nicht von Kindern prügeln, oder es müßten schon vollständig ausgewachsene sein.«

»Das ist recht; treibe auch noch deinen Spott mit mir!« rief der Vater ärgerlich; »aber ich sage es dir, ich habe es jetzt satt und der Sache muß ein Ende gemacht werden.«

»Aber lieber, bester Vater!« rief Fritz, jetzt die Zeitung beiseite schiebend, – »ich gebe dir mein Wort, daß ich keine Silbe von dem begreife, was du sagst, denn du kannst doch nicht etwa im Ernst glauben, daß ich mich damit beschäftige, abends Nachtwächter zu prügeln? Das ist jedenfalls ein Mißverständnis.«

»Gut – ich will von jenem Fall absehen,« sagte der Vater, »ich habe schon vorher erwähnt, daß die Beweise gegen dich unzureichend waren, und die Möglichkeit liegt vor, daß man dir unrecht getan; aber beantworte mir die eine Frage: Wer hat gestern abend zwischen elf und zwölf Uhr die erleuchtete Glastafel an der Rathausuhr mit einer bleiernen Kugel eingeworfen?«

»Aber, bester Papa,« lachte Fritz wieder, »woher soll ich das wissen? Ich habe um ein viertel auf elf schon in meinem Bett gelegen und in der Zeit wahrscheinlich sanft und süß geschlafen.«

»Und du leugnest das auch?«

»Aber ich gebe dir mein Wort, daß ich dir die Wahrheit sage – ganz abgesehen davon, wie ich es für nichts weniger als gentil halten würde, einen solchen Jungenstreich auszuführen.«

Der Vater sah ihn eine Weile ernst und forschend an, aber Fritz schaute wirklich so unglaublich unschuldig drein, daß er selber zweifelhaft wurde. Er schüttelte mit dem Kopf.

»Aber zwei von den Nachtwächtern haben dich doch erfaßt und erkannt und es vielleicht deshalb gerade nicht ungern gesehen, daß du dich von ihnen losrissest und die Straße herab gerade auf unser Haus zuliefst, wohin sie dir nicht weiter folgten.«

»Ich kann dir dann nur sagen, Papa,« erwiderte Fritz, »daß ich wünsche, die Herren Nachtwächter hätten ihrem Dienst besser vorgestanden und jenen leichtfertigen Herrn festgehalten, dann könnten wir uns heute vielleicht überzeugen, daß wir es mit einem ganz andern Individuum zu tun haben, als mit meiner Wenigkeit. Ich versichere dir, ich weiß von der ganzen Geschichte nichts.«

»Fritz!«

»Aber, Papa, ich kann nicht mehr tun, als dir mein Wort geben. Doch ich sehe schon, es ist die alte Geschichte – ich muß ein so verwünscht gewöhnliches Gesicht haben, daß ich einer Unzahl von Menschen ähnlich sehe; und alle Augenblicke werde ich auch mit anderen Namen und zwar von wildfremden Leuten angeredet, die sich anfangs ganz ungemein zu freuen scheinen, mir begegnet zu sein, und nachher ein sehr verblüfftes und oft auch ein sehr dummes Gesicht machen, wenn sie einsehen, daß sie sich geirrt. Glaubst du, daß ich je, wenn ich in einer fremden Stadt in ein Theater komme, eine Kontermarke bekommen kann? Gott bewahre! der verwünschte Logenschließer sagt jedesmal: ›Ach, ich kenne Sie schon, Herr Müller, oder Herr Meier,‹ oder nennt sonst einen alltäglichen Namen – ›Sie brauchen keine.‹ Außerdem grüßt mich auf der Straße alle Welt, und wie ich neulich in Berlin war, begegnet mir ein total fremder Mensch, kommt auf mich zu und sagt: ›Ach, Herr Berghuber, ist mir doch sehr angenehm, Sie so zufällig zu treffen – konnte die ganze letzte Woche nicht das Vergnügen haben – wenn Sie vielleicht imstande wären, Ihre kleine Rechnung gefälligst zu berichtigen.‹ – – Es ist rein zum Tollwerden; und ich habe schon daran gedacht, mir einen recht auffallenden Bart stehen zu lassen, um meinem Gesicht wenigstens etwas Bestimmtes zu geben, denn es wird auf die Länge der Zeit wahrhaftig langweilig.«

Der Vater war indessen wieder in seinem Zimmer auf und ab gegangen. Er glaubte natürlich nicht, daß ihm sein Sohn auf eine Lüge hin sein Ehrenwort geben würde; und doch war auch das Zeugnis der beiden Nachtwächter so bestimmt und ohne den geringsten Zweifel abgegeben worden, daß er in der Tat nicht wußte, was er glauben solle. Über das Endziel der ganzen Unterredung schien er aber schon mit sich im reinen und sagte deshalb plötzlich, indem er wieder neben dem Sohn stehen blieb:

»Und das geht doch nicht länger, Fritz. Ich habe es mir hin und her überlegt, aber ich sehe keinen anderen Ausweg: du mußt heiraten

»Hm,« lächelte Fritz, über die plötzliche Wendung allerdings erstaunt; »das ist wirklich eine sonderbare Schlußfolgerung, Papa. Also, weil ich in dem Verdacht stehe, einen Nachtwächter geprügelt und eine Uhrscheibe eingeschlagen zu haben, soll ich Knall und Fall heiraten? Aber wen? wenn ich fragen darf; denn aufrichtig gestanden, habe ich selber noch mit keiner Silbe daran gedacht.«

»Das ist schlimm genug,« sagte der Vater, »denn ein junger Mann in deinem Alter hätte doch wirklich Zeit gehabt, sich diesen wichtigsten aller Schritte im voraus etwas zu überlegen – und du weißt niemanden?«

»Keine Seele, Papa,« erwiderte Fritz, ihn offen und ehrlich ansehend, – »kein einziges Mädchen wenigstens, zu dem ich mich so hingezogen fühlte, daß ich mein ganzes künftiges Leben mit ihr verbringen möchte. Aber, lieber Gott, so eilig ist die Sache doch auch nicht und vielleicht findet sich ja etwas mit der Zeit. Aufrichtig gestanden, gefällt es mir freilich hier im alten Hause gut genug und ich würde es noch eine ganze Weile so mit ansehen.«

»Es geht nicht,« sagte aber der Vater ganz entschieden, »es muß da eine Änderung eintreten, denn das ganze Wesen hier fängt mir selber an ungemütlich zu werden. Du verdienst genug, um eine Frau zu ernähren und – wirst auch dann ein anderer Mensch.«

»Ein anderer Mensch, Papa?«

»Ja, du wirst mehr aus dir herausgehen, mehr Energie entwickeln« –

»Aber, Papa, wenn du mir zutraust, daß ich Nachtwächter prügle –«

»Das habe ich eben nicht begriffen,« sagte der Regierungsrat, »denn dein ganzes Leben neigt vielmehr zum Phlegma, zur Indolenz. Du läßt die Welt an dich kommen, und wenn dir Gott nicht das Talent gegeben hätte, von dir selber würdest du dir nie eine eigene Bahn gebrochen haben.«

»Aber ich bin doch fleißig –«

»Du bist fleißig, weil dir die Arbeit eine Erholung scheint und du selber Freude daran findest. Du weißt aber noch gar nicht, wie es ist, wenn man sich selber etwas erringen, ja mit allen Kräften und mit hartnäckiger Ausdauer erzwingen muß.«

»Und dazu soll mir eine Frau helfen?«

»Das will ich gerade nicht sagen,« erwiderte der Regierungsrat, »aber du wirst doch mehr den Ernst und die Sorgen des Lebens kennen lernen und anfangen, auch an andere, nicht nur immer allein an dich zu denken.«

»Aber, bester Papa, wenn das der ganze Nutzen des Ehestandes ist –«

»Es braucht auch nicht gleich zu sein,« fiel hier der Vater ein, »eine solche Sache darf nicht übereilt werden – du mußt dir selber ein Wesen suchen, zu dem dich dein Herz zieht, und zu dem Zweck wünschte ich, daß du erst eine Zeitlang auf Reisen gingst.«

»Um mich hier los zu werden?«

»Nicht, um dich los zu werden, sondern nur, um dir andere Lebensanschauungen beizubringen. Außerdem gestehe ich dir ganz offen, wäre es mir selber lieb, dich eine Zeitlang abwesend zu wissen; denn hast du diese Jugendstreiche wirklich nicht verübt –«

»Aber, Papa, ich habe dir mein Wort gegeben –«

»Ich sage ja nichts dagegen; ist also jemand hier in der Stadt, der dir ähnlich sieht und auf deinen Namen gesündigt hat, so wird es wieder vorfallen; und ich selber bin dann von dem Verdacht befreit, einen Störenfried der öffentlichen Ruhe erzogen zu haben. Schon meinetwegen bitte ich dich also, daß du auf einige Zeit verreisest – durch deine Arbeiten bist du doch gegenwärtig nicht mehr lange gebunden?«

»Doch noch einige Wochen – du weißt, daß ich erst neulich die Kindergruppe begonnen habe und jedenfalls beenden muß, ehe ich fort kann.«

»Und wie lange kann das dauern?«

»Wenn ich fleißig bin, vielleicht drei Wochen. Nebenbei habe ich außerdem noch manches zu tun, – aber dann meinetwegen.«

»Schön – wenn du mit deiner Kasse nicht in Ordnung bist, helfe ich dir aus.«

»Sehr liebenswürdig, Papa – werde sicherlich nicht ermangeln, von deiner Güte Gebrauch zu machen.«

»Und hast du schon eine Idee, wohin du dich wenden willst?«

»Bleibt sich das nicht gleich?«

»Man macht sich doch besser einen Plan –«

»Ich weiß es nicht – gerade ein solch behagliches, zielloses Umherstreifen denke ich mir am interessantesten, und es hat jedenfalls einen besonderen Reiz, wenn man am Morgen noch nicht weiß, in welcher Stadt Deutschlands man sein Abendbrot verzehren wird.«

»Darin spricht sich wieder dein indolenter Charakter aus, Fritz,« sagte der Vater, »und ich wünschte wirklich von ganzem Herzen, daß du endlich einmal anfingst, dir selbst bei weniger wichtigen Schritten deines Lebens einen festen und bestimmten Plan zu machen. Dein Charakter wird dadurch ebenfalls fester und bestimmter werden, und das ist nötig, denn du bist eigentlich schon in das Mannesalter eingetreten, und von dem Mann kann man das verlangen.«

»Also gut, Papa, dann werde ich an den Rhein gehen, den ich doch erst einmal und zu der Zeit nur ziemlich flüchtig gesehen habe. Ich kann auch dort reizende Studien machen, denn meine Mappe nehme ich jedenfalls mit.«

»Das wäre also abgemacht – verschaffe dir nur in der Zeit eine Paßkarte und sieh deine Wäsche nach. Ich will indessen selber das Nötige besorgen und dir auch noch einige Briefe mitgeben, die dir wenigstens in verschiedenen Häusern eine freundliche Aufnahme sichern. Man findet dadurch in einer fremden Stadt rasch einen Kreis von Bekannten, den man sich sonst erst langsam und mit vielem Zeitverlust erwerben muß.«

»Sehr schön, Papa,« sagte Fritz, indem er langsam an seiner Zigarre zog und nachdenkend in den Rauch sah.

»Vergiß nur die Paßkarte nicht –«

»Eigentlich wäre sie ganz unnötig; es fragt einen ja jetzt niemand mehr um eine Legitimation.«

»Es ist aber immer besser, sie bei sich zu haben, da man nie weiß, wie man sie gebrauchen kann. Selbst wenn du nur einen poste-restante-Brief abholen willst, erspart sie dir eine Menge Umstände – versäume es nicht!« – und damit ging er in sein Zimmer, um seine eigenen Arbeiten aufzunehmen.

 


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