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3. Kapitel. Die Abendunterhaltung und ein Knalleffekt

Herr Leutnant von Hase hatte ein Zimmerchen gefunden, wo er für die Nacht ein Unterkommen fand. Aus den verschiedenen Geschäften des Ortes hatte er endlich soviel neue Sachen zusammengekauft, daß er sich unter anständigen Menschen sehen lassen konnte. Zwar war der Eingriff in seine Reisekasse ein recht erheblicher und überhaupt ein Unsinn. Als Tourist und Sportsman hatte er absolut nicht die Verpflichtung – speziell bei diesem Wetter – anständig auszusehen. – – – Aber die Lotte und ihre Familie? Er hoffte doch noch, wenigstens einen Abend mit ihr verbringen zu dürfen! Jetzt stand er vor dem Spiegel, löste die Bartbinde und betrachtete sich mit anscheinendem Wohlgefallen. Der schöne blonde Schnurrbart war wahrlich kein Spaß, und die braune Sommerfarbe kleidete ihn vortrefflich. Die Lotte war doch recht dumm, daß sie den dunklen, langen Civilisten ihm vorgezogen hatte! Ja, diese Mädchen von heute! Die Uniform lockte garnicht mehr! Und der hübsche Arzt war auch obendrein reich; aber er?! Nicht einmal die Hälfte der Kaution hatte er; ja eine Million, und er würde noch heute – – – – – Na! Er zweifelte plötzlich selbst an seinem eventuellen Siege. Sie liebte ja den Feller! Und er – – – war ihr stets nur so eine Art – – – Spielzeug – – – so ein Hannefatzke gewesen! –

Ach Lotte, Lotte! Sein junges gutes, warmes Herz hatte er ihr geboten, und die Undankbare hatte es verschmäht! Er war nur mit Aufbietung seiner vollen Energie und angeborenen Frohnatur über ihre Verlobung fortgekommen. Und nun lief sie ihm in die Arme. – Er lief ihr vielmehr nach und hatte sie geküßt, mitten auf die roten Lippen! Ach, das schwellte ihm die Brust! Was machte da die Ohrfeige? – – – – – – Sein Herz klopfte. Eigentlich war es ein Verbrechen, daß er ihre Gesellschaft wieder suchte und alte Wunden aufriß! Eine Dummheit, denn fraglos verliebte er sich von neuem in den Racker! Sollte er nicht schnell abreisen? Aber das Rad war zur Reparatur fortgegeben – – – – Und dann – – der Anzug stand ihm famos! Sollte er sich nicht bei ihr einen guten Abgang machen? Ein Leutnant, kurz vor dem »Ober« und ausreißen? Quod non! Drauf und los! – – – – Geküßt hatte er sie ja doch! Ob sie rot wurde, wenn er sie wiedersah? Das mußte er erproben! –

Kurz entschlossen begab er sich an das Abendbrot. Danach ließ er Lottes kleinen Gummischuh, mit Rosen gefüllt, auf ihrem Zimmer abgeben und sandte seine Karte dem Amtsgerichtsrat Neuwald. »Hugo von Hase, Leutnant im etc. Wer ist das? Kenne ›ihm‹ nicht, kenne ›ihr‹ nicht. Im Grunde genommen, was jehen sie mir an?« würde Lotte sagen! »Was soll ich mit diesem Hasenbraten?« – fragte Neuwald seine Damen. »Hase – – – Hase?« – wiederholte seine Frau sinnend. Lotte stand in einem weißen Kleide vor dem Spiegel und befestigte ein paar Rosen an der Taille. »Bitte, empfangt ihn! Ich kenne ihn von Millers her. Er war mein glühender Verehrer einst. Entsinnst Du Dich nicht mehr, Schwesterherz?« – – »Ach ja, nun weiß ich Bescheid. Er kam doch auch zu uns, nicht wahr?« – – »Na ob und öbse, als Tanzbär. Ich glaube zweimal! Übrigens traf ich ihn heute Nachmittag im Walde und erlaubte ihm, uns zu besuchen. Allerdings hatte ich auf diese Promptheit nicht gerechnet. Doch laßt ihn nicht stehen, bitte!« – – »Aha, heute zur Feier reserviert sie sich gleich einen Tänzer, Karnickel!« – schmunzelte Neuwald. – »Du vergißt, daß ich Braut bin und nicht tanze, wenn Willi nicht dabei ist!« – – »Lächerlich, unter unserer Aufsicht!« – – »Erst recht nicht! Er reizt mich auch garnicht! Aber bitte, Häschen wartet.« – –

Der Offizier wurde hereingeführt und freundlichst empfangen. Bei Lotte's allgemeiner, gemütlicher Veranlagung und in Folge seines herzgewinnenden Wesens war er bald in dem Kreise heimisch. Lotte behandelte ihn genau so kameradschaftlich wie sonst. Nicht die leiseste Röte verriet eine mädchenhafte Verlegenheit oder ein wärmeres Gefühl bei ihr, so daß er sich ganz betrübt eingestand: »Ich bin ihr eben total schnuppe«. Nebenbei trug sie das Emaillebildchen ihres Verlobten, von Edelsteinen umgeben, als Brosche. Und dieses Zeichen ihres bräutlichen Glückes verscheuchte bei ihm jeden Nebengedanken. Als Frau Rabe in heller Gesellschaftstoilette erschien, wandte sich der junge Offizier dieser zu und fand eine würdige Partnerin, die sich flott die Kur schneiden ließ. – Um neun Uhr sollte das Fest im Speisesaal stattfinden. Da es eine angenehme Abwechslung in dem öden, regnerischen Einerlei der letzten Tage war, ließ sich ein großer Zuspruch aus dem gesamten Orte erwarten. Schließlich war das Hotel das beste und feinste am Platze, und der Wirt hatte klug durch Plakate, die schleunigst überall angebracht wurden, zu dieser Reunion auffordern lassen. Ja, er stellte sogar die Musik. –

Bei Bürgermeisters im Zimmer war Konferenz der grand monde. Der Fall Lotte Bach, der neuste Skandal, lag zur Besprechung vor. Allgemeine Entrüstung herrschte. Da man das räudige Schaf nicht so schlankweg ausstoßen konnte, wurde beschlossen, ihre Gegenwart einfach zu ignorieren. War sie bisher von allen Mitgliedern dieses Kreises ausgesucht worden, so wollte man sie jetzt strafen. Diese Heuchlerin! Eine Braut, die stundenweit durch den Wald läuft, um sich mit fremden Leuten ein Rendezvous zu geben! Eine Küsserei ganz nah am Orte! Es war ein richtiger Skandal! – Die ›Honorationskreise‹ waren wütend, daß sich eins ihrer Mitglieder so vor den Augen der Andern heruntergesetzt hatte. Und die übrigen Sommergäste freuten sich gerade darüber und beschlossen, es die ›Stolzen‹ fühlen zu lassen. Zwar war die jetzt so übel beleumundete Bach und ihre Familie immer am liebenswürdigsten gewesen. Jedoch nun, wo es galt ›Steine zu werfen‹, war das vergessen! –

In dem Hinterzimmer eines Eßwarengeschäftes war ein gemütliches Weinstübchen etabliert. Dort saßen die jungen Leute, die männlichen Löwen der Saison, bei einander. Sie rauchten, knobelten Bier und Wein aus oder spielten Skat. Wenn sie sehr guter Stimmung waren, auch ›Meine Tante, Deine Tante‹. Nebenbei klatschten sie genau so über die lieben Mitmenschen, wie Damen bei einem Kaffeeklatsch. – Es herrschte bereits wieder dicker Tabaksqualm und größte Behaglichkeit, als der exklusive ›Star‹ des Ortes, der Regierungsassessor von Kamberg, eintrat: »'n Abend, meine Herren! Was sehe ich, Sie sitzen noch in aller Gemütlichkeit hier, dabei ist es in zehn Minuten neun Uhr? Die Musiker zogen gerade nach dem Ortshaus. Ich bitte Sie, die Réunion beginnt! Der Rinder breitgescheitelte, glatte Scharen kommen bereits – – –!« – – »Hört, hört!« – – »Kamberg, ich fordere Sie im Namen der beleidigten Damenwelt!« – – »Er lästert unsere Schönen, 'naus aus dem Lokal!« – – »Ich und lüstern? Im Gegenteil, dies sei ferne von mir! – verteidigte er sich – Sie lästern, indem Sie hier noch sitzen. Auf, Doktor, auf, Kollege!« – – »Gehen Sie mit gutem Beispiel voran!« Er zog einen Stuhl heran, bestellte ein Glas Wein und setzte sich seelensruhig nieder. – »Da müßte ich krank geworden sein! – rief er lässig – Den ganzen Winter strampelt man sich ab, ißt sich durch alle Pflichtdiners und Soupers, besucht alle Bälle, schwenkt alle Töchter hoher Vorgesetzter im Takte. Und nun soll ich auch den Sommer, die schöne Urlaubszeit vergeuden und mich anstrengen? Ich denke nicht daran!« – – »Es lohnt auch nicht der Mühe!« – – »Sehr richtig! – bemerkte ein junger Gutsbesitzer und Reserveoffizier – Ich habe selten so öde Weiber gesehen wie hier! Alle machen den Eindruck junger Antiquitäten!« – – »Ausgezeichnet! Es sind nur zwei oben, die der Mühe lohnen!« – – »Wer ist das, Beichte ablegen!« – – »Hm, – der Gefragte räusperte sich – also einmal die schöne Grete Oppel, die leider versagt sein soll. Und dann die lustige Bach, die bereits verlobt ist!« – – »Die Rabe ist auch ein fesches Weiberl, ein toller Flick!« – – »Aber doch unnahbar!« – – »Also, Sie sehen, Herr von Kamberg, es lohnt nicht der Mühe. Wir bleiben hier, wo wir uns nicht mit Gänschen Hinz und Schäfchen Kunz abstrapazieren müssen!« – – »Bravo, wir schmeißen eine Champagnerbowle!« – – »Herrlich, eine Herrenréunion unter sich!« – – Die Thür öffnete sich wieder. Der Landarzt, Doktor Kolb, trat ein und begrüßte die Anwesenden. »Haben Sie schon das Neuste gehört? Alle stehen Kopf! Allgemeine Empörung, großes Boykott gegen die schöne Sünderin!« – – »Nanu, was ist geschehen?« – Alle blickten ihn neugierig an. Das Vergnügen, im Besitze der allerneusten Neuigkeit zu sein, spiegelte sich auf seinem Gesichte. Er zögerte mit der Antwort und sprach dann mit selbstgefälliger Langsamkeit: »Es handelt sich um Fräulein Bach!« – – »Aha, Achtung!« – – »Zwei Damen haben beobachtet, daß sie stundenlang in dem Walde gewandert ist, sich mit einem Herrn im Radfahranzuge traf und dann hier oben an der Chaussee zärtlich wurde! Der Held des Dramas stieg im gleichen Hôtel ab!« – – »Das ist ihr Bräutigam!« – – »Der Doktor Feller, sicher!« – – »Nein, Entschuldigung, es ist ein Leutnant von Hase, ich weiß sogar seinen Namen!« – trumpfte der Arzt auf. – – »Das hätte ich ihr nicht zugetraut!« – meinte einer.

»Das ist eine ganz gemeine Verleumdung! – sagte jetzt Kamberg sehr ruhig und entschieden. – Ich lege für die Dame meine Hand ins Feuer, desgleichen für Herrn von Hase, den ich durch seinen Vetter kenne. Die Sache hängt anders und sehr harmlos zusammen, deß seien Sie versichert, Herr Doktor! Ich erkläre jeden für einen Schuft, der sich um dieses niederträchtig aufgebauschte Gerücht kümmert!« – – Tiefes Schweigen trat ein. – »Dann werden Sie wohl alleinstehen, Herr Regierungsassessor! Die Damen sollen sehr glaubwürdig sein, wie man mir versicherte. Fräulein Bach wird eine vielleicht wirklich harmlose Sache heute Abend spüren und zwar recht empfindlich!« – sagte Kolb betroffen. Kamberg erhob sich. »Meine Herren, so fordere ich Sie als Ehrenmänner auf, heute Abend mit mir zu kommen und mit mir zu der tödlich beleidigten Familie zu stehen. Ich bitte Sie, mich hier zu erwarten, da ich der Sache auf den Grund gehen werde, das verspreche ich Ihnen! In einer halben Stunde bin ich wieder hier!« – – Er nahm seine Sachen und verschwand, die Anderen aufgeregt zurücklassend.

Herr von Hase war recht erstaunt, als er durch einen Diener aus dem Neuwaldschen Zimmer gerufen wurde. Er las die Karte und bat die Herrschaften, ihn in dem Saale der Abendunterhaltung zu erwarten. Dann begab er sich in das Lesezimmer, wo ihn Kamberg erwartete. –

Inzwischen hatte die Réunion begonnen. Die Musik spielte bereits recht flott. Der Hauptsaal und das Nebengemach füllten sich. Die Eltern saßen mit ihren geputzten Töchterleins an den Längswänden. Man plauderte leise miteinander. Die junge Welt musterte sich mit spähendem Blick. Jedes Kleid wurde einer eingehenden, innerlichen Kritik und Vergleichung mit dem eigenen unterworfen. – Die Mädchen jüngerer und älterer Jahrgänge behielten die Eintrittsthüren im Auge und konstatierten bei sich enttäuscht, daß die ledigen Herren ausblieben. Nur die jungen Jünglinge erschienen und standen in bescheidener Entfernung schüchtern an den Ecken herum. – Endlich begannen ein Paar flotte ältere Väter die Tête zu nehmen. Sie brachen den Bann und forderten zum Tanze auf. Nun wagten es auch die ganz jungen. Die ersten Paare, auch Damen miteinander, wirbelten durch den Saal. – Als der Tanz begann, zogen sich die skatwütigen Herren in das Nebengemach zurück. Die Mütter rückten dicht zusammen und plauderten lebhafter. Sehr sorgsame und zärtliche behielten ihre Töchter im Auge und dirigierten sie aus der Ferne mit Blicken und Gebärden. –

Just zu der Zeit, als die Unterhaltung recht in den Gang zu kommen schien, betraten Neuwalds, Frau Rabe und Lotte den Saal. Es fiel der Letzteren, die wie immer scharf beobachtete, auf, daß ihr Kommen eine gewisse Sensation erregte. Alle rückten dichter zusammen, wandten sich ab und tuschelten. Ihre glühenden Verehrerinnen Lilly und Paula stürmten ihr nicht wie sonst entgegen, sondern flohen errötend und auffällig genug in eine andere Ecke. ›Nanu – dachte sie verwundert – was habe ich denn an mir? Sollte mein weißes Kleid so durchschlagend wirken, oder erstaunt man, daß ich als Braut es wage, überhaupt hierher zu kommen?‹ – Hoch aufgerichtet eilte sie neben den Ihren hin, die direkt auf die Honoratiorenecke lossteuerten. Neuwalds und Frau Rabe wurden mit größter Höflichkeit, sie selbst mit eisiger Kälte begrüßt. »Donnerwetter, was ist denen denn in die Nase gefahren?« – fragte sie die junge Frau erstaunt, welche die Begrüßung bemerkt haben mußte. »Laufen lassen, die Kaffern!« war die leise, bestimmte Antwort. Und das tapfere Geschöpfchen nahm recht auffallend Lottes Arm, ergriff ihre Rechte und unterhielt sich nur mit ihr. –

Eine Pause trat ein. Der Bürgermeister hatte freundlichst das Amt eines Vergnügungsdirektors übernommen. Er schrieb alle talentvollen Damen und ihr Repertoire auf einen Zettel. Dann eilte er auf eine musikalische Dame zu und bat sie, die Gesellschaft doch mit einigen Liedern zu erfreuen. Rot vor Stolz und Freude, pilgerte diese an dem Arm dieses so hochangesehenen Herrn an das Klavier. Die Frau Mama begleitete. Und Fritz Meyer Hellmunds sangliche Weisen wurden mit einem Aufgebot von Sentimentalität verzapft, das beinah lächerlich wirkte. Danach trug eine Dame schlecht und recht ein Gedichtchen in bayerischer Mundart vor. Dabei wandte sie sich nur der vornehmen Ecke zu, welche dann auch lebhaften Beifall spendete. Darüber waren nun die Übrigen, welche sich zurückgesetzt und zu einer tieferen Kategorie gerechnet fühlten, so beleidigt, daß sie gar nicht mitapplaudierten. Erst als ein Mitglied ihrer Gesellschaft den »Erlkönig« und den »Taucher« deklamierte, wurden sie lebendig und begeistert. – Lotte, ihre Schwester und Frau Lulu ruddelten vorsichtig. Bei Beginn des »Erlkönig« verschwand der Amtsgerichtsrat, nachdem er seiner Gattin zugeraunt: »Was zuviel ist, ist zuviel! Damit bin ich seit Prima fertig. Jetzt braucht Ihr mich auch nicht mehr. Ich gehe auf eine Stunde in die Weinstube und hole Euch dann ab! Schwelgt nur nicht zu doll!« – – »Racker!« – – »Wirst Du wohl hierbleiben, sonst zweifle ich an Deinem Sinn für klassische Schönheiten, Du!« – flüsterte Lotte drohend. – »Ich muß es gefaßt ertragen, Range!« – Und er drückte sich eilig. Der Tanz begann wieder.

Lotte und Frau Rabe gingen jetzt an den Stuhlreihen entlang, um gutmütig, wie sie waren, mit den Sitzengebliebenen zu schwatzen. Jetzt verlor Fräulein Bach beinah die Geduld. Sie stieß nicht nur auf herbe Abweisung, sondern sogar auf grobe Unhöflichkeit. Ehe sie aber in ihrer offenen Art den Grund erfragt, kam Herr von Hase in den Saal. Er sah sehr bleich aus. Mit düsterem Blick überschaute er die Situation, erblickte Frau Neuwald und Lotte, welche ihm mit Frau Rabe entgegenkam. Harmlos begrüßte sie ihn, indem sie ihm die Hand reichte. – Er verneigte sich wie vor einer Fürstin und küßte respektvoll ihre Rechte. Schon erregt von der offenkundigen Zurückhaltung der Gesellschaft, fragte sie ärgerlich: »Weshalb denn so feierlich?« – – Alle Blicke waren auf sie gerichtet. Allgemeines Geraune und Getuschle, sogar kurzes Innehalten der tanzenden Paare. Kurz, eine neue Sensation! – Sehr herausfordernd schaute sich der Offizier um, bot dann den Damen den Arm und geleitete sie zu ihren Plätzen. »Was haben Sie nur, Häschen, ist Ihnen die Gerste verhagelt?« – spottete Lotte. – »Warum sehen Sie Fräulein Bach denn so mitleidig und ehrerbietig an?« – fragte Lulu Rabe. – »Manchmal könnte man sich doch totprügeln, weil sich die gedankenlosen Dummheiten an einem selber und an Unschuldigen rächen!« – entgegnete er. – »Hu, Häschen avanciert zur Sphinx. Heute ist alles rätselhaft! Sonst hat man mich umringt, wo ich nur kam. Heute begegne ich offner Feindseligkeit, dabei absolut unverdient! Ich fühle mich so unschuldig, wie ein neugeborenes, reingewaschenes Engelchen!« – – »Das sind Sie auch, ein ganzer Engel!« – stieß er impulsiv hervor, so daß die Andern lachen mußten. –

Inzwischen war Herr von Kamberg in das Herrenzimmer zurückgekehrt. Alle sahen ihn an und schwiegen. Er trat bis an den Tisch: »Meine Herren, ich habe mit Herrn von Hase Rücksprache genommen. Und ich erkläre Ihnen auf Ehrenwort an seiner statt, daß dieser Klatsch auf einer nichtswürdigen Erfindung beruht. Die Wahrheit, welche ihm zu Grunde liegt, ist so durchaus anders und so harmlos, daß sie absolut auch nicht zu der leisesten Nachrede Ursache geben könnte. Ich hoffe, daß Ihnen meine Erklärung genügt?« – fügte er mit fragender, erhobener Stimme hinzu. – Seine Zuhörer versicherten ihm das. – »So hoffe ich, daß Sie jetzt meinem Beispiele folgen werden. Ich gehe ins Ortshaus!« – – Alle erhoben sich und folgten ihm.

Die Herzen der anwesenden Damen im Saale schlugen höher, als die Herren eintraten. Man hatte sie schon mit nicht gerade schmeichelhaften Namen bedacht. – Allgemein war das Erstaunen, als nach kurzer, sehr höflicher Begrüßung der Gesellschaft sich alle Frau Amtsgerichtsrat Neuwald und ihren Schützlingen zuwandten. Mit ostentativer Höflichkeit, die an Ehrfurcht grenzte, verneigte man sich vor diesen Damen. Man forderte sie zum Tanze auf. Jedoch alle drei dankten energisch, und nun nahmen sie in ihrer Ecke Platz und verwickelten sie in eine Unterhaltung. Bald erscholl fröhliches Lachen. Frau Lulu übertraf sich selbst. – Lotte war bedrückt. Sie fühlte, daß sie Mittelpunkt einer Demonstration war. Sie sah die gehässigen Blicke, das höhnische Lächeln, und ihre Nerven begannen sie zu plagen. Ihr heißes Blut kam in Wallung. – Endlich konnte sie nicht länger still sitzen. Sie hatte die Herren vergeblich gebeten, sich mehr am Tanze zu beteiligen. Jeder tanzte nur die unumgänglichen Pflichttänze und kehrte sogleich zu ihr, das heißt in ihre Nähe zurück. – – Sie benutzte eine Pause zwischen Walzer und Rheinländer und erhob sich. Sofort sprangen Kamberg und Hase auf, um ihr den Arm zu bieten. Unwillig wies sie dies zurück: »Was ist denn, zum Donnerwetter, bloß los? – sagte sie erregt – Sie thun ja, als ob ich des Schutzes bedürfte! Ich bin doch nicht unter wilden Bestien!« – Die Herren sahen sich an, traten zurück und verneigten sich. »Frau Lulu, wagen wir einen Rundgang!« – forderte sie diese auf.

Sie erhob sich sogleich und schritt neben Lotte dahin. Auch ihr war die herrschende Atmosphäre unerklärlich und unheimlich. Zwischen den Thüren standen die niedlichen Backfische, unter ihnen ihre Hauptbewunderin Lilly. – Lotte eilte zu ihnen. Ängstlich und ungewiß schauten sie ihr entgegen. Man merkte ihnen an, daß sie am liebsten geflohen wären. Lotte packte das junge Mädchen am Arm: »Nun, einmal heraus mit der Sprache, Lillilein! Was haben Sie gegen mich, was ist denn vorgefallen? Haben Sie mich nicht mehr lieb? Habe ich Sie beleidigt?« – fragte sie gradeaus. Die braunen Augen der Angeredeten füllten sich mit Wasser. Sie schüttelte bloß den Kopf. »Na, was ist es also? Seien Sie ganz offen und ungeniert! Ich nehme Ihnen nichts übel! Wir sind doch alte Freunde! Gelt, Schnüpschen?« – – Lilly ergriff ihre Hand und küßte sie: »Wir dürfen nicht mehr mit Ihnen sprechen, Sie Süße!« – stieß sie ganz verzweifelt hervor und riß sich gewaltsam los, wie gejagt davoneilend. –

»Verstehen Sie das?« – fragte Lotte erblassend die Andere. »Ich stehe vor einem Rätsel!« – sagte Frau Rabe. – »Grade durch und weiter! Jetzt muß ich die Wahrheit 'rauskriegen, sonst wettere ich hier los! – In mir kocht es bereits!« – – »Lassen Sie uns auf unser Zimmer gehen! Mit dem Pack werden Sie doch nicht anlegen wollen?« – warnte Frau Lulu. – »Ich und hier fortgehen, da kenn'n Sie Aujusten schlecht! Nicht einmal, wenn ich selbst 'was verbrochen hätte! Wenn ich etwas ausgefressen habe, so habe ich es noch stets offen eingestanden und verantwortet. Und Pack ist das hier nicht, sondern sonst nette, liebe Leute der besseren Gesellschaft, von denen ich eine Rechenschaft verlangen kann!« – meinte Lotte fest. Sie sah sich um, und ihr Blick begegnete dem einer ihr bekannten sympathischen Dame. Zwei Schritte, und sie stand neben dieser, in ihrer graden Weise auf ihr Ziel losgehend.

»Frau Direktor, ich komme voller Vertrauen zu Ihnen. Es ist etwas gegen mich im Werke. Man hat mich in Acht und Bann gethan, und ich weiß nicht, warum?! Sie sind eine so liebenswürdige Dame, ich hoffe, Sie werden mir die Aufklärung nicht verweigern!« – bat sie dringend. Die Gefragte geriet in die peinlichste Verlegenheit. »Ach, liebes Fräulein Bach! – erwiderte sie stotternd – Ich weiß wirklich nicht – – – –« – – »Doch, Sie wissen, Frau Direktor, ich bitte Sie um die Wahrheit!« – – »Eine dumme Klatscherei – – – – sonst nichts!« – – – »Und wer hat die aufgebracht? Ich möchte doch gleich an die richtige Quelle gehen, um mich eventuell zu rechtfertigen!« – sagte Lotte, die Frau Direktor fest anblickend. – Diese wand sich hilflos hin und her. »Ich bestehe auf Namen!« – – »Mein Himmel, so mögen Sie es denn wissen! – rief die Examinierte endlich heftig – Frau und Fräulein Schulze, Sie kennen doch die beiden blonden Damen?! Die Sekretärsfrau und ihre Tochter!« – – »Die? – sagte Lotte gedehnt – Mit denen habe ich noch keine zehn Worte gewechselt. Aber ich danke Ihnen für die Wahrheit, Frau Direktor!« – –

Wieder blickte sie umher und sah die beiden Klatschbasen im Nebenzimmer, inmitten eines Kreises anderer Damen. »Lassen Sie es sein! Sie stehen über jeder Verteidigung, Fräulein Lotte – bat Frau Rabe – Sie haben es doch neulich selbst gesagt. Wer Schmutz anfaßt, besudelt sich!« – – »Das stimmt! Aber noch Weiß ich ja nicht einmal, ob ich es wirklich mit Schmutz zu thun habe? Jetzt bin ich denn doch neugierig!« – – Schnell durcheilte sie den Raum. Der Tanz begann soeben, die Paare traten an. Hastig wand sie sich durch und trat entschlossen mitten in die Gruppe. Die beiden Schulzes erschraken nicht wenig, als sie das junge Mädchen plötzlich sehr bleich und mit funkelnden Augen vor sich stehen sahen. Doch die Umgebung gab ihnen Mut, und sie mußten ihre unangenehme Rolle durchführen, wenn sie sich nicht unsterblich blamieren wollten. Daher setzten sie eine recht verächtliche, abweisende Miene auf.

»Meine Damen! – sagte Lotte energisch und laut – Ich höre, daß durch Sie eine Klatscherei über mich verbreitet wird, die geeignet ist, mich herunterzusetzen. Ich ersuche Sie jetzt, die Angelegenheit hier, vor all diesen Zeugen öffentlich noch einmal zur Sprache zu bringen!« – – »Dazu sind wir durchaus nicht verpflichtet!« – erwiderte die Mutter kühl und impertinent. »Dazu sind Sie doch verpflichtet, meine Damen, wenn Sie nicht den Anschein erwecken wollen, daß Sie eine infame Lüge in die Welt gesetzt haben!« – Lottes Stimme bebte. – »Sie werden allein am besten wissen, um was es sich handeln kann!« – rief Frau Schulze. – »Wenn ich das wüßte, würde ich hier nicht so ruhig vor Ihnen stehen!« – entgegnete Lotte, noch an sich haltend; aber vor ihren Augen tanzten kreisende Punkte. Der Zorn tobte in ihr.

»Schöne Ruhe! – spottete die Alte – Man braucht Sie nur anzusehen, um Ihr Schuldbewußtsein zu erkennen!« – – »Bitte, treiben Sie mich nicht zum äußersten, sondern kommen Sie zur Sache!« – – »Auf Markthallenscenen sind wir nicht vorbereitet!« – – »Auch ich nicht; aber ich will die Wahrheit hören! Was haben Sie von mir gesagt? Wiederholen Sie es oder ich erkläre hier vor der ganzen Gesellschaft, daß Sie erbärmliche Lügnerinnen sind!« – rief Lotte, ihrer selbst nicht mehr mächtig. Frau Rabe legte die Hand warnend auf ihren zitternden Arm. Im Nebensaal brach die Musik ab. Alles horchte auf, drängte nach der Thür. Frau Neuwald, Herr von Hase und Herr von Kamberg brachen sich Bahn und standen hinter Lotte. –

»Um Gotteswillen, was geht hier vor? Lotte, was hast Du? Komm zu Dir!« rief die Schwester entsetzt. – »Mein gnädiges Fräulein, Sie stehen so hoch, daß Sie dieses Auftrittes nicht bedürfen!« – rief der Regierungsassessor beschwörend. –

»Ich will die Wahrheit!« – beharrte Lotte. –

Mutter Schulze und Tochter blickten sich unschlüssig und erblassend an. »Wir haben garnichts gesagt, was – – – –« stotterte die Ältere und brach ab. Da schwoll Malchen der Kamm: »Bah, Mütterchen, wozu antwortest Du überhaupt einer Person, die Braut ist und sich mit fremden Herren im Walde trifft und ableckt?« – sagte sie spöttisch.

In diesem Augenblicke stürzte Lotte vor. Eine starke, schallende Ohrfeige klatschte auf Malchen Schulzes rot anlaufende Wange nieder. »Sie sind eine schändliche Lügnerin! Eine ganz erbärmliche!« – schrie sie außer sich. Und in ihrem Ausbruch lag eine solch überzeugende Unschuld und Wahrhaftigkeit, daß alle Anwesenden wußten, welcher Verleumdung sie willig ihr Ohr geliehen. Die ganze Stimmung wandte sich gegen die beiden, welche stumm durch die sich öffnenden Reihen davonschlichen. Alle blickten sie voller Verachtung an, es war ein Spießrutenlaufen! – Kamberg bot der glühenden, zitternden Lotte den Arm und führte sie, Herr von Hase die Schwester hinaus. Alle grüßten sie respektvoll, als wollten sie Abbitte leisten! –

In ihrem Zimmer bekam Lotte einen Weinkrampf. Sie erhielt Brausepulver und Wein zu trinken. Aber dem Aufruhr ihrer Nerven folgte eine völlige Apathie. Den ganzen folgenden Tag mußte sie im Bette verbringen. – Schulzes waren abgereist. Die Sache bildete das Tagesgespräch sämtlicher Kreise. Alle beeiferten sich, Fräulein Bach ihre Sympathie zu beweisen. Ununterbrochen kamen Gäste, die sich nach ihr erkundigten und Blumen für sie abgaben. Paula und Lilly sandten ihr die schönsten Feldblumensträuße mit glühenden Liebesbriefen. – Herr von Hase verließ traurig den Ort seiner verhängnisvollen Heldenthat, ohne das verehrte Mädchen gesehen zu haben. Das Wetter klärte sich auf, der Regen hatte aufgehört, als er in einem Omnibus, das Zweirad oben aufgeladen, der Station zufuhr. – – – – – »Nie wieder riskiere ich solche Unverschämtheit und küsse eine Dame auf der Landstraße! – dachte er – Das heißt, das nächste Mal sehe ich mich um, ob niemand zuschauen kann! – – – Es ist sehr gewagt! Mir die Ohrfeige und ihr die gräßliche Geschichte? – – – – – – – Na, das wird vorübergehen! Die süße Lotte erholt sich schnell, und für mich ist es eine famose Erinnerung! Man darf sich nicht einschüchtern lassen! Wer nicht wagt, gewinnt nicht! – Er sah in den feuchtglänzenden Tannengrund – Eigentlich müßte es mir eine Lehre sein; aber uneigentlich – – – – – – Ich habe es ja nicht gewußt, daß es Lotte Bach und eine Braut war, es hätte ja eine ledige Donna sein können, die mit jedem Kuß glücklich ist! Oder es hätte auch ein Reinfall sein können, eine lebendige Mumie, brr! – – Dem Feller gönne ich es! Das kann er ihr nicht mehr abwaschen! Dieser lederne Häring und dies süße, herzige, tolle, kräftige Mädel, ob der weiß, was ihm blüht? Ach, wenn sie mein wäre!« – – – –

So erwog der leichtsinnige, kleine Leutnant im Stillen. Dann summte er: »Ach ich hab' sie ja nur auf die Schulter geküßt!« vor sich hin. Am letzten Hause im Dorf hielt das Gefährt und nahm noch eine allerliebste, junge Dame auf, die mit Blumen zur Station fuhr, um eine Verwandte abzuholen. Sofort richtete sich der unverbesserliche Herr von Hase auf und setzte sich in Positur. Trotzdem seine Schwärmerei für Lotte Bach wieder aufgewühlt war, kokettierte er ganz flott mit dem hübschen Mädchen. Und als sie unten ankam, war ein munteres Gespräch im Gange. Zum Glück verspätete sich auch noch der Zug ganz erheblich. So wurde die Bekanntschaft geknüpft, die dann noch in einer ganzen Reihe launiger Ansichtspostkarten ihre erfolgreiche Fortsetzung fand. –

Lotte war, als sie wieder das Bett verließ, recht blaß und still. »So lasse ich Dich nicht zu Kläre! – sagte ihre Schwester – Das wäre ein schlechtes Zeugnis für meine Pflege, wenn Du nervös und bleich da landest! Nein, Du bleibst noch ein paar Tage länger hier. Das Wetter wird jetzt besser. Wir werden noch einige Ausflüge machen!« – – »Ach, Du kannst ja nicht von den Kindern fort, Liebstes!« – antwortete Lotte matt. – – »Ich habe doch meinen Mann!« – – »Der will doch mit den Herren die großen Fußtouren machen!« – – »Dann wird er es eben lassen!« – – – Frau Rabe kam ins Zimmer: »Wozu bin ich denn da? Ich will doch schon lange aus diesem langweiligen Neste hinaus! Wenn es Ihnen recht ist, dann vertrauen Sie mir Ihre Range morgen zu einem Ausflug nach Friedrichroda und übermorgen zu einem solchen nach Koburg an. Ich verspreche Ihnen, sie unter meinen mütterlichen Schutz zu nehmen! – Gelt, Fräulein Lotte, Sie kommen mit mir?« – – »Ja, gewiß! – sagte diese gleichgültig – Am besten wäre es, Ihr schickt mich nach Berlin zu Mietze und Willi! – – – Er wurde mich kurieren! Überhaupt, was wird er jetzt nach der scheußlichen Geschichte unruhig sein!« – – –


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