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10. Kapitel. Letzte Reisetage

Rußland feierte seinen Ostersonntag. Der düstere Bann der Fastenwoche war gebrochen. Ein allgemeines Familienfest, bei dem man das Beste gab, was Küche und Keller, was die Märkte und Läden darboten, trat in sein Recht. Das Wetter war schlecht. Zu dem großen Windsturm gesellten sich Regenschauer, auch Schnee- oder Hagelwehen. – An solchen Festtagen, wo sich das gesellige Leben in dem Familienverkehr konzentriert, wo die Theater und Vergnügungsorte schon lange zuvor von Schaulustigen belegt sind, fühlt sich der Fremde unbehaglich. Fellers waren zwar von dem Direktor Schmidt auf das liebenswürdigste eingeladen worden. Jedoch der ganze Kreis, der von dem Gastgeber erwartet wurde, war ihnen fremd. Die alten Leutchen auf die Dauer denn doch nicht gerade ersehnenswert! So bestiegen sie denn, wie geplant, den Zug nach Kiew, der um ein Uhr vierzig aus Moskau abging. – Außer ihnen waren an diesem hohen Feiertage nur noch ein altes Ehepaar und ein junger Franzose in den stillen Coupés. – Willi war herzlich froh über die Ruhe und Ungeniertheit. Er bereitete Lotte ein weiches Lager, packte den schon Sonnabend Vormittag gekauften Reiseproviant und die in der deutschen Buchhandlung erstandene Reiselektüre aus und lehnte sich behaglich in seine Ecke. Seine Gattin, todmüde von der durchschwärmten Nacht und all den Strapazen der letzten Wochen, gehorchte heute wahrhaft musterhaft. Auch sie fühlte die wohlthuende Stille, das sanfte langsame Hingleiten der Wagen mit Erleichterung. Die achtundzwanzig Stunden, welche ohne Wagenwechsel, also ungestört vor ihr lagen, waren ihr eine Erholung. – Sie ließ sich füttern, trank gehorsam ein Glas Portwein und nahm den Roman, um zu lesen. Willi deckte sie sorglich zu und hütete sich, mit ihr zu plaudern. Er merkte wohl, daß die ihr eigene Energie und Frische nachgelassen hatten.

Immer tiefer drang der Zug nach dem Süden vor. Die Landschaften, welche sie passierten, waren ohne irgend einen Reiz. Ab und zu ein Flüßchen – eine Strecke Wald oder ein Örtchen – ein paar im Freien weidende Herden; sonst nur unabsehbare, steppengleiche Flächen. Der Arzt las oder ging in den Korridoren auf und ab. Die Mitreisenden schienen sich in ihren Abteilen verschanzt zu haben. Er bekam sie nicht zu Gesicht. – Lotte schlief. – Sie schlief den ganzen Tag, sie durchschlief die ganze Nacht bis zum späten Morgen. Dann machte sie Toilette, trank ein Glas heißen Thee, den man auf einer kleinen Station ins Coupé brachte, las ein Weilchen, aß tüchtig von den Vorräten, trank wieder Wein und schlief bis zum Abend. Um sechs Uhr weckte Willi sie mit einem Kusse: »Guten Abend, Geliebtes, wir müssen bald in Kiew sein. Leider haben wir schon eine Verspätung!« – – Sie umarmte ihn vergnügt: »Ach, Schatz, ich fühle mich wieder so frisch, daß ich Bäume umreißen könnte!« – – »Das wollen wir lieber lassen, es könnte Dir doch schaden! – entgegnete er – Aber ich hoffe, daß Du morgen Kiew betrachten und Mittwoch die Weiterreise ohne allzu große Ermüdung antreten kannst.« – – Höchst vergnügt standen sie am Fenster und genossen die prachtvolle Aussicht. Der Wald mit seinen bunten Datschen, die überschwemmten Felder traten zurück, der klare grünblaue Djnepr lag im verscheidenden Abendsonnenglanz vor ihnen. Sie überfuhren die riesige Brücke und sahen jenseits auf den Hügeln die weißen Gebäude der Lawra mit ihren vergoldeten Kuppeln und Dächern liegen. Diese schimmerten wie lohendes Feuer, denn gerade versank der rote Sonnenball hinter den goldumsäumten Wolken und traf sie mit seinen letzten Strahlen. – »Herrlich!« – rief Willi. – Die Fahrt vom Bahnhof, der draußen vor der Stadt lag bis zum Grand Hôtel auf dem Kreschtschatik dauerte lange genug. Da sie über schlechtes Pflaster hügelauf, hügelab ging, litt Lotte stark unter dem Stoßen des Zweispänners. Aber sie beherrschte sich tapfer. Im Hôtel speisten sie zu Abend und wanderten dann noch in der Hauptstraße auf und ab. Das Leben war großstädtisch bewegt und glich dem der Berliner Friedrichstraße. Moschus und andere Parfüms durchhauchten die Luft.

Das Hôtelzimmer war elegant und bequem. Nach einer vorzüglichen Nacht und gutem Frühstück ließen sich Fellers einen Wagen besorgen und engagierten einen deutschsprechenden Kommissionär. Den nahmen sie als Führer mit. Zuerst fuhren sie über den Kreschtschatik, an der höchst geschmackvollen Duma vorbei zum Michaelkloster. »Sehr schön; aber immer das Gleiche!« – brummte Willi. – »Warte nur auf die Lawra!« tröstete Lotte den Ungeduldigen. Sie war wieder obenauf und kletterte mit ihm zum Wladimir-Denkmal, wo sie eine wundervolle Aussicht auf den schönen Strom und das Podol hatten. Dann ging es wieder bergab und per Wagen am Palais des Kaisers, das nur von außen besichtigt werden konnte, vorbei nach dem Askolds-Hügel. Der Aristokratenfriedhof und das Grab des einstigen Fürsten Kiews, des Askold, wurden rasch betrachtet. Dann aber führte der Dolmetscher sie schnell zurück. Ihr Gefährt wurde bedeckt, denn es begann wieder in Strömen zu regnen. Bergauf, am Arsenal und den Festungsanlagen vorüber, gelangten sie bis zu dem »Heiligen Thor«, welches in das Kloster führte. Die Mauern rechts und links waren mit klaren prächtigen Gemälden, Fresken aus dem Leben des heiligen Antonius und Theodosius bedeckt. Auch der weiße Thorbau mit seiner Barockstuckatur, seinen Gemälden und dem goldenen Dach waren verheißungsvoll genug. Der weiße, säulengeschmückte Glockenturm war architektonisch in seinen vier Verjüngungen vollendet. – An den Klostergebäuden der Mönche und ihren Ökonomiken, an den Asylen für die Wallfahrer ging es vorüber. Immer von einer Kirche zur andern. Die schönste war die Mariä Himmelfahrts-Kathedrale, deren Inneres im glanzvollsten Rokokostil ausgestattet ist. Das Palladium der Kirche: ein juwelenstrotzendes Marienbild aus dem Jahre 1073 und aus Byzanz stammend, war des Pfingstfestes wegen herabgelassen. Ein Tisch davor war mit Blumen, Bändern und Geschenken bedeckt. Scharen von Gläubigen, besonders von Krüppeln und Bettlern, umlagerten dieses Gnadenbild und die Särge des Heiligen Theodosius und Wladimir. –Wieder verursachte der Anblick dieser Menschen und ihr ›Armeleuteduft‹ der jungen Frau Übelkeiten. Sie verließ mit Willi schleunigst die Kirche und ließ sich von dem Führer zu der großen überdachten Holztreppe geleiten, welche zu der Kirche der Kreuzerhöhung führte. Dort erhielt jeder von ihnen ein Licht für je fünfzehn Kopeken. Dann reihten sie sich einem Trupp von Wallfahrern an, die soeben von einem Geistlichen in die Höhlen des Heiligen Antonius geführt wurden. Der Arzt und der Führer baten Lotte, zurückzubleiben; aber sie weigerte sich: »Nicht in die Tüte! Wer weiß, ob ich je wieder nach Kiew komme und um der bißchen schweren Luft willen werde ich mir doch nicht das Interessanteste entgehen lassen!«

Energisch, mit zusammengebissenen Zähnen, folgte sie den Voranschreitenden in die schmalen dunklen Gänge, welche man in den Lehm des Berges gegraben. Einer mußte hinter dem andern gehen, so schmal waren diese Wege. – In den dumpfen finsteren Nischen hatten asketische Mönche gehaust, in einigen, jetzt vermauerten Höhlen ihr Leben verbracht. Johann der Leidensreiche hatte sich sogar, wie die Sage erzählt, dreißig Jahre in die Erde so eingegraben, daß nur sein Kopf herausschaute. – Jetzt hingen Heiligenbilder hinter den ewigen Lämpchen, die wie Glühwürmchen leuchteten. 81 offene, mit Brokat ausgeschlagene Särge standen in den Nischen, doch waren die Skelette schwarz eingewickelt. Auch der halbe Oberkörper und Kopf des Märtyrers Johann waren wohlweislich verhüllt. – Die Russen küßten alle Bilder, alle Leichen auf die eingewebten Kreuze und warfen Geldstücke in die dazu angebrachten Schüsseln. Besonders vor der heiligen Juliane und Johann häuften sich hohe Münzenberge, die ein Pope mit einem Rechen klirrend zusammenscharrte. – Das beständige Bücken der Gläubigen, welche ihre tropfenden Kerzen frei in den Händen trugen, brachte eine unglaubliche Feuersgefahr. Auch das Wehgeschrei der mitgebrachten Kinder und Säuglinge, die man zum Küssen der Särge zwang oder deren Köpfchen man gewaltsam niederdrückte, erfüllte die dumpffeuchte Luft. Als man sich dem Ausgang näherte, stand ein Mönch da, der aus einem Bottich geweihtes Wasser schöpfte und es aus einem hohlen Kreuze mit Segenssprüchen verteilte. – Willi und Lotte waren froh, als sie unverbrannt wieder das Tageslicht sahen. Sie schüttelten nur schweigend die Köpfe und sahen sich bedeutungsvoll an.

Bei Semaden nahmen sie das Dejeuner ein und ließen sich noch die innen an den Venediger Markusdom erinnernde Sophienkirche und die prachtvolle Wladimir-Kathedrale zeigen. »Jetzt fahre ich zu Mocks, und was machst Du, Katz?« – »Ich versuche, die nahe bei einander liegenden Galerieen Chanenko und Tereschtschenko zu besichtigen!« – antwortete Lotte mit einem Blick auf die Karte. – »Wird es Dich nicht ermüden?« – – »Nee, ich hoffe nicht! Bis jetzt spüre ich nichts!« – – »Bon, also treffen wir uns im Hôtel auf unserm Zimmer. Es wird dann bald Dinerstunde sein. Bei dem Wetter kann man doch nichts mehr unternehmen. Es gießt nur so! Weißt Du, wenn es ginge, könnten wir abends schon weiter reisen! Wenn nicht, sehe ich, daß wir vom Hôtel aus Billets zu der Wiener Operette erhalten! Das wäre ganz nett!« – – »Na ob und öbse! Nun fährst Du erst zu Deiner Jekaterina Pawlowna, und ich benutze den Wagen weiter.« – –

Lotte war längst im Hôtel und hatte schon den Mittagsschlaf absolviert, als Willi nach Hause kam. »Pfui, Du, es ist sechs Uhr! – grollte sie, sprang aber auf, als sie sein bleiches, ernstes Gesicht sah. – Was ist geschehen? Sprich, Willi, was ist los? Du bist ja ganz verstört!« – – Erst nach und nach kam er mit der Sprache heraus, und die Botschaft erschütterte auch Lotte tief. Schon am Sonntag früh hatte die unglückliche Gräfin ihr einziges Kind verloren. Ein Herzschlag hatte das zarte Wesen getötet. Das Entsetzliche schien die Nerven der beklagenswerten Mutter gestählt zu haben. Sie hatte Willi steinern ruhig und gefaßt empfangen. Nur ein Wunsch beherrschte sie, auf dem Familiengute in der Einsamkeit sich in ihr Geschick finden zu lernen. Ihr Gatte war mit hingebender Zärtlichkeit um sie beschäftigt. Der Tod ihres Kindes schien die gleichgültige Ehe aufgerüttelt und Vater und Mutter neu zusammengeführt zu haben. – Doktor Feller war auf das liebenswürdigste und zarteste honoriert und verabschiedet worden. Mocks versprachen ihm ihren freundschaftlichen Besuch, wenn sie wieder je nach Berlin kommen sollten. Die beiden behandelnden Ärzte hatten mit ihm gleichfalls gesprochen und ihm diesen Besuch sogar als in absehbarer Zeit notwendig dargestellt. Sie trauten dem plötzlichen Stillstand des Nervenübels nicht. – Sein Studienfreund Doktor Barjakin fand sich auch im Grand Hôtel ein. Er begleitete Fellers zur Bahn. Sie hatten die Lust zum Theaterbesuch verloren und zogen es vor, schon mit dem halb acht Uhr-Zuge die schöne, interessante Stadt zu verlassen. –

Am nächsten Tage halb drei Uhr waren sie in Warschau. Dort blieben sie nur bis zum Abendzug, der um halb zwölf Uhr die polnische Hauptstadt verließ. Zwei deutschsprechende, interessante Polen, die mit ihnen von Kiew abgefahren waren, zeigten ihnen alle Hauptstraßen und Plätze. Fellers waren von Warschau so überrascht, daß sie fest versprachen, wieder zu kommen und die neuen Bekannten sofort von ihrem längeren Aufenthalt zu benachrichtigen. – Sehr gehoben passierten sie die Grenze. Die Zollrevision in Thorn, bei der der überschneidige Ton der preußischen Beamten ihnen wieder auffiel, wurde schnell erledigt. Am nächsten Vormittag fuhren sie an ihrem Hause vor. – – Oben, bei ihnen in der Wohnung, empfing sie Frau Geheimrat Bach. Die Wiedersehensfreude der guten Dame war mit großer Entrüstung gepaart. »Sie haßte Überraschungen! Die Kinder sollten in ein sauberes, für das nahende Pfingstfest bereits leuchtendes Heim kommen! Und nun? Brr!« – Drinnen wurde geklopft, gebürstet, gebohnert, und hinten – – – – gescheuert. Emma, Agnes und zwei Aufräumefeen waren am Werke. – »Lotte, Lotte – jammerte Frau Geheimrat – nun hast Du mir die ganze Freude verdorben! Ich wollte Dir die gräßliche Zeit ersparen, und nun kommt Ihr schon heute!« – – »Mutterwonne, geliebte, wann wärst Du mit allem fertig gewesen?« – fragte die Tochter. – »Morgen, denn wir arbeiten ja schon vier Tage!« – sagte die Mutter. – – »So komm, Willi! – meinte Lotte – Man soll keinem Menschen die Freude verderben! Und ich bin so voll von all dem Gesehenen, daß ich mir nicht gleich mit »Großreinemachen« den Kopf verdrehen will! Ehrgeizig bin ich auch nicht! Unser Altes soll allein den Triumph genießen, Fellers Behausung in Stand gesetzt zu haben! So ziehen wir noch einen Tag zu Mama Feller, die soviel Platz hat. Und morgen – um elf Uhr – feierlicher Einzug mit offiziellem Empfang bei uns. Sorge also für Triumphbogen und Ehrenjungfrauen, Mieze, geliebte!« – –

Erneute zärtliche Umarmung, dann stieg Frau Doktor Feller seelensvergnügt treppab. Ihr Gatte folgte ihr zögernd. Eigentlich war es ja stark; aber uneigentlich geschah ihren beiden Müttern ein Gefallen. »Also, morgen Vormittag um elf Uhr könnt Ihr antreten! Heute Abend komme ich zu Euch hin!« – rief Frau Bach nach. – »Na, selbstverständlich! – entgegnete Lotte – Bring nur alle Lieben mit. Vorher hat Willi doch zu viel Besorgungen mit der Praxisübernahme etc. Aber abends wird erzählt! Es war himmlisch!« – – »Ja, es war sehr schön! – Sehr schön!« – bestätigte der Doktor noch immer etwas verdutzt.


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