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8. Kapitel. Moskau

Eine stattliche Anzahl von lieben Menschen hatte sie nach dem Bahnhof gebracht. Reizende Geschenke und eine Unmenge Konfekt erhöhten Lottes begeisterte Reisestimmung. – Die Züge nach Moskau sind immer besetzt. Jetzt vor den Feiertagen, wo auch die Schulferien begannen, waren sie überfüllt. Nur mit Mühe ergatterte unser Pärchen noch zwei Plätze. Dann wurde Abschied genommen. Eine Schar Gymnasiasten in ihren kleidsamen Trachten brachte einen Lehrer zum Zuge und sang ihm noch ein Lied. So ging es unter Gesang fort ins Innere des Landes. In den Gängen und Coupés saßen und standen Reisende, welche trotz der gekauften »Platzkarten« kein Unterkommen gefunden hatten. Sie benutzten ihre Handkoffer oder Kissentaschen als Sitze. Endlich erschienen der Herr Kondukteur und sein Begleiter. Mit gehörig »gefüllten« Händedrücken wurde Ordnung geschaffen. Nach und nach fanden sich auch noch freie Plätze. Die Aussicht auf angenehme Nachtruhe stieg. Richtig! Zuletzt blieben nur noch sechs Personen übrig. Durch den geschickten Bau der Waggons mit den aufklappbaren Rücklehnen der Sitze und den auszuziehenden Polstern blieb also für jeden ein Platz, auf den er sich der Länge nach ausstrecken konnte. Nun entfaltete sich aber auch in all den Durchgangswagen, welche man übersehen konnte, eine emsige Thätigkeit. Da wurden Packete aufgeschnallt und entfaltet. Stiefel und Schuhe ausgezogen, und mit göttlicher Ungeniertheit die feste Tagestoilette mit einer leichten, losen und warmen zur Nacht vertauscht. Die Herren – Willi und Lotte saßen im Nichtrauchercoupé – zogen Uniformen und Röcke aus und dafür ältere Stücke oder Joppen an. – Mit Fellers zusammen fuhren drei reizende junge Damen aus Nishny Nowgorod und eine ältere Charkowerin. Willi sah von seinem Fensterplatz entsetzt, dann belustigt hinüber. Lotte machte dies Spaß, und auch sie beobachtete die Reisegefährtinnen. Aus den eigens dafür gefertigten Taschen kamen frisch bezogene Kopfkissen – Laken und Plaids zum Vorschein. Mit Sicherheitsnadeln wurden die Untertücher geschickt befestigt, die Lagerstätten bereitet. Dann nahmen die Damen, welche schon in Nachtkostümen, »molligen Schlafröcken«, steckten, leichtseidene Kopftücher fest um Frisur und Haare und legten sich nieder, die warmen Decken bis über die Ohren ziehend. – Ein Blondkopf hoch oben zog auf Bitten der Andern die dunklen Blendschirme vor die Gaslampe an der Decke. »Donner! Welch moderner Zug!« – erkannte Lotte an. Auch sie mußte jetzt die beiden Fenstersessel zu einem Diwan vereinen und die Lehnen oben desgleichen. Willi kletterte mit Reisekissen und Plaid hinauf. »Jetzt weiß ich, wo Du es gelernt hast, einem die Nächte im Coupé behaglich zu machen!« – sagte er leise, denn ringsum hörte man schon ruhiges Atmen oder sogar tüchtiges Schnarchen. – – »Nein, dagegen kommen meine Engländer nicht auf! So praktisch sie auch sind, an solche Strecken sind sie eben nicht gewöhnt. Hier hat das Land die Menschen erzogen. Wie sie handeln, ist das einzig Richtige!« – – »Gieb mir einen Gutennachtkuß, und schlaf Dich aus, Willi! Morgen mußt Du für den Kreml frisch sein!« – flüsterte Lotte, die schon in ihrem schmalen Lager sich ausgestreckt hatte. »Hier?« – fragte er leise. »Natürlich, die pennen ja schon alle! Das sanfte Fahren der Züge schläfert sofort ein!« – – Er blickte sich flüchtig um und beugte sich nieder, sie einige Male tüchtig küssend. – – Da erscholl es vernehmlich: »Hmhm!« Und ein Husten folgte aus dem Abteil links noch obendrein. Beide schnellten darauf in die Höhe und erspähten noch die Blicke eines bildhübschen russischen Offizierchens links und die eines alten Herrn rechts. – »Na so was! – raunte Lotte – Das ist der alte Deutsche mit der dicken Tochter. Der braucht sich doch, weiß Gott, nicht so lexheinzerisch zu thun! Bei dem da ist es Neid, mit dem kokettierte ich schon vorhin. In dem Pelz mit Handschuhen über den Pfoten ging es ganz gut!« – – »Lotte, untersteh' Dich, sonst giebt es hier noch Raufereien in Rußland! Und Du bist dran schuld!« – erwiderte er gekränkt. »Leg' Dich hin und penne, mein Oller, ich bleibe Dir treu! Gute Nacht!« – tröstete sie ihn. Etwas verstimmt kletterte er empor. – Wirklich wiegte ihn das sanfte, gleichmäßige Rollen der Räder sehr bald in Schlaf. Auch Lotte ruhte die ganze Nacht durch vortrefflich, nachdem sie nur verschiedentlich die Lage gewechselt. –

Gegen Morgen erwachten die Reisenden. Etwas grau und ramponiert verschwanden sie in dem langen Korridor und kehrten frisiert und sauberer zurück. Nun kleidete sich alles wieder um. Die Kissen und Tücher wurden verschnürt, die Sitze wieder gerichtet. Die Schaffner erschienen und gaben den Reisenden, welche umsteigen mußten, die Billets zurück. Um nicht nachts zu stören, hatten sie dieselben schon am Abend zuvor gegen nummerierte Quittungen eingetauscht, sodaß die sonst so lästigen, häufigen Revisionen fortfallen konnten. – Auch hier wie bei Petersburg passierte man Villenorte nahe bei der Stadt. Um dreiviertel neun Uhr fuhr man in Moskau selbst ein. Ehe Willi und Lotte den Zug verlassen konnten, war schon der Hôtelwagen des Kontinentalhôtels besetzt. So vertrauten sie ihren Gepäckschein dem Hausdiener und bestiegen selbst einen Iswosschtschik. Bei der Fahrt durch die Straßen war der junge Arzt anfangs recht enttäuscht, bis die »Rote Pforte« – ein origineller Triumphbogen – auftauchte. »Aha, die Buntheit beginnt!« – – »Noch nicht, abwarten!« – erwiderte die junge Frau. Sie hatte recht, die lange Mjasnitzkaja mit ihren Geschäftskontors, den riesigen Maschinenfabriken und neuen Bauten war noch nicht die Stadt. Da kamen sie auf den malerisch-charakteristischen Lubjankaplatz. Lotte befahl dem Kutscher, einige Minuten zu halten. »Siehste, Knöppchen! – meinte sie stolz zu ihrem mit Bewunderung umherschauenden Gatten – Hier geht es los! Die weiße gezackte Mauer mit dem grünen Turm, der hellblauen Kirche am Thor, den bunten Häusern und Kuppeln dahinter – – –« – – »Ist wohl der Kreml?« – unterbrach er sie. – »Nein, Du vorlauter Kerl, das ist nur der Vorgeschmack dazu! Aber wie gefällt es Dir?« – – »Na, höre, das ist ja schon so vielversprechend, als ob man direkt in ein Märchen aus 1001 Nacht einfahren sollte!« – – »Das thut man ja auch! Das ganze Mütterchen Moskau ist wie aus dem Orient hierher verpflanzt, nur daß man die Palmen vergessen hat. So und nun – – daljsche, Iswosschtschik!« – – Gleich darauf hielten sie auf dem großen Theaterplatz, wo die »Oper«, das »Kleine Theater« und der »Adelsklub« mit seinem prachtvollen Konzertsaal sich befanden. Ein riesiger gewalzter Sandplatz dient zur Abhaltung der Paraden. »Schau, Liebster, in dem roten Haus mit Grün wohnen wir. Dort sieh wieder die Mauer, dahinter rote, rosa, weiße und grüne Gebäude! Nach links rüber, nee, das verrate ich noch nicht! Die Wunder sollen Dir erst nachher aufgehen!« – – »Thu mir den Gefallen und komm, wie lange soll der Schweizer Dir noch die Hand hinstrecken?« – drängte er. Lotte fuhr auf und riß sich mühsam von dem lange entbehrten, reizvollen Straßenbilde los. –

Im Hôtel ließ ihnen der österreichische Verwalter ein nettes Gemach mit schöner Aussicht anweisen. Die bedienenden Stubenmädchen, hier alte Frauen mit weißen Häubchen, die Zimmerkellner und Hausdiener kamen hinzu. Zu Lottes Enttäuschung aber waren alles Stockrussen. Außer dem erwähnten Direktor und dem Hausknecht, welche gut sprachen, radebrechte nur noch ein Kellner deutsch. Das hatte sie bis zum Abend herausgefunden und meinte: »Es ist ja alles ganz gut und nett; aber die Gemütlichkeit fehlt in diesen Riesenhôtels doch immer! Und hier – – – na, ich danke, das nenne ich doch keine deutsche Wirtschaftsführung!« – – »Folge doch Deinem bewährten Prinzip und betrachte Reisen als Kriegszeiten, liebste Frau! Augen zu, kleine Unsauberkeiten, zerrissene Wäsche und so fort einfach nicht gesehen!« – – »Thu ich ja auch; aber wie konnte man uns dies Haus als so deutsch empfehlen?« – – Bei der Morgentoilette, die sie nach ihrer Ankunft machten, amüsierte sich Willi wieder über die russischen Waschtoiletten. Das Wasser sprudelt aus einem nach oben gerichteten Krahn nur dann in die Höhe, wenn man unten ein Pedal tritt. Und aus dem kleinen, vertieften Becken springt bei jeder unvorsichtigen Bewegung der Verschluß, und adieu Wasser! – »Mit der Reinlichkeit lobe ich mir England! Das giebst Du doch zu, Katz?« – – »Ja doch; aber die Russen baden auch und sogar viel mehr als die Deutschen. »In die Badestube« gehen gehört zum Leben auch der Ärmsten, und wenn sie nachher mit ihrem reinen Korpus in die dreckigsten Fetzen schlüpfen müssen. Du hast doch in Petersburg die großartige Badstube, die einen ganzen Palast ausmacht, gesehen. Na, nun wirst Du ja auch hier die vielen Badeanstalten bewundern! So 'was wie die Ssandunowskija und Centralnyja Bani kennen wir gar nicht! Bis Mitternacht sind sie offen und das Personal, die Abreiber! Marmor! Spiegel! Sammet – – – –« – – »Gewiß, sind sie großartig; aber es will mir nicht in den Kopf, mit welcher Ungeniertheit da die vielen Personen in einem Raum baden!« – – »Es giebt doch die Einzelzellen, oller Philister! Es ist doch alles Gewohnheit, nicht wahr? Im übrigen mach' schnell, wir müssen auf den Kreml!« – – Willi rasierte sich bedächtig. »Es ist noch früh am Tage! Die Schönheiten laufen uns nicht weg! Ich will an unsere Mütter schreiben. Inzwischen legst Du Dich eine Stunde hin!« – – Alles Brummen half nicht. Sie mußte gehorchen, schalt ihn grausam, nannte sich einen armen Tantalus und – – – – – – – erwachte nach zwei Stunden. Der Gatte war zu ihrem Erstaunen verschwunden. Als er nach einigen Minuten eintrat, schmunzelte er vergnügt. »Natürlich, während Frau Katz schnarcht, war ich fleißig!« – – »Du warst auf dem Kreml?« – fragte sie enttäuscht. – »Nein, das thue ich Dir nicht an! Sei unbesorgt! Aber der nette Hôteldirektor und sein Mainzer Frauchen haben mir alle Räume gezeigt: die Speisesäle, das kalte, zugige Lesekabinett und den kleinen Eissalon. Echt russisch! Die beiden letzteren kalte Eleganz, die Restaurationsräume sehr hübsch. Abends sind sogar zuweilen Konzerte.– – – – Und die stattliche Ruine drüben ist das abgebrannte Hôtel Metropole! Und nun komm, ich weiß Bescheid und muß Dich auf interessante Ostergebräuche aufmerksam machen!« – – »Hört, hört!« – Sie kleidete sich an. – – »Kennst Du etwa Paschi und Kulitschi?« – – »Nee, nich!« – – »Elender Manager, mit Dir reise ich nie wieder nach Rußland! Wie gut, daß Du mich hast! Also erstere – – –« – – »Wer weiß, wie falsch Du es aussprichst!« – – »Möglich; aber russisch kann kein anständiger Mensch vor drei Jahren richtig aussprechen. Diese Russen betonen ihre Sprache eben falsch! Sie legen den Accent immer auf die Silbe, die für unsere Begriffe entschieden keinen haben darf!« – – »Stimmt!« – – »Lotte, keinen Beifall! Laß Dich belehren: Paschi sind Ostertorten aus gepreßtem Quarkkäse mit tausend Zuthaten in Pyramidenform und sehr beputzt, womöglich mit religiösen Abzeichen. Die machst Du mal nach!« – – Sie lachte: »Nach diesem ausführlichen Rezept werden sie entschieden gelingen! Weiter im Texte!« – – »Und Kulitschi sind Kuchen, halb zwischen Gugelhupf und Napfkuchen! Nachher passen wir auf, alle Schaufenster sollen davon voll sein. Die Dinger werden in der Kirche geweiht, wenn man« – – »Komm, Liebster, Deine Erklärungen giebst Du mir unterwegs. Ich brenne schon!« – – – »Nun, der Brand soll gelöscht werden, los!« – –

Lotte führte den Gatten um das Hôtel herum und zeigte ihm die interessanten russischen Bauten der Duma und des historischen Museums. An diesen riesigen dunkelroten Gebäuden ist die ultrablau bestirnte, winzige Kapelle der Iberischen Gottesmutter in der Mitte zwischen zwei gelb bemalten, grün beturmten Thorbogen angeklebt – – – ein malerischer Anblick! – Reich und arm, hoch und niedrig drängte sich, Kreuze schlagend, durch die Reihen der Bettelmönche und Nonnen. Viele knieten auf dem Plateau. Andere eilten hinein, spendeten Kerzen, küßten das Wunderbild und die Muschiks sogar den Erdboden. – Willi bewunderte den fabelhaften Schatz von Brillanten, bunten Edelsteinen und Perlen über dem schon angedunkelten Kopf der Maria, als Lotte ihn am Ärmel zupfte. Nun sah er an dem Bild einen rosa Atlasbeutel mit Watte. Die Leute küßten das Bild, nahmen einen Wattezupf und rieben damit die geküßte Stelle, die nun geweihte heilbringende Spende mit forttragend. – – Als Fellers das Miniaturkirchlein verließen, erzählte Lotte dem Gatten von den bezahlten Umfahrten der Madonna. In zwei- und vier- auch sechsspännigen Wagen, von Geistlichen begleitet, macht das Bild Besuche. Von fünf bis hundert Rubel, je nach der Vermögenslage der Leute erhält es auch mehr. Bei Wohnungswechseln, Geschäftseinweihungen, zu Kranken und Sterbenden kommt die Iwerskaja Mater und segnet ihre Gläubigen. Und immer wird sie vom Volk mit rührender Demut begrüßt, wo sich die Wagen nur zeigen. –

Den unbeschreiblich großartigen »Roten Platz« mit den »Handelsreihen«, die aus elf Quer- und acht Längspassagen in drei durch Brücken verbundenen Etagen bestehen – das »Minin- und Pojarsky-Denkmal« durfte Willi nur aus der Ferne bewundern. Die bunte, grausam bizarre und doch phantastisch anziehende Wassilij-Blashenny-Kathedrale überwältigte Willi nicht so, weil er ihr Nachbild schon in Petersburg genossen. Lotte dagegen schwelgte in den zwölf Kuppeltürmen, deren jeder »besonders verrückt geformt und besonders bunt und überreich geschmückt war«. Dazu die Kremlmauer mit ihren Zinnen und Türmen, die vielfarbigen Gebäude dahinter. »Mensch, steh nicht wie 'ne Pagode! Rede 'n Ton, gieb was von Dir!« – drängte sie ungeduldig und war erst befriedigt, als er »loslegte«. – – »Kommt noch schöner! Ruff!« – kommandierte sie. Und über das unbeschreibliche Pflaster führte sie ihn durch das Nikolausthor auf das riesige Plateau. Schnell, mit kurzen Erklärungsworten, zog sie ihn am Arsenal und Gericht, den Kirchen vorbei, bis sie an dem farbenreichen, mit einer Halle überbauten Denkmal Alexanders des Zweiten standen. – – »Nun, sieh Dich um! Da liegt Moskau mit seinem Strom zu unsern Füßen! Da leuchten die Kuppeln von 448 Kirchen und 24 Klöstern im Sonnenglanz!« – – In ihrer Begeisterung schaute sie auf die geliebte Stadt und merkte gar nicht, daß ihren Augen Thränen entströmten. – Auch Willi stand in den traumhaften Anblick versunken. Er sah die riesige, weithin ausgestreckte Stadt, den Fluß und in der Ferne die in bläulichem Dunst liegenden Hügelketten, über denen sich Wolken, vom Winde getrieben, ballten. Dann wandte er sich langsam um. Auf dem gigantischen Platze vor ihm links der rote, langgestreckte Kaiserpalast mit grünen Dächern und Vergitterungen – die drei Kathedralen in weiß mit bunten Gemälden und goldenen Kuppeln, der Bau des Iwan Welikij-Turmes – das rosa Tschudowkloster, das gelbliche Nikolaipalais und das Wosnessenskykloster mit seiner grellblauen, weiß verzierten Kapelle. Die ultramarineblauen Kuppeln mit den goldenen Kreuzen – die kleine Wache« – – –

»Du hast recht, Geliebtes, ich habe doch sehr viel gesehen, sehr viel! Aber das ist so einzig, daß ich fortan Deine Hingerissenheit teilen werde! – – – – – Nun, nun, nun, meine Katz darf aber nicht nervös werden, sonst reisen wir sofort ab!« – – Er streichelte Lotte, die unter Thränen lächelte. Dann durchschritten sie langsam den Säulenrundbau um das Standbild des edlen Zarbefreiers, betrachteten die in Mosaik gearbeiteten Herrscherbilder in den Wölbungen und wandelten dann in den Orusheinaja-Palast, der die Schatzkammer des Kreml repräsentiert. – Die unermeßlichen Juwelenschätze, die kostbaren Kunstgewerbearbeiten und besonders die vielen Kronen, Reichsäpfel, Zepter, Zaumzeuge, die Gold- und Silberarbeiten erstaunten Willi. »Was ist dagegen die Regalia im Tower, das grüne Gewölbe in Dresden oder die Schatzkammer in der Wiener Hofburg? Alles verschwindet ja daneben!« – sagte Lotte. Er gab ihr Recht. So standen sie immer noch vor dem Baldachin, mit orange, weißen und schwarzen Straußenfederwedeln auf dem goldgelben Atlas, unter dem die Zarengewänder von der letzten Krönung ausgestellt waren. Die junge Frau bewunderte gerade die Wespentaille in der steifen Silberbrokattoilette, als sie deutsche Laute hörten. Während alles ringsum russisch flüsterte, erklang recht vernehmlich eine männliche Stimme. »Pfui Deibel, das ist ja scheußlich! Da gehen ein' ja die Augen über. So viel Jeld giebts ja jarnich, um das hier aufzukaufen!« – – »Laß man, Vata, reg' Dir nich auf! Es ist ja auch allens in feste Hände!« – war die tröstliche Antwort. – Lotte biß sich auf die Lippen, um nicht laut aufzulachen. – »Jotte doch, Mieze, wenn man wenchstens die sündhaften Buchstaben lesen könnte, was des allens vorstellt!« – jammerte er. – »Herrjeh, Vater, des sind der Zaren ihre Kronen! – – »Danke Dir, Miezeken; aber für Appelkähne habe ich es och nich jehalten. Wem seine es sind, möcht ich wissen? Schließlich kann sich selbst ein anjeborener Zar doch nich all die Kronens auf eenmal uffsetzen! Es is eine Jemeinheit von Franzen, daß er uns hier abjesetzt hat und wechjelaufen is!« – – »Er mußte doch!« – – »Ja, muß? Flausen!« – –

Schon hatte sich Lotte von Willis festem Griffe befreit. »Ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen!« – raunte sie ihm zu und eilte um die Vitrine herum auf das Ehepaar los! »Guten Tag, meine Herrschaften, ich bin auch Berlinerin und will Ihnen gerne helfen, so weit es in meinen Kräften steht!« – sagte sie vergnügt. Die Wirkung ihrer Anrede glich der einer Bombe. Alle Diener stürzten in das Rundkabinett, alles sah sich um, weil mau an Mögliches und Unmögliches glaubte. »Mieze, Mieze, nu seh doch, seh doch! Nee, so was aber auch, 'ne echte Berlinerin! Ein anständiger Mensch unter diesen Kaff – – –« – – »Um Himmelswillen, keine Injurien und leise, leise! Sie sind hier in Rußland und können in Deibelsküche kommen!« – beugte Lotte vor. – – »Habe ich's Dir nich jesagt, Vata! Der Mann hört ja nich! Er kommt noch nach Sibirien!« – – »Aber sicher! – bestätigte die böse Lotte ernst – hier flüstert man und erwähnt nie das Herrscherhaus. Sie hätten sich vorhin um Kopf und Kragen reden können! Darum mußte ich Sie warnen!« – – Vata, ein echter vierschrötiger Berliner, wurde blaß und begann vor Angst zu schwitzen. – »Na, nun kommen Sie leise mit meinem Gatten und mir mit, und flüstern Sie nur noch! Ich werde Ihnen dann alles erklären!« – meinte Lotte gutmütig. Man stellte sich vor. Herr und Frau Schmidt waren zu Besuch bei ihrem Sohne Franz. »Der Bengel hatte sich hier einjeheirat, und es jing ihm famos und retour – – nich' in die Tüte? Na, da sie doch aber ihren ersten Enkelsohn mittaufen wollten, mußten sie denn nach Rußland 'rin. Ein saurer Appel! Denn gefallen that es ihnen absolutemang nich, und begaunert wurden sie an allen Ecken und Enden, wenn sie 'mal alleine lospinscherten. Man verstand sie nicht und umgekehrt. Alles, was sie aus dem Polyglott mühsam herausbuchstabierten, d. h. aus den deutschen Ausspracheangaben des russischen Textes, wurde nie erfaßt oder belacht. Wenn sich nicht manchmal hilfreiche Fremde wie heute die Madame Doktor ihrer annahm, dann ging es ihnen schlecht!

Die ›Madame Doktor‹ nahm sich aber ihrer recht energisch an, was ihren Gatten durchaus nicht weiter begeisterte. Er sträubte sich aber nicht weiter. Lottes Begeisterung für unverfälschtes Berlinertum wuchs sich zur unwiderstehlichen Leidenschaft aus, wenn sie es im Ausland traf. Das Gemeinsame ein und derselben Vaterstadt ließ ihr fremde Menschen zu Brüdern werden. Sie bemutterte Schmidts auch weiterhin, indem sie auch für diese beim Polizeimeister Billets besorgte. Mit ihnen betrat man das große Kremlpalais, wo ein würdiger Lakai die Führung übernahm. »Unsern seins is molliger!« – bemerkte Schmidt, indem er die riesigen, reichen aber etwas kalten Prunksäle mit den kleineren, behaglicheren des Berliner Kaiserschlosses verglich. »Das ist richtig; aber die Pracht und die Riesendimensionen hier und im Winterpalais finde ich benehmend!« – meinte Lotte und sah Willi an. Sie standen gerade in dem »Silberzimmer« mit seinen Augsburger Schätzen an Silberarbeit. – – »Ja, es ist erstaunlich!« antwortete der Arzt – Aber Liebstes, alles Import! Mit Geld kann man den ödesten Weltteil mit Schlössern versehen!« – – »Warte nur, das Original-Russische im Bau, in der Ausstattung und im Kunstgewerbe kommt noch! – versetzte sie darauf eifrig – Das Terem und das Haus Romanow wird Dir genug zeigen!« – –

In dem Riesensaal, dessen Wölbung von einem Mittelpfeiler getragen wird, dem sogenannten Facettenpalast, verweilten sie schon etwas länger. »Hier finden die Krönungsbankette stand, dort sitzt der Gossudar!« – erklärte der Führer. Willi und Lotte beäugten die altertümlichen Kronleuchter, die mit bunten Fresken bemalten Wände und das »Tainik-Versteck«, ein Geheimfenster oben in der Wand, von dem aus die Zarinnen die Feste ungesehen belauschen durften. Frau Schmidt war in heller Begeisterung. »Nee, Vata, seh bloß! – rief sie und kniete nieder – Weißte noch, wie ich Paulan für ihre gute Stube die Flickendecke for die Mahagonikommode gemacht habe? Herrjeh, was habt Ihr mir geuzt und mich Lumpenmatz genannt! Und nun seh doch hier! In 'n Festsaal von russischen Kaiser liegt 'n Flickenteppich und nich 'mal Seidenflicken, sondern einfache Tuchreste!« – – »Komisch is es!« – fand Herr Schmidt und beschaute den grellbunten originellen Teppich etwas verdutzt. »Du, 'ne Arbeit is des, nich ohne! Un neugierig bin ich, wo die Tuchstücke her sind, ob die von die Reste von die Majestäten ihre Garderobe kommen?« – rief sie, noch immer interessiert. – »Weiß der Himmel! – entgegnete er kopfschüttelnd – Eins weiß ich, Mieze! Wir sind nur simple Engrosfleischfritzen; aber mir derfste keenen Flickenteppich in 'n Salon legen! Wenn ich russischer Kaiser wär', ich leistete mir auch 'n anständigen Oxminster!« – – »Vorsicht! Keine Urteile!« – flüsterte Lotte ihm zu. Sie hielt das Taschentuch vor den Mund, um nicht vor Lachen zu schreien. Auch Willi biß sich auf die Lippen; denn eben dieser bunte, in russische Arabesken zusammengefügte Teppich und die buntseidenen Gewebe der Seitenbänke verliehen der Halle einen seltenen malerischen Reiz. – Die niedrigen kleinen, altertümlichen Räume des Terem in fünf sich verjüngenden Stockwerken waren für Fellers vom höchsten Interesse. Die Gemälde und das Meublement besichtigten sie auf das genaueste und lasen darüber im Bädeker nach. Schmidts hielten sich an die Aussicht, denn er erklärte leise: »Nee, Mieze, das is nischt! Da komm Du mal nach Altenburg, un' sieh Dir so'n rechtes olles Bauernhaus an! Das imponiert mir! Aber forn Zaren?? Nee!« – – »Pst, Mann! Denke an Sibirien! Das Schöne haben wir doch vorhin jesehen, oller Nörgler!« – warnte seine Frau mit einem kräftigen Stoß.

Den Rest der Zeit, die sie auf dem Kreml verbrachten, widmeten sie den Kirchen. Alle waren jetzt während der »Marterwoche« von Andächtigen überfüllt. Die Geistlichkeit in schwarzen, mit Silber geschmückten Gewändern hielt feierliche Andachten. Weihrauchdämpfe, Chorgesänge erfüllten die kleinen, überputzten und dunklen Kathedralen. – Reiche bunte Kirchenfahnen und Geräte, prunkende Ikonostas mit Reihen von Heiligenbildern, die mit Juwelen überreich geschmückt sind – Nischen, in denen kostbare Särge und Reliquienschreine in mystischem Halbdunkel von ewigen brennenden Lämpchen stehen – bemalte Pfeiler bis in die Spitzen der Kuppeln ihre angeschwärzten Malereien fortsetzend – sind das Charakteristikum all dieser Gotteshäuser, in denen unermeßliche Schätze aufgehäuft sind. – Während die beiden Herren den Iwan Welikij-Turm bestiegen, begaben sich Lotte und Frau Schmidt noch in den Myrowarnaja Palata. Dort wurde alle drei Jahre das heilige Salböl »Chrisam« in silbernen Kesseln bereitet. Da dies Jahr gerade diese Zeremonie stattfand, war der Zudrang des Volkes ungeheuer. Das Gefühl für den Kultus ist so in die Russen übergegangen, daß Offiziere, Beamte, Gelehrte, brillantengeschmückte Moskauer Millionen-Kaufleute neben den ärmsten Muschiken in Schafpelz und Lumpen knieten. Mit der passiven Liebenswürdigkeit, die den Russen eigen, ließen sie die Fremden auch während des Gottesdienstes ruhig umhergehen. Kein Blick traf sie, auch wenn sie die Gebräuche nicht mitmachten. – »Nee! – sagte Frau Schmidt angeekelt und zupfte Lotte am Mantel – Kommen Sie heraus, Frau Doktor! Die Luft ist scheußlich, und man kann noch was Springendes aufgreifen. Die Brüder da sehen mir ganz danach aus, äch!« – – Als sie vor dem Kathedraleplatz auf und abgingen, äußerte sie ihre Empörung über den Schmutz des russischen Volkes. Die junge Frau schwelgte wieder in der Aussicht und sagte verträumt: »Lassen Sie doch die Leutchen gehen, wir brauchen ja nich so dichte 'ran. Sehen Sie sich lieber um! Ist es nicht herrlich, wie die Sonnenstrahlen auf all den Kreuzen und Kuppeln flimmern. Gerad' als ob Gott durch sein Licht die Stätten seines Dienstes grüßen und segnen wollte!« – – Frau Schmidt hatte auf das letzte gar nicht geachtet. – »Na eben? – meinte sie energisch zustimmend – Scheußlich blendet es, wie im Sommer am Strande! Man könnt 'n blaues Glas vertragen, un 'ne Zugluft is hier oben. Ich weiß nich, was mein Franz immer von den Kreml hermacht!? So bunt wie der is und die Mauer mit die Türme. Jeder anners, da hätten sich doch die Bauleute 'n bißchen mehr Mühe geben können und alle eengal bauen und eine Farbe drauf streichen! 'ne solide Arbeit wie bei uns auf'n Schloßplatz – – – –«

»Da kommt mein Mann! Hu, wie sind die Herren erhitzt!« – rief Lotte und eilte fort. In ihrem Ton lag aber eine ganze Skala von Zorn und Verachtung. – »Nun, wie war es?« – – »Schön; aber die Olle – – –« – – »Na, verehrte Madame Doktor, was machen wa nu?« – fragte Schmidt und wischte den Schweiß von dem glühenden Gesicht.

»Ja, wann müssen Sie denn bei Ihrem Herrn Sohn sein?« – fragte Lotte. Schmidt sah nach der Uhr. »Erst halb drei, wir haben noch Zeit, 'ne reichliche Stunde! Wenn die Herrschaften jestatten, schließen wa uns noch an! Es is ja so schön mit Sie, und man kommt sich nich so unjlicklich und verlassen vor! Hoffentlich dirfen wa noch 'n Weilchen mitzoddeln?« – – »Gewiß doch, was in meinen Kräften steht, soll geschehen!« – erklärte die gutmütige junge Frau, sofort bezwungen. Der Arzt lächelte. »Die Du riefst – die Geister – – –« begann er ein Zitat und verstummte, als sie ihm ihre rote Zungenspitze zeigte. – Auf ihren Rat wandelten sie zu Fuß durch das heilige Erlöserthor. Die Herren entblößten der Landessitte gemäß vor dem Kremlpalladium – dem Erlöserbilde – ihre Häupter, bis sie auf dem gigantischen »Roten Platze« standen. »Wie jut, Mieze, daß Dein anjestammter Jatte noch seine Locken so üppig auf den Kopp hat. Dein Bruder Emil mit seine Mondscheinlandschaft hätte sich in Moskou schon längst 'n Reißmirdüchtig in 'n Kopp jeholt!« – bemerkte Schmidt halb grimmig und stülpte seinen Hut energisch auf. – – »Hör', Lotte, ich habe entschieden Hunger. Bitte, führe uns in irgend ein Restaurant!« – sagte Willi. – »Ja, für 'n Happen-Pappen sind wa och nich abjeneigt, nich Vater?« – – »Ich wär' für 'n Schluck Bier!« – – »Ja, meine Herrschaften, ich will Sie ja nicht verhungern lassen! – rief Lotte – Soviel ich mich erinnere, ist da in den ›Handelsreihen‹ ein gutes Restaurant. Aber da wir gerade hier an dem Palmenmarkt sind, denke ich, wir sehen ihn uns einmal an!« – – »Ja, dann fügen Sie sich nur, wenn meine Frau so im Abgrasen der Sehenswürdigkeiten ist, dann ist mit ihr nichts zu machen! Das Pensum muß gemacht werden, eher spürt sie nicht Hunger und Müdigkeit!« – sagte Willi. –

Sie wanderten durch die Budenreihen, welche für diese Werbazeit hier aufgeschlagen waren. – »Ein hübsches Stück Volksleben, nicht wahr?« – sagte Lotte erheitert. – »Hm! – philosophierte Schmidt – Die janze Welt is doch jleich! Is des nu nich wie bei uns uff'n Weihnachtsmarkt? Nur daß die Leute bei uns in die Winterkälte so verfroren aussehen! Hier haben Se och Hampelmätze und Chenilleaffen und Krokodilen und Fähnchen, und den dollsten Jux! Sehen Se mal, wie sich die fliegenden Händler an eenen 'ranmachen! Wenn sie nich russisch quaddelten, könnt man denken, man wär uff'n Schloßplatz, wie es frieher war!« – – »Meine Frau und ich haben uns schon in Petersburg darüber unterhalten, daß doch das Straßenleben aller Großstädte sehr ähnlich ist! – entgegnete Willi – Auch dort haben Sie kleine Wagen, an denen gekauft wird. Und alle Straßen wimmeln von den sogenannten fliegenden Händlern. Tataren mit Leinen und Strickereien. Männer mit Lederwaren, Nähutensilien, Backobst – – –« – – »Am meisten mit Apfelsinen und Äpfeln, die sie sehr sauber blank putzen und aufschichten – unterbrach ihn Lotte – Aber auch Fische werden auf den Straßen verkauft!« – – »Und alte Möbel! – rief Willi – Weißt Du noch, da an der Fontanka?« – – »Ja, Schatz, Du meinst am Alexander-Markt. Da sind in den Höfen, zwischen den Hallen ja die berühmten Trödelmärkte – erwiderte Lotte – Wir werden hier auf den sogenannten Lausemarkt am Ssucharewturm fahren, da wirst Du etwas erleben!« –

»Na, wie ist es, wir stehen gerade vor der Kirche. In noch nicht zehn Minuten haben wir sie besichtigt, wollen wir es nicht noch thun?« – bettelte Lotte. Wirklich folgten ihr die andern noch in die Basilius-Kathedrale, deren märchenhaftes Äußere ein viel großartigeres Innere verheißt. Die elf kleinen häßlichen Kapellen und die Treppenkletterei behagte den schon ermüdeten Touristen gar nicht. »Menschenskinder, – meinte die junge Frau daher, als sie wieder draußen waren, ärgerlich – Sie sind undankbar! Schöne Kirchen, die außen unscheinbar sind, giebt es überall. Jedoch ein so interessantes Monstrum wie diese auf der ganzen Welt nicht mehr! Was schadet es da, wenn auch das Innere unserm Geschmack nicht entspricht?« – – »Herr und Heiland, mir kam es da drin vor, als ob ich im Irrgarten in Castans Panoptikum gewesen wäre! Nur daß man dort über die Spiegel lacht, während man sich hier graut. Ich dachte immer, der selige Iwan der Schreckliche müßte aus irgend 'ne Ecke kommen!« – seufzte Frau Schmidt, von Lottes Erzählungen über den grausamen Monarchen eingeängstigt. – –

In den großartigen Handelsreihen, deren Größe und architektonische Schönheit die vier aus ihrer Müdigkeit aufrüttelte, fanden sie ein Restaurant. Als sie endlich um den Tisch saßen, wurden sie sehr lustig. Lotte verstand die undeutlich geschriebene Speisekarte nicht. So bestellte sie denn flott aufs Geratewohl, indem sie mit dem Finger auf eins der angegebenen Gerichte deutete. Sie rieten dann vergnügt hin und her, was es sein mochte. Aber es war immer etwas anderes, und jeder Gang wurde zu einer Überraschung. Fellers liebten die russische Art des Zubereitens sehr, während Schmidts beständig kritisierten. – Nach dem Essen setzte Lotte die beiden in einen Iswosschtschik und verabredete mit ihnen ein neues Zusammentreffen für den folgenden Tag. Sie selbst nahmen eine Droschke und fuhren langsam durch die verschiedenen buntmalerischen Straßen des Kitaigorod, der von einer weißen Mauer umgeben ist. An der Schmiedebrücke, an der Ecke der großen Lubjanka, ließen sie halten und gingen langsam diese reiche Geschäftsstraße hinunter bis zu der Konditorei von Tremblay. Dort tranken sie Kaffee. – »Ich muß Dir gestehen, Lotte, daß ich überrascht bin!« – meinte Willi, als sie behaglich an dem großen Fenster saßen und auf die belebte Straßenecke hinausblickten. – Die Petersburger sprechen immer mit einer gewissen Herablassung von Moskau, als ob es so etwas provinziell und zurückgeblieben wäre; aber soweit ich es bis jetzt beurteilen kann, haben sie absolut unrecht! Solch großartige Magazine, solche Passagen mit erstklassigen Geschäften hat Petersburg einfach nicht!« – – »Da hast Du ganz recht, denn dort ist der Newsky mit seinen Geschäften, Gostiny und Apraxin Dwor, und damit holla! Ein Kaufhaus wie Myrr und Myrrilis, im Stile unseres Wertheim – und all die Läden mit den unvergleichlichen Auslagen, besonders die Juwelenhandlungen giebt es dort gar nicht! Warte nur, morgen zeige ich Dir noch viel großartigere Passagen! Auch das Pflaster ist hier schöner, die Fußsteige sind doch besser von den Fahrdämmen getrennt als dort. Und was die Sauberkeit anbelangt, so ist Moskau jetzt mindestens ebenso reinlich wie Petersburg. Das liegt alles an der Stadtverwaltung. Die hiesige muß ausgezeichnet sein, denn wirklich, seitdem ich hier war, haben sich die Iswosschtschiki unglaublich verbessert. Die Wagen sind sauberer gepolstert und die Uniformen der Kutscher viel besser als die der Petersburger!« – – »Wahrhaftig, Katz, ich habe fortwährend das Gleiche gedacht! Und ich habe scharf aufgepaßt! Übrigens fand ich die Idee nett, wie die Moskauer Kutscher durch geschicktes Verknoten ihrer Leinen sich Peitschen ersetzen!« – – »Mein geliebter Schlaukopf! – flüsterte Lotte und schaute ihn stolz an – Du hast ja alles beobachtet, auf was ich Dich aufmerksam machen wollte!«

Nachdem sie sich tüchtig ausgeruht und an den vorzüglichen Kuchen erbaut hatten, begaben sie sich wieder auf Straßenwanderung. Dann kehrten sie in das Hôtel zurück. Sie hatten durch den Kommissionär verschiedene Briefe besorgen lassen. Lotte hatte früheren Freunden ihre Ankunft mitgeteilt. Ein Teil dieser Herrschaften fand sich gegen Abend ein. Nach Vorstellung von Doktor Feller und fröhlicher Begrüßung begab man sich noch nach dem bekannten Eremitage-Restaurant, wo ein opulentes Souper eingenommen wurde. »Ja; aber meine verehrten Herrschaften, ich kann Ihnen nicht verhehlen, daß Sie zur ungünstigsten Zeit nach Moskau gekommen sind. Alle Theater sind geschlossen, und in den Restaurants darf nicht einmal konzertiert werden oder die Organe gespielt!« – – »Sehr richtig, Herr Rjepoff, aber mit Theatergenüssen sind wir vom Winter her beinah übersättigt. Trotzdem hätte ich meinem Manne gern die großartige Oper, besonders den Glanz eines russischen Balletts, und das wunderbare Spiel Ihrer Truppe vom »Kleinen Theater« gezeigt. Er hätte gern gesehen, ob ich mit meiner Behauptung recht habe, daß nämlich Ihr Kleines Theater neben unserem Deutschen und der Hofburg in Wien sich würdig behaupten kann? Ich stelle diese drei Häuser weit über die Comédie Française in Paris mit ihrem manierierten Stil! Diese Westeuropäer, welche Rußland nicht kennen, zweifeln ja immer – – –« – – »Nein, Lotte! – fiel ihr Willi ins Wort – Ich zweifle nicht mehr, seitdem ich mit eigenen Augen gesehen habe. – Von der Großartigkeit der hiesigen Krankenhäuser weiß man bei uns seit dem Ärztekongreß! Und was das Theater anbetrifft! Lotte und ich sahen in Petersburg Hauptmanns »Michael Kramer« von dem Moskauer Artistischen Cirkel, und wir waren entzückt von dem Spiel und der Auffassung dieser Liebhabertruppe. Ich glaube jetzt blindlings an die russische Schauspielkunst!« – – – »Sie müßten mit mir am Mittwoch Abend nach Nishny Nowgorod, Herr Doktor! – sagte Radinow – Ich muß einen Tag geschäftlich hin und bin Freitag früh wieder in Moskau. Da sehen Sie den berühmten russischen Meßort und die Wolga.« – – »Aber, Germann Alexandrowitsch, jetzt ist doch dort nichts los!« – meinte Rjepoff. – – »Das thut nichts! Das thut nichts! – jubelte Lotte – Man muß jede Gelegenheit beim Schopfe packen. Natürlich fahren wir mit, auf Nishny brenne ich schon lange!« – – »Nun, Schatz, den Brand ersticke nur gleich im Keim. Du kommst, selbst wenn ich fahren sollte, auf keinen Fall mit! Solche Extraanstrengungen hießen wirklich – – –«

Noch im Hôtel, kurz vor dem Einschlafen, wiederholte Lotte ihren Wunsch. Aber Willi hielt ihr einen energischen medizinischen Vortrag. »Bei meiner Eisenkonstruktion könnte ich doch wirklich mit, wo ich in den russischen Coupés so fest schlafe!« – brummte sie. – »Wie willst Du es nachher vor Gott, Dir und mir verantworten, wenn es zu spät ist?« – fragte er kurz. Sie schwieg, rollte sich beiseite und fügte sich seufzend: »Ich pariere schon!«


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