Christian Fürchtegott Gellert
Die zärtlichen Schwestern
Christian Fürchtegott Gellert

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Achter Auftritt

Siegmund allein.

Das war ein verfluchter Streich! Aber er macht mich nur mutiger. Julchen ist verloren... Gut, ist doch Lottchen, ist doch das Rittergut mein... Ich bin nicht untreu gewesen. Nein! Ich habe es nur sein wollen; aber ich war zu edel, als daß mich's die Umstände hätten werden lassen. Aber wo bleibt Lottchen? Hat sie gar meine Untreue erfahren? Ich will sie sicher machen.

Neunter Auftritt

Julchen. Damis.

Julchen. »Wo bleibt Lottchen? Hat sie gar meine Untreue erfahren? Ich will sie sicher machen.« Der Boshafte! Hörten Sie sein Bekenntnis? Wir wollten sehen, wie er sich nach diesem Briefe aufführen würde. O hätten wir diese unglückselige Entdeckung doch niemals gemacht! Du arme Schwester! Du verbindest dich mit einem Menschen, der ein böses Herz bei der Miene der Aufrichtigkeit hat.

Damis. Ja, es ist ein nichtswürdiger Freund, wie ich Ihnen gesagt habe. Er hat den größten Betrug begangen. Ich bitte ihn heute Vormittage, wie man einen Bruder bitten kann, daß er mir Ihre Liebe sollte gewinnen helfen. Und statt dessen bittet er Ihren Herrn Vater, unsere Verlobung noch acht Tage aufzuschieben, und will ihn bereden, als ob Sie, meine Braut, ihn selbst liebten. Ist das mein Freund, dem ich mehr als einmal mein Haus und mein Vermögen angeboten habe?

Julchen. Mich hat er bereden wollen, daß Sie meiner Schwester gewogener wären als mir. Nunmehro weiß ich gewiß, daß es keine Verstellung gewesen. Aber meine arme Schwester wird es doch denken, weil sie ihm diese List aus gutem Herzen aufgetragen hat. Wer soll ihr ihren Irrtum entdecken? Wird sie uns hören? Und wenn sie es glaubt, überführen wir sie nicht von dem größten Unglücke! Wie dauret sie mich!

Damis. Ja. Aber sie muß es doch erfahren, und wenn Sie schweigen, so rede ich.

Julchen. Ach, bedenken Sie doch das Elend meiner lieben Schwester! Schweigen Sie. Vielleicht... Vielleicht ist er nicht von Natur boshaft, vielleicht hat ihn nur meine Erbschaft...

Damis. Es habe ihn, was auch immer wolle, zur Untreue bewogen: so ist er in meinen Augen doch allemal weniger zu entschuldigen als ein Mensch, der den andern aus Hunger auf der Straße umbringt. Hat ihn die ausnehmende Zärtlichkeit, die ganz bezaubernde Unschuld, die edelste Freundschaft Ihrer Jungfer Schwester nicht treu und tugendhaft erhalten können: so muß es ihm nunmehr leicht sein, um eines Gewinstes willen seinen nächsten Blutsfreund umzubringen und die Religion der geringsten Wollust wegen abzuschwören.

Julchen. Aber ach, meine Schwester... Tun Sie es nicht. Ich zittre...

Damis. Meine Braut, Sie sind mir das Kostbarste auf der Welt. Aber ich sage Ihnen, ehe ich Lottchen so unglücklich werden lasse, sich mit einem Nichtswürdigen zu verbinden: so will ich mein Vermögen, meine Ehre und Sie selbst verlieren. Ich gehe und sage ihr alles, und wenn sie auch ohne Trost sein sollte. Mein Herr Vormund hat das Billett an Lottchen auf meine Bitte schreiben und auf die Post bringen lassen. ihr ehrlicher Vater und der Magister, die Siegmund beide für zu einfältig gehalten, haben seine tückischen Absichten zuerst gemerkt, und ihr Herr Vater hat sie meinem Vormunde vertraut. Dieser haßt und sieht die kleinsten Betrügereien.

Julchen. Ist er denn gar nicht zu entschuldigen?

Damis. Nein, sage ich Ihnen. Wir haben alles untersucht. Er ist ein Betrüger. (Mit Bitterkeit.) Ich habe in meinem Leben noch kein Tier gern umgebracht; aber diesen Mann, wenn er es leugnen und Lottchen durch seine Verstellung unglücklich machen sollte, wollte ich mit Freuden umbringen. Was? Wir Männer wollen durch den häßlichsten Betrug das Frauenzimmer im Triumph aufführen, das wir durch unsere Tugend ehren sollten?

Julchen. Was soll aber meine Schwester mit dem Untreuen anfangen?

Damis. Sie soll ihn mit Verachtung bestrafen. Sie soll ihn fühlen lassen, was es heißt, ein edles Herz hintergehn.

Julchen. Wenn ihm aber meine Schwester verzeihen wollte. Wäre das nicht auch großmütig?

Damis. Sie braucht ihn nicht zu verfolgen. Sie kann alle Regungen der Rache ersticken und sich doch seiner ewig entschlagen. Er ist ein Unmensch.

Zehnter Auftritt

Die Vorigen. Simon.

Simon. Ich stehe die größte Qual aus. Unsere Absicht mit dem Briefe schlägt leider fehl. Sie liebt ihn nur desto mehr, je mehr sie ihn für unschuldig hält. Sie dringt in ihren Vater, daß er die Verlobung beschleunigen soll. Dieser gute Alte liebt seine Tochter und vergißt vielleicht in der großen Liebe die Vorsichtigkeit und meine Erinnerungen. Wenn es niemand wagen will, sich dem Sturme preiszugeben: so will ich's tun.

Damis. Ich tue es auch.

Julchen. Wenn nur meine Schwester käme. Ich wollte... Aber sie liebt ihn unaussprechlich. Was wird ihr Herz empfinden, wenn es sich auf einmal von ihm trennen soll?

Simon. Es wird viel empfinden. Sie liebt ihn so sehr, als man nur lieben kann. Aber sie liebt ihn deswegen so sehr, weil sie ihn der Liebe wert hält. Sobald sie ihren Irrtum sehen wird: so wird sich die Vernunft, das Gefühl der Tugend und das Abscheuliche der Untreue wider ihre Liebe empören und sie verdringen. Der Haß wird sich an die Stelle der Liebe setzen. Wir müssen alle drei noch einmal mit ihr und dem Herrn Vater sprechen, ehe er sie um das Ja betrügt.

Julchen. Du redliche Schwester! Könnte ich doch dein Unglück durch Wehmut mit dir teilen! Wie traurig wird das Ende dieses Tages für mich!

Simon. Betrüben Sie sich nicht über den Verlust eines solchen Mannes. Lottchen ist glücklich, wenn sie ihn verliert, und unglücklich, wenn sie ihn behält. Herr Damis, haben Sie die Güte und sehen Sie, wie Sie Lottchen einen Augenblick von ihrem Liebhaber entfernen und hieherbringen können.

Damis. Ja, das ist das letzte Mittel.

Simon (zu Damis). Noch ein Wort. Haben Sie die Abschrift des Testaments schon gelesen, die ich itzt mitgebracht habe?

Damis. Nein, Herr Vormund.

Simon. Sie auch nicht, Mamsell Julchen?

Julchen. Nein.

Simon. Also wissen Sie beide noch nicht, daß die erste Nachricht falsch gewesen ist. Mamsell Julchen, erschrecken Sie nicht. Sie sind nicht die Erbin des Ritterguts.

Julchen. Wie? Ich bin's nicht? Warum haben Sie mir denn eine falsche Freude gemacht? Das ist betrübt. Geht denn heute alles unglücklich? Ach, Herr Damis, Sie sagen nichts? Bin ich nicht mehr Ihre Braut? Geht denn das Unglück gleich mit der Liebe an? Ich wollte meinen Vater und meine liebe Schwester mit in mein Gut nehmen. Ich ließ schon die besten Zimmer für sie zurechtemachen. Ach, mein Herr, was für Freude empfand ich nicht, wenn ich mir vorstellte, daß ich Sie an meiner Hand durch das ganze Gut, durch alle Felder und Wiesen führte... ! Also habe ich nichts?

Damis. Sie haben so viel, als ich habe. Vergessen Sie die traurige Erbschaft. Es wird uns an nichts gebrechen. Mir ist es recht lieb, daß Sie das Rittergut nicht bekommen haben. Vielleicht hätte die Welt geglaubt, daß ich bei meiner Liebe mehr auf dieses als auf Ihren eigenen Wert gesehen hätte. Und dies soll sie nicht glauben. Sie soll meine Braut aus ebender Ursache hochschätzen, aus der ich sie verehre und wähle. Führen Sie mich an Ihrer Hand in meinem eigenen Hause herum: so werden Sie mir ebendas Vergnügen machen. Genug, daß Sie ein Rittergut verdienen. O wenn ich nur Lottchen aus ihrem Elende gerissen hätte. Ich werde eher nicht ruhig.

Simon. Jungfer Lottchen ist die Erbin des Ritterguts.

Julchen. Meine Schwester ist es? Meine Schwester? Bald hätte ich sie beneidet; aber verwünscht sei diese Regung! Nein! Ich gönne ihr alles. (Zu Damis.) Was könnte ich mir noch wünschen, wenn Sie mit mir zufrieden sind. Sie soll es haben. Ich gönne ihr alles.

Damis. Auch mich, meine Braut?

Julchen. Ob ich Sie meiner Schwester gönne? Nein, so redlich bin ich doch nicht. Es ist keine Tugend; aber... Fragen Sie mich nicht mehr.

Damis. Nein. Ich will Mamsell Lottchen suchen. Die Zärtlichkeit soll der Freundschaft einige Augenblicke nachstehen.

Eilfter Auftritt

Julchen. Simon.

Julchen. Ob ich ihn meiner Schwester gönne? Wie könnte sie das von mir verlangen? Sie hat ja das Rittergut. Ich liebe sie sehr; aber wenn ich ihre Ruhe durch den Verlust des Herrn Damis befördern soll: so fordert sie zu viel. Das ist mir nicht möglich.

Simon. Machen Sie sich keine Sorge. Sie wird es gewiß nicht begehren. Ich muß Ihnen auch sagen, daß sie Ihnen nach dem Testamente zehntausend Taler zu Ihrer Heirat abgeben soll.

Julchen. Das ist alles gut. Wenn ich nur meiner Schwester ihren Liebhaber durch dieses Geld treu machen könnte, wie gern wollte ich's ihm geben! Der böse Mensch! Kann er nicht machen, daß ich den Herrn Damis verliere, indem er Lottchen verliert? Aber warum läßt der Himmel solche Bosheiten zu? Was kann denn ich für seine Untreue? Ich bin ja unschuldig.

Simon. Mein Mündel kann niemals aufhören, Sie zu lieben. Verlassen Sie sich auf mein Wort. Jungfer Lottchen ist zu beklagen. Aber besser ohne Liebe leben, als unglücklich lieben. Wenn sie doch käme!

Julchen. Aber wenn sie nun kömmt? Ich kann ja ihre Ruhe nicht herstellen. Ich habe sie herzlich lieb. Aber warum soll denn meine Liebe mit der ihrigen leiden? Nein, so großmütig kann ich nicht sein, daß ich ihr zuliebe mich und... mich und ihn vergäße. Wenn sie doch glücklich wäre! Ich werde recht unruhig. Er sagte, er wollte die Zärtlichkeit der Freundschaft nachsetzen. Was heißt dieses?

Simon. Bleiben Sie ruhig. Mein Mündel ist der Ihrige. Sie verdienen ihn. Und wenn Sie künftig an seiner Seite die Glückseligkeiten der Liebe genießen: so verdanken Sie es der Tugend, daß sie uns durch Liebe und Freundschaft das Leben zur Lust macht.

Zwölfter Auftritt

Die Vorigen. Der Magister.

Der Magister. Herr Simon, ich möchte Ihnen gern ein paar Worte vertrauen. Wenn ich nicht sehr irre: so habe ich heute eine wichtige Entdeckung gemacht, was die Reizungen der Reichtümer für Gewalt über das menschliche Herz haben.

Simon. Ich fürchte, daß mir diese unglückliche Entdeckung schon mehr als zu bekannt ist.

Der Magister. Ich habe der Sache alleweile auf meiner Studierstube nachgedacht.

Julchen. Können Sie uns denn sagen, wie ihr zu helfen ist? Tun Sie es doch, lieber Herr Magister.

Der Magister. Siegmund muß bestraft werden, damit er gebessert werde.

Simon. Er verdient nicht, daß man ihn anders bestrafe als durch Verachtung.

Der Magister. Aber wie sollen seine Willenstriebe gebessert werden?

Simon. Ist denn die Verachtung kein Mittel, ein Herz zu bessern?

Der Magister. Das will ich itzt nicht ausmachen. Aber sagen Sie mir, Herr Simon, ob die Stoiker nicht recht haben, wenn sie behaupten, daß nur ein Laster ist; oder daß, wo ein Laster ist, die andern alle ihrer Kraft nach zugegen sind? Sehn Sie nur Siegmunden an. Ist er nicht recht das Exempel zu diesem Paradoxo?

Simon. Ja, Herr Magister. Aber wie werden wir Jungfer Lottchen von der Liebe zu Siegmunden abbringen? Sie glaubt es ja nicht, daß er untreu ist.

Der Magister. Das wird sich schon geben. O wie erstaunt man nicht über die genaue Verwandtschaft, welche ein Laster mit dem andern hat und welche alle mit einem haben! Siegmund wird bei der Gelegenheit des Testaments geizig. Ein Laster. Er strebt nach Julchen, damit er ihre Reichtümer bekomme. Welcher schändliche Eigennutz! Er wird Lottchen untreu und will Julchen untreu machen. Wieder zwei neue Verbrechen. Er kann sein erstes Laster nicht ausführen, wenn er nicht ein Betrüger und Verräter wird. Also hintergeht er seinen Freund, seinen Schwiegervater, Sie, mich und alle, nachdem er einmal die Tugend hintergangen hat. Aber alle diese Bosheiten auszuführen, mußte er ein Lügner und ein Verleumder werden. Und er ward es. Welche unselige Vertraulichkeit herrscht nicht unter den Lastern? Sollten also die Stoiker nicht recht haben?

Simon. Wer zweifelt daran? Herr Magister. Ich glaube es, daß Sie die Sache genauer einsehen als ich und Jungfer Julchen. Sie reden sehr wahr, sehr gelehrt. Sie haben seine Untreue zuerst mit entdeckt, und wir danken Ihnen zeitlebens dafür. Aber entdecken Sie nun auch das Mittel, Lottchen so weit zu bringen, daß sie sich nicht mit dem untreuen Siegmund verbindet.

Der Magister. Darauf will ich denken. Lottchen ist zu leichtgläubig gewesen. Aber sie kann bei dieser Gelegenheit lernen, wieviel man Ursache hat, ein Mißtrauen in das menschliche Herz zu setzen, wenn Man es genau kennt und die Erzeugung der Begierden recht ausstudiert hat. Wir haben so viele Vernunftlehren. Eine Willenslehre ist ebenso nötig. Ist denn der Wille kein so wesentlicher Teil der Seele als der Verstand? So wie der Verstand Grundsätze hat, die sein Wesen ausmachen: so hat der Wille gewisse Grundtriebe. Kennt man diese, so kennt man sein Wesen; und so kennt man auch die Mittel, ihn zu verbessern. Jungfer Muhme, reden Sie aufrichtig, habe ich's Ihnen nicht hundertmal gesagt, daß Siegmund nichts Gründliches in der Philosophie weiß? Dies sind die traurigen Früchte davon.

Julchen. Lieber Herr Magister, wenn Sie so viel bei der betrübten Sache empfänden als ich, Sie würden diese Frage itzt nicht an mich tun. Sie haben mich heute eine Fabel gelehrt. Und ich wollte wünschen, daß Sie an die Fabel von dem Knaben gedächten, der in das Wasser gefallen war. Anstatt daß Sie uns in der Gefahr beistehen sollen: so zeigen Sie uns den Ursprung und die Größe derselben. Nehmen Sie meine Freiheit nicht übel.

Der Magister. Ich kann Ihnen nichts übelnehmen. Zu einer Beleidigung gehört die gehörige Einsicht in die Natur der Beleidigung. Und da Ihnen diese mangelt: so sehen Ihre Reden zwar beleidigend aus; aber sie sind es nicht.

Simon. Aber, was wollen Sie denn bei der Sache tun?

Der Magister. Ich will, ehe die Versprechung vor sich geht, Lottchen und meinem Bruder kurz und gut sagen, daß ich meine Einwilligung nicht darein gebe. Alldann muß die Sache ein ander Aussehn gewinnen.

Simon. Gut, das tun Sie.

Dreizehnter Aufzug

Julchen. Simon.

Julchen. Ich will dem Herrn Magister nachgehen. Er möchte sonst gar zu große Händel anrichten. Entdecken Sie Lottchen, wenn sie kömmt, die traurige Sache zuerst. Ich will sorgen, daß Sie Siegmund in Ihrer Unterredung nicht stört und Ihnen, wenn ich glaube, daß es Zeit ist, mit meinem Bräutigame zu Hülfe kommen.

Simon. Ich will als ein redlicher Mann handeln. Und wenn ich mir auch den größten Zorn bei Ihrer Jungfer Schwester und die niederträchtigste Rache von dem Herrn Siegmund zuziehen sollte: so will ich doch lieber mich als eine gute Absicht vergessen.


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