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8.

In einer Weile darauf war die Grillin oben im Berschenhofe. Sie wurde von niemandem gesehen, als sie hinter den Scheunen des Kinihofes hinaufschlich. Friderun und ihr Vater hatten eben das Vieh abgefüttert und traten miteinander aus der Stalltüre, als die Grillin durch das Hinterpförtchen in den Hofraum kam.

Vater und Tochter hatten keinen Grund, über diesen Besuch zu staunen. Die Grillin gehörte nicht zu den seltensten Gästen auf dem Berschenhofe. Sie genoss hier seit Jahren so viel Achtung und Freundschaft wie in keinem zweiten Hause des Dorfes. Sie war nämlich die Taufpatin der Berschentöchter, zu deren mütterlicher Freundin sie sich darum seit jeher aufwarf, wenn es ihr gerade gefiel. Man hatte seinerzeit der »Dahergelaufenen« diese Patenschaft freilich aus keinem anderen Grunde angetragen als darum, weil der Bersch und der Grill Geschwisterkinder waren. Eine freigebigere Patin hätte man den Berschentöchtern im Dorfe nicht finden können, wenn auch eine wohlmeinendere. Was Friderun und ihre Schwestern an besseren Kleidern und Kleinodien besaßen, schenkte ihnen alles im Verlaufe der Zeit die Grillin. Sie fühlten sich darum niemandem so sehr zum Danke verpflichtet wie ihr.

Friderun machte es sich seit Kindheit zum bitteren Selbstvorwurfe, dass sie für die Patin nicht das rechte Gefühl hatte, und meinte sich hierzu förmlich zwingen zu müssen. So kam es, dass sie der Grillin stets mit ausgesuchter Höflichkeit begegnete und von dieser allen Ernstes für das artigste Geschöpf des Dorfes gehalten wurde.

Eine besondere Neigung empfand die Grillin freilich nie für das Patenkind, eher eine meisterlich geheim gehaltene Scheelsucht, schon darum, weil sich Friderun um so viel schöner entwickelte und allenthalben um so viel höher geschätzt wurde als Leni. Heute aber kam die Grillin mit einem glühenden Hasse in den Berschenhof.

»Um einen Gefallen komm ich bitten«, sagte die Grillin in freundlichem, lachendem Tone. »Wir führen morgen den Mist auf das Anawandfeld, und da müsst ihr uns euere Ochsen leihen zum Vorspannen.«

»Gern«, entgegnete der Bersch. »Komm herein in die Stube, Gotin.«

Drinnen redeten sie gleichgültige Dinge von dem Wetter und der Bauernarbeit. Die Grillin zeigte sich so heiter und unbefangen als nur je. Das dauerte, bis die Zweitälteste mit glühenden Wangen schweiß- und staubbedeckt von ihrem weiten Einkaufsgange zurückkam. Sie trug in einem Handkorbe einen halben Kalbsschlegel und zwei Tüten.

»Wo kommst denn du daher?« fragte die Grillin.

Das Mädchen wurde verlegen und sah die Friderun und den Vater mit einem Blicke an, als wollte es fragen: Darf ich es verraten?

»Einkaufen war sie«, entgegnete statt ihrer der Bersch und setzte dann hinzu: »Vielleicht sagt dir die Friderun mehr. Der Gotin darf man ja so was sagen.« Er war eben so glücklich, dass er es in die ganze Welt hätte hinaus jubeln mögen.

Die Grillin fragte freundlich: »Wird gewiss keinen unrechten Grund haben, das Einkaufen?«

Friderun stand auf und winkte der Patin, ihr zu folgen. Es waren die beiden kleinen Brüder in der Stube, vor denen das Mädchen nicht gerne seine Offenbarungen machte. In dem kleinen, traulichen Nebenzimmer setzten sich die beiden Frauen nebeneinander auf die Truhe.

»Nun?« fragte die Grillin mit gut gemachter Neugier. »Wird doch um Gottes willen nichts Schreckhaftes sein?«

»Nein«, sagte Friderun, welcher es nichts weniger als ein Bedürfnis war, der Patin ihr Herzensgeheimnis zu verraten. Das Mädchen ärgerte sich sogar heimlich über die Mitteilsamkeit seines Vaters, wagte es jedoch nicht, der verehrten Patin das schuldige Vertrauen zu verweigern. »Es ist nichts Schreckhaftes, Gotin. Der Kinibub will nachmittags zu uns kommen; warum, das wirst dir denken können.«

Der Grillin schien der Atem auszubleiben. Sie saß wie im Entsetzen erstarrt. Endlich fragte sie:

»Der Leonhard? Zu dir? Nein, das kann nit wahr sein, was ich mir denk, so schlecht kann ich nit denken von meinen Nebenmenschen, obwohl, obwohl der Kinibub – Red!« fuhr sie dann ungestüm. fort, »hilf mir aus meinem Schrecken und meiner Irrung; denn das kann nit wahr sein, was ich aus deinen Worten verstanden hab.«

Friderun erschrak mächtig.

»Du musst mich missverstanden haben, Gotin«, sagte sie. »Ich hab sagen wollen, dass, dass – es wär' doch schicksamer gewesen, wenn dir's der Vater gesagt hätt'.« Sie wollte zur Türe und den Vater hereinrufen.

»Bleib!« befahl die Grillin, »ich weiß's jetzt schon sicher. Der Kini will dich heiraten, gelt?«

»Ja«, sagte Friderun, »das heißt, wenn ich mich nit täusch.«

Sie war voll quälender Neugier, was denn die Grillin so arg erregen möge.

Da schlug das Weib die beiden Hände vor das Gesicht und stöhnte aus tiefster Brust.

»Was ist's denn?« fragte Friderun voll Angst. »Was ist's denn, Gotin? Red, red!«

»Ich kann nit«, ächzte die Grillin. »Hast ihn gern? Red aufrichtig! Hast ihn gern?«

»Ja, Gotin.«

»Ja?« wiederholte diese, als hätte sie einen mordenden Stich erhalten. »Und hast du ihn recht, recht gern, Friderun? Antwort mir!«

»Ja.«

»Dann, du armes Kind, – dann darf ich nit ausreden, dann tut es mir in Ewigkeit leid, dass ich mir jetzt hab den Schrecken anmerken lassen. Und er hat doch keinen so argen Grund, keinen so argen Grund, glaub mir's nur, Friderun, er hat keinen so argen Grund.«

Sie sah aus, als ob sie sich bestreben wollte, die Friderun wieder zu beruhigen, und als ob sie dabei doch unter einem fürchterlichen, zur Verzweiflung treibenden Schicksalsschlag litte.

»Du musst mir schon die Wahrheit sagen«, sprach Friderun, welche sich darauf gefasst machte, etwas Furchtbares zu hören. »Red nur. Ich kann alles anhören. Wirst doch nit falsch mit mir sein wollen!«

Friderun war weit entfernt, auch nur an die Möglichkeit zu glauben, dass die Grillin in diesem Augenblicke heuchelte.

»Falsch?« fragte die Grillin und schien nun mit Betrübnis einzusehen, dass sie Friderun nicht mehr werde mit tröstlichen Lügen befriedigen können. »Lieber wär' ich falsch und ließe dich in deinem Glück, anstatt dass ich dich herausreiß, indem ich dir die Wahrheit sag.«

»Red nur«, sagte Friderun mit großer Ruhe und richtete sich auf, als ob sie sich gegen einen schweren Schlag erwehren wollte.

»Du bist stark«, sagte die Grillin und seufzte wie erleichtert auf. »Gott sei Dank. Es wird dich nit vernichten, was ich dir zu sagen hab. Nur die Augen wird es dir öffnen. Nit wahr, du bist stark und gefasst?«

»Ja, Gotin, stark und gefasst.«

»Aber eines vor allem«, sprach die Bäuerin, »schweigen musst du über das, was du jetzt erfährst. Schweigen zu deinem Vater, zu deinen Geschwistern, zu Leonhard, zu allen! Handeln kannst du nach Belieben. Aber schweigen musst du. Nur unter der einen Bedingung –«

Friderun reichte ihr die Hand und sagte: »Da hast du meine Hand und mein Wort darauf.«

»Gut«, entgegnete die Grillin. »Ich trau dir mehr als einem jeden Mann. So hör mich denn an! Der Leonhard – mein Dirndl, die Leni – Gott!« unterbrach sie sich plötzlich wieder und rang wie im unsäglichsten Kummer die Hände. »Wenn eine Mutter so was erzählen muss von ihrem eigenen Kind! Du weißt es wohl, Friderun, mein Leni hat den Leonhard gern. Eine wahnsinnige Leidenschaft ist das von meinem Kind, und ich glaub nit, dass sie darüber richtig bei Sinnen bleibt. Vor der Welt hat er sie nie estamiert, der Leonhard – da war er zu stolz –, aber heimlich, heimlich, da war sie ihm gut. Und jetzt – soll ich es sagen? Wer weiß's, ob es noch so kommt, vielleicht geht das Dirndl eher zu Grund an seinem Elend, und das wär' gut, wär' ein Glück; denn lieber tot als fürs Leben unglücklich und ohne Ehr.«

Friderun wankte und stützte sich auf das Fensterbrett.

Die Grillin schien es nicht zu bemerken; sie saß während ihrer Worte wie von der Last ihres Unglückes bedrückt mit tiefgesenktem Haupte da und redete weiter:

»Der Leonhard will sie nit heiraten. Er hat sie ja immer verschmäht vor der Welt. Aber er will etwas anderes tun, damit er ihr die Ehr rett' und damit er selber vor der Welt der tugendsame Kinisohn bleibt. Er will zweitausend Gulden opfern, damit kein Gered von ihm unter die Leut kommt. Die zweitausend Gulden gibt er einem armen Teufel, dem Ferdl. Und der muss dafür die Leni heiraten. Verstehst? Er heirat't sie eigentlich gern. Und sie? Was soll sie tun? Was sollen wir tun? Wir stecken bis über den Kopf in den Schulden. Mit den zweitausend Gulden ist geholfen, und der Leni ihr Elend kommt nit in die Öffentlichkeit. Wenn aber die Leut fragen, wo hat der Ferdl das viele Geld her, da hat uns der Kini schon die Antwort angeraten: Ein reicher Böhm hat sie heiraten wollen. Und das hat der Kini nit zu'geben. Lieber hat er dem Ferdl ein Heiratsgut geschenkt, damit die Leni einen deutschen Mann kriegt und der Kini einen deutschen Nachbarn. Und da werden die Leut den Kini loben und bestaunen. Schon das ist die zweitausend Gulden wert. Kennst ihn jetzt, den Kini, Friderun?«

»Ja«, sagte das Mädchen. »Schwer glaub ich das von ihm, aber was nützt es? Ich muss es glauben lernen. Gelogen kannst ja so etwas nit haben. Eine Mutter lügt so etwas nit. Ich dank dir für die Wahrheit, so bitter sie ist, und werd mich zu richten wissen. Ich mag keinen solchen, der zu so was imstande ist. Ich hab seinen Stolz für einen anderen gehalten. überhaupt hat er ja noch nit um mich angehalten. Wenn er's heut richtig tut, so sag ich einfach: Nein! Arme, arme Leni, viel tausend Mal ärmer als ich!«

»Gelt?« rief die Grillin und fiel der anderen weinend um den Hals. Friderun meinte der Schluchzenden noch Trostesworte sagen zu müssen, fand aber doch keines. Endlich löste sich die Grillin wieder aus der Umarmung los und sagte: »Weil nur du so ein männlich Weib bist! Wenn der dich auch unglücklich machen sollt', dich! Für den bist du zu gut. Und wenn er goldene Berg hätt' bei seinen Eigenschaften, so verwirfst du dich doch, wenn du ihn heiratest.«

»Es ist aus zwischen mir und ihm«, sagte Friderun.

»Aber dein Vater und deine Geschwister werden es erfahren wollen, warum es aus ist mit der Heirat«, bemerkte die Grillin.

»Sie werden es nit erfahren.«

»Um Gottes willen, sag ihnen nichts! Zuwegen dem heirat't ja die Leni den Ferdl, dass kein Mensch eine Ahnung kriegen soll von der Sachlag. Um aller Heiligen willen, schweig! Du bist ja nit eine von denen, die sich für ihr Tun und Lassen zu verantworten brauchen. Du brauchst es nur zu verantworten vor dir und vor Gott, was du tust, vor sonst niemandem.«

»Ich hab dir mein Wort 'geben, Gotin.«

»Und dein Wort gilt mir statt tausend Schwür', Friderun. Aber wenn du dem Leonhard nur ein Wort davon sagst, dass ich die Verräterin hab gemacht, – ich hab sie ja schier wider Willen gemacht in meinem Schrecken und in meiner heillosen Verwirrung –, wenn du ihm nur den geringsten Vorwurf über sein Tun machst, so kann es geschehen, dass wir in ein paar Tag mit dem Bettelsack ausziehen müssen und –«

»Fürcht dich nit«, sagte Friderun. »Es ist nit notwendig, dass ich dem Leonhard seine Sünden vorhalt, es ist genug, wenn ich sag: Ich mag dich nit.«

In einer Viertelstunde darauf ging die Grillin befriedigt nach Hause. Sie sah, dass sie sich in Friderun nicht getäuscht hatte. Sie hielt sich für eine große, weise Menschenkennerin.

Der Bersch wollte von seiner Tochter wissen, was sie so lange mit der Patin redete. Friderun antwortete einfach: »Nun, von dem lieben Heiraten haben wir halt geredet.« Sie ließ die Schwestern alle Vorbereitungen. zum Empfange des Bräutigams machen. Wenn sie nur mit einem Worte ihre jetzige Willensmeinung geäußert hätte, wäre ja ein Verdacht auf die Grillin gefallen. Und Friderun gedachte Wort zu halten.

Im Laufe des Nachmittags ging sie einmal auf den Dachboden und starrte eine Weile zur Fensterluke hinaus auf die Berge. Sie hatte bisher das Unglück schon in verschiedenen Gestalten kennen gelernt. Sie durchkostete mit den Ihren das Elend der Armut.

Bei den gefahrreichen Mühen des Bergbauernlebens hatte sie schwere Sorgen getragen seit ihrer zartesten Kindheit. Die Mutter starb ihr, und das war für Friderun schmerzlicher, trauriger als für manches andere Kind. Aber bei allem war etwas wie ein Sonnenstrahl in ihrem Herzen geblieben. Voll und warm war dieses Herz bei allem bisherigen Unglück gewesen, die Lust zum Leben, die Neigung zum Hoffen war daraus nicht gewichen. Es war ihr, als ob sie nur für das eine Glück gelebt hätte, welches sie jetzt verloren sah. Nichts war ihr so heilig und wertvoll gewesen wie der schöne, herrliche Glaube an diesen Mann. Auf nichts hätte sie so freudig und sicher schwören mögen wie auf seine Seelenreinheit.

Sie wollte ihn nur so, wie sie ihn kannte, nicht anders. So wie er ihr jetzt erschien, verachtete sie ihn. Weil sie den Glauben an ihn verlor, hielt sie seine Liebe für wertlos. Was nützte es da, wenn er sie liebte, wenn er was immer tat und opferte, um sie zu gewinnen? Sie wusste jetzt, dass er sie nie gewinnen würde, und empfand es mit Genugtuung, dass sie ihm kein bindendes Wort gegeben.

Friderun hätte auch um keinen Preis einen Mann genommen, auf welchen eine andere mehr Rechte hatte. Sie besaß nicht die Niedrigkeit der Gesinnung, um als eine sieghafte Nebenbuhlerin glücklich sein zu können. Am wenigsten wollte sie noch Leni zu einer Neiderin haben. Sie glaubte der Tochter ihrer. Patin ganz besondere Rücksichten zu schulden.

Aber das waren lauter Umstände, welche Friderun jetzt nur flüchtig in Betracht zog. Ihr ganzes Unglück war, dass sie den Glauben an ihn, den Einzigen, verlor. Friderun hätte von keinem Schmerze ärger betroffen werden können. Tränen fand sie nicht. Sie hatte auch nicht die Empfindung, als ob ihr nach einem noch so heftigen Schmerzensausbruch leichter werden könnte.

Ehe sie vom Boden herabstieg, warf sie noch einen Blick durch die Dachluke zum Himmel empor und murmelte: »Werd es tragen und mich still daran gewöhnen. Wie du halt willst, du da droben. Ist ja meine Schuld, dass ich ihn für so gut hab gehalten und jetzt so schwer an die Wahrheit glaub. So einen, der mir gefällt, hast vielleicht gar nit erschaffen, aber mir hast einen Geschmack gegeben, mit dem ich muss elend werden. So erhalt mir jetzt wenigstens in meinem Unglück den Glauben an dich.«

Dann ging sie langsam und aufrecht in den Garten hinaus. Da jubelten in den blühenden, duftenden Obstbäumen die Finken, dass es, eine Lust war zum zuhören. Friderun lächelte bitter. Der Frühling in ihrem Herzen war zu Ende. Wie sie dann nach langem Niederstarren aufblickte, stand Leonhard vor ihr.

»Bist du da?« fragte sie und sah ihn mit stieren, erloschenen Augen an.

Er prallte fast zurück vor diesem Blicke.

»Was ist dir denn?« rief er voll Angst. »Wie du aussiehst, Friderun!« Seine Stimme klang, als ob er bei der Ahnung eines furchtbaren Unglücks laut zu weinen anfangen wollte.

»Wie mich meine Dummheit hergerichtet hat, so seh ich aus«, erwiderte sie. »Was wolltest du mich denn heut befragen, Leonhard?«

»Was? Du fragst? Und so fragst du?« rief er in unbeschreiblichstem Jammer und Entsetzen.

»Friderun, halt mich nit zum Narren. Lieber der Tod, als dieser Blick von dir.« Er fiel vor ihr auf die Knie und hob flehend die Hände zu ihr empor.

»Steh auf!« befahl sie rau und riss ihn dabei selbst empor. Dann richtete sie sich wieder stolz vor ihm auf und sagte: »Ich hab dich heut zu mir geladen. Jetzt tut es mir leid. Geh!«

Da stürzte der starke Mann ohnmächtig zusammen. Und Friderun ging nicht mehr stolz und aufrecht, sondern tiefgebeugt und wankend, als wäre sie plötzlich uralt geworden, in das Haus hinein.


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