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2.

Oben am Rande des Asenwaldes stand die Greisin neben dem ungeheuren Strunke des gefällten Baumriesen und zählte die Jahresringe auf dem weißen, harzduftenden Holze. Neunmal schon hatte sie sich im Zählen geirrt und wieder von Neuem angefangen. Der Zeigefinger zitterte ihr gar zu viel beim Betippen der engen, zartbraunen Striche. Jetzt nahm sie die bisher vereitelten Bemühungen in leidiger Verzweiflung zum zehnten Male wieder auf und zählte diesmal laut, fast schreiend, mit. Sie kam glücklich bis fünfzig, hatte aber dieses Wort kaum über die Lippen gebracht, als eine helle Stimme ertönte: »Neunundvierzig!« Die alte Bäuerin sah nicht auf. Sie wollte sich nicht so leicht stören lassen, drückte den Fingernagel fest auf den betreffenden Jahrring und wiederholte in zornigen Tönen, aus denen viel Streitlust klang: »Fünfzig!«

»Neunundvierzig«, behauptete abermals die Stimme, welche aus den Lüften zu kommen schien.

Ja erhob die Alte das grimmige Gesicht und vergaß, den Finger auf der fraglichen Stelle zu lassen. Mit funkelnden Augen durchspähte sie die Umgebung und endlich auch den lichten Abendhimmel, zu welchem an der einen Seite die schier fabelhaft hohe Waldmauer emporstieg. Auch die nächststehenden Bäume besichtigte sie bis zu dem dichten, schwarzen Ästegewirr hinauf. An diesen Stämmen musste die Kunst eines jeden Kletterers zuschanden werden, wenn er nicht über besondere Hilfsmittel verfügte. Diese Säulen des grünen Waldtempels waren höher und dicker als alle steinernen, welche in alter und neuer Zeit von Menschenhänden aufgestellt wurden. Während die Bäuerin jene Suche vornahm, scholl mit vielfachem Widerhall ein Hohngelächter durch den Wald.

»Ich kenn dich schon«, schrie die Alte, als das Gelächter verstummte. »Das Featzei bist. Sollst flennen im Asenwald, nit lachen. Er wird fallen, und du verlierst dein' Herberg.«

Zur Antwort tönte es aus dem Gewipfel der Bäume: »'s Featzein Herberg bist du!«

»Ich?« fragte die Alte aufrichtig befremdet. »Ja, du! Dein Kopf!« schrie es.

»Ah, ich versteh!« rief die Bäuerin plötzlich voll Entrüstung, »du bist das Featzei gar nit.«

»Das tut dir leid, gelt, alte Marlahnl?« Marlahnl=Märchenahne spottete in gutmütigeren Tönen die Stimme. Gleich darauf fiel vor den Füßen der Alten ein mächtiger Vogel nieder. Es war ein ungewöhnlich großer alter Uhu. Das Tier regte sich nicht weiter. Es war tot. Die Greisin erschrak kaum ein wenig. Ihre Aufmerksamkeit wurde schon im nächsten Augenblick durch ein Geräusch erregt, welches von dem Gipfel einer großen Schwarzföhre herkam. Zwischen den dicken Ästen baumelten jetzt dort oben in schwindelnder Höhe wahrhaftig zwei weiße, nackte Füße herunter, allmählich wurde auch die ganze schlanke, geschmeidige Gestalt eines Knaben sichtbar, welcher sich an einem Zweige hielt und lustig mit den Füßen schlenkerte. Der Greisin stockte bei dem Anschauen dieses tollkühnen Übermutes der Herzschlag. Sie hätte gern eine laute Strafrede angefangen, unterließ es jedoch, um den Jungen nicht vielleicht zu erschrecken und ihn hiermit zum Sturze zu bringen.

»Jetzt schau!« schrie der Unband. »Kannst mich fliegen sehen.«

»Um Gottes willen!« kreischte die Alte, aber da hing der Knabe schon an dem wie ein Rohr schwankenden Gipfel einer jungen schlanken Fichte, welche mit ihrem obersten Schössling just bis zu dem niedersten Geäste der großen Schwarzföhre reichte. Der Sprung ließ an Kunstvollendung und Waghalsigkeit nichts zu wünschen übrig. Aber der junge Turner schien sich hierbei in der schönsten Gemütsruhe zu befinden, denn er hatte sich kaum an das ächzende Fichtlein geklammert, da tat er es auch schon den Waldvögeln gleich, die sofort bei dem Niederfliegen auf einen Ast ihr Lied beginnen. Das Lied war auch sonst wie das eines Waldvogels. Es wirbelte hinauf und hinunter, die ineinander überrollenden Töne waren so rein und glänzend wie die sonndurchglitzerten Tropfen eines stürzenden Bergwassers und dabei eine köstliche wundersame Herzenslabe für und für. Es war in seiner freien, gottbegnadeten Natürlichkeit, in seiner sieghaften, hehren, unnachahmlichen Erhabenheit über jede Melodie, über jeden Sprachzwang ein herzüberzeugendes, erhebendes Jubellied, ein Lerchenlied, aus dem eine engelreine, engelglückliche Menschenseele sprach. Die wie verzaubert stillstehende Greisin weinte und lachte zugleich mit diesem gleich rührenden als fröhlichen Gesange. Zu verklingen schien dieses Lied in unermesslichen Himmelshöhen, zu denen es schließlich verklärt und weltbefreit aufgeflogen war. Sodann glitt der Sänger schneller an dem Fichtlein herab wie ein Eichhörnchen und stand lächelnd vor der noch immer regungslosen, träumenden, verzückten Greisin, welche ihn nun fast mit scheuer Ehrfurcht anzustarren begann. Mit seiner zarten, schlanken Gestalt hätte der kaum siebzehnjährige Mensch zum Vorwurfe zu einem jungen Griechengotte dienen können, aber nicht auch mit dem hübschen, pausbäckigen, gesundheitstrotzenden Gesichte, aus dessen großen Braunaugen ein Schalk lachte. Durch die Schäden des rauen Zwilchgewändleins leuchtete an gar mancher Stelle das rosige Fleisch des Burschen, welcher den Überfluss eines Hemdes leicht zu entbehren schien.

»Bist noch grantig?« fragte der Knabe mit einem zielbewussten, überlegenen Lächeln.

»Dir könnt' man das Ärgst verzeihen, wenn du singst«, entgegnete die Alte. »Wer mag dein Lehrmeister gewesen sein? Der alte Schulmeister zu Schwarzthal gewiss nit. Wenn der singt, schmeckt man den Schnupftabak, wenn du singst, schmeckt man das Himmelsblau. Das Lerochei Lerochei=Lerche wird dir 's Singen gelernt haben.«

»Ja«, antwortete der Knabe. »Und das Kowichtei Kowichtei=Käuzchen. Pass auf!« Somit ahmte er gar meisterhaft ein ohrenbeleidigendes Eulengeschrei nach, welches im Walde schauerlich widerklang.

»Pfui Teufel!« sagte die Greisin. »Jetzt bin ich schon wieder grantig. Gleich wirst mir die Jahrringe zählen, du Spitzbub, weil du mich dabei geirrt hast.«

Da zuckte er bedauernd mit den Achseln und sprach: »Die Jahrring sind mir zu viel. Ich kann nur bis fünfzig zählen.«

»Schaust mir nit danach aus«, meinte die Greisin mit einem argwöhnischen Blick. »Bist denn nie in eine Schul gekommen?«

Er schüttelte den Kopf. »Die Schul war mir zu weit, soviel ich rennen kann.«

»So? Wo logierst denn?«

»Was?« fragte er, weil er das Fremdwort nicht verstand.

»Wo du hausen tust?«

»Da ïrenterm Drenter=drüben Asenwald im alten Gewild.«

»Ui je!« rief die Alte mit einer spöttischen Grimasse. »Dort mag's kurzweilig sein.«

»Kurzweiliger als überall«, versicherte er allen Ernstes.

»Na ja, das musst du wissen«, gab sie lächelnd zu. »Und wie heißt du denn? Wer sind denn deine Leut?«

»Micherl heiß ich, und angehören tu ich niemandem«, erklärte er. »Hab nur eine alte Hudl Hudl=Ziege und ein Eichkatzl. Das Eichkatzl hat mir der Uhu da gestohlen.« Er zeigte auf den toten Vogel. »Dafür bin ich dem Räuber nach und hab ihm den Kragen umgedreht. Und was hab ich jetzt davon? Dass ich die junge Uhubrut ganten Ganten=füttern muss. Verhungern kann ich sie doch nit lassen. Bin ja selber auch so eine Räubersbrut, und hat mich doch ein Mensch auf'gant, wie meine gottselige Mutter verstorben ist.«

»Eine Räubersbrut bist?« fragte die Alte.

»Ja, von meinem Vater aus. Von meiner gottseligen Mutter aus bin ich eh ein rarer Bub.«

»Wer war denn dein Vater?«

»Der Dalecker Hans, der den Firnauer Jäger erschlagen und ausgeraubt hat und dafür aufgehängt worden ist«, antwortete der Junge sehr freimütig.

Die Greisin sah den Burschen mit unverkennbarem Mitleid an und fragte:

»Deine Mutter war des Wiesing Lener von der Kleppen?«

»Ja, die hat sich halt nachher verschlofen Schliefen=schlüpfen mit mir im Gewild vor lauter Schand und Unglück und ist den Leuten nimmer unter die Augen 'kommen bis zu ihrem Tod. Vor acht Jahren ist sie gestorben. Eh's gar worden ist mit ihr, hat sie mich noch umi Umi=hinüber g'schickt in das Kleppendorf B'load Bload=Beileid erbitten. Das war das erste und letzte Mal, dass ich Leut heimgesucht hab in ihrer Wohnstätt. Und stirb einmal ich, da werden die Raben und Füchs die Leich ansagen. Ja, dass ich dir's erzähl: Wie die Leut zu uns kommen sind in die Keuschen um meine tote Mutter – die lebendige haben sie nit mögen –, da haben sie mich auch mitnehmen wollen und einen Viehhirten aus mir machen. Aber ich hab mich nit fangen lassen und bin in meiner schönen Heimat 'blieben, im Wald. In der ersten Zeit wär' ich wohl verhungert, wenn mich nit alle Ritt eine füttern kommen wär'. Die schöne Friderun von eurem Dorf. Hab ihr aber lang nit aus der Hand g'fressen. So zahm war ich nit. Sie hat mir zuerst das Essen in der Keuschen aufrichten müssen, wie ich in einem strengen Winter den armen, scheuen Waldviechern aufricht. Aber mit der Zeit bin ich doch gescheiter und mit meiner Ernährerin gut worden.«

»Und sonst ist nie wer zu dir 'kommen?«,

»Nur einer noch«, entgegnete er, »der stark Kinibub. Bist du dem seine Mutter oder seine Ahnl? Gleichsehen tust ihm, bist grad so schiech wie er schön.«

Sie war nicht beleidigt, sondern sagte nur:

»Dass du grob bist, wundert mich nit, wenn du höflich wärst, tät's mich wundern. Was sucht denn der Kinibub bei dir?« setzte sie dann hinzu.

»Singen soll ich ihm und eine Menge erzählen vom Wald. Und der alten Bärenmutter ihren Unterschlupf soll ich ihm verraten und alle Füchsgeschleif und Dachsbau. Und von ihm lernen soll ich lesen und zählen. Und das letztere mag ich schon gar nit. Einen Weltmenschen will er aus mir machen. Sind denn noch zu wenig Weltmenschen? Ich mein doch, die werden es draußen enden ohne mich. Und ich bin glücklich, wenn ich's end ohne denen. Könnt' mich mit ihnen gar nimmer so gut zusammengewöhnen wie mit dem lieben Waldvieh.« Die Alte nickte billigend und sagte:

»Das glaub' ich auch. Bleib du nur in deinem Wald. In der Welt bist von deinem Vater um das 'bracht worden, was du am ersten draußen brauchst, um den makellosen Namen. Und im Wald hast das gefunden, was du da brauchst zu deinem Glück. – Belehren will dich der Kinibub?« fuhr sie dann fort. »Wenn er dich lieber tät' gewanden, das wär' eine größere Wohltat. Gleich wirst mit mir gehen, kriegst ein paar Pfaiden Pfaid=Hemd, einen warmen Rock und Schuh.«

Der Bursche warf stolz den Kopf zurück und sagte ganz empört:

»Ich mag nichts Geschenktes. Meinst, ich hab nichts zum Anziehen? Hab noch von meiner Mutter ein Stück harbene Harben=härene Leinwand, da kann ich mir neun Gewandeln draus machen, wenn ich will. Und ein Wintergewand hab ich. Ein wärmeres als du! Aus lauter schönen Marderfellen hab ich mir's zusammengenäht.«

»Na, da bist du freilich ein reicher Herr«, meinte die Greisin spöttisch. »Musst aber doch mit mir gehen um die Pfaiden. Du willst von mir nichts geschenkt und ich von dir nichts. Ich bin dir was schuldig für deinen Gesang. Die Schuld tät' mich schwer drücken, wenn ich dir sie nit könnt' abtragen.«

»Ich hab für mich selber gesungen, nit für dich, verstehst?« rief der junge Mensch. »Für eine Zahlung tu ich nichts, frage nur den Kinibuben. – Wenn du mir aber ein Gefallen tun willst, so gib Auskunft über das, was ich dich frag. Du bist alt und gescheit und wirst gewiss das großmächtig Trumm Welt kennen und kleinweis zu benennen wissen, das man von da heroben übersieht. Schon, lang hätt' ich gern wundershalber gewusst, was das für Hüweln Hüwel=Hügel und Dörfer sind, die man da rundum sieht. Der Kinibub hat mir wohl schon einmal, da oben von dem Steinfelsen, ein bissl was 'zeigt, aber man hat dasselbe Mal kaum das Näheste gesehen, es war zu stark Horucki Horuck=Höhenrausch. Jetzt ist's hell wie nit oft im Jahr. Schau nur, ich seh's ganz deutlich, wo dort hinten die Welt aufhört und der Himmel anfangt.«

Hierauf nickte das alte Weib und sagte:

»Freut mich, dass du so was zu wissen begehrst, dass ich dir so gut erklären kann wie nit leicht ein zweiter Mensch. Über die Aussicht da hat mich mein gottseliger Vater eifriger unterricht' als übers Evangeli und die biblische Geschicht. Dass wir aber noch besser aussehen, müssen wir den Waldzipf umgehen, komm!«

Der Boden, auf dem sie gingen, war mit dürrem, vorjährigem Schmalgras bewachsen, nur an den Uferungen der zahlreichen kleinen Quellenbächlein, die aus dem Tann rieselten, spross junges kurzes Grün. Diesen spärlichen Frühlingsschmuck trug jedoch nur die steinige Hutweide, welche sich ungefähr so weit den steilen Berghang hinab erstreckte, als die abendlichen Waldschatten reichten. Weiter unten sprossen ausgedehnte Winterroggensaaten, welche hie und da von noch unbebauten Felderstreifen unterbrochen wurden. Ohne schwere Mühe und Gefahr war dieses Ackerland nicht zu bearbeiten, es lag auf Bodenwellen, welche gar zu jäh und unsanft gegen das Tal hinab zogen oder, besser gesagt, gegen die buckligen Bergwiesen, die dann erst tief, tief unten an den ebenen Forst grenzten.

In einem kleinen Kessel des besagten Ackerbodens standen etliche von fernher recht unscheinbare Häuser. Es waren drei größere Gehöfte und zehn kleine Hütten. An den Obstbäumen, welche über die alten, moosigen Strohdächer emporragten, bemerkte man schon hie und da einen zarten, goldgrünen Anflug. Einige Kirschenbäume standen gar in voller Blüte und sahen von weitem aus wie schwer angeschneit. Mit der Fensterseite war keines der Gebäude bergwärts gekehrt, sondern es blickten alle hinaus auf das schwarze Wäldermeer und seine nackten, vom Abendscheine rotgolden gemalten Felsenküsten.

In weiter Ferne sah man den ebenen Forst an ein flaches Land stoßen, welches mit zauberhaft wonnigen, hellen Farben herein leuchtete in den ernst-schönen Waldgau. Gleich hinter dem Forste gleißte und funkelte ein riesiger Teich wie eine kleingerippte Silberplatte, und dann fing das mit unzähligen, weiß blinkenden Wohnstätten besäte Gelände an, welches vom köstlichsten Tiefblau so wundersam in das zarteste Rotgrau hinüber schmolz, wie sich das weder schildern noch malen lässt. Nur ein ungewöhnlich scharfes Menschenauge vermochte im äußersten Hintergrunde den letzten nebelhaften Strich zwischen Himmel und Erde auszunehmen, und dennoch war der Abend so klar wie nur wenige im Jahre.

Das letzte, was man noch deutlich unterscheiden konnte, war ein winzig und doch mit stolzen Umrissen in das hellgelbe Himmelsgewölbe gezeichneter Gebirgszug. Darüber hin zog ein langer, purpurner Wolkenstreifen, als ob er das Ende, der Aussicht anzeigte. Rechts und links hemmten den freien Ausblick mächtige Waldberge, welche teils in dunklen, feierlichen Fichtenkleidern standen, teils aber auch mit entblößten, brandroten Felsenleibern förmlich zum Himmel und zur Welt schrien. Einen oder zwei klaffende Schäden zeigte fast ein jedes der Berggewänder, obwohl über mancher der leergeraubten Stellen schon wieder ein junges, kräftiges Keimen und Sprießen war. Durch die tieferen Sättel und Einschnitte des rechtsseitigen Bergwalles gewahrte man Teile eines ziemlich einförmigen Hügellandes. Dafür schauten zwischen den westlichen Bergen malerische Höhenzüge herein.

Soweit man aber im Südwesten um die Ecke des Asenwaldes herum sehen konnte, war ein märchenschönes, großartiges Gewirre von zart-violetten, graublauen und nebelhaften Felsenungeheuern, welche sich mit gar abenteuerlichen, scharfbegrenzten Linien vom Himmel abhoben und größtenteils blinkende Eismäntel und Schneehauben trugen.

»Das sind die Gamsgebirg«, erklärte die Alte. »Die ganz hintersten Berg gehören zu Bayern und Tirol, die näheren zu Salzburg und Oberösterreich. Wenn du aber oben zuhöchst auf unserem Berg bist, da siehst die steirischen Berg auch bis hinunter zum Schneeberg, und der ist der letzt in der Ketten. Wenn du zu der Mauer hinwillst, musst du schier drei Tag lang z'ritz Z'ritzt=die Quer übers Oberösterreich rennen, was du von da aus gar nit siehst, weil's zwischen unsere Berg und die dort zu tief drinnen ist. – Jetzt reis weiter mit den Augen, da kommst du zum Böhmerwald. Und das ebene Land dort draußen ist das Böhm. Unser Berg steht auch schon im Böhmerland. Er ist der letzte deutsche Berg auf der Seite. Da unten die Leut in den Waldschlägen sind auch noch deutsch, aber wo der Wald aufhört, fängt das Tschechische an. Mit den Teichleuten draußen kannst du so gut reden wie ein Teichkarpf, und wenn du gleich ihr Reden lernst, so bleibt dir doch ihr Gefühl und ihre Weis fremd, und du kannst sie nie recht verstehen und noch weniger lieben lernen. Es ist eine andere, dir ewig wildfremde Rasse, die dich zurückstoßt und die kein Gemüt hat für dich, wenn du ihr gleich eines willst entgegenbringen. Die Feindschaft zwischen uns Schlägleut und denen da draußen besteht so lange wie unsere Nachbarschaft und wird so lange bestehen. Siehst dort draußen die zwei Teich blitzen? Das sind die Wittingauer Teich; von denen ist ein jeder dreimal so groß wie vor dem Wald da unten der Sohorsteich. Und über die zwei Lacken hin werden heute deine jungen Augen ein Gebirg ausnehmen: das Riesengebirg. Zwischen uns und diesem Gebirge liegt das Böhmerland in seiner größten Läng. Drüber jener Höh hebt das Preußisch an. Und da drenter unsere Berg ist das Unterösterreich, das Waldviertel; unser Hochwald und unser Jägerhüttenberg gehören auch schon zur Halb-scheid dazu. Sonst heißt unser Gebirg, das da voran aus der böhmischen Ebene mit die Henneberg aufsteigt und bis zur Donau hinunterreicht, der Greiner- oder der Weinsbergerwald. Um und um, wo die Berg anheben, hebt das deutsche Wesen an, und das reicht gar weit nach allen Seiten; nur da unten in der Mitt der ebene, schöne Fleck, der wie ein Lustgarten liegt im weiten Gewild, ist das stockfremde Volk, das sein Lebtag nit dreingehört in den Kreis.«

»Wie ist's denn nachher dreinkommen?« fragte der Bursche.

»Mit Gewalt hat es sich ansässig gemacht und unsere Vorfahren daher in die Grenzberge verscheucht.«

»So soll's von uns mit Gewalt vertrieben werden«, sprach er einfach.

»Ja, wenn's wir zwei allein vertreiben könnten, mein lieber Bub. Wie gern setzte ich da mein altes Leben ein! Aber es müssten viel deutsche Leut zu uns stehen, wenn wir sollten was ausrichten. Und es wären nit einmal unsere Grenzleut mit uns. Die sind schon all so klein und demütig worden unter dem fremden Regiment im Land, dass sie froh sind, wenn ihnen nit völlig das deutsche Maul verboten wird, und wenn sie nicht gejagt werden aus dem kärglichsten Winkel der alten, schönen, angestammten Heimat. Bedrückt und geschmälert werden sie eh nach Möglichkeit, und wird bald eine Zeit kommen, wo es ihnen nirgends mehr könnte notiger gehen, wo sie nirgends ärger verfolgt werden könnten als in dieser lieben Heimat. Mehr als die Hälfte von unseren Grenzleuten muss eh schon alle Frühjahr mit dem Wanderbinkel gehen, um das bissel Brot zu verdienen, was die Heimat nimmer will geben. Nur aus purer Lieb zu dem rauen Stück Boden und zu der elenden Hütten kehren die Fortgeher im Herbst wieder, sonst könnten sie ja auch leicht gänzlich in der Fremd bleiben. Eh einmal haben alle unsere Leut gelebt von dem Brot, was auf unseren Bergfeldern wächst. Aber jetzt sind die Mäuler zu viel geworden. Man sagt zwar: Schickt unser Herrgott ein Haserl, so schickt er ein Graserl, aber bei uns trifft das nit zu. Die Mäuler sind zu viel und das Brot zu wenig. Und es geschehen keine himmlischen Wunder auf unseren Bergäckern. Wir Bauern wollen freilich Wunder wirken bei der Erdäpfelvermehrung, aber die Sonn tut unsere Müh schlecht begnaden. Sie hat keine Kraft mehr auf unserer Höh. Aber eher wird ein Wunder geschehen vom Himmel und der Wein und der Weizen wachsen auf der Kalten Tred Tred=Boden, Scholle, als uns Grenzleuten wird geschehen nach Recht und Verdienst, als wir unseren rechtmäßigen Anteil kriegen von dem Überfluss der Heimat. Du kannst es leicht erleben, mein Kind, wie der letzte Waldbauer wird im Frühjahr nach den Maurern und Zimmerleuten mit dem Binkel am Buckel nach Wien gehen, und wie die böhmischen Herrenknecht auf unserem freien Bauerngrund einen Wald werden setzen. Nachher hat die Geschicht von uns deutschen Grenzleuten im Böhmerwald ein End.«

»Ein trauriges End«, sagte der Bursche sinnend und setzte dann hinzu: »Wer aber nit lassen will von der Heimat trotz aller Not, der mach's mir nach und fang ein wildes, freies Waldleben an.«

Die Alte lachte. »Würde keiner lang rennen, mein liebes Kind, im herrschaftlichen Wald. Säß bald ein jeder im Kotter Kotter=Gefängnis oder im Narrenturm, der was wollte unserer Altvordern freies Waldleben nachahmen. Das geht nur dir durch, bis du auch einmal eingefangen wirst, oder bis dich die Armut und das Alter zum Anbetteln zwingen, vor böhmischen Türen vielleicht.«

Da lachte er nur. »Eh ich mich fangen lass, hupf ich, mit dem Kopf voran, zuhöchst von einem Asenbaum in den schwarzen Tümpel. Und eh ich bettle, iss ich Giftpilze und Baumpech.«

Sie fuhr aber fort: »Es wird auch bald kein solcher Wald mehr sein, in dem das Bleiben eine Freud ist. Alle achtzig Jahr wird künftighin abgeholzt. Einen Asenwald werden die Böhm' und die Herren nie haben, nie! Schau ihn an! Seine ältesten Bäum haben eine Zeit gesehen, wo noch kein Herrenschloss zu Gratzen und Rosenberg ist gestanden, wo über der Eben da draußen ein einziger Wald hat gerauscht und kein Kirchenglöckl hat geklungen zu unserer Höh herauf. Ein besseres Glöckl haben unsere Ähnln im Herzen 'tragen, obwohl sie damals noch Heiden waren. Da drin im Asenwald steht noch heut ihre steinerne Opferstell. Sie sind erst spät bekehrt und getauft worden, wie zu Gratzen schon ein Herr Wittick hat gehaust und zu Goldenkron ein Prälat. Der Wittick hat unsere Ähnln mehr gefürcht' als sie ihn, denn sie waren starke, wehrhafte Männer und haben sich von ihm in ihrem alten Brauch und Glauben nit stören lassen. Was der Wittick nie mit Gewalt gezwungen hätt', ist dem Prälaten eine leichte Müh gewesen; auf einmal hat er mit seiner christlichen Lehr die starken Männer sanft und demütig gemacht. Gegen den Wittick, der sie gern zu seinen Leibeigenen gemacht hätt', sind sie lang trotzig 'blieben. Ihr Recht auf den Wald war ja älter und besser als dem Wittick das seine, obwohl der mit einer Schrift vom Böhmenherrn eingezogen ist. Aber sie waren ja früher im Land als der Böhmenherr, vor dem sie sich freilich haben in das Gewild flüchten müssen, wie er rauberisch in ihre alten Wohnsitz ist ein'brochen. Als friedliche Bauern waren sie eben nit auf ein jähes Kriegführen mit dem bewaffneten Zigeunervolk gefasst. Weil schon das alte Nest nimmer zu säubern war von der gar zu übermächtigen Spatzenbrut, so ist wenigstens das alte Waldnest tapfer verteidigt worden. Die bösen Besuch von der Eben her waren unseren Ähnln gar nit so seltsam. Sie haben gar oft ihre Tapferkeit gezeigt da auf der Kalten Tred und viel köstliches treues Blut für den mühsam gerodeten Ort vergossen.«

Der Bursche hatte der Erzählerin offenbar nur mit teilweisem Verständnis zugehört und fragte jetzt:

»Woher weißt du denn das alles?

»Von meinem Ahnl. Und mein Ahnl weiß's von dem seinen. Und was in unserer steinernen Ofenbank eingemeißelt steht, ist so wahr wie das Evangeli. Der selbige Stein ist unsere Stammtafel. Werden wenig Herren so eine alte und ehrenreine Stammtafel haben. Unser Haus war eh einmal das einzige auf der Höh. Die ehemaligen deutschen Höf sind verstreut da unten im Wald gelegen. Jetzt ist schier aus einem jeden solchen Hof ein Dorf geworden. Und aus unserem Hof auch. Alles, was auf der Kalten Tred lebt, stammt von unserem Haus ab, es ist bis jetzt noch kein fremdes Blut unter uns. Höchstens, dass hie und da eines heraufheirat' aus einem deutschen Grenzdorf. Unser Haus wird auch von allen gebührlich geacht' als das Stammhaus, und der Bauer auf dem Kinihof hat bisher noch allweil das erste Wort im Dorf geredet und das Recht gesprochen, soweit es 'gangen ist.«

»Die Kinimänner waren einer wie der andere, rar und tugendfest, und sind in Ehren alt geworden bis auf meinen Sohn, der unten zu Beneschau bei einer Gieß Gieß=Überschwemmung um'kommen ist. Er hat sein Leben in purer christlicher Nächstenlieb für notbedrängte Leut' geopfert. Darum hab ich nit gejammert um ihn. Er ist ja einen Heldentod gestorben wie so mancher von seinen Ähnln auch. Aber sein Weib hat es ohne ihn nimmer ausgehalten auf dieser Welt. Das Herz ist ihr gebrochen. Ihr einziges Kind, der Leonhard, gerät gottlob den alten Kinimännern nach, ich hab ihn erzogen nach dem alten Brauch mit bestem Gewissen.

So, und jetzt weißt du unsere ganze Geschicht. Vielleicht entnimmst daraus was Nützliches für dich. Es wird schon gewaltig Nacht. Behüt' dich Gott, und komm einmal in die Zal In die Zal=zu Besuch

»Behüt' dich auch Gott«, sagte der Bursche und verschwand im Walde.

Zwischen den riesigen Stämmen gähnte es schon nachtschwarz. Nur hie und da leuchtete ein naher, schneeweißer Baumbart oder eine faulende Rune aus der Finsternis. In den breiten Wipfeln der Saumbuchen und Eichen stand ein jedes noch so zarte Zweiglein wie versteinert still, aber durch das unendlich höhere Gewipfel des Nadelholzes ging ein leises und dennoch mächtiges, feierliches Rauschen oder vielmehr ein tiefes, geisterhaftes Orgelgetön. Aus der Waldtiefe hörte man bald das Ächzen eines Baumes, welches oft einem Menschenseufzer gleicht, bald wieder einen Nachtvogelschrei. Und wie die Greisin zu der heute gefällten Föhre kam, flog mit lautem Gekrächze eine Anzahl Kohlraben aus dem Gipfel auf, welcher nun auf der Heide lag, zu welcher er weiß Gott wie lange so stolz und erhaben herabblickte. Der Baum war trotz seiner Höhe und Herrlichkeit ein Enkel des noch ragenden alten Bestandes. Das alte Holz war wohl schon zu morsch zu einem Mühlgrindel und so dick, dass es nur ein Müller des Niedecker Riesengeschlechtes brauchen konnte. Über den Wiesengrund ging die alte Bäuerin schon durch zarte Nebelschleier.

Als sie daheim in die Stube trat, saß schon Leonhard mit der siebenköpfigen Dienstbotenschar bei den Kartoffeln und der Milchsuppe.


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