Ludwig Ganghofer
Waldrausch
Ludwig Ganghofer

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14

Am folgenden Morgen gab es beim Anmarsch der Arbeiter vor der Kapelle der heiligen Notburga einen schreienden Auftritt. Ambros, als er gegen sechs Uhr früh zur Wildach kam, hörte schon von weitem die kreischenden Stimmen, die durcheinanderschrillten, daß sie das Rauschen des Wassers übertönten. Bei der Sorge, von welcher Ambros befallen wurde, machte doch der Anblick der zwei Menschenhaufen, die sich mit allen Derbheiten ihrer verschiedenen Sprachen bewarfen, einen fast komischen Eindruck. Die Szene erinnerte ihn an Homer, an die Griechen und Trojaner, die sich auch, bevor es Hiebe setzte, in wenig heldenhafter Weise zu beschimpfen pflegten. Der Augenblick, in dem es zwischen den Wildachtalern und den Italienern zum Geprügel kommen mußte, schien nicht mehr ferne. Die Hitze des Wortgefechtes kulminierte schon. Keine der beiden Parteien verstand, was die andere schrie und fluchte; nur den Zornklang ihrer Stimmen und den Wutblitz, der in ihren Augen war, begriffen sie. Gleich der Unterhaltung, die Nino Pallozzi und das Nannerl vom Waldreuterhof in verständlichen Blicken und unverstandenen Worten miteinander geführt hatten, schien auch diese Massenkonversation zwischen Deutsch und Italienisch zu einem Ende mit Schrecken führen zu wollen. Doch Ambros trat so energisch auf das Schlachtfeld, daß er einen Waffenstillstand erzwang. Den Anlaß des Streites konnte er nicht ergründen. Die Italiener erklärten: »Sie lachen über uns!« Und die Einheimischen behaupteten: »Ausspötteln tun s' uns allweil!« Ambros redete den Italienern so lange zu, bis sie sich bewegen ließen, den Weg zu ihren Arbeitsstätten anzutreten. Daß nun die Einheimischen noch eine Weile allein auf dem Platze verblieben, das flößte ihnen eine Art von Siegesgefühl in die aufgereizten Seelen. Einer brüllte gegen Ambros: »An dir merkt man schon lange nimmer, daß bei uns im Tal daheim bist. Allweil hilfst mehr zu die wällischen Katzelmacher als wie zu die unsrigen.«

»Ich halte zu denen, die recht haben. Heute habt ihr alle beide unrecht. Ihr! Und die anderen. Jetzt geht an eure Arbeit! Und vergeßt nicht, daß das große Werk, das hier geschaffen wird, vor allem ein Nutzen für euch ist, für eure Häuser und Felder, für eure Kinder und Kindeskinder.«

Das machte keinen sonderlichen Eindruck auf die Leute. In diesem Augenblick wog es ihnen höher, daß sie an den Sieg der Stunde glauben konnten. »Heut haben wir's ihnen zeigt. Heut haben s' weichen müssen, d' Wällischen.«

Nach zwei verschiedenen Richtungen zogen die schreienden Stimmen der getrennten Heere durch den blühenden Wald davon. Dieser zwecklose Lärm wirkte wieder heiter auf Ambros. »Unsterblicher Homer! Unsterbliche Torheit der Menschen!« Hinter diesem Lachen bedrückte ihn das Bangen um sein Werk. Torheiten der Masse sind wie Pulverfässer, die über glühenden Kohlen stehen. Er sah voraus, daß die Erregung, die in den Leuten wühlte, den Gang der Arbeit noch schwer behindern würde. In der Mittagspause rief er die Rottenführer der Italiener zusammen, setzte sich mit ihnen hinter der Kantine in den Wald, verteilte Zigarren, und während die alten, sonngebräunten Männer gemütlich dampften und die grauen Garibaldibärte herausstreckten, stellte ihnen Ambros eindringlich vor, was auf dem Spiele stünde. Sie sahen das ein und gaben mit Handschlag das Versprechen, ihre Leute nach Möglichkeit zu beruhigen. Und das wäre wohl auch zu erreichen, wenn die Leute nicht immer an die roten Striemen dächten, die sie auf dem schlanken Leib des Nino Pallozzi gesehen hatten. Aber das Gras der Ruhe wächst über alles, auch über blutende Jugend, über Zorn und Erbarmen.

Als Ambros mit den Rottenführern aus dem Wald heraustrat, war die Arbeit an der rauschenden Wildach schon wieder im Gang. Die stürzenden Bäume krachten, überall das Gerassel der Lastwagen, die hallenden Beilschläge und das Klirren der Steinhämmer, die dröhnenden Sprengschüsse, ihr rollendes Echo und das Gepolter des fallenden Gesteins. Hinter dem staubenden Wirrsal dieses Menschenwerkes hob sich der Bergwald grün und groß und schön in die Sonne, überhaucht vom Purpurschimmer seiner Blüten, die in verschwenderischer Menge aus allen Zweigen brachen. Tief atmend preßte Ambros die Fäuste auf seine Brust. Der lebendigen Kraft und Schönheit dieses Bildes gegenüber schwellte ihm wieder ein frohes, gläubiges Vertrauen die Seele. Wie er im Wald mit den Rottenführern der Italiener gesprochen hatte, so wollte er auch mit den Leuten im Dorfe sprechen. Zuerst mit dem Bürgermeister. Den kannte er als einen verständigen Menschen. Und der Toni? Der war doch auch noch da! Sein Wort galt etwas im Dorfe.

Drei Stunden hetzte Ambros von einer Arbeitsstätte zur anderen. Dann trat er den Heimweg an. Als er die Kapelle der Notburg schon hinter sich hatte, sah er im Lichtgezitter des Waldes einen Menschen huschen. Ambros glaubte den wunderlichen Alten zu erkennen. »He! Waldrauscher!« Keine Antwort. »Sonderbar!« Eine Weile blieb er stehen und blickte sinnend in das Flimmerspiel von Licht und Schatten, das den Wald erfüllte. Wieder wehte ihm jener strenge Harzgeruch entgegen, der Duft der Fichtenblüte. Wo die Sonne solch einen purpurfarbenen Blütenkolben traf, da schien, wie Nino Pallozzi gesagt hatte, auf den schwarzen Bäumen eine rote Rose zu leuchten.

Langsam folgte Ambros seinem Wege. Dabei huschte ihm jenes Lied durch den Kopf, das einer in der Sonntagnacht gesungen hatte:

›Ein Feuer wird brennend
Und rauschig der Wald –‹

Das stammte doch sicher von dem seltsamen Alten? Zwei Bilder, wie er sie liebte! Und dieses Bild mußte er einmal ersonnen haben, als der Bergwald blühen wollte. Ein geheimnisvolles Feuer, das zündend hinfliegt durch den von Freude trunkenen Wald! Und der Wald wie ein Liebender, dem in süßer Glut alle Sinne taumeln! Wie bezeichnend dieses Bild für die wundersame Naturstimmung dieser Tage war, für das duftende Ewigkeitsrätsel, das aus dem stummen Leben des Waldes rot herausdrängte in den Sonnenschein! Doch der sonderbare Schluß des Liedes?

›Das Alte kommt wieder,
Das Neue bleibt alt!‹

Was wollte da der Waldrauscher sagen? Daß aller Tod wieder Blüten bringt und alles Werden nur ein Anfang des Vergehens ist? Daß alle Dinge der Natur und des Lebens sich im Kreislauf wiederholen von Ewigkeit zu Ewigkeit? Wie kam der Waldrauscher zu solchen Vorstellungen? Wie konnte durch Herz und Gehirn eines alten Bauern – In Ambros erloschen die Gedanken. Mit heißer Welle war ihm das Blut zum Herzen geschossen, weil die kleine Zieblingen von der Wiese her gegangen kam. Allein! Weit und breit war sonst keine Menschenseele zu erspähen.

Auch auf die Baroneß schien der Anblick des einsamen Wanderers irritierend zu wirken. Sie drehte nervös den weißen Sonnenschirm, den sie an der Schulter liegen hatte.

Ambros zog den Hut. »Wohin denn, gnädiges Fräulein?«

»Der herrliche Nachmittag hat mich herausgelockt. Und da bin ich immer so zugegangen.«

»Bis in mein Gehege? So weit vom Schlößchen fort? Allein? Darf denn das eine Hofdame?«

Sie hörte den Scherz nicht heraus und nahm die Frage ernst.

»Oh, gewiß. Weil Hoheit seit einigen Tagen länger als sonst mit der Geige zu üben pflegen, konnte ich meinen Spaziergang ausdehnen. Aber nun ist es doch wohl Zeit, an die Umkehr zu denken.« Das leise Brünnlein ihrer Worte geriet in erregte Hurtigkeit. »Sie gehen vermutlich nach Hause, Herr Lutz? Da haben wir gemeinsamen Weg.«

»Ja, Fräulein!« Ambros war von einer seltsamen Zerstreutheit befallen. Dabei geriet er in so raschen Schritt, daß Baroneß Zieblingen, um an seiner Seite zu bleiben, den Luftwiderstand vermindern und den Sonnenschirm zuklappen mußte. Sie war fast außer Atem. »Verzeihen Sie, Fräulein! Ich bin wohl zu schnell gegangen? Der weite Spaziergang muß Sie auch ermüdet haben.«

»Ach nein! Ich wäre noch weitergegangen und hätte das große Arbeitstreiben, dem Sie vorstehen, gern einmal gesehen. Aber es ist doch besser, daß ich nicht bis in die Waldschlucht hinaufgehen mußte.«

»Sie haben wohl Angst vor den fremden Leuten? Wegen der Geschichte mit dem Nino Pallozzi?«

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen?«

Ambros erzählte. Die kleine Baroneß empfand die Wärme nicht, mit der er von dem ›armen Jungen‹ sprach; sie hörte aus seiner Erzählung nur heraus, was der Gendarm als ›Fakta‹ bezeichnet hatte, und stammelte mit erblaßtem Gesicht: »Ach Gott, wie entsetzlich!«

»Entsetzlich? Nein. Der Zauber und die Roheit des Lebens haben sich da wieder einmal die Hände gereicht, um eine Tragikomödie zu erzeugen. Aber wie ist das möglich, daß Sie von einem Vorfall, der das ganze Tal in Aufregung brachte, kein Wort gehört haben?«

»Ihre Hoheit und ich, wir leben abgeschlossen von jedem Verkehr. Nur die beiden hochwürdigen Herren erscheinen abwechselnd, um eine Messe in der Schloßkapelle zu lesen und das Frühstück mit Ihrer Hoheit zu nehmen. Da wird nur über kirchliche Dinge gesprochen. Und die Dienerschaft hat ihre Direktiven. Von solchen Vorfällen darf in Gegenwart Ihrer Hoheit nicht geredet werden.«

»Warum denn nicht?«

»Es wäre doch peinlich, Ihrer Hoheit die Kenntnis von häßlichen Dingen zu vermitteln.«

»Ach so! Häßlich? Wie man es ansieht. Ich habe in der Tragödie des Nino Pallozzi auch etwas Schönes gesehen. Der arme Junge hat eine so reine Seele, daß sie auch der Frau Herzogin gefallen hätte. Gerade ihr. Aber wenn sie von dem, was Leben heißt, mit seinen Tränen und mit seinem Lachen, nie etwas erfahren darf, dann begreif' ich, daß sie von Beethoven nichts wissen durfte und bei Mozart nicht froh werden kann.« Er verstummte. Dann brach es aus ihm heraus: »Sie erbarmt mich. Ein so feinfühliges, aller Verehrung wertes Geschöpf! Wahrhaftig, Baroneß, ich verstehe Ihre opferfreudige Zärtlichkeit! Aber das ist ›entsetzlich‹, immer so außerhalb des Lebens leben zu müssen!«

Leise sagte die kleine Zieblingen: »Das nimmt Ihrer Hoheit manche Freude. Aber es erspart ihr doch auch vieles, was sie traurig machen würde.«

»Freilich, es gibt Wahrheiten, die quälend wirken. Daß man ihr die erspart, dafür bin ich auch.« Er lachte gezwungen. »Da hab' ich wohl selber einen Moosbacher gemacht? Weil ich die Geschichte des armen Jungen erzählte? Sie werden doch das Hofdamenschnäbelchen halten können? Nicht? Ich möchte ums Leben nicht die Ursache sein, daß die Frau Herzogin traurig wird.«

Sie sah aus ihrer schiefen Kleinheit mit freundlichem Lächeln zu ihm auf. »Das ist sonderbar. Sie gebrauchen manchmal so fremdartige Redewendungen. Aber Dinge und Worte, die von einem anderen verletzen würden, verwandeln sich bei Ihnen in etwas Selbstverständliches und Gefälliges. Ich glaube, das kommt, weil Sie so ehrlich sind.«

Nun konnte er offen und herzlich lachen. »Das sieht aus wie ein Kompliment. Ehrlich sein ist doch die Pflicht eines jeden Menschen.«

»Die Menschen verstehen es nur leider selten, dieser Pflicht zu genügen.« Die kleine Zieblingen sah kummervoll auf den Fußpfad nieder. Ihr winziges Hungergesicht schien um Jahre zu altern. »Freilich, man kann nicht immer ehrlich sein. Ich bin es auch nicht immer. Ich darf es nicht sein. Meine Stellung hat Pflichten, auf diese Stellung bin ich angewiesen, und daß ich sie behalte, hängt nicht von dem gütigen Wohlwollen ab, das Hoheit mir erweisen.« Sie versuchte zu lächeln. »Bei diesem steten Zwang, an den man sich gebunden sieht, wirkt es wohltuend, einem Menschen zu begegnen, der so ehrlich ist wie Sie. Diesen Eindruck hatte nicht nur ich allein. Auch Hoheit haben es nicht im geringsten übel vermerkt –«

»Was?«

»Daß – verzeihen Sie, Herr Lutz – daß Sie im Verkehr mit Ihrer Hoheit von den üblichen Formen in so auffälliger Weise Abstand nahmen und Ihrer Hoheit die geziemende Anrede hartnäckig versagten.«

Ambros lachte: »Ach, gehen Sie doch, Fräulein! Ein innerlich so vornehmes Geschöpf wie die Frau Herzogin achtet doch auf so was gar nicht. Drum sollten auch Sie mir keine Lektion in höfischen Umgangsformen erteilen. Es sieht fast so aus, als hätten Sie mich eigens zu diesem Zweck bei der Wildach abgefaßt?«

»Nein, nein, Herr Lutz, gewiß nicht!«

»Das wäre auch zwecklos. Hoheit, Ihre und Eure und immer das Zeitwort so ungrammatikalisch im Plural? Nein, Fräulein, so was kann ich nicht mitmachen. Deswegen hab' ich doch in mir das richtige Ehrfurchtsgefühl, das dieses auserlesene Menschenkind verdient. Und was die Frau Herzogin traurig machen könnte, wird sie von mir nicht hören, wenn ich am Sonntag wieder musizieren komme.«

In Pein und Verlegenheit hatte die kleine Baroneß alle Farben gespielt. Nun glänzte ein froher Strahl in ihren Augen auf. Wie ein Backfisch, dem ein sehnsüchtiger Wunsch erfüllt wurde, zappelte sie ihre Freude heraus: »Sie kommen, Herr Lutz? Am Sonntag? Ja? Um die gleiche Stunde?«

»Selbstverständlich! Ich habe auch schon nach München um Noten geschrieben. Natürlich das Allerbeste: Tartini, Beethoven, Mozart! Das Paket muß heute gekommen sein. Dann geben Sie mal acht, liebes Fräulein, wie das klingen wird!«

»Herrlich! Und so dankbar bin ich Ihnen! Es quälte mich schon die Sorge, daß Sie neulich mit einem Anhauch von Verstimmung fortgegangen wären.«

»Ich?«

»Weil eine Abrede für weiterhin nicht getroffen wurde. Und weil Ihre Hoheit – wie soll ich sagen? – mit so impulsiver Hast den Empfang beendet haben.«

»Das war doch gar nicht so. Ein tiefe, nach reiner Schönheit dürstende Menschenseele! So eminent musikalisch! Mit der Sehnsucht nach dem Besten. Unbefriedigt durch den Halbwert, den sie immer geigen mußte. Und da steht nach allem Weg durch Wüsten die Palme vor ihr. Das mußte doch in ihrer Seele einen von jenen heiligen Stürmen aufrühren, die nur wieder zur Ruhe kommen, wenn man mit sich allein ist. Die Frau Herzogin hat mir in den zwei schönen Stunden am Sonntag nie so gut gefallen wie in dem Augenblick, als sie aus dem Zimmer flüchtete, überwältigt von dem Großen und Neuen, das Beethoven ihr gegeben hatte.«

Baroneß Zieblingen atmete auf. »Wie richtig Sie das gesehen haben! Hier hab' ich auch ein Mißverständnis nicht befürchtet. Doch heute früh erfuhr ich, daß Kesselschmitt – der Lakai, der Sie beim Tor erwartete – mit Ihnen noch gesprochen hätte. Kesselschmitt ist verpflichtet, sich an die Direktiven zu halten, die ihm gegeben wurden. Er pflegt da manchmal eine Form zu wählen, die nicht zu billigen ist. Und ich muß befürchten –«

»Ohne Sorge, liebes Fräulein. Herr Kesselschmitt war sehr nett und höflich. Ich freue mich, diesen liebenswürdigen Hausgeist am Sonntag wiederzusehen.«

»Gott sei Dank! Und da wär' es gar nicht nötig gewesen, daß ich dieses bedenkliche Wagnis –« Erschrocken verstummte die Baroneß.

Ambros, dem eine Blutwelle über die Stirn jagte, fuhr auf. »Mir scheint, jetzt haben Sie was Ehrliches gesagt. Nur halb. Das müssen Sie ganz sagen! Haben Sie mich gesucht? Hat die Frau Herzogin Sie zu mir geschickt?«

»Nein, nein, nein! Um Gottes willen!« stammelte die kleine Baroneß, während Schreck, Verlegenheit und Erregung ihren Körper krümmten. »Wie kann nur ein solcher Gedanke in Ihnen erwachen! Die Schuldige bin ich. Um Ihre Hoheit nicht einer unzulässigen Vermutung auszusetzen, muß ich Ihnen aufrichtig gestehen, daß ich Ihnen bei der Wildach zu begegnen hoffte.«

»Warum?«

»Ach, Herr Lutz, Sie ahnen nicht, wie schwer das zu sagen ist!« Eine Weile gingen die beiden stumm nebeneinander her, dem Berghang der Sonnleite entgegen, deren steile Fichtenwälder wie mit Millionen von winzigen, blutroten Käfern behangen schienen. Mit suchenden Worten fing die kleine Hofdame zu lispeln an. »Ein Gewitter, ein gewaltsamer Aufruhr, dann die Ruhe, ein neues Blühen, ein Duft, der nicht zu schildern ist. In der Natur hab' ich das schon oft gesehen. An einem Menschenkinde hab' ich dieses Wunder des Sturmes, der sich in Frieden verwandelt, jetzt zum erstenmal erlebt.«

»An der Frau Herzogin?«

Sie nickte. »Nachdem Ihre Hoheit sich am Sonntag so hilflos zurückgezogen, hatte ich Schweres durchzumachen. Angst und Sorge krampften mir das Herz zusammen. Hoheit waren durch mehrere Jahre leidend. Die Ärzte sagen, daß Hoheit zu jung in die Ehe kamen. Dazu eine angeborene Sensibilität der Atmungsorgane. Aber seit dem heutigen Frühjahr hatte sich, Gott sei Dank, eine erfreuliche Kräftigung eingestellt. Da mußte ich in doppelte Sorge geraten, als Hoheit von dieser tiefgehenden Erschütterung befallen wurden. Nicht nur unter der Wirkung der herrlichen Musik allein. Es sprach da vieles aus einer traurigen Vergangenheit mit. Auch aus dem gegenwärtigen, nicht fröhlichen Leben Ihrer Hoheit.«

Ambros riß die Knöpfe seiner Bluse auf.

»Ich wußte mir fast nicht mehr zu helfen. Bis spät in die Nacht bin ich an ihrem – bin ich bei Ihrer Hoheit gesessen. Als sie ruhiger wurde, fing sie von dem Schönen zu sprechen an, das sie gehört hatte, und freute sich auf den Fleiß, mit dem sie üben wollte. Nun hätte sie erst eingesehen, wieviel reinen Wert sie dem Leben noch abgewinnen könnte. So plauderten Hoheit noch lange mit mir, fast dürfte man sagen: heiter. Dann sind Ihre Hoheit eingeschlafen. In meinen Armen.« Ein zärtliches Leuchten war in den nassen Augen des buckligen Mädchens. »Und am Morgen war das blühende Wunder da. Seit drei Jahren bin ich als Hofdame bei Ihrer Hoheit. So zufrieden, glücklich und gleichmäßig wie in diesen vier Tagen habe ich Hoheit noch nie gesehen. Immer wieder greift sie nach der Geige, um zu üben, so fleißig, daß ich mahnen muß, es wäre genug.«

»Da sollten Sie nicht mahnen!«

»Manchmal muß ich es doch wohl tun. Sogar von ihren täglichen Andachten sparen Hoheit die Zeit sich ab, um zu musizieren. Gestern sagten Hoheit zu mir: ›Dieses reine Klingen, ist das nicht wie ein schöneres Beten?‹ Um bei der Geige bleiben zu können, haben Hoheit auch die Spazierritte in Kesselschmitts Begleitung ausgesetzt – was mir willkommen ist, da ich niemals mitreite. Ich mache zu Pferde eine unglückliche Figur. Nun bin ich von früh bis abends um ihre Hoheit und gewahre an ihr diese Freude, die sogar auf die Kräftigung ihrer Gesundheit in günstiger Weise einzuwirken scheint. Das zu sehen macht mich unsagbar glücklich. Und weil es mein Wunsch wäre, es möchte Ihrer Hoheit das so lange wie möglich erhalten bleiben, drum hab' ich diesen Gang zu Ihnen gewagt – weil ich besorgt sein mußte, daß durch einen Übereifer Kesselschmitts ein Mißverständnis –«

»Nein!«

»Wie froh bin ich, daß meine Befürchtung grundlos war! Für Hoheit ist etwas heiterer Lebensgewinn um so nötiger, da ihr bisheriges Leben an Freude nicht reich gewesen ist.«

»Herrgott, Fräulein!« brach es in Qual aus Ambros heraus. »Wozu ist man denn hochgeboren, wenn man da droben genauso leidet wie da unten?«

»Ach, Herr Lutz! Das Leben ist immer das gleiche, in der Höhe wie in der Tiefe. Weil wir doch alle die gleichen Menschen sind. Und da droben, wie Sie das nennen, gestaltet sich das Leben zuweilen noch etwas härter, kälter, beschränkter und einsamer. Ich glaube, daß ich Ihnen da manches sagen muß, damit Sie im Verkehr mit Ihrer Hoheit die wünschenswerte Sicherheit besitzen, die jedes unvorsichtige Wort vermeidet. Was ich Ihnen sage, müßte ich natürlich als im strengsten Vertrauen –«

»Es soll in mir verschlossen sein wie ein Stein in einem Berg.«

Baroneß Zieblingen blickte zu Ambros auf und sah ihm dankbar in die Augen. Wie ein Kind seine scheue Beichte spricht, so zaghaft lispelte die kleine Hofdame: »Ihre Hoheit hatten sich keiner glücklichen Kindheit zu erfreuen. Mit dem Vater bestand vollkommene Harmonie. Aber dieses gute, sonst so schmiegsame Kind vermochte sich das Wohlwollen der Fürstinmutter nicht zu erkämpfen. Es kam zu chronischen Konflikten. Ich will keinen Vorwurf aussprechen. Hier standen sich wohl zwei so grundverschiedene Naturen gegenüber, daß jedes Verständnis ausgeschlossen war.«

»Eine Mutter? Und kein Verständnis für ihr Kind? Das begreif' ich nicht.«

»Es sind in uns Menschen viele Dunkelheiten, die man nie durchschaut. So etwas Verschleiertes muß an der Wiege Ihrer Hoheit gestanden haben. Das zarte Geschöpf hatte bis in die Mädchenjahre schwer darunter zu leiden. Dann wurde die Prinzessin, halb noch ein Kind, dem ersten gegeben, der sich als Bewerber meldete. Diese Braut wider Willen sagte ja – vielleicht, weil sie hoffte, nun aufatmen zu können, Freiheit und Leben zu finden. Die Meinung der Gesellschaft bezeichnete diese Verbindung, obwohl mit ihr eine Rangerhöhung verbunden war, als nicht sehr günstig – auch um der äußerlichen Verhältnisse willen, die der hohen Stellung des jungen Paares nicht entsprachen und manche Beschränkung notwendig machten.« Diese konventionell erscheinenden Phrasen glitten so leise hin wie Glasperlen an einer Schnur. Doch in der lispelnden Sprache war ein schmerzliches Zittern.

»Seine Hoheit der Herzog waren darauf angewiesen, als Chef seines Reiterregiments in einer kleinen Provinzstadt zu garnisonieren. Und – ach, Herr Lutz, das alles ist so schwer zu sagen! Nach außen hin sah die junge Menage sehr friedlich aus. Es steht mir nicht zu, hier tiefer zu blicken. Dazu die öde Leere der kleinen Stadt, in der es an jeder geistigen Anregung mangelte. Seine Hoheit der Herzog entbehrten das nicht und genügten sich am Besitze seiner jungen, schönen Gemahlin. An Ihrer Hoheit der Herzogin waren die Spuren einer quälenden Ermüdung bald zu bemerken. Die raschen Mutterschaften erschütterten ihre zarte Gesundheit. Hoheit fühlten sich andauernd leidend. Das war wieder die Ursache, daß die Erziehung der Kinder von ihr genommen und nach den Direktiven der Fürstinmutter geleitet wurde.« Verschüchtert schwieg die kleine Baroneß und musterte scheu ihren Begleiter.

»Das ist hart zu hören.«

»Hier lag wohl auch die Ursache, daß sich in Hoheit ein inbrünstiges Verlangen nach religiösem Trost entwickelte, eine Frömmigkeit, die des Guten immer mehr tat, als der liebe Gott von uns Menschen wünschen mag.«

»Der liebe Gott? Wenn er so lieb ist, kann er von den Menschen nichts anderes wünschen, als sie froh und glücklich zu sehen, rein und frei. Ein Mensch, der dem lieben Gott diesen Wunsch erfüllt, betet und lebt am frömmsten.«

Diesen erregten Einwurf überhörte Baroneß Zieblingen. »Das entstand wohl auch, weil Hoheit jeden erfrischenden Verkehr entbehren mußten, ausgenommen den Umgang mit der Geistlichkeit, der einzige, den seine Hoheit der Herzog gerne sah. Wenn ein freundlicher Zufall Hilfe bringen wollte, baute das Mißtrauen eine scheidende Mauer. Sogar die Geige, als ungern gesehene Ablenkung, mußte im Kasten bleiben, oft Wochen und Monate. Seine Hoheit der Herzog waren in jedem Sinne sehr exklusiv und beschränkten auch hochselbst seinen Verkehr mit ermüdender Ausschließlichkeit auf die Person seiner zarten Gemahlin.«

Ambros schien aus dieser Wendung etwas Marterndes herauszuhören. Der kleinen Baroneß, als sie seinem verstörten Blick begegnete, schlug eine brennende Röte über die Wangen. »Fräulein? Warum fällt Ihnen denn jetzt Ihr Wort nicht ein?«

»Welches Wort?«

»Entsetzlich!«

Alle Glut des schmalen Runzelgesichtes verwandelte sich in Blässe. Schweigend gingen die beiden bis zu der Hecke, die das Haus der Wildacherin umzog. Die kleine Baroneß blieb stehen und lispelte: »Vielleicht hab' ich zuviel gesagt? Ich hoffe, Sie werden das nicht mißdeuten, werden es meiner Sorge um Ihre Hoheit in Anrechnung bringen.« Ein Atemzug, der wie stummes Schluchzen war, erschütterte ihre dürftige Brust. »Im Frühjahr, als die Ärzte zur dringend nötigen Erholung Ihrer Hoheit eine zeitweilige Trennung fordern mußten, setzte ich große Hoffnung auf diese friedliche, aller Qual entrückte Einsamkeit. Eine körperliche Kräftigung war auch erfreulicherweise zu gewahren. Doch dieses klaglos Müde wollte sich nicht lindern. Nun plötzlich das glückliche Wunder dieses heiteren Auflebens! Dieses Nachblühen ihrer zerstörten Jugend, diese dankbare Hingabe an eine wertvolle Freude! Um Ihrer Hoheit das zu erhalten, dafür nähme ich noch härtere Dinge auf mich als nur die Gewissensbisse über einen nicht sehr schicklichen Weg. Herr Lutz? Nicht wahr, Sie werden mir helfen? Wir wollen Ihrer Hoheit diese Freude rein behüten, so lange wie möglich. Bis zum Beginn der Jagdsaison. Das ist Mitte Juli. Dann wird es freilich ein Ende haben mit aller Musik. Aber bis dahin ist nutzbare Zeit. Da soll dieses Schöne sein Genesungswunder noch wirken dürfen. Ohne Störung! Nicht wahr, Sie helfen mir?«

Ambros hatte die Hand der Baroneß ergriffen und konnte nicht sprechen.

Die kleine Zieblingen lispelte glücklich: »Ich verstehe, wie Sie es meinen.«

Da fand er die Sprache. »Sie müssen sehr gut von mir denken. Sonst hätten Sie mir das nicht sagen dürfen, nicht sagen können! Sie liebes, herzensgutes Mädel! Sie wissen gar nicht, wie treu und schön Sie sind! Und ob ich Ihnen helfen will? Ob Feiertag oder Woche, ob Morgen, Mittag oder Abend, zu jeder Stunde, in der ich Atem habe, steh' ich der Frau Herzogin zu Diensten mit dem bißchen, was ich kann und bin. Und kommen Sie nur gleich! Jetzt springen wir hinauf in meine Stube. Das Paket mit den Noten muß schon droben liegen. Da nehmen Sie die Geigenstimme gleich mit.«

»Nein, nein, Herr Lutz! Ihre Hoheit dürfen doch um Himmels willen nicht ahnen, was ich getan habe.«

»Da haben Sie wieder recht! Also gut! Ich finde schon was Unverfängliches. Adieu, liebes Fräulein!« Er warf sich durch die Hecke und sprang zum Haus hinüber.

Beda, die in der Stube über die Handschuhmaschine gebeugt saß, hob den Kopf. »Was hat er denn heut?« Ehe sie hinter dem kläffenden Spitz zur Tür kam, war Ambros schon droben in seiner weißen Dachstube.

Auf dem Tisch lag das Expreßpaket mit den Noten, und durch das offene Fenster fiel die Abendsonne drüber hin. Winzige Stäubchen tanzten schimmernd durch diese Lichtwege. Mit den Fäusten riß Ambros am Paket die Schnur entzwei. »Na also! Der schöne Sonntag!« Hastig griff er nach einem Briefbogen und begann zu schreiben: ›Verehrtes gnädiges Fräulein! Ich habe da einige Noten herausgesucht: Tartini, die Frühlingssonate von Beethoven und das liebenswürdigste unter den Violinkonzerten von Mozart. Vielleicht haben Sie die Gewogenheit, Ihrer Hoheit dieses Programm vorzuschlagen. Wenn nicht eine Absage eintrifft, werde ich mich am Sonntag gegen sechs Uhr Ihrer Hoheit als Klavierspieler zur Verfügung stellen. In Verehrung – Ambros Lutz.‹ Als er den Brief überflog, zog er die glühende Stirn in Falten. »Guck mal! Da hab' ich mir aus dem Direktivenlexikon des Herrn Kesselschmitt ein Wort geborgt! Es kommt für jedes schlechte Wort eine Stunde, in der es gut ist.« Er schloß den Brief, machte aus den Noten eine Rolle, sprang zur Tür und schrie über die Treppe hinunter: »Beda! Beda! Beda!« Das Mädel kam atemlos gerannt. »Was ist denn?«

Er legte den Arm um ihre Schultern. »Bedle! Schatzkind! Du mußt mir einen Gefallen erweisen! Schau, die Rolle da, die mußt du gleich hinübertragen ins Schlößl! Da mußt du nach der Baroneß Zieblingen fragen. Du brauchst nur eine Empfehlung von mir zu sagen. Tust du mir den Gefallen?«

Während Ambros das heraussprudelte, sah ihn die Beda mit großen Augen an. Dann sagte sie: »Meintwegen halt!«

»Ich dank' dir schön! Adieu!«

Auf der Treppe betrachtete das Mädel nachdenklich die Notenrolle. ›O heilige Mutter! So a bucklets Krisperl wird ihm doch um Himmels Christi willen net gfallen!‹

Während Beda in Gedanken diesen Monolog hielt, stand Ambros in der goldenen Sonnenwoge, die durch seine Stube flutete, und hielt den Kopf zwischen den zitternden Händen.

»Was jetzt? – Richtig! Üben muß ich!« Er riß die Bluse herunter. Dann rauschte das Allegro der Frühlingssonate in den brennenden Nachmittag hinaus.


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