Ludwig Ganghofer
Waldrausch
Ludwig Ganghofer

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5

Es war Mai geworden. Ein milder Nachwinter und ein zeitig einsetzendes Frühjahr hatten den Beginn der Arbeit im Wildachtal begünstigt. Schon Mitte April waren die Talstraßen schneefrei geworden; die Zufuhr des Baumaterials, der Zementfässer und des vielen Handwerkszeuges hatte um vierzehn Tage früher beginnen können, als Ambros gerechnet hatte. In der ersten Maiwoche war er, begleitet von einem Zahlmeister und Aufsichtsbeamten des Herrn Wohlverstand, an der Stätte seiner Arbeit eingetroffen. Die Mutter sollte Ende Juni nachkommen, wenn das erste Gehetze vorüber und die Arbeit in geordnetem Gang wäre. Um die beiden Stuben ein bißchen freundlicher auszugestalten, hatte Ambros einige Möbelstücke, Gardinen und Decken aus München mitgebracht. Auch ein Pianino. Um diesen ›unsinnigen Kasten‹, wie die Wildacherin das Pianino taufte, in das Dachgeschoß hinaufzubringen, mußte man an der schmalen Treppe das Geländer wegnehmen. Dazu hatte der weiße Spitz ein fürchterliches Geheul angeschlagen. Die Beda war unsichtbar geblieben.

Am Abend, als das Mädel in der kleinen Küche, in der es schon dämmerte, mit der Großmutter bei der Milchsuppe saß, fing Ambros droben zu spielen an, eine Waldszene von Schumann. Beda horchte auf, wie von einem Zauber berührt, und legte den Löffel fort. Die Wildacherin aß ruhig weiter und sagte: »Ah, da schau! Hätt mir net denkt, daß in dem unsinnigen Kasten so ebbes Heiligs drin sein kunnt.« Als sie Licht machte, sah sie verwundert das stille Mädel an. »Bedle? Was hast denn?«

»So ebbes hab ich meiner Lebtag net ghört. Dös rührt alles auf in eim drin!« Sie trat in den kühlen Frühlingsabend hinaus und stand unter den aufblitzenden Sternen an einen noch unbelaubten Apfelbaum gelehnt, bis droben in der Dachstube die schönen Klänge verstummten.

Wenn Beda in den folgenden Tagen dem jungen Mieter begegnete, grüßte sie freundlich. Manchmal sprach sie auch ein paar Worte mit ihm. Zu langen Plauderstunden hatte Ambros keine Zeit. Die wachsenden Geschäfte begannen ihn vom ersten Licht bis in die sinkende Nacht zu hetzen.

Man hatte, während die verlaufenden Hochwasser noch rauschten, zu den ersten Vorarbeiten hundert Leute gestellt, die aus der Gegend angeworben waren. Das war gegen die Stimme des Herrn Wohlverstand geschehen, der nur italienische Arbeiter nehmen wollte. Die lustigen Gebirgler hielt er für teure und faule Schaffer. Doch Ambros hatte seinen Willen durchgesetzt; das Dorf sollte verdienen, und es mußte verhindert werden, daß die vom Krispin Sagenbacher aufgerührte Stimmung weitere Nahrung fände.

Mehr Leute als diese hundert waren im Tal nicht zu bekommen. Dennoch gab's einen schreienden Auflauf, als in der letzten Maiwoche die vierhundert italienischen Arbeiter anrückten, die zur rechtzeitigen Vollendung des Werkes nötig waren. Die fremde Sprache und die dunklen Gesichter mit den Blitzaugen machten die Bauern mißtrauisch. Man prophezeite Diebstahl, Brandlegung und Totschlag, sorgte sich um die Ehre und Gesundheit der Weibsleute, räsonierte über die Bauherren und schimpfte auf die Regierung. Herr Friedrich Wohlverstand mußte sich in absentia eine Umtaufe seines Namens in ›Schlierich Unverstand‹ gefallen lassen. Als am Abend der Mariengruß geläutet wurde, sah man kein Kind und Mädel mehr auf der Straße. Sie hatten Angst vor den italienischen Fledermäusen. An den Häusern waren die Türen und Fensterläden geschlossen. Aber die Burschen zogen truppenweise bis spät in die Nacht auf den Straßen umher und sangen gepfefferte Schnaderhüpfeln auf die ›wällischen Kesselflicker und Katzelmacher‹.

Inzwischen hatte sich die Einquartierung der fremden Arbeiter in dem Barackenlager vollzogen, das man am Waldsaum unter der Großen Not für sie erbaut hatte. Ambros, der mit den Leuten in ihrer Sprache reden konnte, begegnete gutem Willen, und die Verlesung der Führungsregeln wurde von den Arbeitern ohne Widerspruch angehört, obwohl ihnen das Bezirksamt an Sonn- und Feiertagen den Besuch der Dorfwirtshäuser verbot. Als Ambros in später Dämmerung das Barackenlager schon verlassen wollte, hörte er einen Lärm von vielen Stimmen, und drei Rottleute der Italiener kamen ihm nachgelaufen. Sie erklärten aufgeregt, daß die Arbeiter die hohen Preise, die in den beiden von Herrn Wohlverstand installierten Kantinen gefordert würden, ohne schwere Einbuße an ihrem Lohn nicht bezahlen könnten. Ambros ging mit den Leuten zu der Amtsstube des Zahlmeisters. Hier kam es zu einem scharfen Auftritt. Der Vertreter des Herrn Wohlverstand erklärte kurz und bündig, in diese Angelegenheit hätte der Herr Ingenieur nichts dreinzureden; das wäre ausschließlich Sache des Herrn Wohlverstand, wie es auch deutlich im Vertrag stünde.

»Im Vertrag? Wieso? Davon weiß ich nichts.«

Der Zahlmeister hatte eine Abschrift des friedfertigen Schriftstückes flink zur Hand. Als nun Ambros die Stelle durchlas, die ihm bezeichnet wurde, stieg ihm das Blut in die Stirn. Er las jetzt aus dieser Vertragsbestimmung einen Sinn heraus, den sie früher für ihn nicht gehabt hatte. Die fünfzig harmlos scheinenden Worte berechtigten Herrn Friedrich Wohlverstand zu allerlei profitablen Nebengeschäften. In Zorn schob Ambros das üble Papier von sich. »Vertrag hin oder her, ich dulde nicht, daß man die Arbeiter übervorteilt, und werde mit ihnen die Preise festsetzen, an die sie gewöhnt sind. Herrn Wohlverstand gegenüber werde ich jede Verantwortung übernehmen.«

»Gut!« sagte der Zahlmeister. »Ich bitte nur, mir das schriftlich zu geben mit der Verantwortung.«

Ambros warf ein paar Zeilen auf ein Blatt und unterschrieb. Dann setzte er sich mit den Rottleuten zusammen und einigte sich mit ihnen für alle Speisen und Getränke auf einen Preis, der dem Lohnsatz der Arbeiter entsprach und dem guten Kantinenvater Wohlverstand noch immer einen anständigen Nutzen sicherte. Der Zahlmeister nahm die Abschrift des Protokolls in Empfang, betrachtete das Blatt wie eine schwerbegreifliche Sache und nickte schweigend. Ambros, als er unter dem Schein der Sterne das Barackenlager verließ, hatte das Gefühl: Da hab' ich was Gutes gemacht. Was da geschehen war, hatte sich auch unter den Arbeitern schon verbreitet. Schwatzend standen die dunklen Gestalten beisammen, und als eine junge Stimme rief: »Evviva il buon padrone!«, fielen zahlreiche Stimmen ein. Darüber freute sich Ambros um seines Werkes willen.

Es war ihm ein wohliges Ding, so heimzuwandern durch die Frühlingsnacht, während hinter ihm eine Ziehharmonika klang, das scharfe Zirpen zweier Mandolinen und dann ein halblauter, fremdartiger Gesang, ein dürstendes Lied der Sehnsucht. Er dachte an die Mutter. Wie sie sich freuen wird, wenn sie kommt und die schaffenden Menschen sieht, das Werden einer großen, dem Leben nützlichen Tat!

Sein frohes Träumen wurde durch ein unmelodisches Johlen unterbrochen. Drei Burschen kamen über die Wiese her und grölten:

      »Italiani
Bloß Häutln und Bani,
Aber endslange Händ,
Dö haben koa End
Berliggo, berlaggi,
Haben s' alles im Sacki!«

Ambros blieb in Zorn vor den dreien stehen. »Warum beschimpft ihr diese Leute? Die sind doch gekommen, um sich für euch zu plagen!«

Die drei lachten dumm, einer besonders laut, ein baumlanger Kerl. Ambros betrachtete sie; im Dunkel sah er von den Gesichtern und den nackten Knien nur eine matte Helle. »Seid doch vernünftig!« Mit diesem Wort ging Ambros weiter. Dann sah er über die Schulter zurück. Ob der Längste von den dreien nicht der Krispin Sagenbacher war? Da fingen die drei hinter den Erlenstauden wieder zu singen an:

»Italiani
Polenta, Mariani –«

Das weitere Kauderwelsch dieser Spottverse konnte Ambros nicht verstehen. »Da möcht' ich schon lieber den Waldrauscher singen hören!« Wie wunderlich, daß er dem Alten noch nie begegnet war. Auf den Gehängen der Großen Not und in den Schluchten der Wildach fingen schon die Ranken des Waldrausches zu blühen an! Ambros trat, um einen Bissen zu essen, noch in das Wirtshaus, das in der Nähe seiner Wohnung lag. Als er eine halbe Stunde später heimging, sah er vor dem Zauntor der Wildacherin einen Menschen stehen, unbeweglich. Das war nun wirklich der Krispin Sagenbacher. Bevor ihn Ambros ansprechen konnte, ging der lange Lümmel flink davon. »Was hat der zu suchen da?«

Die Fenster an der ebenerdigen Stube waren noch erleuchtet. Während Ambros in den Flur trat, steckte die Wildacherin den Kopf zur Stubentür heraus. »Gott sei Lob und Dank, Herr Brosi! Weil S' nur daheim sind! Hab schon gmeint, es is Ihnen was passiert bei die Katzlmacher.«

»Nein, Mutter Wildacherin! Da brauchen Sie keine Sorge zu haben. Gute Nacht! Und stört es Sie nicht, wenn ich noch ein bißchen musiziere?«

»Gott bewahr! 's Madl liegt schon. Aber sie schlaft noch net. Da spieln S' ihr grad an schönen Traum in ihr Surrköpfl eini. Gut Nacht!« In der Küche knurrte der weiße Spitz, bis Ambros droben in seiner Stube war.

Eine Fuge von Bach klang in die Frühlingsnacht, die von kommenden Blüten träumte.

Vier Tage später waren die Rotten der Arbeitsleute über das ganze Regulierungsgebiet der Wildach verteilt. Nun begann das vielfältige Schaffen einem einheitlichen Willen zu gehorchen. Nach aller Hetze der vergangenen Wochen fühlte Ambros das Bedürfnis, sich einen aufatmenden Tag zu vergönnen. Auch die Erholung sollte noch Arbeit sein. Begleitet von seinem Träger, stieg er an einem klaren Morgen auf die Große Not. Er wollte, das Bild der Wildach zu seinen Füßen, noch ein letztes Mal alle Pläne überprüfen. Das war für ihn die Pflicht dieses Tages. Und seine aufatmende Freude sollte das werden: dort oben in schöner Sonne zu rasten und in der Tiefe das schaffende Leben zu schauen, das sein Geist beseelte. Der Aufstieg dauerte drei Stunden, durch steile Wälder, in denen das lichte Buchenlaub und das milchige Grün der Lärchen zu sprossen begann; durch enge Schluchten mit festgefrorenem Lawinenschnee; über Almflächen und durch klotziges Felsgewirr hinauf zu einem kleinen Plateau, das sich unter der steilen Zinnenwand der Großen Not hinausbaute ins freie Blau. Schon damals im Herbst war das wundervolle Bild der weitgebreiteten Landschaft mächtig auf ihn eingedrungen. Jetzt, nach aller Arbeit, die er geleistet, nach dem Siege, den er gewonnen, wirkte diese leuchtende Schönheit auf ihn noch tiefer und froher.

Während der Träger davonging, um Latschenzweige für das Feuer zu sammeln, ließ Ambros sich auf seinen Mantel nieder. So lag er in der Mittagssonne. Unter lächelnden Träumen blickte er in die Ferne, in der die Kuppen von tausend Bergen gleich blauen, von weißem Schaum gekrönten Wellen mit dem reinen Himmel ineinanderflossen. Gegen Norden sah er etwas goldig Verschleiertes mit kleinen Schimmerflächen, das ebene Land mit seinen Flüssen und Seen. Wo ein bräunlicher Dunst das Bild in der Ferne schloß, da draußen mußte München liegen. Und in der großen Stadt das kleine Haus der Mutter! Dieser Gedanke war Freude und war durchzittert von einem leisen, wunderlichen, Bangen.

Sein Blick suchte das Dorf, die Heimat seiner Kindertage, das Haus seiner Eltern. Die Dächer da drunten waren neben dem breiten Kiesbett der Wildach so klein um die Kirche zusammengehuschelt, daß man das einzelne nicht unterscheiden konnte. ›Wie winzig alles wird, aus der Höhe betrachtet!‹ dachte Ambros. ›Man sollte lernen von diesem Aneinanderschmiegen aller Gegensätze im Bilde der Natur! Sollte sich immer eine menschliche Höhe wahren, von der man alles Quälende des Lebens betrachtet! Dann würde sich das Harte lindern, das Grelle einen milderen Hauch gewinnen, alle Lebensnot geduldig zusammenfließen mit aller Daseinsfreude, so, wie dort unten jede Menschensorge klein und schweigsam sich auflöst im leuchtenden Frühlingsjubel der Natur.‹ Wie doch ein Blick aus der Höhe alle Wirklichkeit verschont! Zu hundert Malen war Ambros schon im Mai durch sprossendes Gras gegangen. Nie noch hatte er eine solche Farbe gesehen, solch ein kraftvolles Smaragdgrün, wie es dort unten über alle Wiesen gegossen war. ›Diese Farbe ist keine Lüge der Ferne, ist ein wirklicher Besitz der Erde. Man muß nur den rechten Standpunkt gewinnen, um sie zu sehen. Und eine Wiese und das Leben? Wo ist da ein Unterschied?‹

In der Tiefe klang ein dumpfes Krachen, das an allen Bergwänden ein donnerndes Echo weckte. Es war ein Sprengschuß, den die Arbeiter in der Waldschlucht gelöst hatten, wo der Grund für die große Sperrmauer ausgehoben wurde. Ambros lachte froh vor sich hin: »Wieder ein Brocken Not vom Leben abgelöst!« Es krachte der zweite Schuß. Dann war minutenlang ein Dröhnen und Böllern, so flink aufeinanderfolgend, daß immer das Echo des einen Schusses hinüberrollte zum Widerhall des anderen. In der Waldtiefe war das Staubgewirbel der Schüsse zu sehen, nur so winzig, als säße dort unten ein rauchender Hirte, der seine Tabakswölkchen vor sich hin paffte. Und wie feines Ameisengewimmel erschienen die Hunderte von Menschen, die am Lauf der Wildach bei der Arbeit waren, um einen rauschenden Lebensschreck in nützlichen Frieden zu verwandeln.

Während Ambros in die Tiefe blickte, brachte der Träger ein Feuer in Brand und konstruierte aus Latschenzweigen eine sinnreiche Sache, um das Blechgeschirr mit der Konservenmahlzeit über die Flamme zu hängen. Er guckte ins Tal hinunter und schielte zu Ambros hinüber, als könnte er sich diesen Widerspruch nicht zusammenreimen, den rastlosen Arbeitswirbel dort unten und den jungen Willen, der ihn lenkte; das große Werk und die schmächtige Jünglingsgestalt, die wohlig in der Sonne rastete; allen Ernst dieser starken Tat und die blauen Träumeraugen in dem leicht gebräunten Gesicht, das, so schmal und so herb es war, doch etwas kindlich Weiches hatte und den linden Blondbart fast wie eine Maske trug, um sich würdevoller zu machen.

Der Träger hätte gern ein bißchen geschwatzt. Ambros hörte nicht und war schweigsam. Plötzlich wurde er durch die Beobachtung eines kleinen, merkwürdigen Dinges geweckt: Drunten im Tal, wo eine weiße Mauerlinie sich starr um ein lindes Gewoge von Baumkronen herumschnürte, sah er über dem blauduftigen Grün eine kleine rote Flamme gaukeln. Eine Flamme? Nein! Eher glich das einer feuerfarbenen Libelle, die flatternd immer auf der gleichen Stelle schwebte. Die mußte in Wirklichkeit so groß sein wie der Märchenvogel Greif. Sonst hätte man sie in dieser stundenweiten Ferne nicht gewahren können! Als wäre Ambros noch der kleine Brosi von einst, so ließ er seine Phantasie mit dem roten Flatterwesen dort unten spielen, bis er zu dem Schlusse kam: Das muß eine rot und weiß gestreifte Flagge sein. »Ist denn das Fürstenschlößl bewohnt?«

»Ich weiß net!« sagte der Träger. »Unser Essen is fertig, Herr Inschenier!«

Als die beiden unter heiterem Geplauder geschmaust hatten, zog Ambros die Planrolle aus der Blechkapsel. Während er zu arbeiten anfing, wurde sein Gesicht ein anderes, ein strenges Mannsgesicht mit forschenden Augen. Nach vier Stunden sagte er. »So! Fertig! Hinunter! Ich will vor Abend noch sehen, was der Tag vorwärtsbrachte.« Bei dem Tempo, das die beiden anschlugen, brauchten sie wenig mehr als eine Stunde, um die Waldtiefe zu erreichen, in der die Wildach aus zahlreichen Gießbächen ihre bösen Kräfte sammelte. Überall sah man in ausgeschwemmten Steinrinnen die stürzenden Gewässer blitzen. Dieses Rauschen war wie ein großes Lied in der Waldstille. Doch der vorgeschrittene Frühling hatte die tobenden Wasserstürze schon in ungefährliche Bäche verwandelt. Noch wenige Sonnentage, und die Steinrinnen, in denen es noch rauschte und blitzte, waren ausgetrocknet.

Ambros kam zu drei Rottschaften, die in steilen Wassergräben die Geröllfänge und Sohlenstaffelungen zu bauen begannen; er kam in das langgestreckte Waldtal, in dem ein Hall von hundert Äxten war und das Krachen stürzender Bäume; hier wurde der Waldgrund gerodet, über dem die Wassermengen, von der Sperrmauer angestaut, sich sammeln sollten zu einem langen See. Am Ausgang des Tales kam Ambros zu der Stelle, wo die riesige Mauer der Talsperre sich erheben sollte. Auch hier waren hundert Leute am Werk, um den Grund für das Fundament des Gemäuers auszuheben und hindernde Gesteinsmassen fortzusprengen. Der Arbeit, die da geschehen sollte, kam die Natur zu Hilfe, indem sie zwei hohe Felskämme von beiden Seiten gegen die Wildach heranschob. Vor Jahrtausenden hatte dieser Felsenring, noch zusammenhängend, das Waldtal geschlossen und einen großen natürlichen See gebildet. Damals mochte der steinerne Wall den Menschen, die das tiefere Tal bewohnten, als feste Burg wider eine drohende Not erschienen sein. Und da gaben sie wohl dem Felskamm, über den die überströmenden Wasser niederstürzten, den Namen ›Notburg‹! Die fallenden Wasser nagten jahrhundertelang an dem Gestein, bis es den Druck des angestauten Seewassers nicht mehr aushielt. Der Durchbruch erfolgte, und die Zerstörung nahm ihre rauschenden Wege über die Wohnstätten der Menschen. Das mußte sich in vorhistorischer Zeit ereignet haben. Im Volke hatte sich keine Erinnerung an jene Katastrophe erhalten. Nur dieser Name ›Notburg‹ war geblieben und führte in späteren christlichen Zeiten zu einem frommen Mißverständnis: Die böse Stelle, aus welcher die verheerenden Wassermengen herausbrachen, wurde dem Schutz der heiligen Notburg anvertraut. Man baute vor dem Felsentor eine Kapelle mit dem Standbild der Heiligen, und jährlich zu Beginn der Schneeschmelze wurde hier unter freiem Himmel eine Prozession und Bittmesse abgehalten. Wieviel hundert Menschen durch die Fluten der Wildach trotz dem guten Willen der heiligen Fürsprecherin schon bösen Schaden an Gut und Leben erlitten hatten, das konnte man an den zahllosen Votivtäfelchen sehen, mit denen alle Wände der Kapelle behängt waren. Auch an dem Steingebrüch des Felstores waren in ausgeschwemmten Löchern naive Weihgeschenke festgeklammert, drollige Modelle von Häusern und Heuschuppen, Menschen- und Tiergestalten, Heiligenbilder, eine Kreuzigung Christi und der beiden Schächer, ein heiliger Hubertus, der neben dem kreuztragenden Hirsch auf den Knien liegt und flehend die Hände faltet – alles mit kindlicher Kunst gebildet, manches schon hundertjährig und älter. In Ambros war das aufgetaucht als erster Gedanke: stark zu wiederholen, was die Natur vor Jahrtausenden an dieser Stelle zu schwächlich gebildet hatte, den Durchbruch des Felsentores mit einem Betonwall zu verschließen, in den die Schleusen und Abflußdohlen einzubauen waren, und diesen sperrenden Riegel gegen das künftige Seebecken hin durch eine mächtige Mauer zu verstärken, die allem Druck der anströmenden Gewässer zu widerstehen vermochte. So war nun die Stille dieses gefürchteten und darum geheiligten Ortes verwandelt in eine lärmvolle Stätte der Arbeit. Das Klingen der Steinhämmer, die Sprengschüsse, das Rollen des Gesteins, die schreienden Stimmen der Arbeiter, der klirrende Hufschlag der vielen Rosse, die das Baumaterial herbeischleppten und den Schutt und die gefällten Bäume wieder davonzogen, alles wirrte sich ineinander zu einem ohrenbetäubenden Lärm, der das Rauschen der klein gewordenen Wildach übertönte und zu ihr hinunterschrie: Du wirst bezwungen, gebändigt!

Ambros hatte ein Gefühl von stolzer Freude, als er inmitten des ruhelosen Schaffens stand und bald in deutscher, bald in italienischer Sprache ein Wort des Lobes sagte, einen Rat gab, einen Befehl erteilte. Auch störte ihn das nicht, daß er neben dem eigenen Werk noch fremde Arbeit sah. Auf dem linken Felsrücken, gegenüber dem Hausbau, in dem die beiden Schleusenwärter wohnen sollten, begann sich ein nüchterner Mauerkasten zu erheben, das Elektrizitätswerk, das die Kraft des abströmenden Schleusenwassers für die drei Dörfer des Wildachtales in Licht verwandeln sollte. Das war so eins von den Privatgeschäften, die sich der biedere Herr Wohlverstand durch unbedenklich scheinende Vertragsklauseln zu seinem persönlichen Vorteil gesichert hatte.

Es ging schon auf Feierabend zu, als Ambros durch das Felsentor der Notburg hinaustrat in den Wald, in jenen ›tiefen, dunklen Wald‹ seiner Kindersehnsucht von einst. »Geh nur voraus und bring meine Sachen heim!« sagte er zu dem Träger. »Ich habe noch einen Weg.« Er wollte ein paar Stauden Waldrausch mit den Wurzeln aus dem Boden heben, um die Fenstergesimse im Stübchen der Mutter mit diesem freundlichen Geschling zu schmücken. Suchend ging er durch den Wald. Mit roten Feuerbändern glänzte die sinkende Frühlingssonne in die blaue Dämmerung hinein. Bei der Notburg verstummte der wirre Lärm. »Feierabend!« sagte Ambros vor sich hin. Dann hob er lauschend den Kopf. In der Waldstille, in der nur noch ein sachter Hall vom Rauschen der nahen Wildach war, klang eine singende Greisenstimme. »Der Waldrauscher!« In Freude ging Ambros der Richtung zu, aus der die Stimme klang. Als er eine Bodenrippe des Waldes übersteigen wollte, blieb er im Schatten einer alten Fichte betroffen stehen. Wie eine ruhige Flamme war im Sonnenglanz das rote, schön fließende Kleid des jungen Weibes anzusehen, das an den Stamm einer Buche gelehnt stand und vorgebeugten Gesichtes auf den Waldrauscher niederblickte. Eine zarte, feine, zierliche Gestalt. Wie ein junges Mädchen sah sie aus. Oder war das schon eine Frau? Etwas Lebensmüdes sprach aus ihrem schmalen, blumenhaften Gesicht, dem nur der abendliche Glanz diese heiße Farbe gab. Zwei dunkle Sicheln des Braunhaars legten sich schimmernd um die Schläfen und verschwanden unter dem ährengelben Florentinerhut, dessen breite rote Seidenbänder in Schlingen niederfielen und der so leicht war, daß sich die Krempe im leisen Abendwind bewegte; wenn ein Hauch sie niederdrückte, glitt ein schwarzer Schatten über die Hälfte des leuchtenden Gesichtes; bog sie sich wieder über die Stirn zurück, dann glänzten zwei blaudunkle, große Augen, scheu wie die Augen eines erschrockenen und dennoch neugierigen Kindes. So stand sie an die Buche gelehnt und sah auf den Waldrauscher nieder, wie man in den Zauber einer Sage aus versunkenen Zeiten oder in die geheimnisvolle Tiefe eines Brunnens blickt.

Zwischen den Bündeln des blühenden Waldrausches saß der Alte zu den Füßen des jungen Weibes, die Arme um die Knie geschlungen, den Kopf zurückgeneigt, daß ihm unter der verwitterten Lederkappe die weißen Haarsträhnen über den Rücken fielen. Wie ein in Inbrunst Betender empordürstet zu einem Heiligenbilde, sang er mit seiner feinklingenden Greisenstimme:

                »Und der Wald,
Der is alt
Und is allweil no' grean!
Und a Gwalt,
Dö ihn halt,
Macht 'n jung, macht 'n schean!«

Leise fragte das junge Weib: »Gewalt? Das versteh' ich nicht.«

Der Alte sang:

»Und dö Gwalt,
Dö ihn halt,
Dö er spürt allezeit,
Is a Liab,
Hell und trüab,
Is a wehsame Freid!«

Die Lauschende schwieg, als müßte sie den Sinn des Liedchens überdenken. Dann sagte sie, während ein Zug des Leidens den schönen Mund umzitterte: »Die Liebe? Eine wehsame Freude? Waldrauscher, da hast du zuviel gesungen um ein Wort! Und der Wald soll lieben müssen? Nein. Der Wald ist still und schön, weil er die Liebe nicht kennt und diese Pein nicht fühlen muß. Fühlen kann nur, wer eine Seele hat. Wachsen und blühen ist nicht Leben. Der Wald ist totes Holz. Wenn die Menschen frieren, kommen sie mit der Axt und schlagen die Bäume nieder und stecken die Scheite in den Ofen.«

Ohne sich zu regen, sang der Alte zu dem jungen Weibe hinauf:

              »Und i leb, sagt der Wald, und
Hab Fruahjahr und Hirbst!
's bleibt alleweil 's gleiche,
Wia d' lebst oder stirbst!
Und der Berg hat sein' Wald,
Und der Wald, der hat mi,
Und alls is an oanzigs
Wia du und wiar i.

Und durstet dein Hearzl,
Und gwinnst d'r, was d' magst,
Es sagt oaner: ›Gnuag is!‹
Und kummt mit der Axt.
Und 's Scheitl im Ofen,
Dös liebt noch und brennt –
Gluat geben hoaßt leben,
Und Aschen hoaßt 's End. –

In die Stimme des jungen Weibes kam ein strenger Klang. »Waldrauscher, ich bin dir gut. Aber solche Lieder sollst du verschweigen vor mir. Manchmal singst du gütig und klug. Das sind Lieder, die mir Ruhe geben. Heute hast du einen von deinen verworrenen Tagen. Das ist kein freundlicher Willkomm. Sorge machst du mir auch. Du bist kein guter Christ. Gott hat dir diese schöne Gabe geschenkt. Warum bist du nicht dankbar? Warum singst du nie von Gott und seiner Barmherzigkeit? Was du heute gesungen hast, das hätte der Pfarrer nicht hören dürfen.«

Ein leises, heiteres Lachen. Dann sang der Alte:

        »Und der Pfarr
Is a Narr
Und sieht alles so guat,
Wiar a Kind,
Hat's 'n' Grind
Unterm Ahnl seim Huat.«

Das junge Weib trat gegen den Waldrauscher hin und stand wie eine schöne Flamme in der tiefen Sonne. Ihre Stimme zitterte. »Du sollst einen geweihten Priester nicht verhöhnen. Mag ein Priester auch als Mensch so schwach sein, wie wir alle sind, er bleibt als Priester ein Verkünder aller trostreichen Worte Gottes. Wider Gottes Wort sollst du nicht singen. Hätten wir Menschen nicht die Gewißheit, daß uns Gott nach allem irdischen Dulden belohnt durch seine reinen Freuden, wie könnten wir das Leben ertragen, das unrein und häßlich ist und das uns leiden und weinen macht? Bei Gott allein ist Liebe.« Das junge Weib verstummte und sah erschrocken nach der Stelle hin, wo Ambros stand. Aus ihrer Kehle rang sich ein matter Laut der Angst, hastig wandte sie sich ab, und ohne dem Waldrauscher noch ein Wort zu sagen, eilte sie wie eine Fliehende davon.

Ambros – so wunderlich bewegt, als hätte sich etwas Unbegreifliches und Märchenhaftes vor ihm abgespielt – gewahrte, wie der Waldrauscher die Arme streckte, um heimlich an die rote Flamme des enthuschenden Kleides zu rühren. Dann krümmte sich der Greis zusammen und küßte die eigenen Hände, als hätten sie ein Heiliges berührt. Und Ambros sah, wie die Gestalt des jungen Weibes in einer Glutwoge der Sonne zu brennen schien, von dunklem Schatten verschlungen wurde, wieder aufleuchtete, den Schritt verhielt und gegen den Stamm einer Buche taumelte, wie befallen von einem quälenden Husten. Ambros machte eine Bewegung, als müßte er Hilfe bringen. Bevor er den Gedanken auszuführen vermochte, kam aus dem Wald eine städtisch gekleidete Person gesprungen. Wie eine Greisin sah sie aus, war klein, mager, häßlich und hatte eine schiefe Schulter. Sie legte in zärtlicher Sorge den Arm um das junge Weib, redete leise und hastig, zog die willenlos Gehorchende mit sich fort und verschwand mit ihr in der blendenden Helle, die den Saum des Waldes umloderte. Das Feuer der Sonne war so grell, daß Ambros geblendet die Lider schließen mußte. Auch mit geschlossenen Augen sah er noch ein farbiges Strahlenzucken. Als er die Lider öffnete, floß ihm Glanz und Schatten zusammen in ein violettes Dämmergewirr.

Es dauerte eine Weile, bis seine Augen sich zu klarem Blick beruhigten. Und da sah er den Alten noch immer auf der gleichen Stelle kauern, zwischen Blütenbündeln, das Gesicht in die Hände vergraben.

»Waldrauscher!«

Der Greis fuhr auf wie in Schreck und Zorn. Beim Anblick des fremden jungen Menschen wurde er ruhig und begann sich mit den blühenden Bündeln zu beladen. Ambros brachte keinen Laut heraus. Ein wunderliches Empfinden befiel ihn vor diesem unbegreiflichen Bild des Lebens, das in seiner greisen Form wie dauernde Jugend erschien, an welcher fünfzehn und zwanzig Jahre ohne Merk und Spur vorübergegangen waren. Und was er gehört und gesehen hatte, wirkte so seltsam in ihm nach, daß er sein eigenes Empfinden nicht verstand. Ihm war zumut, als wäre das alles nicht Gegenwart, sondern längstvergangene Zeit, und als wäre er wieder der kleine Brosi von einst, geheimnisvolle Sehnsucht im Herzen, einen leuchtenden Traum in der Seele. Der Tonele war nicht da. Doch der Waldrauscher belud sich mit seiner Frühlingslast, bis nur das braune Gesicht mit dem weißen Stoppelbart noch hervorlugte aus dem blühenden Grün – genauso wie damals, als der Alte das Wort von der Großen Not und der Heiligsten Freude gesprochen hatte und still davongegangen war.

So wollte der Greis auch jetzt davonschreiten.

»Waldrauscher?« Ambros holte den Alten ein. »Wer war die junge Dame, für die du gesungen hast?«

Langsam drehte der Greis das Gesicht. »Geht's dich was an? Wer bist?«

»Kennst du mich nimmer? Vor vielen Jahren einmal, im Frühling, hast du mir im Wald ein kleines Lied gesungen:

Drei Mücken, drei Blumen,
Drei Steine, drei Leut,
Ist alles ein Leben,
Ein Schmerz, eine Freud.«

Das Gesicht des Alten bekam einen freundlichen Blick. Während er lächelnd zu dem schlanken jungen Manne aufsah, fing er leise zu singen an:

»Und auffi und nieder,
Koa Weg hat a Gfahr,
Und alles kommt wieder,
's bleibt alles, wie's war.«

Dann sagte er, wie man zu Kindern redet: »So, Büeble, bist wieder daheim? Wo is der Tonele?«

»Ich weiß nicht, wo. Viel ist anders geworden. Nur du bist der gleiche geblieben. Waldrauscher? Wie alt bist du jetzt?«

»Net älter als du.« Lachend nickte der Greis vor sich hin. »Daß d' Leut allweil zählen müssen. Und jede Uhr geht falsch. Frag a Käferl beim dritten Flug! Dös Käferl sagt: ›Dreihundert Jahr bin ich alt.‹ Und der gscheite Schulmeister schaut auf'n Kirchturm auffi, glaubt an d' Uhr, weil er s' aufzieht alle Tag, und sagt: ›Drei Stund!‹ Recht hat er. Grad so recht, wie 's Käferl hat! Alt sein? Wer weiß, was alt sein heißt? Sag, Brosle: Hast schon amal an alten Wald gesehen, an alten Berg, an alten Stern?«

»Dann muß ich fragen, wie jung du bist?«

»Net jünger als du!« Wieder lachte der Waldrauscher. Dann nahm sein Gesicht einen Ausdruck sinnender Schwermut an. Während er hinausblickte gegen den Waldsaum, wo sich der grelle Glanz in sanftes Leuchten wandelte, sagte er langsam: »Derzeit ich gwesen bin, wie du heut bist, derzeit hab ich kein' Morgen und kein' Abend nimmer zählt. Alles, was Zeit heißt, is mir gwesen wie Nacht, die allweil dauert, und wie Tag, der nimmer aufhört.«

Schweigend standen die beiden eine Weile in der Stille des Waldes, bis Ambros, nach der gleichen Richtung blickend wie der Alte, die Frage wiederholte: »Waldrauscher? Wer war die junge Dame in dem roten Kleid?«

Der Greis lächelte. Nahe Stimmen klangen im Wald; ein Trupp junger italienischer Arbeiter, jeder mit einer Holzkugel in der Hand, kam unter Schwatzen aus der Richtung des Barackenlagers, um einen Platz für das Bocciaspiel zu suchen. Ambros schien den heiteren Lärm nicht zu hören; immer sah er den Waldrauscher an und fragte erregt:

»Warum sagst du mir nicht, was ich wissen möchte?«

Da schob der Greis den Kopf aus den blühenden Waldrauschbündeln und flüsterte:

»Weil alles glogen wär, was ich sagen kunnt. Lug sag ich keine. Dir net. Und Leut kommen, schau! An andersmal, Brosle!«

Er tat unter seiner grünen Frühlingslast einen tiefen Atemzug und, ging langsam davon, mit leiser Stimme singend:

»Und a Fuier fliagt um
Und was fragst mi denn drum?
Dös Fuier, dös kennt
Bloß oaner, der brennt.

Geh hoam und sei gscheit
Und verlang d'r koa Freid!
Wer tagsüber lacht,
Der woant über Nacht.«

Der Klang des kleinen Liedes floß zusammen mit dem fröhlichen Lärm, den die jungen Arbeiter machten. Als sie Ambros gewahrten, ging einer auf ihn zu und fragte höflich, ob er nicht Lust hätte, sich an ihrem Spiel zu beteiligen. Ambros nickte stumm. Der junge Arbeiter reichte ihm die hölzerne Bocciakugel, und Ambros betrachtete das glattgedrehte Stück Holz, als wäre ihm ein schwer zu lösendes Rätsel in die Hand gegeben.


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