Ludwig Ganghofer
Waldrausch
Ludwig Ganghofer

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Der Waldrauscher mit seinem heiteren Schmunzeln guckte bald dem Tonele und bald dem Brosi in die verwunderten Augen. Bei dieser Stille ließ sich in der Nähe der zärtliche Ton einer Ringdrossel vernehmen. Brosi fröstelte ein bißchen und schmiegte sich eng an den alten Mann. Der Tonele, mit einer Furche zwischen den Brauen, sah dem Alten ins Gesicht und sagte: »Waldrauscher, du bist narret!« Der Alte lachte vergnügt und spähte im Wald umher. Dieses Schauen war wie ein Lesen und Lauschen. Jedes funkelnde Licht und jeder blaue Schatten, jeder hundertjährige Baum und jedes junge Stäudl, jeder huschende Vogel und jede träumende Blume schien dem lächelnden Alten ein Geheimnis zuzuflüstern, das er hörte und verstand. Nun blieben seine glänzenden Augen an dem Wipfel haften, in dem die Ringdrossel flötete. Und der kleine Brosi bettelte: »Bitt schön, Waldrauscher, tu noch ein Liederl singen!« Da fing der Waldrauscher das gleiche Liedchen wieder an. Mit einer wunderlich verträumten Innigkeit sang er den letzten Vers:

»Drei Stoaner, drei Bleameln,
Drei Mucken, drei Leut,
Is alles oa Wehdam,
Oa Leben, oa Freud!«

Dann sah er die beiden Knaben an und sagte ernst: »Nix Besseres weiß ich nimmer.«

In dem Blondkopf des kleinen Brosi schien was Sonderbares vorzugehen. Nach einer stummen Weile fragte er plötzlich: »Waldrauscher? Wie heißt der große Berg da droben, auf den ich hinauf möcht einmal? Dem Tonele hat es sein Vater gesagt. Aber der Tonele weiß es nimmer. Wie heißt der Berg?«

»Die Große Not.«

Ein Leuchten ging über das Gesicht des Knaben. »So ist von der Großen Not die weiße Prinzessin gekommen. Die hab ich gesehen heut. Waldrauscher, das ist wahr! Und rotgoldene Flügel hat sie gehabt, die weiße Prinzessin.«

»Mußt net lugen, Brosle!« sagte der Tonele hart. »Die Flügel tust dir bloß einbilden.«

Der Brosi wollte zornig erwidern, doch erschrocken sah er den Waldrauscher an. Der hatte das Gesicht in die Hände gedrückt und saß vornübergekrümmt, daß ihm die grauen Haarsträhnen bis auf die Knie herunterhingen. Kein Zittern war an dem gebeugten Körper, unter den hüllenden Händen kein Laut. Dennoch erkannten die beiden Kinder den schweigsamen Schmerz, der wie schwere Last diesen Rücken krümmte. Dem Brosi wurden die Augen feucht, und der Tonele fragte herzlich: »Waldrauscher? Tust röhren?«

Langsam hob der Alte das Gesicht und schüttelte den Kopf. Stumm richtete er sich auf; als er mit den geblümten Waldrauschbündeln seinen Rücken zu beladen anfing, lächelte er schon wieder, beugte sich plötzlich zu dem kleinen Brosi hinunter und sagte: »Büeble, du hast Herrgottsaugen. Was einer sieht mit söllene Augen, so ebbes is nie verlogen. Tu dir die rotgoldenen Flügerln net ausreden lassen! Du und ich, wir zwei haben s' gsehen! Gelt?« Dann belud sich der Alte schweigend mit dem Rest der grünen Bündel, bis man unter dem blühenden Rankenwerk nur noch das braune Faltengesicht mit den grauen Haarsträhnen und den leuchtenden Augensternen sah. Nun beugte er sich wieder zum Brosi hinunter und flüsterte in einer Sprache, die fast wie Hochdeutsch klang: »Daß von der Großen Not das weiße Prinzessel gekommen ist, das kann dir keiner besser sagen als ich. Und die Große Not hat eine Mutter. Die heißt man die Heiligste Freud.« Kein Schritt war zu hören, nur ein leichtes Geraschel, als der Waldrauscher durch das goldene Lichterspiel davonwanderte.

Lange standen die beiden Knaben auf der gleichen Stelle, der Tonele verwundert, der kleine Brosi mit glänzendem Blick.

Wieder jenes sanfte Läuten in weiter Ferne.

»Komm!« sagte der Tonele. »Wir müssen heim. Sie tun schon zwölfe läuten.« Er nahm den Kameraden bei der Hand und führte ihn aus dem tiefen Wald hinaus auf die sonnige Wiese. Draußen unter dem lachenden Blau sagte Brosi: »Der Waldrauscher muß schon einmal im Himmel gewesen sein. Weil er so heilig schauen kann.«

Das hörte der Tonele nicht; er spähte nach einem Wege. Weil ihm das blumige Gras hinaufreichte bis über die Hüften, sah er nicht weit. Aber ein leises Rauschen vernahm er hinter dichten Erlenstauden. »Sell drüben, wo der Bach geht, muß a Wegl sein.«

Sie kamen zu einem schmalen Steige. Was sie sahen, war nicht schön. Ein wüstes, an die zweihundert Schritte breites Kiesbett, öd und weißgrau, war durch das blühende Land gerissen. Zwischen klotzigem Geröll suchte ein kleiner, in der Sonne gleißender Bach mit sanftem Rauschen seinen Weg. Dieses freundliche, harmlos scheinende Wasser konnte nach schweren Gewittergüssen ein tobender Flutenriese werden, dessen Lust und Freude die Zerstörung war. Dann stürzten die schäumenden Gießbäche von der Großen Not herunter, und so breit, wie das Kiesbett sich dehnte, rauschte ein gewaltiger, schlammgrauer Strom einher, dessen Tosen die an seinen Ufern hausenden Menschen zittern machte.

Überall zwischen dem kahlen Geröll sah man die Spuren der Verwüstung, die das Wildwasser im verwichenen Herbst nach einem Wolkenbruch angerichtet hatte. Halbe Wiesen waren davongerissen, große Felder mit Schutt übergossen; von den Uferstellen hingen absterbende Bäume schief über den kahlen Bachlauf; in großen Kieslöchern waren zerrissene, mit trockenem Schlamm überkrustete Holzblöcke zusammengeschwemmt; zwischen Dachsparren glänzte rostrot eine zerquetschte Ofenröhre; ein zerdrückter Türstock war unter Felsklötzen eingeklemmt; und aus einem lichtgrünen Wassertümpel schimmerten gebleichte Tierknochen herauf, ein zerfallenes Gerippe. Von der Wirbelsäule starrten wie große Gabelzinken noch einige Rippen in die Höhe, und an diesem unheimlichen Rechen hatte sich allerlei Zeug gefangen, gelbliche Moosfladen, bunte Kleiderfetzen und welkes Rankenwerk. Wie ein schöner, leuchtender Spiegel lag die ruhige Wasserfläche darüber her.

»Tonele«, sagte der kleine Brosi, »guck, da drunt im Wasser, da hockt das Totenmännle!«

»Geh, du! Was du alles siehst!« Der Tonele zog die Brauen zusammen. »Dös is doch bloß von einer Kuh. Die is versunken, selbigsmal, wie das große Wasser meinem Bruder den Stadel vertragen hat und sieben Schaf.«

Im blonden Köpfl des Brosi erwachte die Erinnerung an jenen bösen Wettertag im letzten Herbst. Die ganze Nacht hatte er nicht schlafen können. So wild hatte der zum Strom gewordene Bach gerauscht. Und am Morgen hatte der Knabe vom Fenster seines Stübchens nicht mehr wie sonst die Gärten und die grünen Wiesen gesehen, sondern ein graues Gewoge von Schlamm und Wasser, das fast die ganze Breite des Tales füllte. Von überall kam das Geschrei der Leute. Dann wurde der Vater von einem weinenden Menschen irgendwohin gerufen und kam erst spät am Abend wieder zurück, ernst und schweigsam. Vier Tage später, als sich das Wildwasser wieder verlaufen hatte, hörte der kleine Brosi den ganzen schönen Vormittag das Geläut der Glocken. Und der Kirchhof, bis zu dem er vom Fenster seines Stübchens hinübersehen konnte, war schwarz von Menschen. Sieben Särge, vier große und drei kleine, hatte man damals hinuntergesenkt in die kühle Ruhe.

Ernst blickte Brosi auf den stillen, schimmernden Wassertümpel, unter dessen Spiegel das Gerippe lag. Dann sah er über das Tal hinaus gegen den Waldkessel unter der Großen Not, in deren Schluchten die Rinnsale des Wildbaches lagen.

»Tonele! Wenn ich groß bin, tu ich eine Mauer machen, wo das böse Wasser kommt. Da kann das Wasser nimmer heraus. Und kann die Leut nimmer tot machen.«

Der Tonele lächelte. »Geh, komm! Wir müssen heim.«

»Wirst sehen, ich tu's! Und die Mauer tu ich so groß machen, daß sie größer ist als der größte Berg.«

Mit den Fäusten in den Hosentaschen hatte sich Tonele in Trab gesetzt, und nach einer Weile zappelte Brosi atemlos hinter ihm her. Plötzlich blieben die Knaben stehen und lauschten. Zwischen Obstbäumen stand ein kleines Haus an der Straße. Von diesem Haus herüber klang das gellende Geschrei einer weiblichen Stimme. Erschrocken sahen sich die Knaben an. »Jesus, Maria!« stammelte Tonele. »Was ist denn dös?« Er fing zu rennen an, quer über die Wiese hinüber, dem Haus entgegen. Brosi, dem der Schreck das Gesichtl weiß gemacht hatte, lief dem Tonele nach. Als er das Gehöft erreichte, sah und hörte er, was er nicht verstand. Im Haus noch immer das gellende Geschrei. Doch neben der Tür, auf einer von der Sonne umfluteten Hausbank saß eine vierzigjährige, magere Frau, regungslos, mit den Fäusten auf den Knien, den grauen Kopf gebeugt, als hielte sie ein Schlummerstündchen. Immer wieder die martervollen Schreie in der Stube, deren Fenster offenstanden. Die Frau auf der Holzbank rührte sich nicht. Dann kam aus der Tür ein behäbiges Weib heraus, zwischen den Händen eine große irdene Schüssel; das Weib ließ die Schüssel am Brunnen mit Wasser vollaufen. Und der kleine Brosi fragte mit zerdrücktem Stimmchen: »Weible? Muß da drin im Haus eins sterben?«

Das Weib schmunzelte. »Sterben? Was dir einfallt, Büberl! Lebig will eins werden.« Mit der triefenden Schüssel ging das Weib zur Tür und sagte ein paar leise Worte zu der Frau auf der Bank. Die schien nicht hören zu wollen, sondern drehte den Kopf auf die Seite. Da konnte der kleine Brosi sehen, daß ihr vergrämtes Gesicht von Tränen glitzerte. Ratlos guckte er den Tonele an. Der sagte mit der Ruhe eines reifen Menschen: »Dös is die Weiserin. Die is bei der Nachberin auch gwesen in der fürigen Woch, wie unser Nachberin das Kindl kriegt hat. Und die Nachberin hat grad so schreien müssen. Die Mutter hat gsagt, der Kindlesvogel tät beißen.«

Mit Geknatter und vor einer goldig leuchtenden Staubwolke kam eine kleine Kutsche die Straße hergefahren und hielt vor dem Gehöft. Ein schlanker, blondbärtiger Mann in schwarzem Beinkleid und mit grauer Joppe sprang aus dem Wägelchen, das er selbst kutschiert hatte, und band die Zügel des schwitzenden Braunen an die Bretterplanke; dann schob er den gelben Strohhut zurück, warf eine wollene Decke über den Rücken des Pferdes, nahm eine schwarze Ledertasche aus dem Wagen heraus und ging auf das Haus zu. »Grüß Gott, Wildacherin!« sagte er zu der Frau auf der Bank. »Bin ich nötig?« Die Frau nickte. Und der Doktor trat ins Haus, aus dem die gellenden Schreie klangen.

Beim Brunnen hatte sich der kleine Brosi, als er den Vater kommen sah, mit glühendem Gesichtl und schlechtem Gewissen hinter den Trog geduckt. Der Tonele fand gleich das Praktische an der Sache heraus. »Jetzt kannst heimfahren, Brosle! Da brauchst nimmer laufen.«

»Du auch nimmer! Ich tu dich mitnehmen.« Brosi ging seinem Kameraden voran auf die Kutsche zu und kletterte zu dem schwarz glänzenden Ledersitz hinauf. – »Komm! Steig ein!«

»Ich tu derweil auf den Bräunl aufpassen.« Tonele legte die eine Hand an die festgebundenen Zügel und begann mit der andern vom Straßenrain Gras zu rupfen, das er dem Braunen hinreichte.

Ein schriller, Mark und Bein durchdringender Schrei. Dann war es still in dem kleinen Haus. Nach einer Weile sagte der Tonele nachdenklich: »Jetzt muß der Kindlesvogel fortgeflogen sein!«

Brosi guckte träumend in die blaue, leuchtende Luft. Und flüsterte plötzlich: »Ich hab ihn fliegen sehen. Ganz weiß ist er gewesen. Und rote Flügel hat er gehabt.«

Auch der Tonele spähte ins Blaue hinauf. Er sah nur die Schwalben fliegen. Und keine Ahnung seiner sieben Sommer sagte ihm, daß die blaue Sonnenstunde das Schicksal seines Lebens geboren hatte.

Es dauerte länger als eine Stunde, bis Doktor Lutz wieder aus dem kleinen Hause trat. Hinter ihm kam die Weiserin und trocknete an ihrer Schürze die Hände. »Wildacherin!« sagte der Doktor zu der Frau, die auf der Hausbank saß. »Jetzt wär es an der Zeit, daß Ihr hineinschauen solltet in die Stub. Euer Mädel hat aufmerksame Pflege nötig. Und seht Euch das liebe Enkelkindl an, das Ihr bekommen habt. Dann wird Euch das Herz schon leichter werden.«

»Ich sag's allweil!« fiel die Weiserin mit fetter Stimme ein. »Wegen so ebbes so an Spiktakel hermachen! D' Wildacherin tut, als ob so was in der Welt noch nie passiert wär. D' Eva im Paradeis is auch von keim Pfarr net kopuliert gwesen, wie sie 's erste Kindl kriegt hat. Dös hat ihr in die sechstausend Jahr schon oft eine nachgmacht.«

Dieser Weisheit zum Trotze drehte die Wildacherin wieder das Gesicht auf die Seite, blickte gegen das Kiesbett des Baches hinüber, bekreuzte sich und murmelte: »Der hat's gut, jetzt!« Sie meinte ihren Mann, den im vergangenen Herbst jenes große Wasser aus dem Leben hinausriß, als er ein ertrinkendes Schaf hatte retten wollen.

»Nur Mut, Frauerl!« sagte Doktor Lutz. »Das Leben ist halt so, daß es einmal wohltut und das andermal weh. Aber es versteht sich aufs Umkehren wie ein guter Fuhrmann. Euer Kummer von heut wird ein Weg zu Freuden sein! Wenn ich abends komm und find Euch nicht am Platz, an den Ihr als Mutter und Großmutter hingehört, dann werd ich saugrob. Verstanden?« Während der Doktor zur Straße ging, hielt er der Weiserin eine Predigt über Reinlichkeit und Wöchnerinnenpflege. Außer Hörweite der Wildacherin fragte er leise: »Wer ist denn der Vater?«

»A Stadtischer, sagt 's Madl. Und weiß net amal, wie er gheißen hat. So Malersachen hat er bei ihm tragen, und die Große Not hat er abgmalen in der Mondscheinzeit, sagt 's Madl. Und da is er amal auf d' Nacht zu ihr in d' Almhütten kommen. A taubengraus Filzhütl hat er aufghabt, sagt 's Madl.«

»Ach du lieber Himmel! – Mondschein! Mondschein!« Als Doktor Lutz zu seinem Wägelchen kam, fand er seinen Jungen auf dem Lederpolster. »Bürscherl? Wie kommst denn du daher?«

Brosi hatte den guten Einfall, dem Vater die Ärmchen um den Hals zu legen. »Gelt, Papi, der Tonele darf mitfahren?«

»Freilich! Steig nur auf, Tonerl! Aber so weit darfst du mir den Buben nicht mehr fortschleppen von daheim.«

Der Tonele lächelte. Schweigend nahm er alle Schuld auf sich.

In der Frühlingssonne fuhren sie durch das blühende Tal. Weil das Wägelchen schmal war, hatten sie zu dreien nebeneinander nicht Platz; Brosi mußte auf dem Schoß des Tonele sitzen, der seinen Schutzbefohlenen mit den Armen umschlossen hielt. Doktor Lutz, der sonst mit seinem Buben gern schwatzte, war wortkarg und blickte beim Kutschieren sinnend vor sich hin. Ganz unvermittelt sagte er aus diesem Schweigen heraus: »Ach ja, der Mondschein!«

Verwundert guckten die zwei Jungen in die Luft. Und Brosi sagte: »Aber, Papi, da droben scheint doch die Sonn!«

Jetzt lachte der Vater, sah seinen Buben zärtlich an und merkte, daß am Brosi etwas nicht in Ordnung war. »Bürscherl? Wo hast du denn schon wieder deine Strümpf und Schuh?«

Dem Knaben flog es heiß über das Gesichtl. »Sei nicht bös, Papi! Ich weiß nimmer, wo ich sie ausgezogen hab.«

»So? Und was wird da die gute Mutter wieder sagen?«

»Ach, Papi, das Barfußlaufen ist so schön!«

»Mein liebes Bürscherl! Schön ist viel im Leben. Aber das Schöne ist nicht immer vernünftig. Willst du im Leben nur immer tun, was schön ist, so wirst du bluten an Leib und Seel'.«

Brosi sah den Vater mit großen Augen an. »Aber schön wird's sein!« Lächelnd guckte er auf seine Füßchen hinunter und fühlte in seiner Kinderseele was wunderbar Großes, als er die kleinen Blutflecken gewahrte, die in dem grauen Staub an seiner Zehe vertrocknet waren.

Doktor Lutz, dem der Bräunl zu schaffen machte, hatte keine Ahnung von dem Eindruck, den sein pädagogisches Sprüchl im Herzen des Jungen hervorgerufen hatte. Auch der Tonele war mit seinen klugen Gedanken weit von allem, was in der Seele des kleinen Brosi träumte. Er schlang die Arme noch fester um seinen Schoßgesellen und flüsterte ihm ins Ohr: »Mußt dich net fürchten, Brosle! Ich hab deine Schuh und Strümpfln unter der Bachbrucken auf an Balken auffiglegt. Da findst es leicht.« Nachdenklich fügte er noch bei. »Brudern hast kein'! Und 's Mutterl schlagt net, weißt!«

Brosi hörte nicht. Er hatte was zu schauen. Die Kutsche fuhr an einer langen Mauer hin, die mit roten Ziegeln gedeckt und durchsetzt war und von zierlichen Säulen, auf denen steinerne Kugeln in der Sonne schimmerten. Schlanke Wipfel und schöne Baumkronen lugten über die Mauer; das waren Bäume, wie sie sonst im Tal nicht wuchsen. Der frühlingsgrüne Park war wie ein kleines, fremdartiges Reich zwischen die Berge gestellt. Die Kutsche fuhr an einem großen, schmiedeeisernen Tor vorbei. Das war geschlossen. Hinter dem schwarzen Schnörkelwerk und den Gitterstäben des Tores sah Brosi, dem die blauen Augen leuchteten, was Schönes erscheinen und verschwinden: einen langen, goldglänzenden Weg, der zwischen hohen Bäumen wie nach der Schnur gezogen war; Blumen in brennenden Farben säumten diesen Weg; und in der blau glänzenden Tiefe des Parkes schimmerte zwischen den hohen Wasserpalmen zweier Fontänen ein silberweißes Schlößchen.

Nun war dieses Schöne wieder versunken hinter der steinernen Mauer. Im kleinen Brosi wurde alles lebendig, was er an diesem Morgen gesehen hatte, die goldgelbe Schlange im dunkeln Wald, die schneeweiße Prinzessin mit den rosenroten Flügeln und der singende Waldrauscher. Das Hälschen streckend, blickte der Knabe zur Großen Not hinauf und sagte: »Papi, ich kann ein Lied.«

»Soooo?« Der Vater lachte. »Pfeif los!«

Mit suchendem Klang, der beim Gerüttel des Wagens immer ein bißchen trillerte, fing Brosi zu singen an:

    »Der Wald ist kein Wald net,
Der Bach ist kein Bach,
Und d' Nacht is kei' Nacht net,
Und 's Dach ist kein Dach –«

Da unterbrach ihn der Tonele: »Net Dach heißt's. Es heißt Sach.« Brosi korrigierte:

»Und 's Sach ist kein Sach.

Und 's Kalte ist kalt net
Und 's Heiße net heiß,
Und alles ist anders,
Als wie's einer weiß.«

Der kleine Sänger stockte. »Du, Tonele, wie geht's weiter?« Mit klugspöttischem Lächeln sang Tonele:

        »Und zwoa san an oanzigs
Und tausend san zwoa,
Und dö haben oan Schnaufer,
Oan Lacher, oan Schroa.

Drei Stoaner, drei Bleameln –«

»Wart ein bisserl!« rief Brosi in Erregung. »Jetzt kann ich's wieder –

  Drei Steiner, drei Blümerln,
Drei Mucken, drei Leut,
Ist alles ein Wehdam,
Ein Leben, ei' Freud!«

Mit glänzenden Augen sah der Bub zum Vater auf. Der Tonele runzelte die Stirn und sagte: »Gelten S', Herr Doktor, dös Liedl is doch ebbes Narrets?«

Doktor Lutz gab dem Tonele keine Antwort. Eine Weile sah er nachdenklich das lachende Gesicht seines Buben an. Dann sagte er: »Das hast du wohl vom Waldrauscher gehört?«

»Ja, Papi.«

»Merk dir das Liedl! Wenn du um zwanzig Jahr älter bist, sollst du drüber nachdenken.«

Der Tonele machte ein verwundertes Gesicht, streckte den Hals und guckte mit Sorge über die grünen Gärten nach einem roten Dach, das immer näher kam. Das war das neue Dach seines Elternhauses, des alten Lahneggerhofes, in dem die verwitibte Bäuerin seit vier Jahren mit ihren beiden Buben wirtschaftete, mit dem Tonele und dem fünfzehnjährigen Krispin. Zwei Töchter waren als Kinder verunglückt; auf der Wiese, die sich hinter dem Haus gegen den nahen Berghang hindehnte, hatten die zwei Kinder im ersten Frühling Himmelsschlüssel gepflückt, als die Lawine kam, die ›Lahn‹, von der seit alten Zeiten der Lahneggerhof seinen Hausnamen hatte. Im Kirchbuch standen die Lahneggerleute mit ihrem Familiennamen eingeschrieben: Annamaria, Krispinus und Anton Sagenbacher. Auch ein Name, der seine Geschichte hatte. Vor Zeiten, an die sich niemand mehr erinnerte, hatten die Vorfahren des Tonele an einem Bache gehaust, der eine Säge trieb. Als die Wildwässer der Großen Not dieses Haus mitsamt der Säge eines Tages mitgenommen hatten, waren die Sagenbacher hinübergesiedelt in den ausgestorbenen Lahneggerhof. Da waren sie sicher vor dem Wasser. An die Lawine, die in jedem Frühjahr übers Lahneck herunterfiel und immer nur bis in die halbe Wiese rollte, hatten sie sich gewöhnt. Heuer war die Lawine in den letzten Apriltagen gefallen. Trotz der warmen Maisonne sah man hinter den Obstbäumen des Gartens in den schattigen Schluchten des Berghanges noch massige Schneewälle liegen, so weiß, wie die Mauern des Hauses waren.

Ein stattliches Gehöft. Wohnhaus, Ställe, Hof und Garten gut erhalten.

Tonele war schon auf die Straße gesprungen, noch ehe der Wagen hielt.

»Vergelt's Gott!« rief er zum Doktor hinauf. Und zum Brosi: »Gelt, deine Strümpf und Schuh, die liegen unter der Bachbruck.«

Er huschte in den Hof und spähte. Im Gemüsegarten sah er die Mutter bei der Arbeit; ihr rotes Kopftuch leuchtete zwischen dem Heckengrün wie eine große, feuerfarbene Blume. Der Tonele wollte zu ihr hinüberspringen. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen, bleich bis an den Hals.

Aus der Haustür kam der Krispin heraus und stapfte mager, lang und grobknochig auf den Tonele zu, ein Fünfzehnjähriger, der seit dem Tod des Vaters die Gewohnheit angenommen hatte, in Gang und Sprache den erwachsenen Mann zu spielen.

»Du Lausbub, du gottverfluchter! Wo bist denn schon wieder blieben so lang?«

Ein grober Schlag. Dem Tonele brannte die Wange. »An andersmal kommst heim, bal's Zeit zum Essen ist!« Der Krispin lenkte seinen Männerschritt nach den Ställen.

In Zorn griff der Tonele zu Boden und faßte einen Stein. Er hob den Arm und wollte werfen. Da kam die Lahneggerin wie eine Irrsinnige aus dem Garten herausgefahren. Der Tonele, als er die Mutter sah, ließ den Stein zu Boden fallen.

»Komm!« sagte die Mutter mit erwürgtem Ton, führte den Buben in die Stube, und als er auf der Bank saß, legte sie den Arm um seinen Hals, schob das rote Kopftuch in den Nacken zurück und schmiegte das früh gealterte Gesicht an das Haar ihres Jüngsten. Dabei wurde sie ruhiger.

»Tu dich net kümmern! Der Liebere bist mir du.« Sie brachte ihm das Essen und blieb schweigend neben ihm sitzen, bis er den letzten Bissen hinuntergewürgt hatte. »So! Jetzt gehst auffi zum Herrn Pfarr! Und sagst es ihm.«

Der Tonele schüttelte den Kopf. »Lieber mag ich der Mutter im Garten helfen.« Er wischte mit dem Arm den Mund ab und ging aus der Stube.

Die Lahneggerin schien eine Weile nachdenken zu müssen, bis sie das Wort ihres Buben verstanden. In ihren müden Augen erwachte ein warmer Glanz. Der schwand, als sie draußen im Hof dem Krispin begegnete. Mit beiden Fäusten faßte sie den langen Menschen an der Brust. »Du! Ich sag dir's zum letzenmal! Dös tust mir gut sein lassen! Den Buben schlagst mir nimmer! Du!«

Krispin streifte die Hände der Mutter von sich. »Soso?« sagte er mit der Ruhe eines reifen Mannes. Und trat ins Haus.


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