Ludwig Ganghofer
Der Ochsenkrieg
Ludwig Ganghofer

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

12

Auf dem Haidplatz, den die hochgegiebelten und getürmten Häuser der reichen Bürger in buntem Schmuck umgaben, drängte sich Kopf an Kopf.

Wie eine eiserne Mauer standen die fürstlichen Harnischer und die gepanzerten Stadtknechte um die Schranken her und ließen hinter ihren Schultern das Gedräng des Volkes verbranden.

Innerhalb des abgesperrten Raumes war ein Gewirre von Fahnen und Standarten, ein Gewirbel von hundert leuchtenden Farben und ein Gefunkel von blanken Waffen und Edelsteinen.

Als das Königspaar mit dem päpstlichen Legaten den Friedensthron und die Fürsten ihre roten, mit Wappen gezierten Hochsitze schon bestiegen hatten, füllten die Prälaten, die Ritter und Ehrbaren ihre Bänke. Dabei gewahrte Propst Pienzenauer in der ersten Reihe der Söldner einen Harnischer, dem über das braune, ernste Gesicht eine schwere Narbe herunterlief. An dieser Narbe erkannte er ihn wieder. Rasch trat er auf ihn zu und fragte erregt: »Du? Warst du nicht bei Dachau im Gefecht, als der Seipelstorfer den Herzog von Ingolstadt fangen wollte?«

»Wohl, Herr! Da hab ich mitgedroschen.« In die harte Stimme des Söldners kam ein leichtes Schwanken, als er neben dem Fürstpropst den Ritter Someiner stehen sah. »Und ich bin nit weit gewesen, wie Euch ein redlicher Mann unter dem niedergestochenen Gaul herausgezogen hat.«

»Mensch! Weißt du, wer das war?«

»Wohl!« Malimmes vermied es, den Ritter Someiner anzusehen. »Das ist mein guter Herr gewesen, der Richtmann Runotter von der Ramsau.«

»Wo find ich ihn?«

Ein rauhes Lachen. »Da braucht Ihr Euch mit dem Suchen nit plagen. Der ist weiter, als Menschen laufen oder reiten können.« Malimmes sah zur Sonne hinauf. »Wer den Runotter finden möcht, müßt fliegen lernen und höher steigen als ein Isländer Falk.«

Während Herr Pienzenauer erschüttert schwieg, stammelte Lampert Someiner mit heiserem Laut: »Malimmes –«

Neben dem Friedensthron begannen die Trompeten zu blasen. Ihr Geschmetter weckte ein dreifaches Echo an den hohen Mauern, und Hall und Widerhall verschmolzen miteinander zu einem rasselnden Tongewirr, das sich anhörte wie das Gelächter eines Riesen.

Nun eine summende Stille.

Auf dem Friedensthron erhob sich die Majestät im funkelnden Prunk der königlichen Würde.

Alle Gesichter der vielen Tausende, der Hohen und Niederen, waren dem schönen, lächelnden König zugewendet. Nur ein einziges nicht, das schmale, rosige Gesichtchen der zierlichen Königin. Die streckte das schlanke Hälslein und lugte hinüber zu den Reihen der Harnischer.

In anmutsvoller Bewegung die beringte Hand erhebend, begann die Majestät mit gutgeschulter, klingender Stimme zu sprechen:

»Ihr meine lieben Oheime und Vettern! Ihr hochgeborenen Fürsten und Herren, die Ihr Beschirmer der Gerechtigkeit und Liebhaber des Guten seid, Ausreuter des Übels, Vertilger von Schande und Laster, eine sichere Zuflucht für alle betrübten, gepeinigten und hilflosen Menschen!«

Die Fürsten blieben ernst, obwohl sie bei dieser Ansprache ein bißchen verwundert dreinguckten. Doch das Volk, das die spottende Heiterkeit flink erfaßte, brach in munteres Gelächter aus.

Durch die ganze Rede, die ein blühendes Loblied des Friedens wurde, schwang der König die anmutige Geißel des Spottes, der ihm die Herzen des Volkes eroberte. Und als er den Tausenden gebot, den in die bayerischen Lande heimgekehrten Engel des Friedens mit deutschem Heilruf zu begrüßen, rauschte ihm aus aufgereckten Händen eine brausende Woge der Freude und Begeisterung entgegen.

Noch ehe das frohe, dankende Geschrei verhallte, kam vom Hause der Weltenburger ein wunderlicher, gar nicht festlicher Zug einhergewandert; voraus der land- und dienerlos gewordene Herzog Ludwig, der die beiden Hunde an seinen Gürtel gekoppelt hatte; ihm folgten Kaspar Törring und Wieland Swelher mit zwölf von Ludwigs letzten Getreuen, und sie alle, der Herzog wie die Seinen, waren gleich gekleidet und trugen graue Knechtshosen, graue Bauernkittel und graue Kappen, die mit Marderschwänzen gezottelt waren.

Ein Lachen und Hälserecken im Volk, wie auf allen Bänken der Herren. Und belustigt fragte der König: »Oheim Ludwig? Was soll zu ernster Stunde dieser wunderliche Fasching?«

»Fasching? Nein, Majestät!« Stolz und ruhig hob Herr Ludwig den Kopf. »Das ist Würde und Weihe. Mit diesem grauen Gewande wollen wir die Sieger ehren, die uns in solchen Bauernkitteln bekriegten.«

Über den weiten Haidplatz rann ein Fragen und Schwatzen hin. Und Herzog Heinrich murrte geärgert: »Wollte ich so viel Geld an jeden billigen Spaß vergeuden, so wäre mein Schatzturm bald eine Flohfalle, aus der die gelben Flöhe bis auf den letzten entsprangen.«

Dieser heiteren Minute folgte eine ernste Zeremonie. Während umflorte Kirchenfahnen entschleiert und geknickte Wachskerzen aufgerichtet und entzündet wurden, bliesen dumpfe Posaunen. Würdevolle Spannung lag auf allen Gesichtern. Nur Kaspar Törring war nicht völlig bei dieser ernsten Sache. Immer musterte er die beiden Hunde, die an Herzog Ludwigs Gürtel gekoppelt waren. Und in Erregung flüsterte er gegen das Ohr des Freundes: »Du, Loys, das sind die zwei schönsten aus meinem Zwinger! Ein Rüd und eine Hündin. Die sollen der Welt ein neu Geschlecht erwecken. Fällt von ihnen der erste Wurf, so will ich dabei sein. Ich gehe mit dir nach Ungarn.«

Die feierlichen Posaunen schwiegen, und unter dem Baldachin des Friedensthrones erhob sich der päpstliche Legat, um den Ingolstädter vom Kirchenbanne loszusprechen und als reuige Seele in den Schoß der römischen Mutter zurückzuführen.

Während Herr Ludwig das gebeugte Knie streckte, sprach er mit starker Stimme: »Gott im Himmel wird mich richten nach meinem Herzen, nicht nach der Torheit meiner Fäuste und meines Blutes.« Er ging auf den Markgrafen von Brandenburg zu: »Verzeihe mir! Nach Verdienst belehnte mich die Majestät mit der Narrenkappe. Dich hätt ich erkennen und für mich gewinnen sollen.«

Fritz von Zollern reichte ihm die Hand und sagte lächelnd: »Mich mißversteht man immer. Ich weiß nicht, woher das kommt.«

»Ferne Berge sind den Narren wie Maulwurfshügel.« Und Herr Ludwig wandte sich zu den Herzögen von München: »Wider Euch hab ich schweres Unrecht getan. Wollt Ihr meiner üblen Torheit vergessen?«

Freundlich nickend, bot ihm Herzog Ernst seine schwere Rechte. »Dinge, die geschehen sind, sollen ein Gutes nicht bedrücken, das kommen will. Waren wir keine guten Vettern, so wollen wir's werden. Gelt?«

Schweigend sah Herr Ludwig dem Vetter in das lachende Bartgesicht. Dann wandte er sich, betrachtete den Herzog Heinrich, blieb wie steinern vor ihm stehen und wartete.

Mit langsamen Schritten kam der kleine Herzog näher: »Nach Inhalt des Urteils, das die Majestät gesprochen, bitte ich dich in schuldiger Demut um Verzeihung.«

Herr Ludwig sah die Narben an seinen Händen an und sagte rauh: »Du gibst mir schöne Worte. Wenn es dir wahrhaft leid wäre, müßtest du andere Augen haben.«

Ein feines Lächeln. »Ich habe Augen, wie Gott es wollte.«

Freundlich mahnte die Majestät: »Oheim Ludwig? Wollt Ihr diesem Bittenden nicht vergeben?«

Ruhig sagte Herzog Ludwig: »Ich vergebe ihm nach Form und Seele des Urteils.«

Ein Summen über den Köpfen der Menge. Und von dem goldenen Sessel, der höher war als der rote Stuhl des Königs, segnete der päpstliche Legat die Fürsten und das Volk. Freundlich streckte der Kardinal die Hände nach der Königin, hob sie zu sich empor und küßte sie auf beide Wangen, während der König die Herzöge von Bayern der Reihe nach umarmte. Herzog Ernst umarmte den Ingolstädter, Herzog Heinrich den Brunorio von der Leiter. Der Erzbisdiof von Salzburg und der Bischof von Chiemsee umarmten den Propst des heiligen Zeno. Herr Konrad Otmar umarmte den Fürstpropst Pienzenauer von Berchtesgaden, der heilige Zeno den heiligen Peter. Hauptmann Hochenecher umarmte den Hauptmann Seipelstorfer. Es umarmten sich die Ritter, von denen einer dem anderen die Burg gebrochen hatte. Und es umarmten sich die Bürgermeister von München und Ingolstadt, von Burghausen und Wasserburg, von Landshut und Freising, von Schrobenhausen und Pfaffenhofen, von Traunstein und Rosenheim, von Kufstein und Marquartstein.

Inmitten einer andächtigen Stille wirkte dieses Bild der Versöhnung und christlichen Liebe so ergreifend, daß die Kinder zu beten, die Frauen und Jungfrauen zu weinen begannen. Und plötzlich, in diesem von Andacht und Rührung beträufelten Schweigen, brüllte von irgendwo eine grobe Bauernstimme: »So? So? Nit schlecht! Tut sich da jetzt alles umarmen? Macht alles Fried? Und die Hängmooser Ochsen? Was? Wer nimmt denn jetzt die Hängmooser Ochsen um den Hals?«

Ein Sturm von Heiterkeit brauste nach diesen Worten über den weiten Haidplatz hin.

»Man soll erkunden«, befahl die Majestät, »was dieser Biedere von Uns begehrt!«

Bei der Schranke rief ein Harnischer mit der Stimme eines trompetenden Elefanten: »Das ist der Ramsauer Albmeister. Den Ramsauern ist schweres Unrecht an Kühen und Ochsen widerfahren. Drum will der Albmeister reden mit der deutschen Majestät.«

Während die Königin ein bißchen blaß wurde und trauernde Augen bekam, lachte der König in leutseliger Heiterkeit. »Man soll diesen Braven vor Unser Angesicht führen.«

Unter lustigem Rumor des Volkes und aller Herren brachten die Festordner den langen, mageren Fischbauer vom Hintersee vor den Friedensthron.

Freundlich sagte die Majestät: »Wir hören, du bist der Ramsauer Albmeister.«

»Was denn sonst?«

Ein vergnügtes Gebrüll rings um die Schranken her.

»Und mit dem deutschen König willst du reden?«

»Was denn sonst?«

Wieder dieses schallende Gelächter, während der Albmeister vorsichtig aus einer Blechkapsel ein zerknülltes Pergament herausdrehte.

»Warum willst du reden mit Uns?«

»Weil unsere Ochsen grad so viel Recht haben als wie die anderen. Unsere Ochsen müssen heut auch dabei sein. Was denn sonst? Um unsere Ochsen geht doch der ganze Krieg. Und Recht muß Recht sein. Unser Recht ist verbrieft und gewächsnet.«

Lustig streckten sich tausend Hälse, und der Ramsauer Albmeister machte einen plumpen, komisch wirkenden Fußfall vor der Majestät und reichte ihr das alte Pergament empor, das rot und grau gefleckt war vom Blute des Seppi Ruechsam und vom Sattelschmutz des Marimpfel.

Während das Schwatzen und Kichern in der Menge immer lauter wuchs, sagte der König zu Peter Pienzenauer: »Lieber Neffe von Berchtesgaden! Wollt Ihr Uns dieses wunderliche Rätsel deuten?«

Der Fürstpropst hatte kummervolle Augen. »Herr! In dieser Sache bin ich ein Schuldiger. Da soll einer sprechen, der rein zwischen Recht und Schuld gestanden.« Er winkte dem Ritter Someiner. »Rede, Lampert!«

Vor König, Fürsten und Volk fing Lampert Someiner zu sprechen an. Aus jedem seiner Worte zitterte die tiefe Erschütterung, die ihm die Nachricht vom Tode des Runotter ins Herz geworfen hatte. Doch was er selbst als ein schweres Trauerspiel der Menschheit empfand, das wurde – durch den widersinnigen Gegensatz von Ursache und Wirkung – für diese tausend in lustiger Neugier Lauschenden zu einer grotesken Lächerlichkeit des Lebens, die keine Träne wecken, nur wilden Hohn oder schallende Heiterkeit erzielen konnte.

Siebzehn Ochsen! Siebzehn Ochsen! Und Volk und Reich geschädigt und zerrüttet, die Zeit zurückgeworfen um Jahrzehnte und bedrückt durch blutende Verluste, weite Länder bis zum Grauen verwüstet, Städte zerstört, Burgen gebrochen, zahllose Dörfer in Asche verwandelt, die Münze verschlechtert, alles Gut entwertet, Arbeit und Handel erdrosselt, hunderttausend Menschen verarmt und viele Tausende erschlagen, erwürgt, erstochen, verbrannt, vergiftet von Seuchen, verfault und verstunken! Und siebzehn Ochsen! Siebzehn Ochsen!

Indes den Haidplatz ein höhnendes Gejohl erfüllte, sagte der König, halb noch lachend, halb bedrückt von einer schreckvollen Schwermut: »Wahrlich! Ein Ochsenkrieg! Um Ochsen begonnen – –« Weil die Majestät verstummte, fiel das spottende Kastratenstimmchen des Narren ein: »Von Weisen geführt! Und friedsam beschlossen von einem klugen König.« Mit beiden Händen machte der grinsende Narr bei dem Wörtchen ›klug‹ über seinem Kopf eine Bewegung, die von allen, welche sie sahen, sehr heiter gedeutet und mit Gelächter aufgenommen wurde. Auch der König lachte mit. Nicht gerne. Doch gnädig beugte er sich zum Ramsauer Albmeister hinunter und entschied, daß der Friedensvertrag der Fürsten – der unterzeichnet und gesiegelt war von einem Kurfürsten, drei Herzögen, einem Erzbischof, einem Bischof, von zwei Pröpsten und zur Zeugschaft von vielen Kirchenfürsten und Baronen – noch einen klärenden Nachtrag in causa bovum Hengismosianorum sive Mordaviensium erhalten sollte.

In dieser Klausel wurden die Ramsauer berechtigt, den zu Unrecht niedergebrannten Käser auf Kosten des heiligen Peter von Berchtesgaden neu zu errichten. Und nach Gutdünken und Verstand der Bauern sollten von nun an bis zu ewigen Zeiten an Stelle der Ochsen auch Milchkühe auf dem Hängmoos, nein, in der Mordau grasen dürfen.

So entschied die Majestät. Und der Ramsauer Albmeister sagte stolz und ruhig: »Was denn sonst? Jetzt haben wir's wieder, wie's allweil war. Da hätt's den ganzen Krieg nit braucht.«

Inmitten der Heiterkeit, die den funkelnden Friedensthron umwogte, scholl aus dem Gewühl der Menge ein wilder Schrei, dem ein Gezeter angstvoller Stimmen folgte. Von den Hochsitzen der Fürsten sah man im Gedräng der Leute plötzlich einen leeren, rasch auseinanderfließenden Pflasterfleck. In dieser Leere, die mit jeder Sekunde wuchs, lag ein dicker, reichgekleideter Bürger unter sinnlosen Gliederzuckungen auf dem Boden, mit dem Gesicht gegen die Erde. Und in der Menge, die entsetzt vor ihm zurückwich und sich qualvoll staute, fingen zwanzig, vierzig, hundert, tausend Stimmen zu schreien an: »Der Tod ist in der Stadt! Der schwarze Tod!«

Auf dem Brettergerüst der Fürsten, bei den Bänken der Ritter und Ehrenfesten wie bei den Schranken des gemeinen Volkes, überall begann ein schreiendes oder stumm erschrockenes Drängen und Entweichen. Vor diesem stärksten aller Kriegsfürsten entflohen Sieger und Besiegte, König und Bettler, Weib und Mann, der Greis und die Kinder.

Ein Söldner blieb ohne Schreck. Und ging auf den einsam Gewordenen zu, der in Todesangst und Schmerzen stöhnte. »Höia, du armes Männdl! Fehlt's denn so weit?« Er drehte den Zuckenden herum und sah ein verzerrtes Gesicht, auf dessen fahler Haut ein paar kleine, schwärzliche Pestflecken waren. »Ui, Teufel, Brüderlein, da müssen wir schauen, daß wir zum Medikus kommen!« Mit beiden Armen griff er zu. »Herrgott, Mensch, hast du ein Gewicht!« Während er fester zugriff, beugte er den Kopf hinunter. »Wie, sei gescheit! Und nimm mich um den Hals herum! Da trag ich dich leichter.«

Der Stöhnende umarmte den Malimmes, der die Richtung nach dem Sondersiechenhaus vor dem Jakobstore nahm.

Wo der hastig Schreitende mit diesem klobigen, in Samt und Seide gewickelten Binkel des Elends erschien, wichen die Menschen zurück.

»Ui, guck!« Malimmes lachte. »Mir macht man die Gassen frei, als ob ich der König wär!«

Prüfend sah er das Gesicht des Kranken an. Der stöhnte nimmer. Die schwärzlichen Flecken auf Stirn und Wangen waren gewachsen, und neue waren dazu gekommen. Und während der schwere Mann mit offenen Augen duselte, spannten sich seine Arme wie eine eiserne Klammer um den Nacken des Söldners.

»Höia, laß luck ein lützel! Du druckst ja ärger als wie ein Hänfener!« Die Klammer, die den Hals des Malimmes umschnürte, wurde nicht linder. Unter dem Druck dieser Arme fiel ihm das Atmen schwer. Doch heiter schwatzte er vor sich hin: »Mir daucht, jetzt kommt der Achte. Vor dem ich mich hüten hätt müssen. Aber ein Rindvieh bin ich allweil gewesen. Und bleib's.« Er machte schnellere Schritte und fing zu keuchen an. In einer Gasse, wo man nicht wußte, was auf dem Haidplatz geschehen war, blieben die Leute stehen und betrachteten in Neugier diesen Flinken mit seiner kostbaren Last. Spottend schrie Malimmes: »Obacht, Leut! Da kommt einer, der ein lützel grob ist.«

Die Leute verstanden nicht und wurden lustig. Malimmes mußte deutlicher werden. »Leut! Da kommt der Tod! Der ist anmaßiger als wie der König, ist mit Kraut und Bratwurst nit zufrieden, frißt die Menschen mit Haut und Haar!«

Nun ging ein dumpfes Geschrei und angstvolles Gerenne vor ihm her. Und Malimmes rief den Springenden nach: »Ein lützel gemütlicher! Auf die Letzt entrinnet ihr ihm doch nit!« Und weil er sah, daß ihm viele voraushopsten zum Jakobstor, schwatzte er mit dem Bewußtlosen, den er trug: »Ei, guck, jetzt haben wir Vorläufer und Melder, wie der Propst vom heiligen Zeno in der Ramsau.« Er lachte. »Bloß ein Trompeter geht uns noch ab!« Mit geblähten Backen, die Lippen aufeinander pressend, begann er in drolligem Trompetenklang das Liedchen der sechs Speckbrocken von Aufham zu blasen:

»Ein Reiter, der wollt pi–hir–schen,
Halerieh halerah fallaaah,
Nach Reechlein nit noch Hi–hir–schen,
Halerieh halerah fallaaah –«

Ein tobender Aufruhr war beim Jakobstor. Die vielen, die dem Malimmes vorausgesprungen waren, hatten dem Torwart schon gemeldet, welch einen hohen Herrn man da getragen brächte. Und wie irrsinnig schrien sie: »Das Gatter hinauf! Der muß hinaus! Hinaus! Hinaus!«

Die schwere Balkensperre war schon emporgezogen, noch ehe Malimmes rufen konnte: »Weg frei! Da kommt der Tod!« Im leeren Torbogen hallte sein Schritt. Und dicht hinter seinem Rücken fiel das eisenbeschlagene Gatter mit Gerassel herunter. »So, du! Jetzt sind wir ausgesperrt. Die lassen uns nimmer hinein. Jetzt wartet eine schöne Frau umsonst.«

Vom Jakobstor ein paar hundert Schritte entfernt, stand hinter einer dichten Wand von welkenden Bäumen und Stauden das große Sondersiechenhaus zum heiligen Lazarus.

Malimmes schnupperte. »Mir daucht, da räuchert man einen Dachs aus?« Es roch nach Essig, nach Schwefel und Wacholderqualm.

Jetzt brauchte er nimmer zu schreien: »Obacht, Leut! Es kommt der Tod!« Für den heiligen Lazarus war das keine Neuigkeit. Hier war der große Sieger schon lange anwesend. Mit zahlreichem Gefolge. Man hatte von der Holzlände, vom Anger vor dem Ostentor und von den Freiweinbuden des gütigen Königs schon über zweihundert herbeigetragen. Die verdächtigen Taumler hatte man in den Saal der harten Geduld gesperrt, die Kranken in die Bettstuben gebracht, die Stillgewordenen im Garten der Barmherzigkeit versenkt in eine mächtige Kalkgrube. Und als Malimmes mit seiner kühlen, regungslosen Last die Torhalle des schmerzvollen Heiligen erreichte, kam mit dem Söldner zugleich ein Zug von vermummten Bahrenträgern.

Ein Arzt und zwei Wärter, welche lederne Fäustlinge, mit Essig getränkte Leinwandkutten und Gugeln mit kleinen Augenlöchern trugen, mühten sich unter dem großen Kreuz in der Halle vergebens, die starrverkrampften Arme des Sterbenden vom Halse des Söldners loszubringen. »Ich sag's ja! Der laßt nimmer aus. Was ein richtiger Strick ist, reißt nit. Auf der Welt gibt's schlechte Seiler. Da drüben ist einer, der's besser kann.« Gewaltsam mußte Malimmes den Kopf aus dieser unnachgiebigen Schlinge herauszerren. Als er sich aufrichtete, sagte er lachend: »So hart und mühselig bin ich noch nie aus einem Hänfenen herausgeschlupft. Gott soll euch gnädig sein, ihr Leut! Ich geh.«

Da faßte ihn der vermummte Medikus am Arm. »Hab noch ein wenig Geduld, du Lustiger! Wir müssen dich behalten als verdächtig.«

Malimmes nickte. »Ja ja! Ich bin schon allweil so ein verdächtiger Lumpenkerl gewesen, dem man das Übelste hat zutrauen müssen.«

Man führte ihn zu einem dunstigen Raum, in dem es sehr heftig roch. Hier wurde er entkleidet und mit einer Mischung aus Essig und Lauge gewaschen. Er machte dabei so muntere Späße, daß die Wärter nicht aus dem Lachen kamen. Einer sagte: »Wären alle wie du, so gäb's beim heiligen Lazarus kein Zittern und Grausen.«

»Gelt, ja! Die Menschen sind arge Narren. Wie leichter einem das Schnaufen wird, um so mühsamer finden sie's.« Er bekam eine mit Essig getränkte Leinwandkutte, an der eine Gugel mit kleinen Augenlöchern war. »So! Jetzt wird der Kapuziner bald fertig sein. Ein lützel bräuner muß er noch werden.«

Man führte den Vermummten in den Saal der harten Geduld. Hier waren schon an die hundert zugegen, alle in den gleichen, säuerlich duftenden Kutten und Gugeln. Man unterschied da nimmer, was ein Alter oder ein Junger, ein Schmucker oder ein Häßlicher, ein Männlein oder ein Weiblein war. Schweigend saßen und standen die weißen Masken in dem großen Saal umher. Und es war die einzige Regung ihres bedrohten Lebens, daß sie sich gerne an jenen Stellen des Saales hielten, die farbig überglänzt waren von der schönen, durch die hohen Buntscheibenfenster hereinfallenden Nachmittagssonne.

Als der weißvermummte Malimmes in den Saal geschoben wurde, drehten alle anderen Masken die kleinen Augenlöcher gegen die Türe. Mit drolligen Tanzbewegungen kam der neue Bruder des letzten Wartens über die Schwelle gesprungen und begann den gleichen lustigen Rumor, wie damals im Leuthaus der Ramsau. Viele von den Verhüllten guckten ihn schweigend an, einige wurden mißmutig, schalten den übermütigen Gesellen und sprachen von der Heiligkeit des Ortes und von der dunklen Nähe des Todes. Eine der Masken, ein schlankes, flinkes Figürchen, klatschte die Hände ineinander, tat mit junger Stimme einen etwas beklommenen Jauchzer und rief unter frohem Aufatmen: »Dem Herrgott sei Lob und Dank! Gucket, ihr Angstmäuser, da kommt ein Mensch!«

»Gelt, ja? Komm her, du guter Gesell! Wir zwei, wir halten zusammen als lustige Gnoten. Ich wüßt nit, warum ich greinen müßt. Bin ich gesund, so geht's wieder heim ins Leben. Und müßt ich sterben? Gut! So geht's hinauf in die ewige Seligkeit, wo man die Kerzen nit putzen muß, weil sie allweil sauber und ohne Räuber brennen. Komm her, Gesell! Vor uns das Schönste und hinter uns das Liebste! Warum denn traurig sein in der Mitten?«

Die beiden, von denen der eine aussah wie der andere, ließen sich Seite an Seite in der linden Sonne nieder und begannen ein so munter mit Späßen durchspicktes Geplauder, daß sie bald einen dicken Zirkel lachender Masken um sich hatten. Auch die von dunklem Grauen durchrüttelten Angstmäuser mußten schließlich unter den weißen Gugeln ein bißchen schmunzeln, kamen näher, lauschten in scheuer Neugier und wurden Menschen, in denen Zuversicht und Hoffnung war.

Als der junge, blasse Priester – der jede dritte Stunde kam, um mit den Verdächtigen zu beten – das nächstemal den Saal der harten Geduld betrat und diese heiter schwatzende Gesellschaft fand, war ein ratloser Blick in seinen Augen. Schweigend ging er auf das an die Wand genagelte Kreuzbild zu, ließ sich auf die Knie fallen und begann erregt das Gebet zu sprechen.

Langsam verstummte das Schwatzen und Kichern. Stimme um Stimme fiel in die frommen Worte des Priesters ein, und mit hoch erhobenen Händen beteten die weißen Masken. Jetzt war es anders als bei den früheren Gebeten; da hatte man nur lallende, von Angst erwürgte Laute vernommen; jetzt klangen alle Stimmen hell und ruhig, und in den frommen Worten, die sie sprachen, glühte eine Inbrunst, die so fröhlich wie gläubig war.

Während der junge Priester nach dem Amen rasch den Saal verließ, rief eine weiße Maske den anderen heiter zu: »Ihr lieben Knospen! Nur wieder her zu mir! Jetzt haben wir sauber gebürstete Seelen, da können wir desto lustiger sein. Wir leben noch allweil, gelt? Das Leben ist wie ein fester, gesunder Stier, der an eisernen Strängen zieht. Die reißen nit leicht. Mich hat der Tod schon beim Ohrläppel erwuschen, ich weiß nit, wie oft. Und an den Fingern kann ich's nit auszählen, wie oft mir schon der Hänfene das Zäpfl gekitzelt hat. Und jedsmal bin ich wieder gesund ins Leben gesprungen. Ui, ihr lieben Gnoten, wenn ich das alles erzählen möcht, da tätet ihr lachen müssen.«

Ein heiteres Gedräng, man witterte abenteuerliche Schwänke, setzte sich um den Lustigen her, und hundert Stimmen bettelten: »Erzähl! Erzähl!«

Auf dem Boden in der Sonne hockend, die beiden Arme um die aufgezogenen Knie geschlungen, fing die weiße Maske zu erzählen an: vom Birnbaum im Ungerland, von der Blitzeiche im Clevischen, vom Schrägen der gescheiten Ulmer, von den Landshuter Wölfen und von der Schlittenfahrt auf dünnem Hosenboden, vom schlechten Reusenstrick des Fischbauern, vom genügsamen Rappenholz, das mehr als ein Dutzend nicht tragen wollte – von Herzog Heinrichs ängstlichem Profoßen, der seit dem Tag von Dachau immer hinauf schauen muß zum Himmel, ob da nicht ein gefährliches Ding herunterfällt auf seine irdische Gerechtigkeit, und vom lieben Lendenschnürlein einer schönen Frau, die gerne reich geworden wäre und das unzufriedene Weiblein des Ärmsten unter allen Deutschen hatte werden müssen.

Was das Leben an Ernst und Schmerz in die Wahrheit dieser Geschichten hineingesponnen hatte, verwandelte sich im Saal der harten Geduld zu einer gaukelnden Heiterkeit. Und als das bedrohliche Lendenschnürlein der schönen Frau von Irgendwo entzweigerissen war und die freudige Runde der Lauschenden wieder und wieder was Lustiges hören wollte, begann die unermüdliche weiße Maske immer neue Galgengeschichten zu ersinnen, eine drolliger als die andere. Immer wundersamer stellten sich die Rettungen ein. Beim dreiundzwanzigsten Hänfenen wurde ein Übermütiger, der die für den König gebratenen Würstlein verspeisen wollte, zum unzerreißbaren Strang verdammt; und als er baumelte, kam ein feiner zierlicher Engel vom Himmel heruntergeflogen und brannte mit einem Sonnenstrahl den stählernen Strick entzwei. Der Engel hatte kupferfarbene Löcklein um das zarte Gesicht, hatte Wangen wie rote Äpfel, hatte einen rosenfarbenen Mund und Kinderaugen wie dunkle Kirschen. Und weil die große, vom Baum gefallene Birne sehr lange brauchte, um wieder ein lebendiger Mensch zu werden, beugte sich der liebliche Engel zu dem halb Entseelten hin, der im Gesicht eine große Narbe hatte. Und mit silbrigem Fingerlein strich der Engel ganz leise leis über die Narbe herunter. Da fing die auferweckte Menschenseele zu niesen an und sagte lachend: »Hör auf, liebs Engelein, das kitzelt so schauderhaft, ich halt's nit aus!«

Während die weiße Maske diese aus Sehnsucht, Spott und seltsamer Verzückung gewobene Auferstehungsgeschichte erzählte, ging ein vermummter Arzt im Saal der leicht gewordenen Geduld umher, zog von den heiter Lauschenden einen nach dem anderen auf die Seite, guckte ihm unter die Gugel hinauf und fühlte nach Puls und Herzschlag. Zu jedem Verhüllten sagte er die gleichen Worte: »Sei ohne Sorg! Morgen wirst du heimgehen dürfen!« Dann stellte er sich hinter den Kreis der Lauschenden, die unter den letzten, dünnen Streifen der roten Abendsonne auf dem Boden des Saales hockten. Und prüfend sah er immer die eine Maske an, die mit einer wunderlich sprunghaften Lustigkeit, fast in der taumeligen Art eines Betrunkenen und unter wiegenden Kopfbewegungen erzählte, wie die vom dreiundzwanzigsten Tod erweckte Menschenseele und das wundertätige Engelein miteinander schwatzten. Der Engel wollte die geplagte Seele von der bösen Erde fortlocken und in den Himmel führen. Aber die Menschenseele hatte gegen die ewige Seligkeit allerlei witzige Bedenken.

»Ja, Leut! Und derweil die zwei so plauschen, kommt der Teufel des Wegs, als wär's der Kaplan von Reichenhall. Jöia, Leut, was für ein schiecher Kerl ist das gewesen! Hat einen Schweif gehabt als wie zusammengenäht von siebzehn Ochsen. Nit der Kaplan. Der Teufel! Und hockt sich her zu mir und nimmt das Schweifquästl über den Arm und erzählt mir von der Höll so viel schöne Sachen, daß ich hab denken müssen: ›Teufel, da geht's ja zu wie beim Königsmahl im Regensburger Stadthaus!‹ Aber den Teufel kennt man doch. Nit, Leut? Der lügt als wie ein Burghausener Doppelsöldner, den der Herzog lieb hat. ›Geh‹, sagt meine schlaue Seel, ›fahr ab, du Stinker! In deiner Näh, da schmeckt's, als wie vor dem Regensburger Jakobstor!‹ Und der Teufel schaut mich an voller Wut und sagt: ›Du Feinschmecker, was willst denn du? Mag nit in den Himmel und mag nit in die Höll? Was will denn der?‹ Und da schreit meine lustige Seel: ›Lebendig bleiben!‹ Wahr ist's, Leut! Und der Seppi Ruechsam tät sagen: Was denn sonst?«

Die Maske hatte das so trunken und drollig herausgesprudelt, daß ihre hundert weißen Brüder lange lachen mußten, ohne recht zu wissen, warum.

Nur einer lachte nicht: der vermummte Medikus. Der legte der weißen Maske, die beim Wort des Seppi Ruechsam mit dem Kopf einen wunderlichen Tunker gegen das Knie gemacht hatte, seine von Leder umhüllte Hand auf die Schulter und sprach: »Du bist gesund. Dich können wir gleich entlassen. Komm!«

»Gelt ja?« Ein langsames Aufrichten mit schweren Gliedern. Auch das war komisch. »Hab mir eh schon gedacht, daß ich bis morgen nimmer warten muß.«

Nun gab's ein klagendes und doch so lustiges Durcheinanderschwatzen, als würde von einer vergnügten Tafelrunde ein Überfröhlicher verfrüht nach Hause geholt. Nur daß man das Küssen und Händedrücken unterließ. Das galt unter dem Dache des heiligen Lazarus als üble Sitte.

Bei der Türe rief die weiße Maske noch lachend über die Schulter: »Auf Wiedersehen, ihr lieben Gesellen! Seid ihr genesen, so treffen wir uns im Bratwursthäusl. Da laß ich allweil ein Dutzend über der Glut halten, daß keiner warten muß, wenn er kommt!«

Hundert heitere Stimmen. Eine Tür fiel ins Schloß. Und während der Scheidende durch die dämmerige Halle taumelte, konnte er vom Saal der Geduld noch immer das Lachen und das heitere Schwatzen der Zurückbleibenden hören. Ruhig fragte er den vermummten Arzt: »Wo steht mein Bett?«

»Nicht weit! Komm, du Tapferer!«

Als man in der Bettstube aus der weißen Gugel den kranken Malimmes herausschälte, hatte der Duselnde schon einen so dichten Schleier vor den Augen, daß er die anderen Betten nimmer sah.

Er fragte in seinem Taumel: »Nächtet's schon?«

Wie aus weiter Ferne antwortete eine milde Stimme: »Nach aller Nacht kommt wieder ein Morgen.«

»So so?« Malimmes schmunzelte.

Nun lag er ausgestreckt auf den feuchten Kissen, dehnte die Glieder, die zu schmerzen begannen, und plauderte ganz leise vor sich hin: »Jetzt, Frau Königin! Wo ist das wundertätige Fingerlein?« Tief atmend schloß er die Augen.

Man wollte ihn aus diesem Dusel noch einmal ermuntern, um die heilige Zehrung auf seine Zunge zu legen.

Er tat die Augen auf, tastete mit den Händen ins Leere und lallte schwer: »Der Bub – wo ist denn der Bub –«

Dann sprach er nimmer.

Irgendwo läutete eine kleine, dünne Glocke. Die läutete immer, die ganze Nacht hindurch, den ganzen Tag. Manchmal schwieg sie so lange, daß man halb ein Vaterunser hätte beten können. Bis zum Amen wäre man nicht gekommen. So hurtig und ohne Geduld fing ihr leichter, zappliger Schwengel wieder zu tingeln an. Sie läutete, läutete, läutete –

Diese Friedensglocke! Der die Aerzte prophezeiten, daß sie bis in den Winter tönen würde. –

Am dritten Tage, bekam der heilige Lazarus schon zahlreiche Gäste aus der Stadt, neben Verdächtigen auch solche, über die kein Zweifel herrschte. Doch der Zuzug von der Holzlände und von den Wiesen außerhalb der Mauer versiegte langsam. Vor dem Ostentor war es still und öd geworden. In den leeren Zehrbuden wurde der Freiwein des gütigen Königs in den halbverzapften Fässern sauer. Und auf dem Anger, obwohl da kein Schwertstreich gefallen war, sah es aus wie nach einer grimmigen Schlacht – nur mit dem Unterschied, daß kein Mensch die grauen Beutestücke haben wollte, die in schrecklicher Menge umherlagen. Und wenn die Schweine, die hungrig von den Dörfern gelaufen kamen, in dieser herrenlosen Erbschaft wühlten, geschah es manchmal, daß eins von den Tieren umfiel, wie vom Blitz erschlagen.

Die vierzigtausend, die den geliebten König und ersehnten Retter nur auf der Steinernen Brücke gesehen hatten, waren vor dem großen Sieger, dem auch der König wich, in alle Windrichtungen davongelaufen, vermindert um einige Hunderte. Und sie ließen noch auf allen Straßen, am Wegrain und in den Gräben viele Müdgewordene zurück, die über Nacht des Wanderns völlig vergaßen.

Auf den Reisestrecken der Fürsten mußten die Wegmacher vorausreiten, um die Straßen von aller Gefahr zu säubern, die man sehen konnte. Die unsichtbare blieb. Sie lief mit den Laufenden, ritt mit den Reitenden und ließ sich mit den Bequemen in der Sänfte tragen.

Am vierten Tage nach dem Friedensfeste war von allen Fürsten nur Herzog Heinrich noch in der Stadt. Er blieb, weil er nicht reisen konnte. Sein Arzt glaubte, das wäre wieder das alte Fieber mit neuen Erscheinungen. Aber es war nur die Wirkung der abergläubischen Todesangst, die den Herzog in der Stunde befallen hatte, als er aus dem Sondersiechenhaus die Nachricht erhielt, daß sein Hofstaat um den Galgenvogel Malimmes vermindert wäre. Herr Heinrich wand sich in Qualen, die mehr seelischer als körperlicher Art waren und sich durch ein ruheloses Nervenzucken in der Magengrube äußerten. Doch als er von Burghausen die Kunde empfing, daß in seinen Bergwäldern die Hirsche gut zu röhren begännen und daß besonders auf den abgebrannten Waldflächen bei Plaien die Brunft eine selten lebendige wäre, machte seine niedergedrückte Seele einen gewaltsamen Ruck nach aufwärts: »Da muß man genesen! Gott soll's wollen!« Aber er wurde schwächer und elender mit jeder Stunde.

Schließlich begehrte er von seinem Leibarzt: »Hilf mir, wie der selige Malimmes geholfen hat!« Der Medikus war ratlos. Herr Heinrich erklärte ihm die Sache sehr umständlich und genau. Doch als der Leibarzt mit der Handschneide kräftig zuschlug, ging's daneben. Der Herzog purzelte stöhnend über das Bett hin, raffte sich wütend auf und verabreichte dem Medikus eine fürchterliche Maulschelle. Diese Aufwallung des Geblütes erwies sich als segensreich. Wie ein neues Wunder des Malimmes war's. Herr Heinrich konnte am folgenden Morgen zu seinen schreienden Hirschen reisen.

Er reiste mit solcher Hast, daß er an einem schwülen, wolkenschweren Morgen bei Mühldorf den kleinen Reiterzug der Berchtesgadnischen und den Reiseschwarm der Salzburger überholte, die zwei Tage früher von Regensburg aufgebrochen waren.

Gegen Abend drohte vom schwarzgewordenen Himmel ein schweres Oktobergewitter herunterzufallen. Man mußte einen Wolkenbruch besorgen.

Fürst Pienzenauer, der weit hinter den Salzburgischen zurückgeblieben war, beschleunigte die gemächliche Reise, um vor dem drohenden Wasserguß das Städtchen Laufen noch zu erreichen.

Als durch eine Waldgasse schon die Türme und Mauern der kleinen festen Stadt zu erblicken waren, hörte man über die Straße her ein wildes, zorniges Geschrei.

Lampert Someiner jagte voraus und brachte seinem Fürsten die Nachricht, zu Laufen wüßte man schon, daß von Regensburg der schwarze Tod in die Welt liefe; jetzt hätte der Rat von Laufen das Tor gesperrt, gedächte keinen Reisenden in die Stadt zu lassen und hielte mit einem Häuflein von Spießknechten und bewehrten Bürgern die Straße verriegelt; darüber wäre ein Zank zwischen den Salzburgischen und denen von Laufen ausgebrochen und die Streithähne wären schon nahe daran, mit dem Eisen aufeinander loszuschlagen.

»Ein Jammer, Lampert!« klagte Herr Pienzenauer. »Die Menschen mögen nicht lernen. Komm! Da müssen wir Frieden stiften.« Die beiden spornten ihre Gäule. Ehe sie die Stelle erreichen konnten, von der das wüste Geschrei zu hören war, wurde zwischen denen von Salzburg und Laufen schon mit dem Eisen geredet. In der Abenddämmerung gab es Funken. Doch die kleine Straßenschlacht, die da begonnen hatte, war noch zu keinem Toten, nicht einmal zu einem leicht Verwundeten gediehen und nahm mit verblüffender Schnelligkeit ein Ende. Aus dem Himmel fuhr ein Blitz in den Wald herunter, wie ein brennender Baum so dick; ein Donner rasselte, daß die Erde beben mußte; und plötzlich wurde die dunkle Höhe der Lüfte weiß, so weiß wie Schnee. Ein grauenvolles Sausen und Geknatter. Und mit Körnern, die größer als eine Nuß und nicht viel kleiner als ein Hühnerei waren, prasselte der Hagel in dicker Masse auf die erschrockene Welt herunter. Das klang auf den Kürassen und Eisenhüten derer von Salzburg und Laufen, als würde mit tausend harten Löffeln auf tausend blecherne Pfannen getrommelt. Die Gäule wurden scheu, die Knechte zu Fuß begannen wie Narren zu rennen, und immer hörte man die flinkversöhnten Helden schreien: »Au! Au! Au!«

Propst Pienzenauer und Lampert hatten sich mit ihren Rossen in einen Heuschuppen geflüchtet. Durch den weißen Schnürchenvorhang der Hagelkörner sahen sie ein komisches Gezappel von Gäulen und Menschen, die nach allen Richtungen auseinanderstoben. Das war anzuschauen wie der lustige Hohn und Übermut eines Fastnachtspieles.

»Seht nur, Herr«, sagte Lampert Someiner, »der Himmel kann doch das! Warum macht er's nicht immer so, bevor die Menschen zu stoßenden Ochsen werden?«

»Da müßte der Himmel hageln lassen durch Tag und Nacht.« Lächelnd sah der Graubärtige den jungen Gesellen an. »Und der Himmel hat auch Blumen erschaffen. Die wollen Zeit haben, um zu blühen.«

Hinter dem Hagel kamen unter Blitz und Donner noch so schwere Regengüsse, daß es die Schindeln des Heuschuppens diesem Wassersturz nicht verwehren konnten, die zwei Philosophen einzuweichen bis auf die Haut. Fürst Peter sagte: »Komm! Wir wollen reiten. Draußen werden wir auch nicht nässer!«

Sie trabten durch den strömenden Regen. Hinter Laufen fand sich auf dunkler Straße ihr halbes Geleit und ein Trupp der Salzburger mit ihnen zusammen. Erst blieb man stumm. Dann wurde man heiter. Weil alle so lieblich plätscherten, spottete einer über den andern.

Drei Stunden nach Mitternacht, als man Salzburg erreichte, begann der Regen zu versiegen. Sterne guckten durch die ziehenden Nebel, und frischbeschneite Bergspitzen sahen aus, als hätten sie Mondschein.

»Ich will rasten und mich trocken legen!« sagte Fürst Pienzenauer in der Herberg. »In dir ist Ungeduld. Dich will ich nicht halten. Reite voraus!«

Lampert fand keinen höflichen Widerspruch. Er leerte einen Becher Glühwein, genoß einen Bissen und sprang in den Sattel.

Die rein werdende Frühe dämmerte, während er durch die stillen Gassen der Stadt davontrabte. Draußen auf der freien Straße ließ er den Moorle jagen.

Der Pongauer, der bei aller Müdigkeit die nahe Heimat witterte, machte Sprünge, als müßte er einem Sumpf entrinnen und festen Boden finden. Und wurde der Gaul ein bißchen ruhiger, so brauchte der vorgebeugte Reiter, dessen Eisenzeug sich nach dem Regen und bei der frischen Morgenluft in roten Rost zu tauchen begann, nur leise mit der Zunge zu schnalzen. Und der Pongauer stieß mit keuchenden Sprüngen vorwärts.

Die Ache rauschte mit so vielem Wasser neben dem Untersberge her, daß man das Röhren der Hirsche von den Wiesen des engen Tales und aus den steilen Wäldern nur wie ein dumpfes Murren vernahm.

Immer heller wurde der Morgen, immer blauer der klare Himmel.

Um eine dunkle Bergrippe herum, die letzte Wende.

Und der weite herrliche Talkessel von Berchtesgaden tat sich auf mit nebeldampfenden Tiefen, mit einem Kranze rot und gelb gewordener Wälder unter den sammetgrünen Fichtengehängen, mit den weißbeschneiten Almen und den silbernen Zinnen, die sich vor der kommenden Sonne schon in glühendes Gold verwandelten.

Lampert Someiner mußte schreien wie ein Trunkener.

Schmerz und Freude brannten in seiner Seele, in seinem Herzen, in seinem Blut.

Tausende von Menschen waren hinuntergesunken, waren zertreten und zerstampft. Kostbare Werte waren vernichtet, stolze Werke des Lebens lagen zerbrochen, zerbröselt, in Staub zerrieben.

Das schöne, ewige Antlitz Gottes war unverwüstet.

Mit dem Brausen seiner Gewässer, mit dem Rauschen seiner Wälder, mit dem Schrei der brünstigen Hirsche und mit dem Schweigen seiner wundervollen Ferne sprach es in Größe und Herrlichkeit das gleiche mahnende Wort wie die kleine, alte Uhr im Hause des seligen Amtmanns Ruppert Someiner.

 


 


 << zurück