Ludwig Fulda
Die Kameraden
Ludwig Fulda

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Dritter Aufzug.

(Dieselbe Dekoration. Der Kalender zeigt den l5. April.)

Erster Auftritt.

Karsten. Frau Moebius.

Karsten (kommt kopfschüttelnd von rechts hinten und begegnet Frau Moebius, die durch die Eingangsthür auftritt). Wo haben Sie denn bis jetzt gesteckt, Liese?

Frau Moebius. Ich habe doch die Trude in der Schule entschuldigen müssen, weil sie heut morgen zu Hause bleibt.

Karsten. Ach so, ja. Haben Sie denn eine Ahnung, was mit dem Kinde los ist? Seit gestern Abend ist sie wie verhext . . .

Frau Moebius. Sie wird eben endlich auch dahinter gekommen sein.

Karsten. Wohinter? 149

Frau Moebius. Daß das Leben nichts wert ist.

Karsten (schlägt auf den Tisch). Himmeldonnerwetter, jetzt hab' ich genug! Ich verbitte mir das. In meinem Hause ist das Leben etwas wert, verstehen Sie mich, Sie alte Schneegans?

Frau Moebius. Alte Schneegans! So haben Sie noch nie mit mir gesprochen in den fünfzehn Jahren, die ich bei Ihnen bin. Da kann ich ja wohl gehen.

Karsten. Meinetwegen!

Frau Moebius. Das hat 'ne strebsame Person davon, wenn sie sich mit Müh' und Not 'ne wissenschaftliche Ueberzeugung beibringt.

Karsten. Unsinn! – Haben Sie's bei Ihrem Moebius nicht gut gehabt?

Frau Moebius. Das ist vorbei.

Karsten. Und bei uns nicht gleichfalls?

Frau Moebius. Das ist auch vorbei. Das Leben ist so kurz . . .

Karsten. Na, Ihr's doch gewiß nicht. 150

Frau Moebius. Und der Tod, der unerbittliche Tod . . .

Karsten. Ja, wenn Sie mir sagen, daß der nichts wert ist . . . Aber warten Sie ihn doch gefälligst ab, bevor Sie sich beschweren.

Frau Moebius. Sie schicken mich also wirklich fort?

Karsten. Denke gar nicht dran. Aber kriegen Sie möglichst bald 'ne andre wissenschaftliche Ueberzeugung.

Frau Moebius. Sie wollen mich nicht ernst nehmen, Herr Karsten.

Karsten. Nee! Und ich rate Ihnen, thun Sie's auch nicht.

Zweiter Auftritt.

Karsten. Babette.

Babette (kommt aus Theklas Zimmer). Frau Moebius, Sie sollen einmal hinein kommen. Der Koffer geht nicht zu. (Frau Moebius ab.)

Karsten. Ist die Dame bald reisefertig? 151

Babette. Sie hat schon alles gepackt. Ich war ihr dabei behilflich.

Karsten. Der Abschied fällt mir nicht schwer.

Babette. Ihnen würde wohl auch ein andrer Abschied nicht schwer fallen, Herr Karsten.

Karsten. Wieso? Welcher andre?

Babette. Ich . . . ich trage mich nämlich auch mit dem Gedanken . . .

Karsten. Uns zu verlassen? Ei, das thäte mir leid.

Babette (rasch). Thät' es Ihnen leid?

Karsten. Aber ganz gewiß.

Babette. Und warum?

Karsten. Weil Sie uns nicht im geringsten gestört haben.

Babette. Nur nicht gestört? Und all unsre vertraulichen Gespräche . . . 152

Karsten. Jawohl, so ein leerer Platz, wo man gewohnt war hinzureden . . .

Babette. Also Sie würden mich doch vermissen?

Karsten. Kann schon sein.

Babette. Sie haben ganz recht. Man muß sich erst einmal prüfen, ob durch eine längere Trennung . . .

Karsten. Ach so! Sie wollen später wiederkommen.

Babette. Wär' Ihnen das recht? Würd' Ihnen das passen, wenn ich den leeren Platz später wieder einnähme?

Karsten. Das besprechen Sie nur mit meiner Tochter, Fräulein Seiler. Sie wissen ja: das Geschäftliche überlass' ich ihr. (Ab rechts hinten.)

Babette (entgeistert, vor sich hin). Das Geschäftliche! – – 153

Dritter Auftritt.

Babette. Thekla.

Thekla (in der Straßentoilette des ersten Aufzugs, kommt mit Frau Moebius, welche sogleich abgeht, aus ihrem Zimmer. In dumpfem Ton). Der Koffer ist geschlossen. –

Babette. Darf ich fragen, wohin Sie sich von hier begeben?

Thekla. Weiß ich es denn selbst? Ich bin aus mir herausgeschleudert. Wenn ich nur die Stelle wüßte, wo ich mich wiederfinde – der Ort ist Nebensache. –

Babette (nach einer kleinen Pause). Sie sagten doch gestern, wir müßten den Männern zeigen, daß wir sie entbehren können.

Thekla (mit nachdenklichem Nicken). Ja, wenn wir ihnen unentbehrlich werden wollen. (Setzt sich vorn links.) Das eben war mein Fehler. – Aber ich bin kampfesmatt; meine Schwingen sind gelähmt. Wenn ich damals geahnt hätte, daß uns die Selbständigkeit so erschwert wird . . .

Babette (seufzend). Ach ja!

Thekla. Daß all meine Qualen sich nur vergrößern . . . 154

Babette. Liebe Frau Hildebrand, ich möchte . . . ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen, mit dem vielleicht uns beiden geholfen ist.

Thekla (bitter). Mir geholfen – mir!

Babette. Sie dachten doch daran, eine Gesellschafterin zu engagieren . . .

Thekla (mit der Hand über die Stirn fahrend). Ja, ich glaube, ich dachte einmal daran . . . Oder auch nicht. Ich denke so Vieles, so Verschiedenartiges . . .

Babette. Ich wüßte Ihnen jemand für diesen Posten.

Thekla. So? Wen denn?

Babette. Mich selbst.

Thekla. Gesellschafterin wollen Sie werden – und bei mir! Das ist kein leichtes Amt, Fräulein Seiler.

Babette. O, das weiß ich. Aber ich bin von Natur so schmiegsam . . . Und ein wirklicher Kamerad kann doch nur das Weib dem Weibe sein. 155

Thekla (mitleidig). Glauben Sie? – – (Steht auf, geht nach rechts.) Nun, ich danke Ihnen jedenfalls; ich will es mir überlegen . . . Nur gerade jetzt, in dieser ungewissen Stunde . . .

Frau Moebius (meldet). Herr Doktor Wulff.

Thekla. Ah, sehr gut. Ich lasse bitten. (Frau Moebius ab.) Wir sprechen noch darüber.

Babette. Ich harre auf Ihren Bescheid. (Ab in ihr Zimmer.)

Vierter Auftritt.

Thekla. Wulff.

Wulff (sieht übernächtig aus, gähnt ab und zu verstohlen). Ich komme zu so früher Stunde, teuerste Freundin . . . Ihr Gatte ist doch noch nicht wieder hier gewesen?

Thekla (nachdem sie ihn stumm und etwas kühler als sonst begrüßt hat). Nein. Ich werde ihn auch hier nicht mehr erwarten. Ich bin gerade im Begriff, auszuziehen.

Wulff. Um so besser. – Vor allem drängt es mich, Ihnen mein aufrichtiges Bedauern auszudrücken über den gestrigen Vorfall . . . 156

Thekla. Ich habe sehr darunter gelitten, mein Freund. (Setzt sich auf den Diwan.)

Wulff. Ich nicht minder, und wenn Sie mir nicht unmöglich gemacht hätten, Sie zu begleiten . . . Aber Ihr unerwartet jäher Aufbruch . . . Die ganze Gesellschaft war wie vor den Kopf geschlagen.

Thekla. Das nennen Sie eine Gesellschaft?

Wulff. Nicht in demselben Sinn wie jenen Kreis, in welchem wir uns früher trafen. Aber aus diesem strebten Sie doch so energisch heraus. (Setzt sich.) Sie wollten freie Menschen . . .

Thekla. So freie aber nicht.

Wulff. Nun, ich will gewiß niemand verteidigen; noch weniger kann ich die redaktionelle Verantwortung übernehmen für jedes Wort, das gesprochen wurde. Sie erinnern sich ja auch meiner Bemühungen, dämpfend zu wirken . . .

Thekla. Aber Sie haben doch wohl vorher nicht gewußt, daß gerade diese Damen anwesend sein würden, diese Damen . . .

Wulff. Gewußt – nein. Aber immerhin vermutet. 157

Thekla. Und doch haben Sie mich dorthin geführt – mich, Ihren Kameraden!

Wulff. Diese Damen sind die Kameraden meiner Freunde.

Thekla. Sie wollen mich doch nicht etwa auf eine Stufe stellen . . .

Wulff. Ich bin weit davon entfernt. Aber für meine Freunde sind es ganz vorzügliche Kameraden. Sie nehmen verständnisvollen Anteil an all ihren Geisteskämpfen; sie haben sie von Anfang an in jeder Weise ermutigt . . .

Thekla. Das kann ich mir lebhaft denken.

Wulff. Aber, meine liebe Thekla, wie haben Sie sich denn eigentlich eine Gesellschaft moderner Geister vorgestellt?

Thekla. Wesentlich anders.

Wulff. Die Befreiung aus den Ketten des Philistertums muß doch irgendwo zum Ausdruck kommen, der schrille Mißklang des Daseins irgendwie übertäubt werden.

Thekla. O, dafür bin ich ja auch, aber edler, reiner, geistiger. 158

Wulff. So! – Dann darf ich wohl nicht länger daran zweifeln, daß in diesem Punkt Ihre Ansicht unverrückbar feststeht.

Thekla. Unverrückbar. Aber auch ich zweifle nicht, daß gerade dies der Punkt ist, wo das Weib, das echte Weib berufen ist, den Mann zu erheben. zu läutern . . . und wenn es meinen unermüdlichen Versuchen gelingen würde, gerade bei Ihnen . . .

Wulff. Es ist Ihnen vielleicht schon gelingen.

Thekla. O, das wäre ja traumhaft!

Wulff (gähnend). A . . . allerdings.

Thekla. Sie scheinen müde zu sein, teurer Freund. Sie sind wohl spät nach Hause gekommen?

Wulff (die Frage absichtlich überhörend). Ich habe eine schlaflose Nacht verbracht. Unablässig hab' ich mich auf meinem Lager herumgewälzt, und die Schatten des jüngst Vergangenen huschten durch mein gefoltertes Hirn. Endlich verdichteten sich die tanzenden Gedanken zu einem Centrum, und es war mir, als riefe mir eine innere Stimme meines Mikrokosmus unaufhörlich Ihre gestrigen Worte zu: Die schmerzliche Wollust des Entsagens. 159

Thekla (strahlend). Nicht wahr? Nicht wahr?

Wulff. Und dann begann ich den schwersten Kampf zu kämpfen, der jemals mein Ich durchtobt hat. (Gähnt.)

Thekla. Und Sie haben gesiegt! Ich seh' es Ihnen an, daß Sie gesiegt haben.

Wulff. Noch nicht ganz. Aber hier vor Ihnen will ich den Sieg vollenden. Auf meinem Wege wollen Sie mir nicht folgen; ich muß mich also – wenn auch blutenden Herzens – bekehren zu dem Ihrigen. Thekla – ich entsage.

Thekla. Das wollten Sie? Das könnten Sie? – O, nun glaub' ich Ihnen erst, daß Sie mich wahrhaft lieben.

Wulff. Mehr als mich selbst. Mag das unselige Feuer mich weiter verzehren . . .

Thekla. Ach, warum ist diese grausame Prüfung nötig! Warum durft' ich nicht die Ihre werden ganz und für immer!

Wulff. So, wie Sie es sich dachten, können Sie es nicht – und so, wie es mir vorschwebte, wollen Sie es nicht. Was bleibt da noch übrig? 160

Thekla. Die Geistesverwandtschaft, mein Freund!

Wulff. Ja, diese bleibt uns. Aber für diese allein brauchen Sie doch den bittren Kampf der Befreiung nicht fortzusetzen.

Thekla. Bitter – ja wahrlich, das ist er! (Steht auf, geht nachdenklich nach links.)

Wulff (folgt ihr). Und obendrein zwecklos – vollkommen zwecklos. Geistesverwandte können wir bleiben, auch wenn Sie wieder zu Ihrem Mann zurückgekehrt sind. Dagegen kann er unmöglich etwas einzuwenden haben.

Thekla (setzt sich aufs Sofa). Und das empfehlen Sie mir – der Mann, der mich liebt?!

Wulff. Eben, weil ich Sie liebe, über alles liebe. Nicht umsonst hab' ich so maßlos mit mir gerungen. Hätten wir einander ganz gehören können, es wäre ein Glück gewesen, zu groß, als daß es dem Staubgeborenen gegönnt wird. Indes, da alles Stückwerk ist auf dieser Erde, so lassen Sie Ihrem Gatten, worauf er Anspruch hat. Ich gebe mich mit der edleren Hälfte zufrieden.

Thekla. Und wenn wir uns dann nur noch wenig sehen könnten . . . 161

Wulff. Auch wenn wir uns gar nicht sehen, das Bewußtsein, der ununterbrochene magische Konnex unserer Seelen . . .

Thekla. Und damit würden Sie vorlieb nehmen – trotz Ihrer tiefen Leidenschaft?

Wulff. Ich traue mir's zu.

Thekla (springt auf, begeistert ausbrechend). Egon – Sie sind ein Held! Sie sind ein Uebermensch!

Wulff. Sie überschätzen mich, Thekla.

Thekla. Ich Sie überschätzen – nach einer solchen Opferthat! Nach einem solchen Heroismus – O, was müssen Sie seit gestern Abend durchgemacht haben!

Wulff. Ich werde es nicht so bald vergessen.

Thekla. Und ich – ich habe mich für die Stärkere gehalten! Ich kämpfte ja den gleichen Kampf; aber ich hätte ihn nicht allein zu Ende führen können. Und nun haben Sie zuerst die beispiellose Kraft gefunden . . . Egon, ich könnte vor Ihnen knieen!

Wulff. Nimmermehr! 162

Thekla. Egon, wie ist Ihnen denn nur jetzt zu Mute?

Wulff. Ich habe es nie so tief gefühlt wie in dieser Stunde, daß Entsagung eine schmerzliche Wollust ist – schmerzlich, und dennoch eine Wollust.

Thekla. Eine unaussprechliche. Und wäre dieses Gefühl durch einen flüchtigen Rausch zu ersetzen gewesen? Ist es nicht auch ein Rausch?

Wulff. Der Rausch des Abschieds.

Thekla. Ja, der Rausch des Abschieds. (Leidenschaftlich.) Egon!

Wulff. Thekla!

Thekla. O in diesem Augenblick wär' ich zu allem fähig.

Wulff (überrascht, flüstert). Zu allem? Ist das wahr?

Thekla. Egon, ich bete dich an! (Stürmische Umarmung.) 163

Fünfter Auftritt.

Vorige. Frau Moebius.

Frau Moebius (tritt ein, prallt zurück). Bitt' um Verzeihung . . .

(Die beiden stieben auseinander.)

Thekla (verwirrt). Was . . . was gibt's?

Frau Moebius. Ihr Herr Gemahl ist draußen.

Wulff (zeigt auf die Thür links vorn). Ist . . . ist hier noch ein anderer Ausgang?

Frau Moebius (zu Thekla). Was soll ich ihm . . .

Wulff (zu Frau Moebius). Einen Augenblick! (Zu Thekla, auf Babettens Zimmer deutend.) Geht dies Zimmer auf den Korridor?

Thekla. Nein. Und warum auch? Sie brauchen wahrlich diese Begegnung nicht zu scheuen.

Wulff (immer dringender). Aber um Ihretwillen . . . Wenn er mich hier findet – gerade jetzt . . . 164

Thekla. Er soll Sie finden, und beschämt soll er vor Ihnen stehen. (Zu Frau Moebius, mit Würde.) Lassen Sie meinen Mann eintreten.

Frau Moebius (ab).

Wulff. Aber das ist ja Wahnsinn, Aberwitz! . . .

Thekla. Jetzt soll er endlich erfahren, was Größe ist. Ich sage ihm alles.

Wulff (verzweifelt). Aber ich verbiete Ihnen . . .

Sechster Auftritt.

Thekla. Wulff. Hildebrand.

Hildebrand (sehr verblüfft durch die Anwesenheit Wulffs, auf den er einen scharfen, fragenden Blick wirft, kommt nach vorn links). Du hast mich warten lassen, Thekla. – Du weißt, warum ich heute komme.

Thekla (in der Mitte zwischen beiden). Du willst einen definitiven Bescheid . . .

Wulff (rechts, mit möglichster Haltung, zwingt sich zu einem konventionellen Lächeln). Da unser Thema ja erledigt ist, so will ich nicht länger . . . 165

Thekla. O nein, mein Freund, bleiben Sie! Zu dieser Unterredung gehören Sie notwendig dazu. Man kann auch die Bescheidenheit zu weit treiben.

Hildebrand. Zu dieser Unterredung? Wie soll ich das verstehen? . . .

Wulff. In der That, auch ich verstehe nicht . . . und ich halte es für das Beste, gnädige Frau . . .

Thekla (zu Hildebrand). Er will nicht, daß ich seinen Ruhm vor dir verkünde!

Hildebrand. Du machst mich ja äußerst neugierig.

Wulff. Aber . . .

Thekla. Nein, ich kann Ihnen das nicht ersparen. (Zu Hildebrand.) Sieh dir ihn an, diesen Mann! Er liebt mich wahnsinnig; gestern hat er es mir gestanden . . .

Hildebrand. Sapperment!

Wulff. Aber . . .

Thekla. Er sieht in mir sein zweites Ich; er hält mich für das Weib, das ihm zeitlebens gefehlt hat; er nennt mich seine geistige Ergänzung . . . 166

Wulff. Aber . . .

Thekla. Und trotz alledem ist er noch größer als seine Leidenschaft. In schwerem Kampfe hat er sie niedergerungen, und in dieser Stunde hat er mir entsagt; ja, damit nicht genug, er selbst empfiehlt mir, zu dir zurückzukehren.

Hildebrand. Das ist kolossal – kolossal! – Und du?

Thekla. Ich?

Hildebrand. Wie verhältst du dich zu alledem?

Thekla. Ja, auch ich fühle die tiefe Geistesverwandtschaft, die unsere Seelen verkettet. Er allein hätte vermocht, mich auszufüllen, und daß ich zu ihm emporschaue, das wirst du selbst mir nun nicht mehr verdenken.

Hildebrand. Nein, jetzt nicht mehr!

Thekla. Aber soll ich hinter ihm zurückstehen? Darf ich eines solchen Opfers unwürdig sein? O nein, er hat mir den Weg der Pflicht gewiesen, und jetzt hab' ich Kraft, ihn zu gehen. Du siehst mich bereit.

Hildebrand. Wozu? 167

Thekla. Hier bin ich, Otto. Führe mich zurück in dein Haus.

Hildebrand. Alle Wetter! Eine solche Selbstverleugnung – das ist geradezu beispiellos.

Wulff (erleichtert). Damit wäre ja alles wieder ins Geleise gebracht, und ich darf nicht länger . . .

Hildebrand. Bitte sehr, Herr Doktor. Nun muß ich Sie ersuchen zu bleiben; denn nun finde auch ich, daß Sie zu dieser Unterredung dazu gehören. Was meine Frau mir soeben mitgeteilt hat, das zeigt mir die Situation in einem völlig neuen Lichte. Bisher habe ich nur gewußt, daß sie von mir unabhängig werden will, weil – (greift in seine Rocktasche) einen Augenblick; ich trage den Brief immer bei mir – (hat ihn hervorgezogen und liest) weil eine unüberbrückbare Kluft zwischen uns liegt; weil ich ihrem Geistesleben total verständnislos gegenüberstehe; weil sie keine andere Pflicht mehr anerkennt als die Treue gegen sich selbst. – Von Ihnen steht in dem Brief noch keine Silbe. Denn hätte ich die leiseste Ahnung gehabt, daß sie sich zu einem andern Manne hingezogen fühlt, einem Mann, der sie liebt . . .

Thekla. Du hättest mich ja doch niemals freigegeben.

Hildebrand. Aber Thekla, hältst du mich denn wirklich für einen solchen Unmenschen, daß ich im stande wäre, zwei Menschen, 168 die sich so füreinander geschaffen fühlen, auseinander zu reißen? Und Sie, mein Herr Doktor, haben Sie ernstlich geglaubt, ich könnte ein derartiges doppeltes Opfer annehmen? Nein, und tausendmal nein: Jetzt ist die Reihe des Entsagens an mir.

Thekla (ungläubig). Du entsagen – du? Nach allem, was du mir gestern erklärt hast! . . .

Hildebrand. Ich hab' dir erklärt, daß ich mich verpflichtet halte, für dich zu sorgen und dich nicht deinem Schicksal zu überlassen.

Thekla (zu Wulff). Nun also!

Hildebrand. Aber jetzt liegt der Fall doch ganz anders. Hier steht der Mann, der von jetzt an für dich sorgen wird, und er ist in der glücklichen Lage, das in noch viel ausgedehnterem Maßstab zu können als ich.

Thekla. Und das sagst du mir, nachdem ich mich bereit erklärt habe, zu dir zurückzukehren!

Hildebrand. Ich sage dir: Folge getrost der Stimme deines Herzens. Folge dem Mann, dessen geistige Ergänzung du bist. Werde glücklich mit ihm. Ich bin dir nicht mehr im Wege.

Thekla (zu Wulff). Das alles ist ja nicht sein Ernst! So redet er nur, um mich vor Ihnen zu demütigen. 169

Wulff. Jedenfalls bin ich es, der zu entsagen hat.

Hildebrand. Nein, bitte sehr, das bin ich.

Wulff. Sie sind ja doch der Gatte . . .

Hildebrand. Aber Sie sind der Kamerad.

Wulff. Herr Hildebrand, Sie verkennen vollständig die Tragweite eines momentanen Selbstvergessens, einer harmlosen Schwärmerei . . .

Thekla. Nein, teurer Freund, entweihen Sie nicht unsre edlen Empfindungen vor einem Mann, dem es so unglaublich leicht wird, auf mich zu verzichten.

Hildebrand. Das scheint ja Herrn Wulff noch viel leichter zu werden.

Thekla. O, wie du ihm unrecht thust! Er hat gekämpft bis zum letzten Augenblick . . .

Hildebrand. Weiß Gott, das hab' ich auch gethan! Sieben Jahre lang hab' ich gekämpft – redlich gekämpft, um aus dir 170 einen zufriedenen Menschen zu machen, um dich mit deinem grausamen Schicksal zu versöhnen. Auch als du mir davonliefst, hab' ich diesen Kampf nicht aufgegeben; ich hab' ihn fortgesetzt – bis zu dieser Stunde, wo ich von dir erfahren habe . . .

Thekla. Und nur daher deine plötzliche Sinnesänderung?

Wulff. Sie werden sich zweifellos viel schneller verständigen, wenn Sie beide allein . . .

Thekla und Hildebrand (zugleich). Nein, bitte, bleiben Sie!

Thekla (dringlicher). Und nur daher deine Sinnesänderung?

Hildebrand. Hab' ich denn nicht bis heute mich wie ein Bittsteller von dir behandeln lassen, wie ein Einbrecher? Bin ich nicht wochenlang hinter dir hergelaufen mit einer wahren Engelsgeduld . . .

Thekla. Du willst mir doch nicht etwa jetzt noch einreden, daß du nur um meinetwillen alle Tage hierher gekommen bist?

Hildebrand. In der ersten Zeit allerdings.

Thekla. Und später? 171

Hildebrand. Du weißt ja, daß mir dieses Haus von Tag zu Tag besser gefiel.

Thekla. Nur das Haus? – Nur das Haus? – (Zu Wulff.) Nun sollen Sie beurteilen, ob ich echte und falsche Entsagung unterscheiden kann; nun sollen Sie erleben, wie ich diesen selbstlosen Ehemann entlarve.

Wulff. Aber . . .

Thekla (zu Hildebrand). Ja, ich glaube den Magneten zu kennen, der dich hierher gezogen hat. Du hast dich ganz einfach vergafft in eine andere!

Hildebrand (nach einer kurzen Pause). Da kannst du vielleicht recht haben.

Thekla. Du gestehst es also? (Zu Wulff, triumphierend.) Er gesteht es!

Hildebrand. Ich hab' es bis heute mir selbst nicht eingestanden. Aber jetzt – nach deinem Geständnis – brauch' ich es weder vor mir zu leugnen noch vor dir.

Thekla (zu Wulff). Hören Sie? Hören Sie? – Das übertrifft meine kühnsten Erwartungen.

Hildebrand. Willst du mir deshalb etwa Vorwürfe machen? Du bist ja ganz allein dran schuld. 172

Thekla. Ich?!

Hildebrand. Ja, du. – Dadurch, daß du mich verließest, kam ich hier ins Haus. Dadurch, daß du mich nicht empfingst, plauderte ich mit ihr und lernte sie kennen. Dadurch, daß du auswärts speistest, aß ich hier. Schritt für Schritt hast du mich weiter getrieben, und was ich mir bisher selbst verschwieg, nun hast du's auch noch ausgesprochen und mir so zur vollsten Klarheit gebracht. Ja, du hast nicht eher geruht, als bis auch ich einen Kameraden gefunden habe, der meine Anschauungen teilt, der für meine Interessen Verständnis hat – und das ist nun meine Geistesverwandtschaft.

Thekla (immer mehr rabbiat). Geistesverwandtschaft! Wie bequem es doch für kleine Seelen ist, sich mit großen Worten zu drapieren! Kameradschaft! So nennst du eine ganz gewöhnliche alltägliche Verliebtheit! Einfach den Kopf hast du ihr verdreht, was ja kein besonderes Kunststück ist bei so einer, und das hat dir imponiert, daß sie gleich Feuer und Flamme war.

Hildebrand (freudigst überrascht). Was? Sie Feuer und Flamme?

Thekla. Nun natürlich! Das Herzchen brennt lichterloh. Nicht einmal für der Mühe wert hat sie's gehalten, sich zu verstellen. Wie sie dich gelobt, dich verteidigt hat . . . .

Hildebrand. Hat sie das? 173

Thekla. O, ganz empörend.

Hildebrand. Herrliches Mädchen!

Wulff (zu Thekla). Aber wär' es denn jetzt nicht besser für Sie selbst, wenn ich . . .

Thekla. Jetzt müssen Sie bleiben, mehr als je! Sie müssen mir zur Seite stehn. Denn jetzt will ich eine gründliche Abrechnung halten. (Sie geht nach rechts hinten.)

Wulff. Aber . . .

Hildebrand (ihr den Weg vertretend). Was willst du nun?

Thekla. Ich will diese Dame fragen, mit welchem Rechte . . .

Hildebrand. Hab' ich Herrn Wulff nach seinem Rechte gefragt?

Thekla. Hat Herr Wulff dir ein Zimmer vermietet? Warst du bei ihm in Pension? Hat er dir gegenüber eine Verpflichtung?

Wulff (ist nach links vorn gegangen). O doch, ich habe . . . 174

Thekla. Nein, lieber Freund – Sie nicht! Aber diese Dame hatte sie gegen mich, und deshalb . . . (Klopft an die Thüre rechts hinten.)

Hildebrand. Thekla, ich untersage dir . . .

Thekla. Du mir noch etwas untersagen! (Klopft stärker.) Fräulein Karsten! (Oeffnet die Thür ein wenig und ruft hinein.) Fräulein Karsten – ich bitte . . .!

Wulff (links), Hildebrand (rechts) (falten gleichzeitig die Hände mit einem verzweifelten Blick nach oben). O! – –

Siebenter Auftritt.

Vorige. Gertrud.

Gertrud (von rechts hinten; sie sieht bleich und angegriffen aus). Verzeihen Sie, gnädige Frau . . . Ich soll wohl nach einem Wagen schicken?

Thekla. Vorher möchte ich nur noch von Ihnen wissen, mein Fräulein . . .

Hildebrand (energisch und zugleich mit allen Zeichen peinlichster Angst). Thekla! Ich bitte dich noch einmal dringend . . . 175

Thekla. Unbesorgt! Ich will Fräulein Karsten nur fragen, zu welchem Zwecke sie diese Pension gegründet hat.

Hildebrand. Darauf will ich dir die Antwort geben. Weil Fräulein Karsten zur Selbständigkeit gezwungen war; weil sie sich und ihrem Vater die Unabhängigkeit durch eigene Kraft erobern mußte. Hättest du nur auch eine Pension gegründet und mir dann gesagt, daß du mich nicht mehr nötig hast – das würde mir imponiert haben.

Thekla. Nun, da ist doch noch ein kleiner Unterschied. Ich habe mir meine Selbständigkeit erst erringen wollen; Fräulein Karsten aber scheint kein Mittel zu scheuen, um die ihrige aufzugeben.

Hildebrand. Thekla!

Gertrud (mühsam). Gnädige Frau, ich muß Sie ersuchen . . .

Thekla (zu Wulff). Warum stehen Sie mir nicht bei? Sie sehen ja, wie er ihr beisteht.

Wulff. Aber . . .

Gertrud. Wenn Sie etwas gegen mich auf dem Herzen haben, gnädige Frau, so bin ich jederzeit bereit, Ihnen Rede zu stehen; aber Ihnen allein. 176

Hildebrand. Sehr richtig.

Gertrud. In Anwesenheit dieser beiden Herren muß ich bedauern . . . (Sie macht Miene zu gehen.)

Wulff (zu Gertrud). Ich werde mich augenblicklich zurückziehn . . .

Thekla. Halt, bleiben Sie! – Und Sie auch, mein Fräulein! (Zu Wulff.) Unterstützen Sie mich doch! (Zu Gertrud.) Gerade in Anwesenheit dieser beiden Herrn . . .

Hildebrand. Nun genug, Thekla! – Gehen Sie, mein Fräulein . . .

Thekla. Ja, gehen Sie und nehmen Sie den Mann gleich mit, den Sie so geschickt in Ihre Netze gelockt haben.

Gertrud (aufflammend, wendet sich um). Ich hätte . . .

Hildebrand. Thekla, du bist von Sinnen!

Gertrud. Und eine solche aus der Luft gegriffene Beschimpfung . . .

Thekla. Aus der Luft gegriffen? O, Sie brauchen nicht mehr zu heucheln! Wir wissen alles. Dieser Mann hat uns soeben bekannt, daß er Sie anbetet . . . ! 177

Gertrud (am ganzen Leibe zitternd). Allbarmherziger . . . (Sie schwankt und droht umzusinken.)

Hildebrand (eilt zu ihr und stützt sie). Mein liebes Fräulein . . .

Thekla (erstaunt zu Gertrud). Ja, wußten Sie das etwa noch nicht?

Hildebrand (die halb Ohnmächtige im Arme haltend). Nein, das wußte sie noch nicht. Das hast du ihr erst gesagt. Ich hätte es nicht übers Herz gebracht.

Thekla. So?! Wie hast du denn erfahren, daß sie dich liebt?

Hildebrand. Ebenfalls von dir. Ich wagte noch nicht einmal zu hoffen.

Thekla (gänzlich consterniert). Aber das ist ja . . .

Hildebrand. Fräulein Gertrud . . . liebes Fräulein Gertrud . . . Ich bitte, seien Sie stark . . . seien Sie tapfer . . .! Ich bedaure unendlich . . . . Ich dachte, daß Sie das niemals erfahren sollten – oder doch wenigstens nicht auf solche Weise . . . . Aber – nun wissen Sie's, und ich kann die Worte meiner Frau nur bestätigen.

Gertrud (sich aufraffend). Lassen Sie mich! O, lassen Sie mich! – Hier steht Ihre Frau. 178

Hildebrand (auf Wulff deutend). Und hier steht der Bräutigam meiner Frau.

Gertrud. Wie?!

Wulff. Aber . . .

Thekla (zu Wulff). Schweigen Sie doch jetzt!

Wulff. Aber bedenken Sie, diese Situation ist ja für mich . . .

Thekla. Für mich auch.

Hildebrand. Ja, Fräulein Gertrud, wenn Sie jetzt noch von mir gehen wollen, dann gibt es nur eine Erklärung – nur eine . . .

Gertrud (in höchster Verwirrung). Aber, Herr Hildebrand, das ist alles. . . . Ich kann ja nicht; ich darf ja nicht . . .

Hildebrand. Wollen Sie vielleicht auch entsagen? Nein, wenn es wahr ist, daß Sie mich ein wenig liebgewonnen haben, dann dürfen Sie es frei und offen bekennen. Sie wissen selbst am besten, daß ich meine Pflichten nicht leicht nahm, und ich muß Ihnen das Zeugnis geben, daß Sie mich darin immer bestärkt haben. Wenn es so weit gekommen ist, Sie tragen wahrhaftig keine Schuld. Meine Frau hat mich selbst 179 auf die bündigste Art aller Pflichten enthoben, indem sie mir gesagt hat, daß ihr Herz einem andern gehört.

Thekla. Bitte sehr, ich sagte nur: mein Geist.

Hildebrand. Dein Geist; nun, das ist ja bei dir die Hauptsache. – (Tritt zu Gertrud, die wieder nach hinten gegangen ist, auf Thekla und Wulff deutend.) Jedenfalls stehen dort zwei Menschen, die sich wunderbar ergänzen, die für einander bestimmt waren von Anfang an, die freudig aufatmen werden, endlich alle Hindernisse ihrer dauernden Vereinigung beseitigt zu sehen. – Und deshalb kann ich mit gutem Gewissen vor Ihren Vater treten und ihm sagen: Auch ich habe jetzt einen Kameraden, und der soll fortan mit mir durchs Leben gehen, an meiner Seite, in gleichem Schritt und Tritt! – Wollen Sie mir zu ihm folgen? (Er sieht, daß sie wieder schwankt.) Was ist Ihnen?

Gertrud. O – nichts . . . nichts . . .

Hildebrand. Kommen Sie! (Er geht mit ihr ab rechts hinten.)

Achter Auftritt.

Thekla. Wulff.

Thekla (nach einer Pause, in der beide den Abgehenden verblüfft nachgeschaut und sich dann sprachlos gegenübergestanden). Was sagen Sie dazu? 180

Wulff (beginnt sich allmählich wieder als Herr der Situation zu fühlen). Ja, die Beiden hätten Sie nun glücklich mit einander verheiratet.

Thekla. Daran sind Sie schuld!

Wulff. Ich? Das ist köstlich.

Thekla. Warum haben Sie mich denn so ganz und gar im Stich gelassen? Warum haben Sie mir nicht sekundiert?

Wulff. Warum haben Sie denn nicht rechtzeitig auf mich gehört? Warum haben Sie nicht vermieden, mich und sich selbst in eine so überaus peinvolle Lage zu bringen? Wenn man zu einem Manne zurück will, erzählt man ihm doch nicht von einem andern.

Thekla. Ja, wenn man vorher wüßte, daß dieser andre sich so benimmt.

Wulff. Liebste Freundin, es gibt Situationen, in denen man sich überhaupt nicht mehr benehmen kann.

Thekla. So? Und warum haben Sie nicht aufgejauchzt in dem Augenblick, wo er mich losließ. 181

Wulff. Aber Sie ließen ihn ja nicht los.

Thekla. Sie hätten mich von ihm reißen sollen.

Wulff. Sie scheinen sich nicht klar zu machen, was ein überstandener Kampf bei einem Manne bedeutet. Wenn ich einmal entsagt habe, dann hab' ich entsagt.

Thekla. Aber das thaten Sie doch nur, weil Sie an die traurige Notwendigkeit glaubten . . .

Wulff. Und wenn diese Notwendigkeit bestanden hätte, dann wären Sie ruhig mit Ihrem Gatten nach Hause gegangen.

Thekla. Auf Ihren Rat!

Wulff. Und Sie waren von diesem Rate ganz begeistert.

Thekla. Aber das wollt' ich eigentlich gar nicht. Ich wollte die Freiheit.

Wulff. Und die haben Sie doch jetzt.

Thekla. Ja, gottlob, nun bin ich frei! Frei . . . verstehen Sie, was das heißt? 182

Wulff. Das verstehe ich vollkommen. Ja sogar, ich beneide Sie darum.

Thekla (setzt sich vor den Mitteltisch). Sie mich? Sie sind es doch auch.

Wulff. Leider nein.

Thekla. Was?! Sie nicht frei! – Sie sind doch von Ihrer Frau längst geschieden.

Wulff. Nur getrennt.

Thekla. Und das sagen Sie mir erst jetzt?!

Wulff. Sie haben mich ja nie danach gefragt.

Thekla. Darauf hätten Sie nicht warten dürfen.

Wulff. Aber welche Veranlassung . . .

Thekla. Welche Veranlassung? Sprachen wir nicht gestern, ja noch heute, von der Möglichkeit einer Ehe zwischen uns?

Wulff. Pardon, davon haben Sie gesprochen; ich nicht. 183

Thekla. Aber als ich davon sprach, hätten Sie mir sofort erklären müssen: Diese Möglichkeit ist ausgeschlossen.

Wulff. Das hatten Sie ja mir bereits erklärt.

Thekla (springt auf). Also Sie waren noch verheiratet, und trotzdem . . .

Wulff. Sie waren ja auch verheiratet.

Thekla. Warum haben Sie mir dann nicht gleich gesagt, ich soll zu meinem Manne zurück?

Wulff. Habe ich Ihnen gesagt, Sie sollten von ihm fortgehn?

Thekla. Haben Sie mir nicht stets die Notwendigkeit der Befreiung gepredigt?

Wulff. Allerdings; aber der inneren Befreiung – wohlverstanden, der inneren.

Thekla. Nannten Sie diesen Schritt damals nicht bewunderungswürdig.

Wulff. Ja, wenn Sie das moderne Weib gewesen wären, das ich in Ihnen vermutete. 184

Thekla. Das heißt, wenn ich Ihre Geliebte hätte werden wollen.

Wulff. O – dieses häßliche Wort . . .!

Thekla. Bitte sehr, strapazieren Sie sich jetzt nicht mehr mit schönen Umschreibungen! Sie haben mich ja nun gründlich genug belehrt, was es auf sich hat mit Ihrer sogenannten Geistesverwandtschaft.

Wulff. Aber, teuerste Freundin, diese Geistesverwandtschaft – besteht sie nicht wirklich zwischen uns? Sind Sie nicht ebenso tief wie ich durchdrungen von der Erbärmlichkeit und Zwecklosigkeit des Daseins?

Thekla. Mehr als je zuvor. Und Sie dürfen überzeugt sein, daß ich mir auch die Ehe nicht mehr als ein Glück vorstelle, weder die Ehe überhaupt, noch die Ehe mit Ihnen – die ganz gewiß nicht.

Wulff. Als prinzipieller Gegner der Ehe war auch ich Ihnen ja von Anfang an bekannt; aber unsre Kameradschaft . . .

Thekla. Ich danke für 'ne solche Kameradschaft!

Wulff. Gnädige Frau, ich habe mich Ihnen nicht aufgedrängt, und für meine uneigennützigen Versuche, Ihre eigenen 185 Unbedachtsamkeiten zu redressieren, hätte ich besseren Lohn verdient. Aber ich versichere Ihnen trotzdem, daß ich stets den aufrichtigsten, wärmsten Anteil nehmen werde an Ihrer Zukunft.

Thekla. Ich an der Ihrigen nicht. (Sie geht zum Mitteltisch und klingelt.)

Wulff. Was gedenken Sie zu thun?

Thekla (ohne auf ihn zu hören, zu der eintretenden Frau Moebius). Lassen Sie, bitte, einen Wagen holen und mein Gepäck hinunterschaffen.

(Frau Moebius ab.)

Wulff. Wollen wir uns denn nicht wenigstens manchmal schreiben? Gedanken . . . Eindrücke . . . Stimmungen . . .

Thekla. Sie werden nie wieder von mir hören. (Setzt sich vorn links.) Forschen Sie nicht nach, in welchem stillen Erdenwinkel ich mein Leben dem Einzigen widmen werde, was noch Wert für mich hat: der wissenschaftlichen Erkenntnis.

Wulff. Es ist das Einzige, Sie haben recht. Und bei ruhiger Ueberlegung werden Sie auch einsehen, daß wir beide uns nicht das geringste vorzuwerfen haben. – Leben Sie wohl. (Ab.) 186

Neunter Auftritt.

Thekla. Babette. (Später) Frau Moebius. Portier. (Zweiter) Droschkenkutscher.

Thekla (springt auf und klopft rasch entschlossen an Babettens Thür). Fräulein Seiler!

Babette (tritt eilig heraus). Frau Hildebrand?

Thekla. Wie sagten Sie vorhin? »Ein wirklicher Kamerad kann nur das Weib dem Weibe sein.«

Babette. Ganz richtig.

Thekla. Ja, ganz richtig. Und deshalb . . .

Frau Moebius (tritt ein). Der Wagen ist da.

Thekla. Dann benachrichtigen Sie, bitte, Herrn Karsten, daß ich gehe – hören Sie, Herrn Karsten! (Frau Moebius ab hinten rechts.) Ich nehme Ihr Anerbieten an, Fräulein Seiler. Sie sollen meine Gesellschafterin werden und zwar, wenn Sie können, sofort.

Babette (freudig). Gerne! 187

Thekla. Dann begleiten Sie mich jetzt ins Hotel.

(Frau Moebius kommt zurück. Gleichzeitig treten auch der Portier und ein [andrer] Droschkenkutscher ein.)

Babette. Sogleich. Ich hole nur meinen Hut. (Eilig ab in ihr Zimmer.)

Droschkenkutscher. Is wohl eklig schwer?

Portier. Klotzig.

Frau Moebius (zum Kutscher, auf Theklas Zimmer deutend). Da hinein. (Verschwindet mit den beiden vorn links.)

Babette (kommt im Hut zurück). Da bin ich.

Thekla (ruft in die offen gebliebene Thür). Nur geschwind! (Zu Babette.) Mir brennt der Boden unter den Füßen! (Sie geht nach vorn links, wo ihr Frau Moebius aus dem Zimmer entgegenkommt, das Handgepäck und ihren Hut und Mantel tragend; die letzteren nimmt sie ihr ab.)

(Der Portier und Kutscher sind gleichzeitig mit Frau Moebius, den großen Koffer tragend, zurückgekommen.)

Portier (zum Kutscher, in der Eingangsthür, wo es dieselben Schwierigkeiten gibt, wie im ersten Aufzug). Uff – hoch – so! (Beide ab; Frau Moebius folgt.) 188

Zehnter Auftritt.

Thekla. Babette. Karsten.

Karsten (ist von rechts hinten aufgetreten). Gnädige Frau, Sie befehlen?

Thekla (reicht ihm ein verschlossenes Couvert). Hier – die Miete – für den ganzen Monat.

Karsten. Das ist eigentlich Sache meiner . . . Ach ja so! . . . (nimmt das Couvert.) Ich danke verbindlichst. Es war mir sehr angenehm. (Er verbeugt sich und zieht sich dann zurück nach rechts.)

Thekla (zu Babette, die ihr Hut und Mantel umlegen hilft). Können Sie heute noch reisefertig sein?

Babette (mit einem halben Seitenblick auf Karsten). Mich hält hier nichts mehr.

Thekla. Dann reisen wir noch heute Abend.

Babette. Und wohin?

Thekla. An irgend einen stillen, weit abgelegenen Ort – Monte Carlo – Nizza – gleichviel.

Babette. Wie romantisch! 189

Thekla (absichtlich laut, damit Karsten sie hört). Ja, endlich, Fräulein Seiler, endlich hab' ich meine volle, unbestrittene Selbständigkeit erlangt.

Babette. O, da wünsch' ich Ihnen Glück!

Thekla. Wie können Sie mir wünschen, was es überhaupt nicht gibt? – Kommen Sie! (Beide ab.)

Karsten (macht, etwas verlegen, noch eine Verbeugung hinterher). War mir sehr angenehm. (Dann öffnet er die Thür rechts hinten und ruft hinein.) Kinder! . . .

Elfter Auftritt.

Karsten. Hildebrand. Gertrud. (Dann) Frau Moebius.

Hildebrand (sieht ernst und ergriffen aus; noch in der Thür zu Karsten). Sind sie fort? (Zu Gertrud.) Sie bedürfen jetzt des Alleinseins, liebe Gertrud – und ich auch. Wann darf ich wiederkommen?

Gertrud (ebenfalls sehr ernst). Wenn es kein Unrecht mehr ist.

Hildebrand (sich verabschiedend). Also auf Wiedersehn, Gertrud.

Gertrud. Auf Wiedersehn. (Mit plötzlich hervorbrechender Leidenschaft eilt sie ihm nach.) Komm, so oft du willst! Komm alle Tage! Wir haben uns ja lieb. 190

Hildebrand (mit thränenerstickter Stimme). Gertrud! – –

Karsten (klopft ihm auf die Schulter, zieht ihn nach vorn). Hildebrand, nun wollen wir aber bauen!

Hildebrand (versucht in seinen alten Ton überzugehen). Wie wär's mit einer kleinen Villa für uns drei – natürlich im neuen Stil?

Karsten. Villa? Nein, Hildebrändchen, mit solchem Kleinkram befassen wir uns nicht. Aber wenn Sie mal einen Völkerverbrüderungstempel brauchen . . .

Frau Moebius (kommt zurück). Trude, ich habe dich in der Schule entschuldigt . . . (Von höchstem Erstaunen gebannt, betrachtet sie die Gruppe.)

Karsten. Da braucht sie überhaupt nicht mehr hin!

Gertrud. Aber ich will. (Zu Hildebrand.) Heißt das, wenn du es willst.

Hildebrand. Kann ich wollen, daß du etwas verlierst durch mich?

Gertrud (jubelnd, zu der noch immer starren Frau Moebius). Ja, Liese, Liese – ich werde glücklich!

Frau Moebius. Das warst du immer. 191

Gertrud. Noch hunderttausendmal glücklicher! Warum mir das alles? Warum gerade mir?

Karsten. Glück ist ein Zufall.

Hildebrand (ernst). Glück ist vor allem ein Talent.

Gertrud (ihrem Vater beide Hände reichend). Ja wohl, Vater. Und das hab' ich von dir geerbt. Ich danke dir!

 

Ende.

 


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