Ludwig Fulda
Die Kameraden
Ludwig Fulda

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Erster Aufzug.

(Zimmer bei Karsten.)

(Es ist der gemeinsame Wohn- und Speiseraum einer kleinen Pension, behaglich, aber ohne jeden Luxus ausgestattet. In der Mittelwand zwei Thüren, von denen die linke auf den Flur führt [allgemeiner Auftritt], die rechte zu den Familien-Wohnräumen; ferner zwei Thüren in der linken Seitenwand, die eine ganz vorn, die andre weiter zurück. Rechts zwei Fenster, mit Blumen geschmückt. In der Mitte der Bühne ein großer viereckiger Tisch mit Stühlen; dahinter an der Mittelwand ein einfaches Büffet. Rechts vom Büffet an der Wand Abreißkalender mit Datum: 23. März; links Zeitungsmappe. Vorn rechts ein Schreibtisch; davor ein Diwan. Vorn links Sofa mit kleinem runden Tisch und Fauteuils. In der Ecke links Kachelofen; in der Ecke rechts Blattpflanzen. Einfacher Kronleuchter. An den Wänden Familienbilder, einige Abbildungen berühmter Bauwerke, Stahlstiche u. s. w.)

Erster Auftritt.

(Der Mitteltisch ist zum Frühstück gedeckt; Karstens Tasse mit einem kleinen Lorbeerkranz umrahmt.) Frau Moebius (begießt die Blumen). Babette (kommt aus ihrem Zimmer, hintere Seitenthür links. Später) Gertrud.

Babette (ältliches Fräulein, etwa vierzig Jahre; etwas jugendlicher, als es ihrem Alter zukommt, gekleidet, aber ohne jede Uebertreibung. Sie ist sehr lebhaft und beweglich). Guten Morgen, Frau Moebius. – Die Zeitung schon da? 12

Frau Moebius (stattliche, resolute Frau Ende der Fünfzig). Guten Morgen, Fräulein Seiler. (Weist auf das Tischchen links.) Dort liegt sie.

Babette (eilt darauf zu, setzt sich, entfaltet das Blatt und liest erregt. Nach einer kleinen Pause). Nein, das wäre empörend . . . das wäre schändlich! Wenn er sie einfach verlassen würde – in einem solchen Augenblick . . .!

Frau Moebius. Wer denn? Wen denn?

Babette. Graf Waldenfels dieses arme, vertrauensselige Geschöpf! . . . Lesen Sie denn nicht auch den Roman hier?

Frau Moebius. Nee, mit so was bemeng' ich mich nicht. Ich bin mehr fürs Reelle, fürs Wissenschaftliche.

Babette. Aber ich versichere Ihnen, das ist so interessant, so spannend, so aus dem wirklichen Leben gegriffen. . . . Man lebt ordentlich mit. . . . Und dabei so aufregend . . .

Frau Moebius. Ach, am Ende kriegen sie sich ja doch.

Babette. Das ist leider noch sehr die Frage. Dieser Graf . . . Aber so sind die Männer; so sind sie. 13

Frau Moebius. Das sagen Sie nun nicht, Fräulein Seiler. Alles mit Unterschiedlichkeit. Ihren Grafen da kenn' ich nicht. Aber wenn ich an meinen seligen Moebius denke, oder an unsern Herrn Karsten . . .

Babette. Ja, Herr Karsten, der ist eine Ausnahme. Eine goldene Seele . . . ein großes Kind. (Nach einer kleinen Pause, während der sie liest.) Wie alt mag er wohl sein, so beiläufig – der Herr Karsten?

Frau Moebius. Micheli wird er neunundfünfzig.

Babette. Das ist kein Alter. Für einen Mann ist das kein Alter. (Wieder nach einem Blick in die Zeitung.) Warum hat er sich eigentlich nie wieder verheiratet, der Herr Karsten?

Frau Moebius. Das ist doch sehr klar. Erstensmal wußt' er, daß er so 'ne Frau nicht wiederkriegt, wie seine Selige war. Zweitensmal hat er seine Tochter – und so eine gibt's auch nicht wieder.

Babette. Ja gewiß. Fräulein Gertrud ist ein Unikum.

Frau Moebius. Drittensmal hat er mich. 14

Babette. Last not least.

Frau Moebius. Wie meinen Sie?

Babette. Und dann – für die kurze Zeit hat er sich auch an mich schon recht angeschlossen.

Frau Moebius (etwas verschnupft). Herr Karsten ist immer sehr freundlich – besonders gegen die Damen, die hier in Pension sind. Und jetzt, wo Sie ganz allein bei uns wohnen – leider . . .

Babette. Sagen Sie nicht leider. Für mich hat das etwas so Wohlthuendes. Ich fühle mich wie zur Familie gehörig – eigentlich zum erstenmal in meinem Leben. Ich bin in diesem Hause ruhiger, klarer, gleichmäßiger geworden. Es sind so sonnige Menschen . . . (Sie steht auf.) Wird bald gefrühstückt?

Frau Moebius. Gleich. Herr Karsten ist schon aufgestanden, und das Fräulein muß jeden Augenblick aus der Schule kommen. Es ist ja neun vorbei.

Babette. Ein unheimlich fleißiges Wesen. Schon zwei Stunden Unterricht, während wir . . . (Ihr Blick fällt auf den Frühstückstisch ) Aber was ist denn das? Ein Lorbeerkranz? Und ein 15 Kuchen? (Liest die Aufschrift.) »Herzlichen Glückwunsch zum Jubiläum« . . .? Herr Karsten feiert ein Jubiläum?

Frau Moebius. Jawohl. Thut er.

Babette. Wie romantisch! – Und so was wird mir verschwiegen? Das find' ich aber gar nicht hübsch. – Was ist denn das für ein Jubiläum?

Frau Moebius (mit unverhohlener Genugthuung). Ja, nicht wahr, das hat er Ihnen noch nicht gesagt – das von seiner großen Entdeckung?

Babette. Nein . . .

Frau Moebius. Sagt er auch nicht so eins zwei drei!

Babette. Aber ich nehme Anteil; ich fühle mit; das kann man mir doch nicht verwehren. Was in der Geschwindigkeit noch zu haben ist . . . (Sie geht ab in ihr Zimmer.)

Gertrud (den Hut auf dem Kopf, einen Stoß blauer Hefte unter dem Arm, kommt atemlos vom Hintergrund links). Da bin ich. – Hu, wie bin ich gerannt! – War der Vater schon im Zimmer? (Sie legt Hut und Mantel schnell auf einen Stuhl.) 16

Frau Moebius. Nein, noch nicht.

Gertrud. Gott sei Dank! Ich hatte solche Angst . . . (zu Babette) 'morgen, Fräulein.

Babette (ist in Hut und Mantel zurückgekommen). Guten Morgen.

Gertrud. Wohin denn so eilig?

Babette. O, Sie sollen mit mir zufrieden sein. (Ab links hinten.)

Zweiter Auftritt.

Frau Moebius. Gertrud.

Gertrud (hat die Hefte auf den Schreibtisch gelegt und fängt an zu hantieren). Nun sag' mal, Liese, was hat sie denn?

Frau Moebius. Ach – beteiligen will sie sich partout an unserm Jubiläum.

Gertrud. So laß sie doch. Ist ja sehr nett von ihr. 17

Frau Moebius. Und dabei hat sie keinen Schimmer.

Gertrud. Das traf sich doch großartig, daß ich gerade heute schon um neun Uhr frei bin. (Nimmt Blumenstöcke vom Fenster.) Noch ein paar Blumen auf den Tisch. Der sieht mir sonst zu kahl aus.

Frau Moebius. Nur Geduld. Unsereins lebt auch noch. (Sie geht rasch ab durch die Thür Hintergrund links, läßt sie offen und bleibt einen Augenblick unsichtbar.)

Gertrud (ihr nachrufend). Was denn? Aber Liese – du wirst doch nicht . . .

Frau Moebius (kommt zurück mit einer blumengefüllten Vase und stellt sie auf den Tisch). Sieht doch gleich nach etwas aus – hm?

Gertrud. Gelbe Rosen! Um diese Jahreszeit! So dein Geld hinauszuwerfen. Unter Kuratel sollte man dich stellen.

Frau Moebius. Sind ja seine Lieblingsblumen. Und alle fünfundzwanzig Jahr' kann ich mir das erlauben.

Gertrud (fällt ihr um den Hals). Liese, du bist doch ein zu dummer alter Kerl. Wenn wir dich nicht hätten . . . 18

Frau Moebius. Mich nicht hätten! Hat sich was. Ich krieg' ja überhaupt nie was zu thun. Du machst ja alles allein. Erst plagst du dich in der Schule . . .

Gertrud. Still; red' kein so lästerliches Zeug. Arbeit ist keine Plage – und erst noch solche . . .! Wenn wir nur alle beide mehr zu thun hätten, was?

Frau Moebius. Ach ja. Früher vier Damen in Pension, und jetzt nur eine!

Gertrud. Offen gestanden, Liese: vorläufig hab' ich keine Ahnung, wie ich zum Ersten die Miete zusammen bekomme.

Frau Moebius. Ach herrje, herrje!

Gertrud. Nur den Vater nichts merken lassen. Und bis jetzt haben wir uns doch immer noch durchgeschwindelt. (Rechnend.) Zweihundert – und dazu vierzig – und die sechzehn für die Privatstunde . . . (Bricht ab.) War die Dame noch nicht wieder hier, die das zweibettige für sich allein nehmen wollte?

Frau Moebius. Nicht die Spur. Aber der alte Koepke war wieder da und hat mir was vorgejammert. 19

Gertrud. Du hast ihm doch was gegeben?

Frau Moebius. Nu, seine drei Mark – wie alle Monat.

Gertrud (nachdenklich). Diese Dame . . . ich glaubte so sicher . . . (In anderm Ton.) Macht nichts, Liese. Heut ist Feiertag; heut wollen nur leichtsinnig sein. Und ich sage dir – eine Luft ist draußen! Ich konnte die Fenster offen lassen – und eine Unruhe in den Kindern – nicht zum Stillsitzen zu bringen. Der Flieder im Schulhof hat schon grüne Spitzen, und sogar die erste Schwalbe ist da. Die macht freilich noch keinen Sommer; aber – kommt alles, kommt alles! Trallalala. – (Sie geht zur Thür rechts, öffnet sie ein wenig und ruft.) Vater, Väterchen, Herr Karsten – sind Euer Gnaden bald so weit?

Karsten (hinter der Scene). Bin gleich fertig.

Gertrud. Liese, nun Posto gefaßt! Wir sind jetzt sozusagen die Deputation der Menschheit, die nur zufällig keine Ahnung davon hat. Aber wir wollen sie trotzdem würdig vertreten. (Beide stellen sich rechts und links von der Thür in Positur.) 20

Dritter Auftritt.

Vorige. Karsten.

Karsten (rotwangig, fast ganz ergraut, etwas vornübergebeugt, sonst aber frisch und elastisch, getragen von naivem Selbstgefühl, kommt von rechts hinten). Gutenmorgen. Ich bin wohl ein rechter Langschläfer. Aber gestern – der Kegelklub . . . Was macht ihr denn für merkwürdige Gesichter? (Blickt auf den Tisch.) Und was bedeutet denn das da? Ja, was ist denn heute los?

Gertrud. Denk' nur einmal an das Datum.

Karsten. Potztausend! Der dreiundzwanzigste März! Wahrhaftig, heute . . .

Gertrud. Heute vor fünfundzwanzig Jahren hast du deine große Entdeckung gemacht, lieber Vater.

Karsten. Sieh mal an! Ist das schon fünfundzwanzig Jahre her? – Aber natürlich – du hast ganz recht; es war ja bald nach deiner Geburt . . . Brav von dir, daß du dran gedacht hast.

Frau Moebius. Und ich auch, Herr Karsten. 21

Karsten. Sie auch, Liese. Das versteht sich. Ihr seid die Einzigen – wie? – (Kleine Pause.) Aber das thut nichts. Fünfundzwanzig Jahre später wird die Welt davon wissen. (Geht an den Mitteltisch )

Gertrud. Wir wissen schon heut: du hast damals etwas gefunden, wovon du glaubst, daß es das Rechte ist, und es hat dir dein ganzes Leben lang Kraft und Stolz gegeben . . .

Karsten. Wahrhaftig – das kannst du wohl sagen. (Er geht zum Tisch.) Lorbeer! Ja, billiger thu' ich's nicht. Und der zuckrige Glückwunsch. Und die gelben Rosen . . .

Frau Moebius. Von mir.

Karsten (reicht ihr die Hand). Ich dank' Ihnen – und dir, Trude (küßt sie). Ich dank' euch von Herzen. Es thut mir wohl. – Aber ihr müßt nicht glauben, daß ich eine Ermutigung brauchte. Das müßt ihr ja nicht glauben.

Gertrud. Nein, das glauben wir auch gar nicht. Aber 'ne kleine Freude.

Karsten. Ja, 'ne Freude, das lass' ich gelten. Sogar 'ne recht große. Und das wird man euch später mal hoch anrechnen. Ihr seid die ersten gewesen. Die andern trotten hinterher. 22

Frau Moebius. Grad wie bei Columbus.

Karsten. Haben Sie schon wieder studiert, Liese?

Frau Moebius. Ach, so 'ne Sachen, die weiß ich doch längst. Mit der Geographie und Kultur bin ich durch. Jetzt hab' ich mich mehr aufs menschliche Leben geworfen.

Karsten. Haarsträubend, was Sie alles zusammenlesen. (Er setzt sich an den Tisch, rechte Schmalseite.)

Frau Moebius. Es ist das Einzige, was einen weiterbringt, Herr Karsten. Haben Sie mal genau darüber nachgedacht, was das menschliche Leben wert ist?

Karsten. Ach, lassen Sie mich doch mit so was zufrieden!

Frau Moebius. Das les' ich jetzt.

Gertrud. Nun, was ist es denn wert?

Frau Moebius. So weit bin ich noch nicht. – Jetzt werd' ich den Thee kochen. (Ab links hinten.) 23

Vierter Aufzug.

Gertrud. Karsten.

Karsten (hat sich an den Tisch gesetzt, rechte Schmalseite). Die wird uns noch überschnappen mit ihrem vielen Studieren.

Gertrud (sich gleichfalls setzend, ihm gegenüber). Es ist doch eigentlich rührend von ihr. Und sie hat keine Ahnung, wieviel dazu gehört, um das alles wirklich zu verstehn.

Karsten. Ach Larifari! Selber was schaffen – das ist das Einzige.

Gertrud. Ja, wenn das nur jeder könnte. Aber etwas wissen, so recht von Grund aus – das muß auch schön sein. (Sie riecht an den Rosen.) Köstlich, wie die duften. – Fast jeden Tag stellen die Kinder irgend eine Frage an mich, die ich nicht beantworten kann.

Karsten. Hast du auch nicht nötig.

Gertrud. Nicht für sie. Aber für mich möcht' ich's können. Wenn ich Zeit hätte . . .

Karsten. Das laß nur meine Sorge sein. Sobald ich mal durchgedrungen bin, dann thust du mir keinen Schritt mehr in die Schule. 24

Gertrud. Dann erst recht, Vater. Wer nichts schaffen kann, der muß wenigstens etwas zu thun haben. Und es ist ja auch alles Unsinn. Mir geht es so gut – so unverschämt gut . . .

Karsten (sich die Hände reibend). Die Hauptsache: unser behagliches Auskommen, das hätten wir.

Gertrud. Ja freilich!

Karsten. Seit du auf den sublimen Einfall kamst mit der Pension, fehlt uns nichts. Ich brauche nicht für Geld zu arbeiten . . .

Gertrud. Hättest du auch nicht gekonnt.

Karsten. Nein, pfui Teufel. Und ich will's dir nur verraten: ich hab' einen ganz neuen Entwurf im Kopf – bei dem werden auch den Blödesten die Augen aufgehn.

Gertrud. Das ist ja prächtig.

Karsten. Ja, das ist was; darauf kannst du dich verlassen. – Und da hätt' ich doch eigentlich allen Grund, heute so recht in festlicher Stimmung zu sein. 25

Gertrud. Und ich mit dir! (Sie steht auf und tritt zu ihm.)

Karsten. Denn siehst du – wie erst Hans starb, der gute Bursch, und dann die Mutter – und dann noch Aennchen – was hat mich da aufrecht erhalten? Meine Mission; die ganz allein. Und daß ich wußte: das Leben hat mir noch etwas vorbehalten – einen Sieg, einen großen Triumph. Darauf freust du dich doch auch, Trude; nicht wahr?

Gertrud. Das kannst du dir doch denken. (Sie kehrt auf ihren Platz zurück.)

Fünfter Auftritt.

Vorige. Babette. Frau Moebius.

Frau Moebius (bringt auf einem großen Brette das Frühstück).

Babette (eilt direkt hinter ihr ins Zimmer, mit einem Bouquet). Herr Karsten, gestatten Sie mir, daß ich Ihnen diese geringen Blüten . . .

Karsten. Was, Sie wissen auch davon?

Babette. Frau Moebius hat mir verraten . . .

Frau Moebius (die inzwischen, von Gertrud unterstützt, aufgetischt hat). Bloß angetippt! (Sie geht mit einem etwas respektlosen Blick auf Babette ab.) 26

Babette. Da ich mich in Ihrem Hause so wohl fühle, Herr Karsten, ergriff ich mit Freuden die Gelegenheit . . . (Zieht eine Photographie hervor.) Und hier ist auch mein Bild. Man sagt, es sei nicht gerade geschmeichelt; aber ich habe kein besseres.

Karsten. Fräulein Seiler, solche Geschichten . . .!

Gertrud (reicht ihr die Hand). Das ist lieb. Ich dank' Ihnen. (Sie gießt während des Folgenden ein, streicht für Karsten eine Semmel u. s. w.)

Karsten. Aber wissen Sie denn auch, was los ist?

Babette (setzt sich an den Tisch in die Mitte). Sie feiern ein Jubiläum.

Karsten. Und da meinen Sie, das ist so ein ganz gewöhnliches, alltägliches Dutzend-Jubiläum?

Babette (frühstückend). Ich bin leider nicht eingeweiht . . .

Karsten. Soll ich ihr's sagen, Trude?

Gertrud. Gewiß. Da Fräulein Seiler so aufrichtigen Anteil nimmt . . . 27

Babette (drückt ihr dankbar die Hand). Nicht wahr, liebes Fräulein, nicht wahr, ja?

Karsten. Ich bin kein Maulheld. Ich hab' das noch keiner von den Damen gesagt, die bei uns wohnten. Aber heut, in der Feststimmung . . . Sie dürfen sich was drauf einbilden.

Babette. Ich bin fieberhaft gespannt.

Karsten. Nun, Fräulein Seiler, was denken Sie sich eigentlich, wer ich bin?

Babette. O – Sie sind der beste Mensch von der Welt, Herr Karsten.

Karsten. Der beste Mensch – das kann jeder Trottel sein. Ich meine, was halten Sie so für meine Profession?

Babette. Sie sind Architekt.

Gertrud. Trink, Vater! Der Thee wird sonst kalt.

Karsten (ohne darauf einzugehen). Jawohl. – Architekt – schön – gut. Aber haben Sie vielleicht schon mal 'nen Bau von mir gesehn? 28

Babette. Nein . . .

Karsten. Natürlich nein! (Triumphierend.) Es existiert auch keiner.

Gertrud (ist aufgestanden, hält ihm die Tasse vor den Mund). Vater, trink doch mal. (Während des Folgenden setzt sie sich wieder.)

Karsten (thut mechanisch einen Schluck). Sie denken wohl, das kommt daher, weil ich ein Nichtskönner, ein Faulpelz bin.

Babette (protestierend). Oh! –

Karsten (mit Nachdruck). Aber das kommt daher, weil in meinem Kopfe das Bauwerk der Zukunft lebt.

Babette. Ach nein, was Sie nicht sagen . . .!

Karsten. Mit Wohnungskasernen befassen wir uns nicht. Mit zusammengestohlenem Zeug aus allen Jahrhunderten – Gotik und Renaissance und Roccoco – geben wir uns nicht ab. Da müssen Sie sich an eine andere Adresse wenden. (Mit der flachen Hand auf den Tisch wippend.) Nein, Fräulein Seiler, es ist die höchste Zeit, daß die verfluchte Nachtreterei und 29 Nachbeterei aufhört, daß das Jahrhundert seinen eigenen neuen Stil bekommt – höchste Zeit! Und heute vor fünfundzwanzig Jahren hab' ich ihn entdeckt.

Babette. O, das war groß, das war edel von Ihnen.

Karsten. Da ist mir plötzlich die Erleuchtung gekommen; da stand er leibhaftig vor mir – wie eine Hallucination, wie eine Offenbarung.

Babette. Aber – verzeihen Sie, wenn ich indiskret bin; doch Ihr Vertrauen und meine Teilnahme . . . Haben Sie niemals versucht in diesem Stil zu bauen?

Karsten. Versucht? (Aus vollem Halse lachend.) Hahaha, das ist großartig! Das ist der richtige Laienstandpunkt. Geben Sie mir so zehn bis zwölf Milliönchen, und dann versuch' ich's auf der Stelle. Dann bau' ich Ihnen einen Reichstag, eine Ruhmeshalle, einen Tempel der Gerechtigkeit – was Sie überhaupt wollen. Alles ist in meinem Kopfe fertig – eine ganze Stadt. –

Babette. Sollte denn nicht irgend ein großherziger Mäcen – oder ein Preisrichterkollegium . . .

Karsten (immer mehr belustigt). O Sie holde Unschuld! Da müßten die doch erst dran glauben. 30

Babette. Nicht einmal das?

Karsten (in strahlender Heiterkeit). Denken nicht dran – die Esel.

Babette. Aber da fehlt es Ihnen ja an jeder Anerkennung . . .

Karsten (steht auf). Hoho, Fräulein Seiler! Mein Bewußtsein, das ist die Anerkennung; meine felsenfeste Ueberzeugung. Etwas Neues hat immer Zeit gebraucht, bis man's kapiert hat. Ich weiß, was ich weiß. Kommt's heute nicht, kommt's morgen. Und die Hoffnung. Fräulein Seiler – die Hoffnung – das ist das Allerbeste vom Leben.

Babette (steht auf). Ja, das sag' ich auch! – (Zu Gertrud.) Wie sind Sie beneidenswert, einen solchen Vater zu haben!

Gertrud. Das will ich meinen. (Sich an ihn schmiegend.) Geb' ihn auch nicht her.

Babette. Vollen Einblick zu haben in die Werkstatt eines Künstlers!

Karsten. Ja, die Trude, die glaubt an mich.

Babette. Ich auch. Nehmen Sie auch mich dazu! 31

Karsten. Na, das ist immerhin ein Anfang.

Gertrud (hat ihm den Lorbeerkranz aufgesetzt). Das steht ihm ganz gut – wie?

Babette. Stimmungsvoll!

Karsten (den Lorbeerkranz auf dem Kopf, in heiterster Laune, singt). »So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage . . .«

Frau Moebius (tritt ein). Die Dame ist wieder draußen – die von vorgestern.

Gertrud (sichtlich erfreut und erleichtert). Ah, sehr schön – Laß sie doch nur schnell eintreten, Liese! – (Frau Moebius ab.) Die kommt, um zu mieten.

Karsten. Das ist deine Sache. Ich geh' an die Arbeit. (Mit dem Lorbeerkranz auf dem Kopf, trällernd ab rechts hinten.)

Babette. Ist sie nett? (Sie erhält keine Antwort, da Thekla in diesem Moment eintritt. Sie zieht sich an die Thür ihres Zimmers zurück, betrachtet von dort aus Thekla neugierig und verschwindet erst nach deren ersten Worten.) 32

Sechster Auftritt.

Gertrud. Thekla Hildebrand.

Gertrud (ist Thekla zur Thür entgegengegangen). Entschuldigen Sie, gnädige Frau, daß es hier noch so unaufgeräumt aussieht. Hätte ich ahnen können, daß Sie so frühzeitig . . .

Thekla (ungefähr dreißig Jahre alt, in sehr eleganter Straßentoilette). Ich bitte sehr. Es ist an mir, mich zu entschuldigen. Sie haben doch das Zimmer noch nicht vergeben?

Gertrud. Nein, gnädige Frau.

Thekla. Nun – Sie sehen, ich bin wiedergekommen. Es ist ja nicht alles ganz so, wie ich wünschte . . .

Gertrud. Seien Sie überzeugt, gnädige Frau, ich würde mir die größte Mühe geben, Sie zufrieden zu stellen.

Thekla (leichthin). Der Preis, den Sie nannten, wäre der äußerste?

Gertrud. Ich kann beim besten Willen nicht nachlassen. Sonst haben immer zwei Damen in dem Zimmer gewohnt. Es ist sehr geräumig, sehr gut möbliert . . . 33

Thekla. Ein wenig nüchtern.

Gertrud. Wenn Sie es erst noch einmal zu besichtigen wünschen . . . (hat die Thür vorn links geöffnet).

Thekla (wirft nur einen flüchtigen Blick hinein, geht dann nach rechts). Danke, danke. – Und einen Salon für meine private Benützung könnten Sie mir nicht einräumen – unter keiner Bedingung?

Gertrud. Unmöglich, gnädige Frau. (Sie fordert Thekla mit einer Handbewegung auf, Platz zu nehmen.) Die Wohnung ist beschränkt – und Sie würden das auch in größeren Pensionen nicht anders treffen. Man muß den Platz eben ausnützen . . .

Thekla (setzt sich auf den Diwan). Aber wenn ich besucht werde . . .

Gertrud. Intimere Freundinnen haben die Damen meist auf ihrem Zimmer empfangen. Und für anderen Besuch steht Ihnen dieses Zimmer hier fast den ganzen Tag zur Verfügung. Wir halten hier unsre Mahlzeiten . . .

Thekla. Wann sind die?

Gertrud. Das erste Frühstück – 34

Thekla. Das pflege ich im Bett zu nehmen.

Gertrud. Ganz nach Belieben. Dann Gabelfrühstück um eins, Mittagessen um sechs. – Wie gesagt – sonst würden Sie hier selten gestört werden. Ich selbst bin einen großen Teil des Tages nicht zu Hause; ich bin Lehrerin . . .

Thekla. Ah! –

Gertrud. Mein Vater ist meist in seinem Arbeitszimmer, und Fräulein Seiler – gegenwärtig unsre einzige Pensionärin – die würde Ihnen erst recht nicht im Wege sein.

Thekla. Das läßt sich ja hören. Denn sehen Sie, Fräulein – ich brauche vor allem Ruhe – ganz unendlich viel Ruhe.

Gertrud. Die haben Sie bestimmt. Die Thüren dort sind ja sogar gepolstert.

Thekla (aufstehend). Was mich am meisten verlockt: Sie haben kein Klavier.

Gertrud. Nein, so weit haben wir es noch nicht gebracht.

Thekla. Bringen Sie es nie so weit! Es ist die Zerstörung der inneren Einheit, der Todfeind des Gedankens. Ich hasse es. 35

Gertrud (lächelnd). Eine Seltenheit bei einer Dame.

Thekla. Sie werden an mir wohl noch mehr Seltenheiten bemerken. – – Vierzehntägige Kündigung – so sagten Sie doch, nicht wahr? (Gertrud stimmt zu.) Also – dann bleibt es dabei.

Gertrud. Ich freue mich sehr, gnädige Frau . . . ^

Thekla. Mein Name ist Hildebrand – Frau Thekla Hildebrand.

Gertrud. Danke sehr. Sie – kommen von auswärts?

Thekla. Nein . . . von hier.

Gertrud. Und wann wünschen Sie einzuziehen?

Thekla. Auf der Stelle.

Gertrud (ein wenig erstaunt). Um so besser. Wo darf ich Ihre Sachen holen lassen?

Thekla. Mein Gepäck ist unten in der Droschke. 36

Gertrud. Das ist ja sehr einfach. Ich werde sofort dem Portier Auftrag geben . . . (Geht zur Thür links hinten, ruft hinaus.) Liese! (Frau Moebius erscheint in der Thür und zieht sich, nachdem Gertrud leise mit ihr gesprochen, zurück.)

Thekla (schaut sich unterdessen um und thut einen tiefen Seufzer).

Gertrud (kommt nach vorn). Schon besorgt. – Darf ich Ihnen vielleicht jetzt meinen Vater vorstellen, gnädige Frau?

Thekla. Sehr freundlich. Das eilt ja wohl nicht? Zunächst möchte ich mich installieren – und ich fühle mich in der That sehr ruhebedürftig. Die neue Umgebung . . . und meine eigensinnigen Nerven . . . (Nach links gehend.) Aber wenn Sie mir eine halbe Flasche Sekt kommen lassen wollten . . .

Gertrud. Den haben wir leider nicht im Hause. Ich kann aber gleich danach schicken . . .

Thekla. Ja, bitte – wenn möglich, Pomery. Das ist mein Universalmittel. – Und noch eins: Wenn ein Herr nach mir fragen sollte – Herr Doktor Wulff – dann bitte mich gleich zu benachrichtigen. (Ab vorn links. Gertrud begleitet sie und ist ein paar Augenblicke unsichtbar.) 37

Siebenter Auftritt.

Portier (und ein) Droschkenkutscher erster Klasse (bringen einen Koffer größten Formates angeschleppt). Frau Moebius (folgt ihnen mit zwei Hutschachteln und sonstigem Handgepäck). Babette (tritt bald darauf aus ihrem Zimmer und schaut vom Hintergrund aus zu). Gertrud.

Portier (in der Thür, durch welche der Koffer nur schwer hindurchgeht, zum Kutscher). Uff – Aujust – hoch! – So! –

Gertrud (kommt zurück).

Frau Moebius (weist nach der Thür vorn links). Da hinein! (Sie geht voraus dahin ab und kommt gleich zurück.)

Portier (zu Gertrud). Der Kutscher mußte schon ooch mit 'ran. Det Undhier konnt' ick nich alleene zwingen.

Gertrud. Ist wohl sehr schwer?

Portier. Knollig! (Sie tragen den Koffer hinein.)

Gertrud. Nun, Liese, was sagst du? Wir sind fein heraus.

Frau Moebius (den Tisch abräumend, wobei ihr Gertrud hilft). Hm – ja . . . Was mag das wohl für Eine sein? 38

Gertrud. Jedenfalls aus guter Familie.

Frau Moebius. So Eine haben wir noch nicht gehabt. Das ist 'ne Neumodische.

Gertrud. Ich hätte sie doch am Ende noch fragen sollen . . . Richtig, Liese – sie möchte gern eine halbe Flasche Sekt haben – Pomery. Den mußt du gleich nachher holen.

Frau Moebius (fast sprachlos). Sekt?!

Babette (kommt vor und steckt ihren Kopf dazwischen). Sekt?!

Gertrud. Was ist denn da weiter dabei? (Portier und Kutscher kommen zurück. Ersterer geht gleich ab. Der Kutscher wartet.)

Gertrud (zum Kutscher). Sind Sie noch nicht bezahlt?

Kutscher. Nee. Die Dame hat nur 'nen Hundertmarkschein.

Gertrud. Was bekommen Sie?

Kutscher. Zwee Mark fuffzig. 39

Gertrud. Wieso?

Kutscher. Von die Oranienburjer Straße hierher – un denn noch det Biest zwee Treppen hoch . . .

Gertrud (bezahlt). Hier. (Kutscher ab. Frau Moebius, die inzwischen, von Gertrud zeitweilig unterstützt, ganz abgeräumt hat, folgt ihm mit dem Geschirr.)

Babette. Oranienburger Straße? Ich meine, die Dame müßt' ich schon einmal gesehen haben. Wie heißt sie denn?

Gertrud. Hildebrand.

Babette (nachdenkend). Hildebrand – Hildebrand – warten Sie mal . . .

Gertrud. Ich kann jetzt unmöglich warten, Fräulein. Ich muß jetzt meine Hefte korrigieren. (Sie nimmt sie vom Schreibtisch.)

Babette (halb für sich). Oranienburger Straße – und dieser Koffer – und gleich Sekt – das ist romantisch. (Geht in ihr Zimmer.)

Frau Moebius (tritt wieder auf). Da ist ein Herr, der fragt nach Frau Hildebrand. 40

Gertrud. Laß ihn nur eintreten.

Frau Moebius (geht und läßt Wulff herein).

Achter Auftritt.

Gertrud. Wulff.

Wulff (Anfang der Dreißig, mit sorgfältiger Nachlässigkeit modern gekleidet, mit stilisiertem Kopf, dunklem Vollbart. Byronlocke in die Stirn gekämmt, von koketter Müdigkeit in seinen Bewegungen, seinem Lächeln, seiner Sprechweise). Habe ich den Vorzug, die Frau vom Hause . . .

Gertrud (von seiner ganzen Erscheinung unsympathisch berührt). Fräulein, wenn ich bitten darf.

Wulff. Pardon, mein gnädiges Fräulein. (Sich vorstellend.) Doktor Wulff. – Ich wünschte Frau Hildebrand zu sprechen. Sie ist doch schon hier?

Gertrud. Seit wenigen Minuten. Sie werden erwartet. (Legt die Hefte auf den Mitteltisch, geht zur Thür vorn links und klopft.) Gnädige Frau . . .

Thekla (von innen). Ja . . .

Gertrud (öffnet ein wenig die Thür und spricht hinein). Herr Doktor Wulff ist da. 41

Thekla (von innen). Ich komme sofort.

Gertrud (zu Wulff). Bitte nur einstweilen Platz zu nehmen.

Wulff. Sehr liebenswürdig, mein gnädiges Fräulein. (Lächelnd.) Eine leider allzu flüchtige Begegnung . . .

Gertrud (hat ihre Hefte unter den Arm genommen). Guten Tag. (Ab hinten links.)

Neunter Auftritt.

Wulff. (Gleich darauf) Thekla.

Wulff (allein, zieht einen kleinen Handspiegel und Taschenkamm hervor und gibt Haar und Bart die letzte Feile).

Thekla (in einer reichen Matinee aus ihrem Zimmer).

Wulff (geht ihr entgegen und küßt ihr die Hand).

Thekla (nach einer kleinen Pause). So, mein lieber Freund – so sehen wir uns wieder. –

Wulff (mit einem tiefen Seufzer). Ja – das Leben! – – 42

Thekla. Es ist wacker von Ihnen, daß Sie so schnell meinem Rufe gefolgt sind.

Wulff. Wenn unsre Freunde rufen . . .

Thekla. Sie können sich denken, wie mich in meiner Situation nach einer Aussprache dürstet. (Lädt ihn zum Sitzen ein, vorn links.)

Wulff. O – wem sagen Sie das!

Thekla. Sie wissen, ich bin ziemlich vereinsamt . . .

Wulff. Wie alle außergewöhnlichen Naturen.

Thekla. Ich habe auch keine Verwandte hier . . .

Wulff. Nur einen Geistesverwandten.

Thekla. Ja, als solchen habe ich Sie in der That schätzen gelernt – und so waren Sie in diesem Augenblick mein natürlichster Vertrauter. 43

Wulff (küßt ihr noch einmal die Hand). Sie werden dieses Vertrauen niemals zu bereuen haben.

Thekla. Man erzählt sich zwar allerlei Mordgeschichten von Ihnen . . .

Wulff. Elender Klatsch.

Thekla. Und es gibt Leute, die Sie geradezu wie einen Beelzebub hinstellen . . .

Wulff. Philister. – Weil ich Aphorismen gegen die Ehe geschrieben habe.

Thekla. Auch wegen Ihrer zahlreichen kleinen Abenteuer.

Wulff. Tändeleien. Betäubungen eines Augenblicks. Schlafpulver . . .

Thekla. Nun ja, Sie sind eben ein moderner Geist. – Und ich halte Sie trotz alledem für einen Mann voll echt ritterlichen Gesinnungen.

Wulff. Das dürfen Sie.

Thekla. Zunächst – wann haben Sie meinen Brief erhalten? 44

Wulff. Vor einer Stunde. Mein Diener weckte mich damit, und in einer Art von Halbschlaf las ich diese wenigen, inhaltschweren Zeilen, bis sie sich mir in das erwachende Bewußtsein hämmerten. Ich stehe noch ganz unter ihrem Eindruck. Noch vor wenigen Tagen – als wir zum so- und sovieltenmal ein Diner miteinander abgegessen, zum so- und sovieltenmal uns verständigten über die entsetzliche Oede des Daseins – da ließen Sie mich durch nichts einen solchen Entschluß vermuten.

Thekla. Damals war ich auch noch nicht entschlossen.

Wulff. Ich wußte ja, wie sehr Sie leiden. Seelen wie die unsrigen leiden immer. Und ich ahnte wohl auch, daß Ihre Ehe . . .

Thekla. O mein Freund, ich war im Begriff zu ersticken.

Wulff. Um so anerkennenswerter die Kraft, mit der Sie Ihr Selbst gerettet haben.

Thekla. Gerettet – ja, das ist das rechte Wort. Und Kraft gehörte wohl auch dazu – fast die Kraft eines Uebermenschen. Sie und Ihre Schriften waren mir die einzige moralische Stütze . . . (Wulff verneigt sich.) Schon vorgestern begann ich, mich nach einem vorläufigen Asyl umzusehen. Ein Hotel – das war ja nicht gut möglich. Eine Dame allein – in unserm erleuchteten Zeitalter . . . 45

Wulff. Barbarei.

Thekla. In der Heimat hab' ich nur noch ein paar alte Tanten. Die würden sich natürlich dreimal bekreuzigen . . .

Wulff. Ich kenne dieses Geschlecht.

Thekla. Und sonst in die Provinz zu gehen – in irgend ein Nest, in kleinbürgerliche Verhältnisse, ohne den Konnex mit der freien Atmosphäre der Weltstadt – das wäre ja Wahnsinn gewesen.

Wulff. Geistiger Selbstmord.

Thekla. Blieb mir nur so eine Damenpension. Diese hier als die kleinste und stillste gefiel mir relativ am besten.

Wulff (sieht sich um). Sie sind alle über einen Leisten geschlagen. Ueberall ein Geruch von Tugend und Altjüngferlichkeit . . .

Thekla. Nun ja – das ist auch nur provisorisch – die erste Zufluchtstätte – bis ich gelernt habe, meine Fittiche zu entfalten . . . So fuhr ich also heute morgen geradeswegs hierher.

Wulff. Ihr Gatte weiß von Ihrem Schritt? 46

Thekla. Er war schon im Bureau. Ich habe ihm einen Brief hinterlassen. Ich wollte eine letzte peinliche Auseinandersetzung vermeiden.

Wulff. Und Sie glauben, daß er sich ohne weiteres zufrieden geben wird?

Thekla. Ich hoffe, er wird das Recht meiner Individualität zu respektieren wissen. Uebrigens – ich habe ihm geschrieben, daß ich keineswegs alle Brücken hinter mir abbrechen will. Es sei gar nicht unmöglich, daß ich später einmal wieder zu ihm zurückkehre, wenn ich erst etwas erlebt, mich erzogen habe . . .

Wulff (lächelnd). Wenn das Wunderbare geschieht.

Thekla. Ja, ganz recht – das Wunderbare. –

Wulff. Offen gestanden, ich kenne Ihren Gatten so gut wie gar nicht. Wir waren ja oft genug in Gesellschaft zusammen. Aber wie das so geht – und da ich mich nicht speziell für ihn interessierte . . .

Thekla. Sehen Sie, das ist es ja eben. Er interessiert nicht. Mich hat er auch nicht interessiert.

Wulff. Einmal doch: als Sie ihn heirateten. 47

Thekla. Ich bitte Sie, wer war ich denn damals? Ein Gänschen aus der Provinz. Damals hatte ich mich selbst noch nicht entdeckt. Wir stehen doch alle unter dem Gesetz der Entwickelung!

Wulff. Unleugbar.

Thekla. Meine Eltern protegierten ihn. Er hatte ein angenehmes Aeußere und eine gewisse Wärme, wie sie bei oberflächlichen Naturen so häufig ist . . .

Wulff. Sehr fein beobachtet.

Thekla. Gegen meine Tanzstundenconnaissancen stach er immerhin sehr vorteilhaft ab. Er kam aus Berlin, hatte dort ein gutes Geschäft . . .

Wulff. Was ist sein Geschäft?

Thekla (mit Ueberwindung). Teppiche en gros.

Wulff. Hm. –

Thekla. Sehr begeisternd – wie? – Ja, Berlin hat mich erst zu dem gemacht, was ich bin.

Wulff. Eine bedeutende Frau. 48

Thekla. Nennen Sie es, wie Sie wollen. Jedenfalls gingen mir hier die Augen auf. Sie haben ja auch viel dazu beigetragen.

Wulff. Aeußerst schmeichelhaft.

Thekla. Ich las; ich beobachtete; ich bekam eine Weltanschauung – eine sehr düstere Weltanschauung.

Wulff. Ist denn eine andre möglich?

Thekla. Ich erkannte das große Leiden des Lebens, die kaum überdeckten Abgründe; ich fühlte, daß ich auf einem Vulkan tanzte . . . Und er – das ist es ja eben, was ich ihm hauptsächlich vorzuwerfen habe . . .

Wulff. Was denn?

Thekla. Er war mir zu vergnügt. Immer guter Dinge, immer geneigt zur Fidelität . . .

Wulff. Ja, das ist allerdings unerträglich.

Thekla. Kein Verständnis für die Verschleierung meines Gemüts, meine quälende Unbefriedigung. Keine Ahnung von dem allgemeinen tiefen, hoffnungslosen Elend . . . 49

Zehnter Auftritt.

Vorige. Frau Moebius.

Frau Moebius (kommt mit einer halben Flasche Champagner, die beiden mißtrauisch musternd). Hier ist der Pomery, gnädige Frau. (Sie stellt ihn auf den Mitteltisch und geht zum Büffet, um ein Glas zu holen.)

Thekla (steht auf und geht zur rechten Seite des Mitteltisches). Ganz recht. Ich danke. (Zu Wulff.) Zur Stärkung meiner Nerven. Darf ich Ihnen auch ein Gläschen anbieten?

Wulff. Nur einen Schluck, um Ihnen Bescheid zu thun.

Thekla. Ach bitte, noch ein zweites Glas. (Frau Moebius stellt die Gläser hin. Thekla zieht einen Zettel hervor.) Und dieses Rezept können Sie mir in der Apotheke machen lassen. (Frau Moebius ab. Zu Wulff, der eine fragende Gebärde macht.) Nur ein bißchen Sulfonal.

Elfter Auftritt.

Thekla. Wulff.

Wulff (ist beschäftigt, den Pfropfen kunstgerecht zu entfernen).

Thekla (setzt sich an den Mitteltisch). Wobei waren wir doch gleich stehen geblieben?

Wulff (ihr gegenüber, während der Pfropfen knallt). Bei dem tiefen, hoffnungslosen Elend. (Schenkt ein.) 50

Thekla. Ja, richtig. Der unerschöpfliche Jammer des Lebens . . .

Wulff. Unerschöpflich – gewiß. – Auf Ihr Wohl!

Thekla. Auf das Ihrige. (Sie stoßen an und trinken.) Recht gut, dieser Sekt.

Wulff. Excellent. (Setzt sich.)

Thekla. . . . Der bittere Nachgeschmack nach allen Genüssen; die grausame Enttäuschung, mit der jede erfüllte Hoffnung endet. – Ich habe es noch als das einzige Glück meiner Ehe betrachtet, daß sie kinderlos geblieben – ein Glück vor allem für die ungeborenen Wesen, denen das Weltelend erspart geblieben. (Sie trinkt.)

Wulff (ebenfalls trinkend). Ja, nicht geboren werden, ist das Klügste, was der Mensch beginnen kann.

Thekla. Und andrerseits sage ich mir wieder: Hätte ich Kinder gehabt, so wäre doch noch etwas gewesen, was mich ausfüllt, meine Seele befriedigt. Aber so hatte ich nichts . . .

Wulff. Nichts als Ihren Mann. 51

Thekla. Nichts als ein Leben des Luxus. Damit glaubte er mich zufriedenzustellen, daß er ohne ein Wort des Vorwurfs all meine Schneiderrechnungen bezahlte. Aber gerade dadurch hat er mich um so tiefer gedemütigt. Ich sagte ihm: Begreifst du nicht, daß ein Weib nach einem Berufe verlangt, daß sie Sehnsucht hat, selbst die Hände zu regen . . .

Wulff. Diese reizenden Hände.

Thekla. Und wissen Sie, was er mir zur Antwort gab?

Wulff. Nun?

Thekla. »Wenn du dich nach einem Berufe sehnst, dann hilf mir doch in dem meinigen.« – In seiner Teppichhandlung! Wie finden Sie das?

Wulff. Welch plumpes Mißverständnis!

Thekla. Das brachte das Faß zum Ueberlaufen. Da erkannte ich die tiefe, schwindelnde Kluft, die uns trennt. Denn daß Mann und Weib sich noch etwas mehr sein können als . . . daß sie einander Freunde sein können, Kampfgefährten . . .

Wulff. Kameraden. 52

Thekla. Ja, Kameraden – (aufstehend und ihm die Hand reichend) ich danke Ihnen für dieses Wort – Kameraden – das hat er nie verstanden.

Wulff (küßt ihr die Hand). Ich aber verstehe Sie so ganz! (Finster, mit gesenkter Stimme.) Auch ich war ja einmal an ein Wesen gefesselt, das mich nicht begriff.

Thekla. Ihre geschiedene Frau . . . ich hörte davon.

Wulff. Lassen Sie mich davon schweigen! (Beide setzen sich wieder; Wulff auf den Stuhl Vorderseite des Tisches.) Jahre sind darüber hingegangen. Aber wenn ich ein Gegner der Ehe geworden bin – ein prinzipieller Gegner – sie allein hat es zu verantworten.

Thekla. O, Sie Aermster! –

Wulff. Wir sind allzumal arme Schächer – wir Märtyrer des Gedankens. Glauben Sie nun, daß ich mich Ihnen so nahe – so merkwürdig nahe fühle? (Er rückt ihr näher.) Ich könnte sagen, daß ich Sie bewundere. Aber es genügt, wenn ich sage: Ich fasse Sie!

Thekla (ein wenig zurückweichend). Sie sind ja ein Philosoph.

Wulff. Und Sie eine Philosophin. 53

Thekla. O nein – nur ein schlichtes Weib. (Sie trinkt ihr Glas aus und erhebt sich.) Aber um so mehr will ich zeigen, wozu wir fähig sind, wenn wir den Mut haben, ganz wir selbst zu sein.

Wulff (ist gleichfalls aufgestanden, eifrig). Thun Sie das! Zeigen Sie der Welt eine unerschrockene moderne Persönlichkeit. Und was ich vermag, Ihnen dabei behilflich zu sein . . .

Thekla. Das habe ich von Ihnen erwartet.

Wulff. Ich wäre stolz, wenn der Kamerad, nach dem Sie lechzen – wenn Sie ihn fänden – in mir. Auch ich habe ja förmlich gehungert nach einem solchen Kameraden – nach einem lebendigen Echo meines freudlos einsamen Denkens. Und nun sehe ich Sie vor mir – wie einen Gedanken von mir, in wundervollen Formen verkörpert.

Thekla. Glauben Sie wirklich, daß ich Ihnen etwas sein könnte?

Wulff. Was könnten Sie mir nicht sein! Eine neue Epoche in meiner Forschung. Das Weib ist sensibler als der Mann; es spürt Wahrheiten, zu denen unser schärfster Verstand nicht vordringt.

Thekla. Sollte diese Sensibilität mich nicht auch befähigen können, selbständige Entdeckungen zu machen? 54

Wulff. Wohl möglich. Aber erst durch den fortwährenden intimen Kontakt mit einem männlichen Geist treten sie ins Bewußtsein. (Ganz nahe.) Wenn Sie mir gestatteten, einen Blick zu werfen . . .

Thekla. Es wird Zeit, daß Sie gehen. (Sie geht an ihm vorüber nach links.) Man könnte sonst hier . . .

Wulff (ist ihr gefolgt). Ich verstehe. – Und was gedenken Sie zunächst zu thun?

Thekla. Aufzuatmen.

Wulff. Und dann?

Thekla. Vorerst bin ich wie der Löwe, der eben aus dem Käfig brach: er reckt seine Glieder. Ein andermal mehr davon.

Wulff. Ich gehe, da Sie es befehlen. – Bald, bald komm' ich wieder. Wir haben uns noch viel, noch sehr viel zu sagen. Unsre Geister müssen immer inniger miteinander verschmelzen.

Thekla (erschauert). O – das muß tröstlich sein!

Wulff. Berauschend. – Auf Wiedersehen, mein edler Kamerad! 55

Thekla. Auf Wiedersehen. (Da er ihr zärtlich die Hand küßt.) So stürmisch? Ziemt sich das für einen Kameraden?

Wulff. Warum sollen nicht auch Kameraden stürmisch sein? – Was hätten wir von diesem jammervollen Dasein – was hätten wir, wenn nicht das? (Geht ab.)

Zwölfter Auftritt.

Thekla. (Dann) Gertrud. (Später) Babette. Frau Moebius.

Thekla (geht erregt, tief atmend auf und nieder; dann klingelt sie).

Gertrud (von links hinten). Sie wünschen, gnädige Frau? Die Wirtschafterin ist gerade in die Apotheke gegangen . . .

Thekla. O, das eilte ja nicht. – Ich wollte nur sagen, daß ich jetzt nicht gestört sein möchte. Ich bin sehr ermattet und gedenke ein wenig zu schlummern. (Zustimmung Gertruds. Thekla geht auf ihr Zimmer und kehrt noch einmal um.) Sie kannten doch den Herrn, der mich da eben verließ?

Gertrud. Doch nicht, gnädige Frau.

Thekla (mit Betonung). Doktor Wulff – Egon Wulff – haben Sie diesen Namen niemals gehört? 56

Gertrud. Ich kann mich nicht entsinnen.

Thekla. Dann haben Sie wohl unsre neuesten Geisteskämpfe nicht sehr genau verfolgt.

Gertrud. Leider nein. Ich kenne noch nicht einmal alle alten.

Thekla. Aber als Erzieherin der Jugend . . .

Gertrud. Ach, meine Volksschuljugend, gnädige Frau – wenn ich die nur einigermaßen für den Kampf ums tägliche Brot erziehen kann, da bin ich schon ganz zufrieden. – Uebrigens – hat der Herr auch etwas für kleine Mädchen geschrieben?

Thekla. Das gerade nicht. (Sie will wieder abgehen.)

Babette (kommt aus ihrem Zimmer, in Hut und Mantille, zum Ausgehen gerüstet; zu Gertrud, mit Blick auf Thekla). Das trifft sich ja gut. Dürfte ich gleich bitten . . .

Gertrud (vorstellend). Frau Hildebrand – Fräulein Seiler.

Babette. Ich freue mich sehr, unsre Bekanntschaft zu erneuern. Denn einmal sind wir uns schon begegnet, gnädige Frau. 57

Thekla (unangenehm berührt). So . . . in der That . . .

Babette. Ich konnte nicht gleich darauf kommen. Es ist auch schon mehrere Jahre her. In Norderney. Ich promenierte mit einer gemeinsamen Bekannten, Fräulein Degenhart . . .

Thekla. Ja – eine Schulfreundin meiner Mutter.

Babette. Sie saßen in einem Strandkorb mit Ihrem Herrn Gemahl.

Thekla. Nun, sie sagten ja selbst: es ist schon lange her. – Sie wollten gerade ausgehen; ich will Sie nicht aufhalten. (Verbeugt sich; geht ab in ihr Zimmer.)

Babette (lebhaft). Ich möchte wetten, da hat es einen Krach gegeben. Entweder sie ist ihrem Manne durchgegangen, oder . . .

Gertrud. Aber Fräulein Seiler!

Babette. Haben Sie nicht gesehen, wie sie zusammenzuckte, als ich von ihm sprach?

Gertrud. Das sind Dinge, die mich nichts angehen. 58

Babette. Mich interessiert so etwas ganz enorm. Wenn Sie zufällig Näheres erfahren sollten . . .

Frau Moebius (von links hinten). Da ist schon wieder ein Herr, der nach Frau Hildebrand fragt.

Gertrud. Ach, wirklich?

Babette (geht neugierig ab hinten links).

Frau Moebius. Die hat 'ne zahlreiche Bekanntschaft.

Gertrud. Sag ihm – (während sie die Fenster öffnet). Der Mensch vorhin war parfümiert. Es riecht noch alles danach. – Sag ihm, daß Frau Hildebrand jetzt nicht zu sprechen ist.

Frau Moebius (ein Schächtelchen auf den Schreibtisch stellend). Und da ist auch die Medizin. (nimmt die leere Flasche und die Gläser mit.)

Gertrud. Ich werde sie ihr später geben.

Babette (kommt zurück; sensationell). Fräulein, das ist er ja!

Gertrud. Wer? 59

Babette. Er selbst! – Nein, ist das romantisch!

Gertrud. Führ ihn herein, Liese.

(Frau Moebius geht und läßt Hildebrand eintreten. Babette begegnet ihm in der Thür. Er macht ihr eine Verbeugung, die sie erwidert; dann ab.)

Dreizehnter Auftritt.

Gertrud. Hildebrand.

Hildebrand (stattlicher Mann, Ende der Dreißig; in seinem Wesen offen und jovial, mit der unbefangenen Derbheit des Selfmademan. Er ist stark erhitzt und sehr aufgeregt). Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein; Sie sind ja wohl die Vorsteherin dieser Pension?

Gertrud. Das bin ich.

Hildebrand. Und es stimmt wohl auch, daß heute früh eine Frau Hildebrand bei Ihnen eingezogen ist?

Gertrud. Ja, das stimmt. – Mit wem habe ich die Ehre? . . .

Hildebrand. Ich bin . . . ich heiße – Hildebrand. Die Dame, die hier wohnt . . . Herrgott, warum soll ich Ihnen das verschweigen; es ist ja kein Geheimnis – die Dame ist meine Frau. 60

Gertrud. O, das ist . . . Nehmen Sie doch Platz, mein Herr. Die Dame hat sich allerdings zurückgezogen, um ein wenig zu schlummern, und mir anbefohlen . . . Aber sie hat jedenfalls nicht vorausgesehen . . . (Entschlossen.) Ich werde Sie anmelden. (Geht nach links.)

Hildebrand (trocknet sich die Stirn). Nein, thun Sie das nicht! Wenn meine Frau im Schlafe gestört wird . . . nein, bitte, thun Sie das lieber nicht! Aber wenn Sie erlauben wollten, werd' ich hier warten, bis sie aufwacht.

Gertrud. Selbstverständlich.

Hildebrand. Sie sind sehr gütig. – Uebrigens, Ihren Herrn Vater – Herr Karsten ist doch Ihr Vater?

Gertrud. Gewiß.

Hildebrand. Ich kenn' ihn sehr gut. Wir haben uns wiederholt in Vereinen getroffen. In welchen, das wüßt' ich im Moment nicht zu sagen. War's nicht im Verein für Volksbildung?

Gertrud. Das glaub' ich kaum.

Hildebrand. Oder vielleicht im Tierschutzverein – wer kennt sich da noch aus! Ich bin nämlich der richtige Vereinsmeier. Eigentlich lächerlich – wie? 61

Gertrud. Wenn was Gutes dabei herauskommt . . .

Hildebrand. Summa Summarum schon. Aber viel Schererei und Schreiberei. Mir wird immer alles aufgebürdet. Geht's ihm gut, Ihrem Herrn Vater?

Gertrud. O danke! Er ist in seinem Arbeitszimmer. Wenn Sie ihn sprechen wollen . . .

Hildebrand. Sehr liebenswürdig. Aber wer arbeitet, den stört man nicht.

Gertrud. Und es ist Ihnen auch gewiß jetzt lieber, allein zu bleiben.

Hildebrand. Durchaus nicht. Aber ich will Sie um keinen Preis aufhalten . . . . Wenn Sie mir nur noch sagen wollten: Meine Frau, als sie hier ankam – war sie da in sehr aufgeregter Stimmung?

Gertrud. Das habe ich nicht bemerkt.

Hildebrand. Und sie hat Ihnen auch sonst nichts mitgeteilt?

Gertrud. Nichts. 62

Hildebrand. Sie dachten wohl, sie sei Witwe?

Gertrud. Ich habe mir darüber keine Gedanken gemacht.

Hildebrand. Das ist sehr nett von Ihnen. Machen Sie sich auch weiter keine Gedanken. Es hat gar keinen Zweck, sich andrer Leute Köpfe zu zerbrechen. Eine Art von Mißverständnis, wodurch diese schauderhaft fatale Situation . . . oder finden Sie sie komisch?

Gertrud (verlegen). Herr Hildebrand, ich . . .

Hildebrand. Mit mir können Sie ganz offen reden. Wie Sie bemerken, genier' ich mich auch nicht. Sie sehen nicht gerade aus wie jemand, vor dem man auf seiner Hut sein muß.

Gertrud. So jemand bin ich auch nicht.

Hildebrand. Nicht wahr, nein? Also, wenn Sie mir noch ein bißchen Gesellschaft leisten wollen – heißt das, wenn Sie nichts Besseres vorhaben . . .

Gertrud. Ich kann mir die Zeit schon nehmen.

Hildebrand. Ich bin nämlich jetzt ein bißchen zappelig, und da ist es mir eine große Erleichterung, wenn ich reden kann. Zu 63 wissen, daß meine Frau da nebenan liegt und schläft, während ich doch etwas Wichtiges mit ihr zu besprechen hätte. . . . Ueberhaupt, Warten ist schon an und für sich was Schreckliches, und noch dazu auf etwas Unangenehmes. . . . Damit will ich natürlich nicht gesagt haben . . . Aber zum Beispiel beim Zahnarzt, bevor ich an die Reihe komme, da muß ich schwatzen, nur immer schwatzen – ganz einerlei mit wem.

Gertrud (unwillkürlich lachend). Ach so!

Hildebrand. Nein, das war 'ne Dummheit. Nehmen Sie mir's nicht übel! Es ist mir auch gar nicht einerlei . . . . Na, da hab' ich mich schön verheddert!

Gertrud. Das macht nichts.

Hildebrand. Ich wollte eigentlich sagen: Ganz einerlei worüber. Zum Beispiel mit Kindern, da könnt' ich mich stundenlang unterhalten und nicht merken, daß die Zeit vergeht. Leider hab' ich keine eigenen. Sind Sie auch so ein Kindernarr? (Setzt sich auf den Stuhl vor dem Mitteltisch)

Gertrud. Aus Liebe zu den Kindern hab' ich meinen Beruf erwählt.

Hildebrand. Was der Tausend! Sie sind Erzieherin – Lehrerin?

Gertrud. Elementar-. 64

Hildebrand. Denken Sie nur – wie Sie mich da sehen, wollt' ich auch mal Lehrer werden.

Gertrud. Sie? Ach nein!

Hildebrand. Mathematik-Professor – das war auf der Schule mein Ideal. Das dacht' ich mir als Paradies auf Erden. – Aber dann wurde ich ins Geschäft gesteckt . . . na, und jetzt bin ich ganz zufrieden, daß es so gekommen ist. Es hat mir weiter nichts geschadet.

Gertrud. Thätigkeit schadet einem nie etwas, wenn man sie nur ernsthaft betreibt.

Hildebrand. Da sprechen Sie mir aus der Seele. Ich kann mir ja sehr wohl 'ne großartigere Thätigkeit vorstellen oder 'ne anregendere, als ich sie habe. Aber brauche ich sie mir deshalb verekeln zu lassen?

Gertrud. Wer sollte denn . . .

Hildebrand. Nicht wahr, das begreifen Sie nicht? – Soll ich thun, als schämt' ich mich ihrer? Ich und meine Frau und so und so viel andre – wir leben ja davon. Aber das ganz beiseite – ich möchte sie doch nicht entbehren – um keinen Preis. (Springt auf.) Ich könnte reich sein; man könnte mir 65 das Vermögen des Großmogul in die Tasche stecken . . . am andern Morgen säß' ich doch wieder an meinem Pult. Müßiggehen – auch nur einen Tag – ich glaube, da würd' ich rot werden vor jedem Stiefelputzer . . .

Gertrud. Seien Sie froh, daß Sie's nicht zu werden brauchen.

Hildebrand. Da würd' ich verrückt werden – mich aufhängen. Und daher kommt ja auch das ganze Malheur . . . ich will sagen – das ist wie 'ne Krankheit!

Gertrud. Ja, wie einem da zu Mute ist, das kann ich mir auch nicht vorstellen.

Hildebrand. Und Sie haben doch gewiß Ihre Last mit den Göhren.

Gertrud. Ach nein. Viel mehr Freude. Die Kinder sind so dankbar, wenn sie sehen, daß man wirklich ein Herz für sie hat.

Hildebrand. Ja, und wie so was Kleines sich noch freuen kann – (mit einem Blick nach Theklas Thür) nicht wahr, beneidenswert?

Gertrud. Sie möcht' ich mal mitnehmen, wenn ich mit meiner Klasse in den Zoologischen Garten gehe. Da könnten Sie was erleben. 66

Hildebrand. Da wär' ich gleich dabei. Wann ist das wieder? Ich komme mit.

Gertrud (lächelnd). Es wird sich doch nicht gut bewerkstelligen lassen.

Hildebrand. Da könnt' ich in meinen Kreisen Jahrzehnte lang verkehren und käme zu so was nicht. Denn wissen Sie . . .

Gertrud (hat aufgehorcht). Jetzt wurde ein Sessel gerückt. (Geht zu Theklas Thür.)

Hildebrand. Ach so – ja! – Ist sie aufgewacht?

Gertrud (an der Thür lauschend). Sie geht im Zimmer herum.

Hildebrand (ihr folgend, mit gedämpfter Stimme). Na, dann wollen Sie also die Güte haben, ihr zu sagen, ich sei da und möchte sie auf einen Augenblick sprechen.

Gertrud (klopft).

Thekla (von innen). Herein. (Gertrud ab vorn links.)

Hildebrand (spielt nervös mit der auf dem Tischchen links liegenden Zeitung, setzt sich, zieht dann einen Brief hervor und liest darin). Es ist nicht zu glauben – nicht zu glauben. – 67

(Die Thür vorn links wird geöffnet. Man hört Theklas Stimme: »Unter gar keinen Umständen.« Gertrud tritt heraus; hinter ihr wird die Thür hörbar verschlossen).

Hildebrand (ist aufgesprungen und diesem Vorgang mit wachsender Verblüffung gefolgt).

Gertrud (steht ihm verlegen gegenüber. Pause).

Hildebrand (sich endlich fassend). Das ist aber stark.

Gertrud. Ich bedaure, Herr Hildebrand . . .

Hildebrand. Nun, was hat sie denn eigentlich gesagt?

Gertrud. Als ich Ihrer Frau Gemahlin mitteilte, daß Sie hier sind, ließ sie mich gar nicht weiter zu Worte kommen. Ich soll Ihnen ausrichten, sie hätte Ihnen alles ausführlich geschrieben; sie wisse nicht, was sonst noch zu besprechen sei, und sie bitte Sie dringend, mit Rücksicht auf ihre Nerven in der nächsten Zeit ihr weder zu schreiben, noch sie aufzusuchen. Sie könne Sie nicht empfangen – unter gar keinen Umständen.

Hildebrand. Ja, das letzte hab' ich selbst gehört. – Aber ich kann doch ganz unmöglich jetzt einfach wieder fortgehen, ohne ihr wenigstens gesagt zu haben . . . (Er geht an Theklas Thür und klopft.) Thekla – liebe Thekla – nur auf eine Minute . . . Du brauchst gar keine Angst zu haben. Nur ein paar ganz 68 gemütliche Wörtchen – zur gegenseitigen Aufklärung . . . Thekla – hörst du? – (Er lauscht.) Keine Antwort. –

(Pause.)

Gertrud (vorn rechts, mit gedämpfter Stimme, zögernd). Herr Hildebrand – würden Sie mir verzeihen, wenn ich als Frau Ihnen einen Rat geben möchte?

Hildebrand (tritt zu ihr). O, den kann ich jetzt sehr gut brauchen.

Gertrud (lädt ihn ein, mit ihr nach rechts zu kommen). Ich habe den Eindruck: Ihre Frau Gemahlin befindet sich momentan in einer krankhaften Erregung. Solch ein Zustand geht gewiß am schnellsten vorüber, wenn man ihm Zeit läßt. Und da ist es vielleicht das Richtigste – in Ihrem gemeinsamen Interesse . . .

Hildebrand. Wenn ich wieder abziehe. Sie haben vollständig recht. Es ist ja ein bißchen viel verlangt von einem Ehemann . . . Aber – es war vielleicht schon eine große Dummheit, daß ich so spornstreichs hierher gerannt bin – so im ersten Raptus. Freilich, wenn man aus seinem Bureau ganz ahnungslos einen Sprung nach Hause macht und findet solch eine Neuigkeit – einen Brief, worin unter anderm steht: »Ich wohne von heute ab da und da; bitte mir alles nachzusenden« – überraschend, nicht wahr? Aber Sie haben vollständig recht. Nur muß sie wenigstens erfahren . . . Ich kann sie nicht sprechen; ich darf ihr nicht schreiben – da muß ich Sie schon bitten, auch ihr von mir etwas auszurichten. 69

Gertrud. Sehr gerne.

Hildebrand (sieht sie an). Sie thun mir wirklich leid. Werden da auf einmal in eine Geschichte mitverwickelt . . .

Gertrud. Das ist das wenigste.

Hildebrand. Na, ich kann noch Gott danken, daß grade Sie es sind und niemand anders. Seit ich hier eingetreten bin, weiß ich nicht, wovor ich mehr Respekt haben soll – vor dem, was Sie gesagt, oder vor dem, was Sie nicht gesagt haben. Und was ich jetzt genötigt bin, Ihnen anzuvertrauen . . .

Gertrud. Das bleibt unter uns.

Hildebrand (reicht ihr die Hand). Abgemacht. Also – meine Frau soll vor allem versichert sein, daß ich keinerlei Zwang auf sie ausüben werde. Sie kann natürlich jederzeit zu mir zurückkehren – jederzeit. Aber solang sie auf dem Standpunkt steht, daß sie . . . daß sie nicht mit mir leben will, solang soll sie leben, wo und wie es ihr gefällt. Mir ist sie nichts andres schuldig, als was sie sich selber schuldig ist. Na – und unter dieser Voraussetzung wird sie hoffentlich auch bereit sein, sich mündlich mit mir auszusprechen, wenn ich in ein paar Tagen wiederkomme. Das ist schließlich, wenn man seit sieben Jahren verheiratet ist, keine übertriebene Forderung. Was meinen Sie? 70

Gertrud. Nein, gewiß nicht.

Hildebrand. Also, das bestellen Sie ihr, bitte! – Ich bin nun auch schon viel ruhiger. Ich habe im ersten Schreck die Sache viel zu tragisch genommen. Es ist eine neue Laune von ihr, etwas radikaler als die andern. Sie können mir glauben: ich habe mir immer die größte Mühe gegeben, all ihre Wünsche zu erfüllen; aber freilich – desto unerfüllbarer wurden sie. Nun wünscht sie sich die Selbständigkeit; damit wird sie, so Gott will, auch bald fertig sein. Und im übrigen – bei Ihnen und Ihrem Herrn Vater ist sie ja gut aufgehoben. Hier weht eine gesunde Luft; hier weiß man nichts von all dem vertrackten, überspannten Gethue . . .

Gertrud. Ich bekenne Ihnen ehrlich, Herr Hildebrand: hätte ich gleich gewußt, was ich jetzt weiß, so würde ich vielleicht im Zweifel gewesen sein, ob ich Ihre Frau Gemahlin überhaupt bei uns aufnehmen soll . . .

Hildebrand. Kann ich Ihnen nicht verdenken.

Gertrud. Aber jetzt, wo sie einmal bei uns wohnt . . .

Hildebrand. Jetzt müssen Sie durch.

Gertrud . . . Jetzt werd' ich es an nichts fehlen lassen, und vor 71 allem: was in meinen Kräften steht, will ich versuchen, damit ihre Nerven sich beruhigen.

Hildebrand. Ach, wenn Sie das fertig brächten! Wenn Sie ihr so ganz peu à peu den Kopf zurechtsetzen könnten – das wäre ja ein wahrer Segen! Da möcht' ich ihr ja selber raten, alle halb Jahr einmal zu Ihnen durchzugehen! (Es klingelt in Theklas Zimmer.)

Gertrud. Nun hat sie geklingelt.

Hildebrand. Da mach' ich mich aus dem Staube . . .

Vierzehnter Auftritt.

Vorige. Karsten. (Dann) Frau Moebius.

Karsten (noch hinter der Scene). Trude – wo bist du denn? (Tritt von rechts hinten ein, mit einer Zeichnung.) Ach, hier! Ich habe einen kolossalen Einfall . . .

Hildebrand (vortretend). Guten Tag, Herr Karsten.

Karsten. Herr Hildebrand? Das ist ja eine Ueberraschung. Sie kommen gewiß in Vereinsangelegenheiten.

Frau Moebius (kommt gleich darauf herein und geht, von Gertrud bedeutet, zu Theklas Zimmer, wo ihr nach einigem Anklopfen von innen geöffnet wird; ab). 72

Hildebrand. Nein, in Privatangelegenheiten. Ich wollte meine Frau besuchen.

Karsten. Ihre Frau? – –

Hildebrand. Wissen Sie denn noch gar nicht, daß meine Frau jetzt bei Ihnen wohnt?

Karsten. Was ist das? Ihre Frau wohnt bei mir?

Gertrud. Die Dame, die vorhin gemietet hat . . .

Karsten. Aber warum wohnt sie denn nicht bei Ihnen?

Hildebrand. Ja, das frage ich Sie, Herr Karsten. (Sieht auf seine Uhr.) Herrgott, schon halb zwölf. Da muß ich aber schleunigst . . . Nochmals herzlichen Dank, mein Fräulein. In ein paar Tagen also . . . (Zu Karsten.) Sie müssen schon erlauben, daß ich bald wiederkomme.

Gertrud. Hoffentlich werden Sie sich dann nicht abermals umsonst herbemühen.

Hildebrand. So ganz umsonst war es auch diesmal nicht. – Mein Fräulein, Herr Karsten – ich habe die Ehre. (Ab.) 73

Karsten (noch immer ganz starr vor Verwunderung). Aber nun erklär' mir doch . . .

Gertrud (zu Frau Moebius, die aus Theklas Zimmer zurückkommt). Was giebt's?

Frau Moebius. Sie hat sich zu Bett gelegt, und ich mußt' ihr ein Buch reichen – was von Schopenhauer – Sie kennen doch Schopenhauer – und dann will sie noch zwei Kissen und eine andre Bettdecke und dunklere Vorhänge und eine Wärmflasche und was weiß ich! Wer kann das alles behalten!

Gertrud. Nur ruhig Blut, Liese! (Frau Moebius ab.)

Karsten (kopfschüttelnd). Das muß ja eine komplizierte Dame sein. Aber jetzt erklär' mir endlich . . .

Gertrud (herausplatzend). Weißt du, Vater, die kann von Glück sagen. Denn wenn ich der ihr Mann wäre – da könnte sie sich gratulieren! 74


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