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12.

Wenn Dr. Aurelius von einem Wiedersehen mit Frau Harthilt Wunder erhofft hatte, so verwirklichten sie sich. Kaum noch Schmerzen spürte er an der Stelle, wo das aus nächster Nähe einschlagende Geschoß das Fleisch glatt durchstoßen, das Schlüsselbein gestreift hatte, beim Austritt aus dem Körper allerdings eine schwere Wunde über dem Schulterblatt reißend. Dem Urteil der Aerzte nach war der Doktor außer Lebensgefahr. –

Späte Nachmittagssonne erfüllte das Zimmer mit dem Abglanz nahender Frühlingstage. Die Kastanien im Garten des Krankenhauses zeigten bereits braunglänzende dicke Knospen. Warmes Licht breitete sich aus. Der wolkenlos hohe Himmel war klar wie Glas. Und licht, warm und voll des Abglanzes einer unerhört schönen Hoffnung war es auch in der Seele des Doktors. –

Eine Krankenschwester kam und erneuerte den Verband, um den wunden Mann für die Nacht vorzubereiten. Sie tat das geschickt und schnell. Als sie ihr Werk vollendet und sich überzeugt hatte, der Temperaturanstieg, den jeder nahende Abend brachte, sei nur gering, meldete sie den Besuch.

»Frau Beverstorff und Untersuchungsrichter Winterfeld«, sagte sie. »Ich habe den Herrschaften auf die Seele gebunden, nicht zu lange zu bleiben und Sie nicht zu vielem Reden zu veranlassen.«

»Seien Sie unbesorgt, Schwester«, versprach Aurelius. »Ich werde mir alle Zurückhaltung auferlegen. Frau Beverstorff spricht ohnehin nicht viel, und so trägt der gern gesprächige Winterfeld allein die Kosten der Unterhaltung.«

Winterfeld besaß einen prächtigen Herzenstakt. Er tat, als sei ihm sehr wichtig, von der Krankenschwester einen Bericht über den Gesundheitszustand des Verwundeten zu hören; er verwickelte die Pflegerin in ein Gespräch vor der Tür und ließ dem neuen Freund Gelegenheit, von Frau Harthilt allein begrüßt zu werden.

Erst als er das Zimmer betrat, lösten sich die Hände der beiden voneinander. Die Begrüßung scheint ziemlich ausgiebig gewesen zu sein, dachte Winterfeld vergnügt. Er gab dem Doktor die Rechte, trug dann zwei Stühle herbei. Mit stillem Behagen sah er zu, wie Frau Harthilt an den Rückenkissen in dem Lehnstuhl richtete und wie sie die Decke sorglicher über die Knie des Kranken breitete.

Die Unterhaltung kam schwer in Fluß. Keiner von den dreien wußte, womit beginnen. Aurelius fühlte das Glück der Nähe der geliebten Frau, und seine Lider senkten sich, als schlösse er sich gegen die Außenwelt ab, um allein zu sein mit dem Gedanken: Sie ist bei dir.

Nach ein paar Sekunden der Stille meinte der Untersuchungsrichter: »Tja – da sitzt man nun, und alles Schöne, das man zu sagen sich vorgenommen hatte, ist wie zerstoben. Gnädige Frau, Sie haben das Wort.«

Frau Harthilt beschwichtigte lächelnd: »Es war Goethe, der behauptete, das Beste werde nicht durch Worte deutlich. Unser Kranker wird sich gern zufrieden geben, wenn wir ihn nicht mit leeren Reden langweilen.«

»Ich bin zufrieden, daß Sie überhaupt da sind«, erklärte Aurelius.

Winterfelds seltsames Gesicht nahm die Miene heiteren Verschmitztseins an, als er sich dem Ausspruch Frau Harthilts anschloß: »Goethe hat auch behauptet, etwas Denken sei dem Menschen immer nütze. So will ich denken, lieber Doktor, daß Sie mit dem großgeschriebenen Sie nicht mich meinten.«

Frau Harthilt errötete. Aber sie scheute sich nicht, für einen Pulsschlag lang ihre Hand auf die des Doktors zu legen.

»Ich bin heute nachmittag eigentlich zu einem bestimmten Zweck mitgekommen«, hub der Untersuchungsrichter an. »Die Krankenschwester verbot uns, Sie aufzuregen. Also möchte ich erst von Ihnen, lieber Freund, hören, ob ich von dem Stande meiner Untersuchungen reden darf. Lehnen Sie es ruhig ab! Ich nehme dann ebenso gern durch schweigende Beredsamkeit teil an dem beredsamen Schweigen zweier Menschen, die sich laut der Behauptung des großen Olympiers das Beste wortlos zu sagen vermögen.«

»Sie sind sehr ungezogen«, tadelte Frau Harthilt den lachenden Winterfeld, obgleich ihr ruhiger Blick den Kranken zärtlich streifte.

Dr. Aurelius sagte: »Sie wissen, wie sehr mich die Gedanken beschäftigen, was für Geheimnisse den Beverstorffschen Kriminalfall umgeben. Erzählen Sie nur! Es wird meine Grübeleien zur Ruhe bringen.«

Zufrieden begann der Richter: »Da will ich zunächst sagen, daß die Schulze bei den Verhören genau die gleichen Schachzüge durchführt wie vorher unsere Freundin. Sie bekennt nicht, leugnet nicht und bleibt kühl bis ans Herz hinan. Dieser weiblichen Taktik gegenüber versagt man einfach.«

»Mein Verhalten entsprach keineswegs einer besonderen, mir selbst geltenden Taktik«, widerlegte Frau Harthilt. »Hören Sie mein Bekenntnis! Ich wußte den Sohn meiner teuersten Freundin in Gefahr und wollte ihm möglichst lange Gelegenheit verschaffen, sich auf eine Rechtfertigung vorzubereiten. Ich war von seiner Schuldlosigkeit überzeugt, hatte jedoch Grund zu der Annahme, er werde über kurz oder lang in den Verdacht der Täterschaft geraten. Heute darf ich durch dies Bekenntnis meine Karten aufdecken, denn heute wissen wir, wer die Tat verübt hat.«

Dr. Aurelius warf ein: »Ich habe Ihre Aufopferung geahnt, Frau Harthilt. Das wurde der erste Antrieb, mich Ihrer anzunehmen.«

»Dann möchte ich eines wissen«, brachte Winterfeld zur Sprache. »Ihr Alibibeweis scheiterte, gnädige Frau. Warum nahmen Sie die furchtbare Gefahr auf sich, dadurch ein Opfer Ihrer Schweigsamkeit zu werden? Warum verweigerten Sie die Auskunft, wo Sie in der verhängnisvollen Nacht gewesen sind?«

»Einfach aus Feigheit!« erklärte Frau Harthilt mit drei knappen Worten überraschend klar.

Winterfeld zögerte kurz, bevor er sich erkundigte: »Ist es sehr zudringlich, wenn man Sie heute fragt, was Sie zu verschweigen hatten?« Er wandte sich an Aurelius: »Bitte, Doktor, unterstützen Sie diese Frage!«

Ehe der Doktor Widerspruch erheben konnte, sagte die immer ruhevoll überlegene Frau: »Ich schämte mich, einzugestehen, daß ich mich durch meine letzte Unterredung mit Beverstorff in den verzweifelten Gedanken hineintreiben ließ, es wäre das beste, vor mir selbst die Flucht zu ergreifen. Ich war zu feige, zu bekennen, daß ich den Mut zu dieser Flucht im entscheidenden Augenblick verlor.«

Unbarmherzig fragte Winterfeld weiter: »Sie sprechen doch von Selbstmordabsichten?«

»Ich war lebensmüde. Ein Mann, fünfundzwanzig Jahre älter als ich, in seiner Lebenskraft wie in seinem brutalen Willen gleich zähe – ein Mann, dem ich auch nicht das leiseste Vertrauen jemals entgegengebracht – ein Mann, der meinen Vater durch finanzielle Bedrohungen einschüchterte, damit er mich ihm zum Weibe gab – dieser Mann hatte mich, die zu lieben sich sehnte, das Hassen gelehrt. Das Leben eines gemarterten Tieres, dem man vorsichtig eine Wunde nach der anderen beibringt, um es an ein langsames Sterben zu gewöhnen – was konnte mir solch ein Leben noch wert sein? Ich irrte eine Nacht lang draußen umher. Als es tagen wollte, kehrte ich heim. Den Mut zum Freitod hatte ich nicht gefunden. Eine ganz unbeschreibliche, seltsame, dunkle Ahnung sagte mir ohne Unterlaß, ich solle es nicht tun. Wenige Stunden später erfuhr ich, daß Beverstorff ermordet war. Ich nenne es: gerichtet!«

Frau Harthilt schwieg. Aurelius griff nach ihrer Hand und hielt die zitternden Finger fest.

Winterfeld saß mit gesenkter Stirn da. Sein Gesicht drückte Mitleid aus. Doch schien noch irgendein anderer Gedanke ihn zu beschäftigen.

Plötzlich sagte Frau Harthilt in die Stille hinein: »Auf das einfachste erklärt sich Ihnen nun mein Schweigen über die Tatsache, daß ich in der Mordnacht außer Hause war. Ich schämte mich in meinem Stolz, die feige Absicht einzugestehen. Und sagen Sie selbst, meine Herren, hätten Sie beide mir, der Tatverdächtigen, diese Erläuterung früher geglaubt? Bestimmt nicht! Was ich zu befürchten hatte, war der Vorwurf plumper Lüge.«

Langsam hub der Untersuchungsrichter an: »Als der Tat verdächtig trat an Ihre Stelle eine andere Frau. Sie leugnet nicht eine Sekunde, auf unseren armen Freund geschossen zu haben. Aber sie schweigt über den Anlaß. Was sie hingegen mit aller Kraft wütender Selbstverteidigung bestreitet, das ist der ihr zur Last gelegte Mord an Beverstorff.«

Dr. Aurelius erinnerte: »Und die Blätter, auf die der Gatte dieser Frau die klare Anklage niederschrieb? Die wären also eine ungeheuerliche, abgefeimte Erfindung jenes Mädchens in Hamburg?«

Winterfeld widerlegte: »Die Frau gibt zu, daß diese Blätter wirklich vorhanden gewesen sind. Sie selbst hat sie gelesen und dann verbrannt. Doch sie behauptet, Sylvia Rickstetten habe ein vollkommen bedeutungsloses Gekritzel des kranken Mannes mißverstanden. Der Arzt habe ihm angeraten gehabt, er solle seinen Geist üben und sein Denkvermögen durch Schreibarbeit zu fördern suchen.«

»Zu durchsichtige Ausrede, als daß sie auch nur den leisesten Schein des Wahrhaftigen für sich hätte«, urteilte der Doktor.

»Doch nicht«, sagte Winterfeld ruhig. »Ich habe den Arzt vernommen. Er bestätigt diese Aussage der Schulze.«

Schroff hielt der Doktor dem entgegen: »Wenn Sylvia Rickstetten ihre Bekundung auf den Eid nimmt, dann ist die Frau verloren.«

»Nicht mit meinem Willen!« brauste der Untersuchungsrichter auf. »Wenigstens nicht, soweit der Fall Beverstorff zur Erörterung steht.«

Aurelius staunte: »Ich verstehe Sie nicht.«

»Sie haben eine an sich richtige Spur verfolgt«, belehrte Winterfeld. »Richtig jedoch nur, soweit Sie feststellen wollten, zwischen der Alma Schulze und dem Ermordeten habe eine Verbindung bestanden. Beverstorff versorgte die Frau mit Geld. Das war in gewissem Sinne nichts weiter als eine menschliche Pflicht. Ich werde nachher sagen, weshalb. Richtig ist: er fing in letzter Zeit an, diese Pflicht zu bestreiten. Er beschnitt die dem Gatten verheimlichten Nebeneinnahmen der Schulze. Das führte zu erregten Auftritten zwischen den beiden. Der letzte derartige Auftritt fand statt in der Mordnacht.«

»Also doch!« schaltete Aurelius ein.

»Warten Sie doch«, wehrte Winterfeld. »Die Frau hatte sich einen Nachschlüssel zur Wohnung verschafft. Das war nicht schwer für sie, entsprechend der Tatsache, daß sie, wenn auch nur bei Tageslicht, öfter den Mann aufsuchte. Zum erstenmal bei Dunkelheit betrat sie die Wohnung am Abend des Mordes. Warum? Weil Beverstorff den üblichen Zusammenkünften ausgewichen war. Sie begab sich in das ihr bekannte Arbeitszimmer. Als sie ihn kommen hörte, wurde sie gewahr, er habe einen Besucher bei sich. Beverstorff betrat das Arbeitszimmer für ein paar Sekunden, legte im Dunkeln die Oberkleider ab und ging hinaus, ohne die Anwesende bemerkt zu haben. Bald darauf vernahm sie einen heftigen Wortwechsel zwischen dem Mann und seinem späten Gast. Dann plötzlich war es still. Sie wagte sich aus dem Arbeitszimmer hervor und ging in das Schlafzimmer hinüber. Hier fand sie –«

»Den Ermordeten natürlich!« spottete der Doktor. »Und diesem Lügengewebe wollen Sie Glauben schenken?«

Ohne sich beirren zu lassen, erzählte Winterfeld weiter: »Sie fand Beverstorff damit beschäftigt, das Bluten einer harmlosen Schnittwunde in seiner Handfläche zu stillen, indem er einen Zipfel seiner Schlafjacke darauf preßte. Er war zornig durch seinen Streit mit dem Besucher, war gereizt. dieser Stimmung – und wahrscheinlich noch obendrein aufgebracht durch das nächtliche Eindringen der Schulze – verweigerte er für fernerhin jede Geldhergabe. Nach einer heftigen Auseinandersetzung verließ die Frau das Haus.«

»Ein reizendes Märchen!« rief Aurelius ungehalten, »denn bis ein anderer Mensch die Güte hatte, ihn umzubringen, behielt Beverstorff brav die seiner Widersacherin ausgerissenen Haare in der Hand. Ausgerissen bei einer Rauferei, während der die erfindungsreiche Dame eine Puderquaste aus ihrer Handtasche und eine Spange aus ihren Haaren verlor. Und am Morgen bemühte sie sich zu einem Friseur und ließ sich zu aller Fürsorge die Haare abschneiden, damit niemand auf die Vermutung käme, die langen Haare in der Hand des Ermordeten stammten von demselben Weiberkopf, der jetzt kurze Haare hatte. Ich aber, lieber Winterfeld, ich habe den abgeschnittenen Zopf und die Haare aus der Faust Beverstorffs verglichen.«

»Ich gebe zu, die Zusammenhänge sind unheimlich«, sprach der Untersuchungsrichter gelassen. »Die Schulze ist denn auch von hier an überaus zurückhaltend in ihren Aussagen. Man müßte annehmen, der späte Gast sei noch einmal zurückgekehrt, habe den Streit fortgesetzt und im Verlauf der wiederholten Zwistigkeiten den tödlichen Stoß geführt.«

»Und wie kam der Zurückkehrende ins Haus? Wie kam er in die Wohnung? Etwa durch ein: Sesam, öffne dich?«

»Berechtigter Spott«, meinte Winterfeld mit einem müden Lächeln. »Ins Haus kam er, weil der Flurschlüssel die Eigentümlichkeit hatte, auch das Schloß der Haustür zu erschließen. Ein Umstand, von dem die Schulze durch Beverstorff selbst Kenntnis hatte.«

»Das hat natürlich auch der sogenannte Täter gewußt«, höhnte der Doktor.

»Nein. Ich erwähne das nur nebenbei. Diesen Schlüssel vermißt die Schulze. Ob sie ihn verlor und wo sie ihn verloren haben könnte, das weiß sie nicht. Sie erinnert sich, ihn von außen ins Schloß der Haustür gesteckt und zugeschlossen zu haben. Sie erinnert sich aber nicht, ob sie den Schlüssel auch abzog. War das nicht der Fall, so gelangte der Täter leicht ins Haus. Dann müßte Beverstorff selbst die Flurtür geöffnet haben.«

Ein Pochen an der Tür unterbrach das lebhafte Gespräch. Die Pflegerin kam und bestand darauf, der Kranke müsse nun unbedingt allein gelassen werden. Frau Harthilt nahm stillen Abschied.

Als Winterfeld dem Verwundeten die Hand reichte, fragte Aurelius: »Sie scheinen an die Schuldlosigkeit der Schulze zu glauben?«

In tiefem Ernst antwortete der Untersuchungsrichter: »Es wäre zu schrecklich, wenn die Frau die Täterin wäre. Es hätte dann nämlich die Tochter den Vater ums Leben gebracht.«

*

Am Rande eines Kiefernwäldchens blieb Sylvia stehen. Ihr feines Gesicht war gerötet von der Wanderung, die sie mit Viktor weit elbabwärts geführt hatte von Blankenese aus. Hier war das Elbufer hoch gelegen und bot einen wundervollen Blick auf den Fluß.

»Wir wollen rasten und dann umkehren«, schlug das Mädchen vor.

Sie suchte einen bequemen Platz aus, eine kleine Sandkule, auf deren, von noch dürrem Heidekraut bewachsenem Rande man sitzen konnte, so daß die Füße einen Stützpunkt fanden auf dem Boden der Vertiefung.

Traurig sagte Sylvia: »An dieser Stelle werde ich sitzen, wenn Sie mit der Brigg von Kapitän Alvens zur ersten Reise aussegeln.«

»Wäre es nur schon so weit!« sehnte sich Viktor, das Bild des von Schiffen aller Art belebten Stromes in sich aufnehmend. Plötzlich sagte er: »Sie zeigen so große Anteilnahme an meinem Geschick, Sylvia. Ihre Stimme tröstete mich, als sie auf einem Weg, den ein Wunder unserer Zeit überbrückte, durch das Nichts zu meinem Ohr drang. Des getreuen Glaubens an meine Schuldlosigkeit haben Sie mich versichert, ohne zu fragen, ob ich nicht doch der Mensch bin, der eines anderen Menschen Blut vergoß. Wodurch verdiente ich mir so starke Freundschaft?«

In den sanften Augen Sylvias spiegelte sich der Himmel des klaren Lenztages, als sie erklärte: »Ich kann Ihre Frage nicht beantworten. Einfach deshalb nicht, weil ich keine Antwort weiß. Es ist ein Gefühl in mir, dem ich beglückten Herzens nachgebe. Das überkam mich schon in jener Nacht, als ich mit zitternden Händen die Blutspuren von Ihrem Mantel wusch. Mich trieb etwas: Du mußt sie unsichtbar machen, sonst ist er verloren! Seltsam genug; denn erst nachdem brüllte der Lautsprecher die Kunde von einem Mord in den engen Kneipraum, und erst am anderen Tage erfuhr ich von dem zweiten Mord, der in der nächsten Straße verübt worden war.«

»Wollen Sie hören, was die Blutspuren zu bedeuten hatten?« fragte Viktor.

Statt eines bejahenden Wortes legte Sylvia zutraulich den Arm um die Schultern des Gefährten. Sie saß still und lauschte mit dem gläubigen Gesicht eines jungen Weibes, das liebt.

»Ich hatte mein Herz an eine sehr unglückliche Frau gehängt«, erzählte Viktor. »Es gab jedoch keinen Weg zu ihr, denn sie war nicht frei. Sie lächelte über meine heiße Zuneigung. Ich aber meinte, sie behandle mich als einen Knaben, nur weil ihr Unglück ihr verbot, meinen Beteuerungen Gehör zu schenken.«

»Die Frau war also viel älter als Sie«, folgerte Sylvia. »Kamen Sie denn nicht auf den Gedanken, die Frau behandle Sie nicht bloß als einen Knaben, sondern sie sehe in Ihnen wirklich nur einen für sie viel zu jungen Menschen?«

Viktor gestand: »Das war der Gedanke, der mich zur Verzweiflung trieb. Mein Vater behauptet, ich sei ein Phantast. Vielleicht hat er recht; denn es wuchs in meiner Phantasie der Wille empor, der Frau meiner ersten wilden Liebe zu beweisen, ich sei mehr als ein Knabe: ein Mann und ein Held. Ich gebe zu, daß ich nach vielen Ueberlegungen friedlicher Art auf den Gedanken an einen Mord verfiel; an einen so listig durchzuführenden Mord, daß keine Seele auch nur je in mir den Täter vermuten sollte.«

»Wie entsetzlich!« murmelte Sylvia und zog den Arm zurück, scheu wie ein Kind, das vor einer eben noch freundlichen Erscheinung urplötzlich ein Fürchten fühlt.

Ohne auf des Mädchens Erschrecken zu achten, sprach Viktor weiter: »Beverstorff war als ein habgieriger Finanzmann bekannt. Um in den Besitz eines geldbringenden Geheimnisses der Fabrik meines Vaters zu gelangen, würde ihm kein Preis zu hoch gewesen sein, einerlei, ob es um ein materielles oder ideelles Opfer ginge. Das durfte ich bei meinem Mordplan voraussetzen, wollte ich mit dem Manne zu einer vollkommen geheimen Verbindung kommen. Diese Verbindung mußte ja so verborgen bleiben, daß nach dem Mord niemals der Verdacht aus mich fallen konnte.«

»Sie knüpften diese Verbindung?« forschte Sylvia. »Wie gefährlich! Ein habgieriger Mensch wird immer zum schurkischen Verräter, sobald er das Geheimnis besitzt, für das er bezahlen soll.«

»Auch das hatte ich bedacht«, erwähnte Viktor. »Ich schrieb daher: nicht um Geld wollte eine bestimmte Persönlichkeit ihm das finanziell aussichtsreiche Projekt einer Firma verraten; er brauche mit nichts weiter zu bezahlen als mit einem schriftlichen Versprechen, dessen Erfüllung ihm eine Kleinigkeit sein werde. Ich machte den Vorschlag zu einer heimlichen Zusammenkunft an einem abgelegenen Ort. Dort wollte ich ihn töten.«

»Und was geschah?« drängte das Mädchen.

»Er kam – und er sah in der Dunkelheit einen Menschen mit vermummtem Gesicht vor sich. Sein erstes Wort war Hohn. Er sagte: ›Wenn man sich postlagernde Briefe schreiben läßt, um ein Geheimnis seines Vaters zu verkaufen, muß man mindestens so schlau sein, die Briefe nicht selbst abzuholen, Herr Viktor Felsing.‹«

»Er hatte Sie also auf der Post beobachten lassen«, folgerte Sylvia.

»Er war selbst dagewesen. Die Erkenntnis, ich sei entdeckt noch vor der Tat, wirkte so niederschmetternd, daß ich meine Absicht nicht auszuführen wagte. Es bestand ja doch die Wahrscheinlichkeit, daß er über unseren Briefwechsel ebenso wie über unsere beabsichtigte Zusammenkunft zu jemandem gesprochen hatte. Nun wollte er den Preis von meinem Geheimnis wissen. Ich sagte: ›Nichts weiter als die Erlösung Ihrer Frau von der vor Jahren geschlossenen verhängnisvollen Ehe!‹ Er besann sich eine Weile und meinte endlich, das sei billig; aber so wie ich, bestünde auch er auf schriftlichen Abmachungen.«

»Er wollte also den Preis bezahlen – die Freigabe seiner Frau«, meinte Sylvia.

Mit einem Kopfschütteln widerlegte Viktor: »Ich mußte bald zu anderer Ueberzeugung gelangen. Was sich bewahrheitet hat, das erkannte ich zu spät: er würde mir mein Geheimnis entlocken, würde mich kraft meines Verrates in seiner Macht haben, ohne durch den Verzicht auf die Frau zu zahlen. Befand ich mich denn nicht überhaupt schon in seiner Macht? Er brauchte meinem Vater ja nur von unserem Briefwechsel zu erzählen, brauchte nur zwei Worte zu sagen von dem, was zwischen uns verhandelt worden war. Ich fürchtete meinen Vater, denn er war streng zu mir, eben weil er in mir einen Narrenhäusler sah, der niemals zu etwas nütze sein werde.«

Zärtlich tröstend glitt die weiche Hand des Mädchens über des Gefährten Arm.

Dann erzählte Viktor weiter: »Mein nächstes Zusammentreffen mit Beverstorff fand in einer abgelegenen Waldschenke statt. Hier gab ich das Fabrikgeheimnis meines Vaters preis.«

»Um Gottes willen, was haben Sie getan! Haben Sie denn nicht bedacht, daß Sie dadurch zum Verbrecher wurden!«

»Das wurde ich allerdings, denn als ich mich zum Verräter erniedrigt hatte –«

Sylvia unterbrach: »Sie taten es einer Frau zuliebe.«

»Ich danke Ihnen für dies schöne Wort, Sylvia. Auch ich selbst beschönige damit seit den letzten Tagen und nach furchtbarer Seelenpein das, was geschehen ist. Doch hören Sie weiter! Als der Mann genug wußte, äußerte er: selbstverständlich könne er sich in schriftliche Vereinbarungen über solche Geschichten nicht einlassen; ich müßte mich eben mit seinem Versprechen begnügen. Tage vergingen. Für mich waren sie Foltern meiner Seele und meines Körpers. Jede Stunde fürchtete ich, mein Vater werde mir den Vorwurf ›Verräter!‹ ins Gesicht schleudern. Ich zitterte, wenn er mich einmal zu sich rufen ließ. Als nichts dergleichen geschah, wurde ich ruhiger. Es war die Ruhe des zum Aeußersten entschlossenen Verzweifelten.«

»Sie erfuhren, Beverstorff werde seine Frau nicht freigeben«, murmelte Sylvia.

»Sie selbst sagte mir das (ahnungslos, was für ein schmachvolles Opfer ich schon gewagt hatte, ihr die Freiheit zu erkaufen), nicht ahnend, daß die Stunde der Befreiung ihr durch Mörderhand bereitet werden sollte.« –

Sylvia richtete sich stracks empor und rief: »Sie haben es also doch getan! Dann, Viktor, habe ich eine schuldlose Frau ins Verderben gestürzt.«

Erstaunt fragte er: »Wie ist das zu verstehen?«

Sylvia berichtete weinend von den Blättern des Kranken, aus denen sie eine Anklage gegen Frau Alma lesen zu müssen glaubte. Lange Minuten vergingen. Dann brachte Viktor vor:

»Hören Sie erst, was in der Mordnacht geschehen ist. Vorausschicken muß ich: statt sein Versprechen zu halten, sandte der schuftige Mensch mir Geld. Das Geld brachte ich durch in meiner ersten Betäubung. Dann lieh ich mir anderwärts die gleiche Summe und trug dies Geld zu Beverstorff. Hohnvoll wies er mich ab. Und wie ein Teufel triumphierte er: nachdem ich ihm einmal ein Geheimnis unserer Fabrik verraten hätte, wisse er mich zu zwingen, ihm noch weitere ähnliche Dienste zu leisten. Außer mir vor Entsetzen, schrie ich ihm zu, ich würde mich lieber vor seinen Augen töten, denn wann immer mir die Flammenschrift zu Gesicht käme, werde sie mich an meinen nutzlos verübten Verrat mahnen; nie würde ich die lodernden Buchstaben über den Dächern anders sehen können als mit dem Gedanken, daß sie meine heimliche Schande an den Himmel schrieben.«

Ihr Antlitz in den Händen verbergend, schluchzte Sylvia: »Sie Aermster aller Armen!«

»Ja, das bin ich, Sylvia. Und daß ich es war, das wurde mir klar, als Beverstorff seinen Worten hinzufügte: nicht nur ich sei in seiner Hand, nein, weit mehr noch seine Frau. Es sei ihm klar, nur sie allein könne mich unreifen Menschen angestiftet haben, auf diesem Wege ihr die Freiheit zu erkaufen. Und wenn sie je zu büßen hätte, daß sie ihn jahrelang vergeblich um Liebe betteln ließ, so solle das jetzt sein. Mit Grauen entdeckte ich, wie ich nicht nur mich, sondern auch noch eine Schuldlose einem Satan ausgeliefert hatte.«

»Ich verstehe Sie«, rief Sylvia. »Oh, wie ich Sie verstehe! Rasch, sagen Sie, wie Sie diesen Menschen niederstießen!«

»Um Gottes willen, Sylvia!« wehrte er in höchstem Entsetzen. »Das geschah doch nicht. Ich denke, Sie sind überzeugt, daß nicht ich der Mörder Beverstorffs bin?«

»Nicht – nicht?« jubelte das Mädchen auf, und dann umklammerte sie ihn, als sei er ein vom Tode Auferstandener.

Viktor setzte seine Erzählung fort: »Wohl hatte ich eine Waffe bei mir, die Beverstorff zugedacht war – einen indischen Dolch aus der Sammlung meines Vaters. Aber ich zückte die Waffe gegen mich selbst. Er wollte mich hindern und fiel mir in den Arm. Im nächsten Augenblick sah ich Blut an seiner Hand. Er schrie auf und wich in eine Ecke des Zimmers zurück, erschrocken vor seinem eigenen Lebenssaft. Mit entsetzten Augen starrte er mich an und winselte: Tun Sie mir nichts – tun Sie mir nichts! Was dann vorging, weiß ich nicht mehr. Ich glaube, aus der furchtbaren Aufregung gelangte ich beim Anblick des wimmernden Schurken zu eisiger Ueberlegung. Doch das alles war wie in einem Traumzustand. Gesagt zu haben meine ich, ich würde heimgehen und meinem Vater bekennen. Auf den Tisch nahe dem Bett hatte er beim Betreten des Zimmers einen Schlüssel gelegt. Ich hatte mich nicht getäuscht, als ich annahm, es sei der Hausschlüssel. So gelangte ich auf die Straße.«

»Und wir lernten einander kennen«, erinnerte Sylvia glückselig.

»Es ist nicht mehr viel zu sagen«, trug er nach. »Wie aus einem wochenlangen Fieberwahn erwacht, war meine Vernunft klar gleich dem Himmel nach einem Unwetter. Ich entdeckte die Blutflecke auf meinem Mantel, wollte vermeiden, daß sie gesehen würden, wenn ich nach Hause kam. Mit der Absicht, mir zur Beseitigung Essig für mein Taschentuch zu erbitten, betrat ich die Weinstube. Das andere wissen Sie. Erlöst war ich, als ich am Nachmittag darauf erfuhr, Beverstorff sei ermordet worden. Eine andere Hand hatte ihn zum Schweigen gebracht. Die Frau, die ich liebte, war frei

»Aber weshalb flüchteten Sie dann?« wollte Sylvia wissen.

»Als Frau Beverstorff festgenommen wurde, war ich im ersten Schrecken überzeugt, sie sei die Täterin. Ich fürchtete, ebenfalls verhört zu werden und die Gründe meiner Beziehungen zu Beverstorff, den Verrat, eingestehen zu müssen. Konnte man mich nicht gesehen haben, als ich am Abend vor dem Verbrechen das Haus mit Beverstorff betrat? Und daß es einen Zeugen hierfür wirklich gab, das erfuhr ich später von einem Seemann, der selbst dieser Zeuge war. Es ist mir heute noch unbegreiflich, daß niemand etwas erfuhr von dem jungen Menschen, der sich in der Mordnacht in der Nähe des Mordhauses mit blutbeschmutztem Mantel sehen ließ.«

»Hierüber können Sie außer Sorge sein«, versicherte das junge Mädchen. »Zwar erfuhr man von dem Manne, aber ich lieferte der Polizei eine Beschreibung, hinter der niemand Sie vermuten konnte.«

»Und was die Polizei durch den Rundfunk verbreiten ließ?« fragte Viktor verwundert.

»Sie erzählten mir, Sie hätten die Beschreibung nicht zu Ende gehört. Die Nachricht wurde nicht von der Behörde veranlaßt, sondern durch einen Freund Ihres Vaters.«

»Dann stünde also meiner Heimkehr gar nichts im Wege?«

Sylvia senkte ihr Antlitz.

»Nichts«, flüsterte sie. »Und dann werden Sie die Frau wiedersehen, der Sie so viel opferten.«

»Das wird nicht geschehen«, versprach er tröstend. Er hatte den tiefen Schmerz in den Worten der Freundin vernommen und küßte sie zum ersten Male. Dann sprach er weiter. »Kapitän Alvens und ich sind uns einig, daß ich die Fahrt auf der Brigg mitmache. Mein Vater sandte mir alle Papiere. Doch ohne ein Wort der Verzeihung, ohne eine Silbe des Trostes, ohne die Aufforderung zu späterer Heimkehr. Ich werde sehr einsam sein, Sylvia.«

»Haben Sie nicht mich?« erinnerte das junge Geschöpf und erwiderte den Kuß.

*

Die Uhr in der kleinen Amtsstube vertönte den letzten Schlag der zehnten Stunde. Der Wachtmeister hatte sinnend dem Klingen der Glocke des Uhrgehäuses zugehört und griff jetzt wieder nach der Zeitung. Da zerriß das schrille Schwirren des elektrischen Läutewerkes die Stille. Im Melder fiel mit hörbarem Klick das Nummernscheibchen vor die Oeffnung.

»Der Untersuchungsrichter ...?« brummte der Beamte verwundert. »So spät noch ...?«

Er knöpfte den Uniformrock zu, setzte die Dienstmütze auf und schritt den langen Gang entlang nach dem Arbeitszimmer Winterfelds. Der Richter befahl, die Untersuchungsgefangene Alma Schulze vorzuführen.

Zehn Minuten später stand die hübsche Blondine vor ihm. Ihr Gesicht war ruhig und unbewegt, doch die Augen zeigten einen müden Ausdruck, und der vormals frische Mund hatte jede Farbe verloren.

So mild wie möglich begann Winterfeld: »Ich habe Sie rufen lassen, nicht um ein Nachtverhör vorzunehmen. Ich will nur etwas mit Ihnen besprechen. Es wird Ihnen nicht entgangen sein, daß ich – soweit wir über den Fall Beverstorff zu reden hatten – ein gewisses Wohlwollen nicht verleugnete.«

»Ich habe es gefühlt und war dankbar«, sagte Alma schlicht.

Winterfeld sprach weiter: »Nach allem, was ich über Sie erfuhr, muß man Sie eine mutige Frau nennen. So haben Sie in der letzten Zeit auch Schicksalsschläge ertragen, ohne sich beugen zu lassen durch ihre Wucht. Ich rechne zu den Schicksalsschlägen auch Ihr Attentat auf den Doktor Aurelius. Habe ich recht?«

Ein paar Pulsschläge lang zögerte die junge Frau. Ihr Antlitz erstarrte zu einer bleichen Maske. In den Flügeln der fein geschnittenen Nase zitterte ein kaum merkliches Beben. Dann schlug Alma die Augen auf und sah den Richter groß und ehrlich an.

»Sie haben ganz recht«, gab sie zurück. »Ein Schicksalsschlag auch meine Tat. Ich danke Ihnen für das Wort, denn es tröstet mich über die Niederträchtigkeit, mit der ich den Ueberfall ausführte.«

»Wollen Sie mir die Gründe für den tätlichen Angriff erklären?«

»Nein – ich muß sie verschweigen. Und ich werde sie verschweigen, solange noch ein Tropfen Blutes in mir ist.«

»Auch dann, wenn ich Ihnen freimütig zubillige, Sie hätten keineswegs aus unedlen Beweggründen gehandelt?«

»Selbst dann«, scholl es in schroffer Abwehr.

Der Richter ließ nicht nach: »Und auch, wenn ich Ihnen sage, das Verschweigen habe nicht mehr den geringsten Zweck?«

»Unmöglich. Sie wollen mich nur fangen.«

»Dann lesen Sie das hier«, murmelte Winterfeld.

Er nahm vom Tische ein Blatt auf, das mit ungelenken, mühsam gemalten Schriftzeichen bedeckt war. Die wenigen Worte füllten den ganzen Bogen.

Die bleiche Frau las: »Gesteh alles, Alma! Ich. Habe Dich liebgehabt. Du auch mich. Ich danke Dir.«

Das Blatt flatterte zu Boden.

Dann stieß Alma hervor: »Mein Mann schrieb das – woher haben Sie es?«

»Man fand es in den späten Abendstunden auf dem Bett des Toten.«

Eine Weile war es so still, daß eines des anderen Atemzüge hören konnte. Dann wollte Winterfeld die taumelnde Frau auffangen. Sie wehrte ihn ab, straffte sich und fand selbst den Weg zu einem Stuhl.

Von dort aus sagte sie: »Er ist freiwillig gestorben – armer, armer Friede! Was hat er sich angetan?«

Winterfeld war innerlich erstaunt, daß die traurige Botschaft keinen tieferen Eindruck auf die junge Frau machte. Fast bereute er sein Kommen.

»Seit er Sie in Untersuchungshaft wußte, schlief er nicht mehr«, berichtete er kühl. »Man gab ihm ein Schlafmittel. Zu einer Zeit, in der die Pflegerin ihn allein ließ, nahm er den ganzen Vorrat zu sich. Die Hülle mit den Pulvern stand auf dem Nachttischchen. Niemand konnte ahnen, der geistig und körperlich halb gelähmte Mann besäße Kraft und Bewegungswillen genug, um den Selbstmord auszuführen.«

Nun erst sank Alma zusammen. Sie stützte mit beiden Händen den Kopf und ließ den Tränen freien Lauf. Qualvolles Schluchzen schüttelte ihren Körper.

Als sie sich nach einigen Minuten beruhigte, gab Winterfeld mitleidig den Bescheid: »Ich erfuhr von dem traurigen Vorgang und kam her, weil ich vermeiden wollte, daß Ihnen morgen in aller Frühe das Ableben Ihres Mannes mitgeteilt würde.«

Er wartete zögernd mit dem Gehen. Nach Trostworten suchend, stand er da. Es war so schwer, der Frau Tröstliches zu sagen.

Da erhob sich Frau Alma und bat: »Warten Sie noch. Furchtbar, wenn ich jetzt in der Zelle allein bleiben soll. Eine ganze Nacht allein. Bleiben Sie bei mir!«

»Ich will Ihnen gern Gesellschaft leisten«, gewährte Winterfeld, erschüttert von den flehentlichen Worten der Verbrecherin. Er schlug vor: »Vielleicht erzählen Sie mir etwas aus Ihrem Leben.«

»Nichts erzählen will ich«, sagte sie seufzend. »Ich will alles eingestehen – so, wie es mein armer Mann in seiner letzten Botschaft verlangte. Sie hatten vorhin recht. Das Verschweigen hat keinen Zweck mehr.«

»Eingestehen«, wiederholte der Untersuchungsrichter voll Bedenken. »Ein Geständnis darf ich nicht ohne einen Zeugen entgegennehmen. Ich werde dem Wachtmeister läuten.«

Sie hielt ihn auf: »Nicht – nicht – lassen Sie uns ganz allein sein. Heute will ich mein Herz ausschütten, mein Gewissen will ich morgen erleichtern. Aber ich weiß nicht, wie beginnen. Fragen Sie mich! Und lassen Sie mich dicht bei Ihnen sitzen! Ich fürchte mich so sehr.«

Er sah, wie Schauer über die Gequälte hinwegjagten. Und obwohl er das unglückliche Geschöpf jetzt nur noch als die Verbrecherin betrachten konnte, geleitete er die zitternde Frau doch zu dem bequemen Lehnsessel hinter dem Schreibtisch. Er rückte sich einen Stuhl neben sie hin und ließ sich nieder.

»Fragen soll ich Sie«, hub er an. »Dann will ich so beginnen: Sie wollten den Doktor Aurelius töten, weil er die richtige Spur gefunden hatte, die Fährte, die von Ihnen aus zur Aufklärung des Mordes an Beverstorff führte. Sie wollten die Ausklärung verhindern. Das glaubten Sie vollbracht zu haben, wenn Aurelius nicht mehr lebte.«

»Es war so«, gab Alma zu. »Bitte, sprechen Sie weiter! So ist es leicht für mich.«

»Von allem Anfang an behaupteten Sie, nur ein Mann könne der Täter sein. Warum taten Sie das?«

»Weil ich das einzig Richtige vermutete.«

Erstaunt sagte Winterfeld: »Das einzig Richtige – ah, nicht Sie selbst wollen es getan haben – Sie leugnen plötzlich wieder?«

Alma fuhr fort: »Man fand bei dem Getöteten Dinge, die mir gehört hatten. Meine Puderquaste, meine Spange. Das stellte ich fest, als Kommissar Weinreich mich die Gegenstände betrachten ließ. Nun gab es für mich keinen Zweifel, auch die in der Faust des Toten gefundenen Haare mußten von mir stammen. Das alles waren Dinge, von denen ich zuverlässig wußte, daß ich selbst sie nicht bei Beverstorff verloren haben konnte. Ein furchtbares Entsetzen überkam mich.«

»Sie erkennen die Gegenstände als Ihr Eigentum an?« sagte der Untersuchungsrichter befremdet. »Wenn nicht durch Sie selbst, wie sollten sie dann in das Mordzimmer gelangt sein?«

»Durch den Mann, der sich meine Handtasche angeeignet hatte. Ich vermißte die Tasche und konnte mir nicht anders denken, als daß ich sie irgendwo liegen ließ.«

»Sonderbar«, äußerte Winterfeld mißtrauisch. »Man kann glauben, eine Puderquaste und eine Haarspange hätten sich in der Handtasche befunden. Diese Haare jedoch ...«

»Auch sie sind in der Tasche gewesen. Ich litt seit einiger Zeit an Haarausfall. So hatte ich ein wenig Auskämmsel in die Tasche getan, um es zur Feststellung der Haarkrankheit untersuchen zu lassen. Bevor ich diese Absicht ausführte, riet man mir, die Haare gekürzt zu tragen. Das Ausfallen werde dann aufhören.«

»Das war der Grund, weshalb Sie sich einen Bubenkopf schneiden ließen?«

»Ja. Der Friseur erinnert sich, ich hätte auf das Datum hingewiesen, und hat mich dadurch verdächtigen wollen. Eine sehr einfache Bewandtnis: ich selbst hatte durch Aufregungen wegen meiner Mutter meinen Geburtstag übersehen – erst die Zahl aus dem Kalenderblatt gemahnte mich daran. Damit verband sich die Erinnerung an eine Kränkung: mein Mann hatte mir keinen Beweis geliefert, daß er meines Geburtstages gedachte. Ich machte den Friseur nur aufmerksam, weil ich meinen Mann necken wollte: dort und dort ließ ich mir die Haare abschneiden aus Trauer über deine Lieblosigkeit.«

»Weshalb aber warfen Sie den abgeschnittenen Zopf fort?«

»Das weiß ich eigentlich selbst nicht. Vielleicht aus Reue über mein Tun, denn mein Mann liebte die moderne Haartracht nicht. Oder eine Laune ... was sollte ich mit den kranken Haaren? Vielleicht empfand ich Ekel davor. Ich weiß es nicht mehr.«

»Als Sie sich in dem Friseurladen aufhielten, wußten Sie noch nichts von dem an Beverstorff verübten Mord?«

»Davon erzählte mir am Mittag erst mein Mann. Ich war wie vom Donner gerührt, ging in meine Küche und weinte mich aus.«

»Warum bekundeten Sie bei dem Friseur ein höchst eigentümliches Interesse für die Frau des Ermordeten?«

»Das ist doch begreiflich. Wie Sie wissen, war Beverstorff mein Vater, wenn auch nicht durch eine Ehe mit meiner Mutter. Ich hörte den Namen nennen und wurde aufmerksam, daß ich zum erstenmal die Frau sehen konnte, von der er mir ebenso erzählt hatte wie von seinen Ehezerwürfnissen.«

Winterfeld gab sich mit diesen Erklärungen zufrieden und sagte: »Sie haben zugegeben, zu später Stunde und vor dem Tode Beverstorffs in seinem Hause gewesen zu sein. Verstehen Sie nun, wie sehr es mich befremdet, wenn Sie jetzt die bei dem Ermordeten gefundenen Gegenstände, sogar die Haare, als von Ihnen stammend anerkennen? Befremdlich um so mehr, als Sie zugleich bestreiten, Sie selbst hätten die Sachen da zurückgelassen.«

»Ich finde nichts Befremdliches daran«, erwiderte Alma, und ihr Staunen schien nicht geheuchelt zu sein. »Sie hörten ja, daß ich meine Handtasche vermißte.«

»Wollen Sie behaupten, der Täter habe mittels der Gegenstände versucht, den Verdacht auf Sie abzulenken?«

»Das ist so. Er konnte nicht wissen, daß der Arzt durch den Leichenbefund feststellen würde, Beverstorff sei erst gegen Morgen getötet worden. Noch weniger konnte er wissen, daß ich folgendes nachweisen kann: Ich war von kurz nach elf am Abend bis zum Morgen gegen neun Uhr bei meiner schwerkranken Mutter. Hierfür ist Zeugin eine Frau, die mich benachrichtigen und abholen wollte; sie traf mich, als ich gerade vor unserer Wohnung anlangte, und sie blieb bis zum hellen Tage mit mir am Krankenbett meiner Mutter. Der andere Zeuge ist der Arzt, der nicht eher ging, als bis das Schlimmste eines schweren Herzanfalles überstanden war. Das war erst gegen Morgengrauen der Fall.«

»Allerdings ein lückenloser Alibibeweis«, anerkannte Winterfeld. »Nun aber eines: Sie wissen, wer den Mord verübte?«

»Ich weiß es«, gestand Alma mit zuckenden Lippen.

»Dann begingen Sie doch ein himmelschreiendes Unrecht, wenn Sie alles aufboten, den jungen Felsing als den Mörder hinzustellen. Wie verfielen Sie nur auf diesen niederträchtigen Gedanken?«

»Ich wußte von Beverstorff, es gab zwischen ihm und dem jungen Menschen ein Geheimnis. Das Geheimnis war genügend unehrenhafter Art, Felsing zur Beseitigung seines Mitwissers anzutreiben. Wurde der junge Mann in eine Anklage verwickelt, so blieb ihm meiner Ueberzeugung nach Gelegenheit mehr als genug, seine Schuldlosigkeit nachzuweisen. Bis das aber geschehen war, mußte Zeit vergehen. Die Zeit sollte die Spuren des wirklichen Täters verwehen.«

»Die Spuren des Täters, gegen dessen Entlarvung Sie wie eine Wölfin kämpften durch irreführende Einmischungen in den Kriminalfall, durch das Verdächtigen des unglücklichen Felsing, durch einen Schuß auf Aurelius. Muten Sie mir wirklich zu, ich solle glauben, in diesem wütenden Kampfe hätten Sie jemand anders, nicht sich selbst verteidigt?«

»Ich verteidigte einen Mann, um den zu kämpfen mein menschliches Recht war.«

»Einen Menschen, der Ihnen die Handtasche stahl, um ihren Inhalt feige gegen Sie zu benutzen?«

Lebhaft fiel Alma ein: »So war es nicht. Nur ein Zufall spielte sie ihm in die Hand.«

Erbittert rief Winterfeld: »Einerlei – Ihr Kampf gegen das strafende Recht der Gesetze galt einem Feigling, der dann eben den verhängnisvollen Zufall benutzte, um seine Tat zu verschleiern und um Sie, ein Weib, dem Gericht als auf das schwerste tatverdächtig auszuliefern. Daß man Sie solange nicht faßte, verdanken Sie nur der Nachlässigkeit, mit der Kommissar Weinreich als ein Unfähiger diesen Fall behandelte. Setzten Sie sich aber in so schmählicher Weise für die Sicherheit des Täters ein, so muß der Mann Ihnen wohl viel bedeutet haben.«

»Er bedeutete mir mehr als sonst ein Mensch auf der Welt.«

Winterfeld erhob sich. Er konnte nicht länger neben der Frau sitzen bleiben, gegen die er einen Widerwillen fühlte – eine Frau, die ungescheut von ihrem Liebhaber schwärmte in einer so ernsten Stunde.

»Ich war gekommen, Ihnen Trost zu spenden«, sagte er schroff. »Es ist daraus die Nacht eines Verhörs geworden. Sind Sie mit Ihren Bekenntnissen soweit gegangen, so darf ich nicht nachlassen, bis Sie alles eingestanden haben. Sie wissen, wie der Täter in den Besitz Ihrer Tasche gelangte. Wie also geschah das?«

»Ich ließ sie auf einem Tische liegen«, gab Alma kurz zu.

»Aus Vergeßlichkeit?«

»Nein, in der Eile. In der Tasche befanden sich außer der Puderquaste, der Spange und den Haaren auch ein paar zärtlich klingende Zeilen von Beverstorffs Hand mit seiner Unterschrift. Niemand außer meiner Mutter und mir wußte ja doch, in welchem Verhältnis ich zu Beverstorff stand. Er sorgte durch mich für die vor Zeiten verlassene Frau.«

»Die zärtlichen Zeilen – ah, ich verstehe«, sagte Winterfeld. »Die Zeilen erregten bei dem von Ihnen geliebten Manne berechtigtes Mißtrauen gegen Ihre – hm – Tugend. Wußte denn der Mann nicht, daß Sie eine verheiratete Frau waren?«

Vollkommen verblüfft erwiderte Alma: »Aber ich spreche ja doch fortwährend von keinem anderen als von meinem Manne!«

Winterfeld fuhr auf: »Sagen Sie damit, Ihr Mann sei der Täter?«

»Er ist es gewesen, denn er lebt ja nicht mehr. Ich habe ihn herzlich lieb gehabt. Und weil ich wußte, daß nur die aus seiner leidenschaftlichen Liebe geborene rasende Eifersucht ihn zum Mörder gemacht hatte, nur deshalb suchte ich ihn zu schützen.«

Kopfschüttelnd erwog der Richter: »Ihr Gatte ist tot und für immer verstummt. Benutzen Sie nicht listig den willkommenen Zufall, jetzt auf ihn die Schuld abzuwälzen!«

Alma verneinte kurz und erzählte: »Die Nacht, die ich am Krankenlager meiner Mutter verbrachte, wurde ihm zum Verhängnis. Er war schon länger hinter meinen Verkehr mit Beverstorff gekommen. Ich habe bitterlich zu bereuen, daß ich ihm aus falscher Scham meine Herkunft verschwieg. Das tat ich in der Furcht, er werde mich nicht heiraten. Er war viel im Dienst, und so dachte er sich nichts dabei, als ich darauf bestand, alle Wege zu den Behörden zu gehen, die bei einer Verehelichung nötig werden. Auf diese Weise bekam er meine Papiere nicht zu Gesicht, und er wußte nicht, was es bedeutete, wenn der Standesbeamte mich nur als geborene Schwarzeis verlas bei der Trauung. Mußte ich meinen Mann nicht schützen – ich, die ich ihn durch mein unseliges Verschweigen zum Mörder machte?«

»Jetzt begreife ich«, sagte Winterfeld leise. »Erzählen Sie weiter!«

»Er durfte in der verhängnisvollen Nacht unvermutet vom Dienst heimkehren. Er fand mich nicht vor. In meiner Sorge um die Mutter hatte ich versäumt, ihm auf irgendeinem Wege Nachricht zu geben über meinen Verbleib. Stundenlang wartete er vergeblich auf meine Heimkehr, und er geriet schon dadurch in Aufregung. Dann öffnete er die auf unserem Eßtisch liegende Tasche und fand den Zettel. Jetzt glaubte er zu wissen, wo ich war. In besinnungsloser Wut rannte er vor das Haus Beverstorffs, um mich beim Herauskommen zu ertappen. Warum er meine Handtasche mitnahm, dafür hatte er allerdings selbst keine Erklärung.«

»Woher wissen Sie das alles?« forschte Winterfeld.

»Er gestand es mir ein, als ich ihm endlich den Mord auf den Kopf zusagte. Das war am Morgen jenes Tages, an dem er nach einem Streit mit Kommissar Weinreich zusammenbrach.«

»Und wie vollbrachte er die Tat?«

»Nachdem mein Mann eine Weile vor dem Beverstorffschen Hause auf und ab geschritten war, entdeckte er im Schloß der Haustür den Schlüssel, den nur ich abzuziehen vergessen haben kann, als ich nach der Auseinandersetzung mit Beverstorff das Haus verließ. Mein Mann trat ein. Wie er mir erzählte, fand er im ersten Stock die Flurtür offen. Auch das gehört mit zu meiner Schuld. Allerdings befand ich mich in schrecklicher Aufregung, da Beverstorff ohne jeden Grund meiner Mutter und mir die seither gewährte Unterstützung verweigerte.«

»So also gelangte er in die Wohnung«, staunte der Richter über die Verkettung unseliger Zufallstatsachen.

»Er öffnete einfach die Tür, an deren Schwelle er einen Lichtschein schimmern sah. Beverstorff lag lesend im Bett. Er sprang sofort auf. Wahrscheinlich glaubte er sich gegen einen Einbrecher verteidigen zu müssen. Er warf sich blindlings auf meinen Mann, der doch ohnehin schon rasend war vor Wut auf seinen vermeintlichen Nebenbuhler. Beverstorff stürzte zu Boden. Als er lag, stieß mein Mann ihm das Messer in die Brust.«

»Was für ein Messer – wie kam er denn dazu?«

Achselzuckend gab Alma Auskunft: »Er will es aus unserer Küche mitgenommen haben in der Absicht, mich niederzustechen, sobald ich aus dem Haus käme. Als er nach der Tat sogleich in seinen Dienst ging, hat er das Messer von der Mathildenbrücke aus in den Fluß geworfen.«

»Das wäre ja nun alles klar«, urteilte der Richter. »Wie ist das aber mit den Blättern, aus denen Ihr Schützling Sylvia Rickstetten gelesen haben will, in der Niederschrift habe Ihr Mann Sie des Mordes geziehen?«

Frau Alma meinte: »Das Mädchen mißverstand, was der Geisteswirre in zusammenhanglosen Sätzen aufgeschrieben hatte. Ich selbst, die das Geheimnis doch kannte, fand mich nur mühsam in der Niederschrift zurecht. Soweit ich die Worte verstand, bat mein Mann mich, alles einzugestehen, gepeinigt von seiner Angst, es könne das, was er gewollt hatte, zur Wahrheit werden.«

»Daß der Verdacht auf Sie fiel?«

»Ja, denn er hatte aus meiner Handtasche die Puderquaste und die Spange zu dem sich in seinem Blute wälzenden Sterbenden gelegt. Die Haare aber wickelte er ihm um die Finger. Die Tasche muß noch heute in seinem Arbeitspult auf dem Kriminalamt vorhanden sein.«

»Ein furchtbarer, ein heimtückischer Mörder«, sagte Winterfeld vor sich hin.

»Weil er Spuren schuf, die mich verdächtigen sollten? Diese Absicht kann ich nur als die Ausgeburt eines rachsüchtigen Geistesgestörten auffassen. Und geistesgestört war er schon länger. Er grübelte oft unheimlich vor sich hin. Dann fürchtete er sich vor Szenen, die sein Beruf ihn zu sehen zwang. Als ich erst einmal wußte, er sei der Mörder Beverstorffs, entdeckte ich mit Grauen, er müsse den Verstand verloren haben.«

»Wahrscheinlich erklärt sich aus diesen Tatsachen auch sein körperlicher und seelischer Zusammenbruch«, meinte Winterfeld.

Weinend sagte die unglückliche Frau: »War es nicht meine Pflicht und mein menschliches Recht, ihn dem Zugriff des Gerichtes zu entziehen? Und – außerdem – ich habe meinen Mann geliebt.«

»Nur ein sehr einsichtsvoller Richter wird Sie verstehen können«, bestätigte Winterfeld voll Mitleid.

Frau Alma erhob sich und sagte: »Eine Last ist mir vom Herzen, und ich bin ruhig geworden. Ich fürchtete mich vor dem Alleinsein in dieser Nacht. Jetzt habe ich Sehnsucht nach der Stille. Lassen Sie mich in meine Zelle zurückbringen!«

Schweigend drückte der Untersuchungsrichter den Klingelknopf. Der Wachtmeister kam. Ein dankbares Lächeln erhellte das Antlitz der Gefangenen, als sie mit einem Händedruck stumm von Winterfeld Abschied nahm.

Von den Türmen der Stadt summten die Glocken Mitternacht, als der Untersuchungsrichter die Straße betrat. Er dachte: »Sie hat viel gefehlt, die Aermste. Aber sie wird mit der Barmherzigkeit ihrer Richter rechnen dürfen.« Dann nahm er sich vor, die unglückliche junge Frau nicht zu vergessen, um ihr nach verbüßter Strafe bei einem neuen Aufbau ihres Lebens behilflich zu sein.

*

Am nächsten Abend standen die Menschen Kopf an Kopf auf dem Alten Markt und starrten hinauf in die Finsternis über den Giebeln. Unablässig wanderten die feurigen Buchstaben durch das Dunkel.

Plötzlich blieb es eine Zeitlang finster dort oben. Dann zuckte die Flammenschrift von neuem auf. Wort für Wort glitt dahin:

»Der ›Kurier‹ meldet: Schweres Schiffsunglück bei Helgoland. Ein englischer Dampfer rammte im Nebel die deutsche Brigg ›Morgenstern‹. Der Segler sank so schnell, daß keine Hilfe gebracht werden konnte. Der Kapitän Alvens und die gesamte Mannschaft verloren das Leben.«

Danach eilte es glitzernd und funkelnd durch die Nacht:

»Besuchen Sie das lustigste Kabarett der Welt! Im Pamelapalast können Sie sich jedes Leid vom Herzen lachen.«

Und dann kam es wieder: »Im Untersuchungsgefängnis endete durch Selbstmord die in dem Beverstorffschen Mordprozeß der Tat angeklagte Alma Schulze.« –

Vom Turm der Kirche am Alten Markt brummte die Glocke die Stunde. In das Erz dieser Glocke eingegossen sind die Worte: »Lebende ruf' ich, Tote beklag' ich!«

 

Ende.


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