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2.

In der Weinkneipe »Zum gesottenen Hummer« schufteten die drei Kellnerinnen, um die noch kalte Gaststube für den Abend vorzubereiten. Die Mädchen sahen übernächtig und müde aus. Die Zecherei mit den beiden trinkfrohen alten Herren hatte sich bis fast zum Tagesgrauen hingezogen.

Sylvia war erschöpft, obwohl sie nur wenig hatte trinken müssen, da nach dem eiligen Abschied des seltsamen Gastes kein anderer Besucher mehr sich in das Lokal verirrte. Manchmal hielt sie mit einem verlorenen Lächeln in ihrer Arbeit inne. Dann war vor ihrer Seele das Bild jenes Fremden emporgetaucht – und sie entsann sich des Blickes seiner sonderbaren, ernsten Augen. Augen, in denen ein Leid oder ein Schmerz – – –

Die fette Stimme der Gebieterin unterbrach Sylvias Nachdenken: »Na, Mädel, gaffen Sie nicht schläfrig vor sich hin! Dalli, dalli! Sie sehen ja, die anderen arbeiten auch.«

»Gewiß, Frau Schurich«, beeilte sich Sylvia zu sagen; sie wußte, wie unangenehm die Kneipwirtin wurde, wenn man ihr auf eine Anrede nicht irgendeine Antwort gab.

Frau Schurich war in einen kostbaren Nerzmantel gehüllt. Trotz ihrer dicken Waden trug sie ihn modisch kurz. Ein hochroter Filzhut, der zu der am Mantelkragen befestigten künstlichen Blume paßte, mit seiner schmalen Krempe bis tief auf die Augenbrauen herabgezogen, rahmte ihr gewöhnliches Gesicht ein.

»Sie weigern sich also, mit zu Kriminalkommissar Weinreich zu kommen, Sylvia?« fragte die Wirtin, während sie ein Paar zarter weißer Wildleder-Handschuhe über die kurzen Finger streifte.

»Es ist kein Weigern, Frau Schurich«, verteidigte sich Sylvia sanften Tones. »Ich meine nur: daß der Herr Blutflecke auf dem Mantel hatte und daß er so eilig davonlief, als das Radio die Nachricht von dem Mord bekanntgab – – –«

Da das Mädchen verstummte, zeterte die Schurich giftig: »Na, was meinen Sie?«

»Verzeihen Sie«, fuhr Sylvia fort, »ich finde nicht, man müsse auf einen Zusammenhang zwischen dem Mord und dem Herrn schließen, nur weil – – –«

»Eine dumme Gans sind Sie!« schalt die Wirtin los. »Sie haben sich wohl vergafft in den Kerl? Es könnte aber doch sein, daß ein Zusammenhang bestünde. Und wenn nun der Mörder unter solch auffälligen Umständen hier im Lokal war und das kommt dann heraus und wir haben der Polizei nicht sofort Mitteilung gemacht, so gibt's Unannehmlichkeiten über Unannehmlichkeiten.«

»Finde ich auch, gnädige Frau«, nahm eines der anderen Mädchen das Wort. »Noch dazu, da gleich hier um die Ecke 'rum heute nacht noch ein zweiter Mord passiert ist.«

»Um Gottes willen – was?« schrillte die dicke Wirtin entsetzt. »Noch ein Mord – heute nacht? Woher wissen Sie denn das?«

Das Mädchen erzählte: »Als ich zum Reinemachen herkam, standen die Leute in Scharen vor dem Haus.«

Die Schurich stöhnte: »Dann war der Kerl mit den Blutflecken der andere Mörder. Na, ich gehe zu Weinreich. Das ist meine Pflicht. Man kann ja in die tollsten Sachen kommen, wenn man schweigt.«

Sie lief aufgeregt in der Kneipstube herum und wies den Mädchen noch allerlei Arbeit zu. Dann stürzte sie mit puterrotem Kopf von dannen.

»Eilig hat's die Alte«, spottete das dritte Mädchen, eine frech aussehende Person. »Ja, vor den Polypen hat das Weib eine Heidenangst. Sie ist nicht gut angeschrieben bei den Grünen. Darum rennt sie nun hin und macht sich lieb Kind.«

»Man kriegt ja auch eine Belohnung, wenn man der Polizei hilft«, behauptete die ältere der Kellnerinnen.

Sylvia verrichtete nachdenklich ihr Tagewerk. Still und in sich gekehrt kam sie ihrer Pflicht nach. Am Gespräch der Kameradinnen beteiligte sie sich nicht, hörte kaum einmal hin. Die erzählten einander nur von Schlechtigkeiten.

Die Uhr über dem Schanktisch zeigte fünf, als das Instandsetzen der Gaststube beendet war. Sylvia richtete noch an dieser und jener Kleinigkeit. Die beiden anderen Mädchen verschnauften, während sie einen Spaziergang durch die Stadt verabredeten. Sie wollten die Abwesenheit der ewig antreibenden Schurich gründlich ausnutzen.

»Und wenn die Alte zehnmal schimpft!« erklärte die Freche. »Man will doch auch mal in die Schaufenster gucken und Luft schnappen, bevor man die halbe Nacht hier hockt und säuft und qualmt. Sagen Sie der Schurich einfach, wir seien zum Ondulieren gegangen, Sylvia!«

Das Mädchen blieb allein. Sie trug sich einen Stuhl an den allmählich warm werdenden Kachelofen. Hier saß sie und beschäftigte sich mit einer leichten Handarbeit. Die Stille in dem niedrigen Raum tat ihr wohl. Abends immer die zudringlichen Männer – das fade Gewäsch der Kellnerinnen – der fortwährend dudelnde Lautsprecher oder das Grammophon, wenn der Rundfunk eine zu ernste Abendvorstellung bot.

Einen Augenblick dachte Sylvia daran, sich in der Handhabung des sonst nur von Frau Schurich bedienten Radioapparates zu versuchen. Doch sie fürchtete, etwas an dem Gerät zu verderben, und ließ den Gedanken wieder fallen.

Plötzlich hörte sie, wie jemand die Stufen vor dem Eingang betrat. Ein Gast konnte es nicht sein. Die Besucher kamen nicht so frühzeitig am Nachmittag schon. Sie glaubte zunächst, die Wirtin kehre zurück. Deshalb erhob sie sich. Die herrische Frau sah es nicht gern, wenn eines der Mädchen saß, außer bei Herren.

Aber der Jemand draußen blieb auf der kleinen Sandsteintreppe stehen. In Sylvias Seele stieg ein eigenartiges, halb banges, halb frohes Gefühl auf, als stünde vor der Tür ein Mensch, auf den sie wartete.

Wieder kam ihr der Fremde von gestern nacht in den Sinn.

Und als endlich die Tür geöffnet wurde, trat wirklich dieser Mann ein.

Sylvia konnte einen halblauten Ausruf der Freude nicht unterdrücken. Mit einem freundlichen Lächeln schritt sie dem Gast entgegen.

»Ich habe Ihr Kommen geahnt«, flüsterte sie mit gesenkten Lidern, noch bevor er einen Gruß sagen konnte.

»Begreiflich, Kleine«, stimmte er bei; doch wie fluchtbereit blieb er an der Tür stehen. Dann stieß er hastig hervor: »Als ich gestern abend den Wein bezahlte, ließ ich meine Geldtasche liegen, nicht wahr?«

Nun erhob Sylvia den Blick. Ja, das war das jugendliche Männergesicht, das sie wie durch einen unerklärlichen inneren Zwang sich fort und fort vergegenwärtigen mußte seit der verflossenen Nacht. Sie vertiefte sich in diese hübschen, gleichmäßigen, doch eigenartigen Züge.

Ein Antlitz von bräunlicher Färbung, zu der zwar die tiefschwarzen Brauen, doch nicht die so absonderlich hellgrauen großen Augen paßten. Diese Augen fielen ihr jetzt auf. Bis zur Sekunde war sie des Glaubens gewesen, der Mann habe schwermütig dunkle Augen. Und nun dieser starre, grelle, glitzernde Blick, der sich in sie hineinbohrte voll Mißtrauen, voll Besorgnis, wie um einen Bann auszuüben.

»Rasch – reden Sie doch!« verlangte der Mann gebieterisch.

»Eine Geldtasche?« begann Sylvia zaghaft, erschreckt durch den schroffen, messerscharfen Ton.

»Hellbraun gekörntes Leder – mit silbereingefaßter Verschlußlasche – etwas über zweitausend Mark Inhalt in Hundertmarkbanknoten und anderen kleinen Geldscheinen.«

»Bestimmt nicht«, versicherte das Mädchen. »Hier haben Sie kein Geld verloren.«

»Nicht verloren«, verbesserte er. »Ich ließ das Täschchen liegen, als ich den Wein bezahlte, weil der Lautsprecher –«

Er sprach nicht weiter, wie um nicht daran zu erinnern, daß der den Mord verkündende Radioapparat ihn zur Flucht getrieben hatte.

»Ich bin ehrlich«, sagte Sylvia herb. »Sie haben Ihr Geld nicht hier vergessen.«

»Ich muß es hier vergessen haben«, blieb der Mann bei seiner Behauptung. »Anders ist es gar nicht möglich.«

»Sie beleidigen mich«, entgegnete Sylvia schneidend.

Nun wandte sie sich ab und schritt bis an den Ofen zurück, an dessen warme Kacheln sie sich lehnte.

Die Augen des jungen Mannes durchhasteten die Kneipstube, wie wenn er unbedingt hier irgendwo das Geldbehältnis entdecken müßte. Mehrmals schüttelte er den Kopf, als vermöchte er den Verlust nicht zu fassen oder als sei ihm unerklärlich, daß er seine Habe nicht hier vorfand.

Schließlich stieß er hervor: »Sie dürfen etwas davon behalten. Geben Sie mir wenigstens einen guten Teil zurück! Ohne das Geld bin ich verloren. Haben Sie doch Mitleid, Kleine!«

Sylvia sah ihn starr an und sagte wie aus einem bösen Traum heraus: »So sind Sie also doch der Mörder!«

»Ich habe nichts getan«, jammerte er. »Ich bin – Gott – geben Sie mir mein Geld – seien Sie doch mitleidig!«

»Genug«, unterbrach das Mädchen dies klägliche Flehen. »Hier ist das Geld nicht. Ich kann Ihnen also nichts geben. Sie müssen nun gehen.« Unvermittelt schrie sie ihm zu: »Fort – fort – Mörder!«

Er zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Seine sonderbar hellen, irr blickenden Augen schweiften grimmig über das Mädchen am Kachelofen, als plane er einen tätlichen Angriff. Dann nahm er wieder die jämmerliche Haltung an.

»Sie waren gestern nacht so gut zu mir, Kleine«, erinnerte er sie mit zuckenden Lippen, als wolle er nun auf diese Weise das Mitleid des Mädchens anrufen.

»Ich würde auch jetzt gut zu Ihnen sein, wenn es möglich wäre«, versicherte Sylvia traurig. »Aber Sie irren bestimmt. Hier haben Sie nichts vergessen.«

Sie sah dabei nach dem Saum seines hellen Ulsters: dort war von Blutflecken keine Spur zurückgeblieben. Noch einmal prägte sie sich sein Aussehen ein.

Währenddessen murmelte er ruhiger: »Dann – ja dann kann ich mir den Verlust nicht erklären. Aber ich bin verloren.«

Er starrte vor sich nieder. Plötzlich sagte er ein paar Worte hastigen Abschiedes und ging.

Sylvia schloß die Lider. Es war ihr, als habe sie einen sehr lieben Menschen in diesen wenigen Minuten für immer aufgeben müssen.

Nur eines machte sie sich klar: sie durfte von dieser Begegnung niemals und zu keiner Seele je eine Silbe sprechen.

*

Kommissar Weinreich machte sich so seine Gedanken über den kostbaren Nerzpelz der Frau Schurich. Dennoch hatte er keinen Augenblick aufgehört, genau auf das zu achten, was die Kneipwirtin umständlich erzählte.

»Um welche Zeit betrat der Mann Ihr Lokal?« unterbrach er den mit allen möglichen Weitschweifigkeiten überladenen Bericht.

Frau Schurich wurde ängstlich und versicherte: »Ich habe mich bemüht, so genau wie möglich zu sein. Aber die Zeit – warten Sie mal, Herr Kommissar, ich muß da zurückrechnen. Also die beiden alten Herren kamen gegen halb zehn Uhr.«

»Auf die Minute genau brauchen Sie nicht zu rechnen«, warf Weinreich ein. »Machen Sie nicht langatmige Erörterungen! Denken Sie erst mal über einen bestimmten Anhaltspunkt nach, bevor Sie erzählen!«

»Anhaltspunkt«, griff die nervös werdende Wirtin das Wort auf. »Also im Rundfunk spielten sie gerade eine Nummer, und meine Mädchen und die alten Herren – nein, nur der eine und auch nur zwei Mädchen – die sangen mit. Wahrscheinlich kennen Sie das Lied: Valencia ... derallala ... derallalalaaa ...«

Der Kommissar mußte lächeln über Frau Schurichs Geplärr. Sie hatte weder eine Singstimme, noch schien sie musikalisch zu sein.

»Das Singen war gerade zu Ende, als der Mann zur Tür hereinkam«, erklärte sie.

»Sie irren sich nicht? Uebrigens: höchst einfach«, wandte der Kommissar sich zu dem an einem Nebentische arbeitenden Unterbeamten. »Schulze, rufen Sie die Sendestelle an! Wahrscheinlich können die Leute dort bis auf einen unbeträchtlichen Zeitunterschied angeben – erstens: wann wurde der Gassenhauer ›Valencia‹ gespielt! – zweitens: um wieviel Uhr wurde den Rundfunkhörern Mitteilung gemacht von dem Mord auf dem Hainsbergweg?«

Friedrich Schulze erhob sich schweigend und ging hinaus, um den Befehl auszuführen.

»Der Mörder vom Hainsbergweg ist der Mann auf keinen Fall«, erläuterte Weinreich der Kneipwirtin. »Den hatten wir schon fest, als wir dem Rundfunk die Verbreitung der Mordnachricht für den Abendbericht freigaben. Der Bursche gestand auch ohne Umstände.«

Frau Schurich glaubte erinnern zu müssen: »Aber weshalb flüchtete dann der Mann mit dem Nasenbluten aus meinem Lokal, gerade als der Mord angekündigt wurde?«

»Das war vermutlich keine Flucht, sondern nur ein zufälliges Zusammentreffen zwischen dem Bericht des Rundfunks und dem Fortgehen Ihres Gastes.«

»Und die Blutflecke auf dem Ulster?«

Der Kommissar zog die Achseln hoch: »Wahrscheinlich doch nur vom Nasenbluten.«

Er spielte mit dem Bleistift und kritzelte sinnlose Figuren auf die Schreibunterlage. So wartete er schweigend auf die Rückkunft Schulzes.

Die Schurich kam sich plötzlich höchst überflüssig vor. Der Kommissar legte ihren Meldungen so gar kein Gewicht bei, behandelte die Aussagen so bagatellmäßig. Zu dumm, daß sie hierher gekommen war! Es wäre besser gewesen, die Aufmerksamkeit der Kriminalbehörde nicht erst auf die Kneipe zu lenken.

Wie aus einem Nachdenken heraus sagte Weinreich plötzlich: »Es ist nämlich ziemlich sicher, daß die Tat in der Beverstorffschen Wohnung nicht von einem Manne, sondern von einer weiblichen Person begangen wurde.«

Frau Schurich erhob sich zaghaft und zog den kostbaren Nerzmantel enger um ihre breit ausladenden Hüften. Ihr Gesicht war jetzt beinahe so rot wie ihr roter Hut.

»Dann könnte ich ja eigentlich gehen«, schlug sie verlegen vor.

»Warten Sie noch!« befahl der Kommissar.

Friedrich Schulze kam zurück. Er hatte einen Merkzettel in der Hand, von dem er in dienstlicher Haltung den Bescheid der Sendestelle ablas: »Valencia wurde um ungefähr zehn Uhr vierzig Minuten gespielt – etwa sieben Minuten später ein kurzer amerikanischer Tanz – weitere fünf Minuten später etwas aus einer deutschen Operette – und Punkt elf Uhr, genau der Programmfolge entsprechend, begann der Ansager den Abendbericht mit der Mordnachricht vorzulesen.«

Mit einem Blick auf die Schurich stellte der Kommissar fest: »Also war der Mann mit dem Nasenbluten genau zwanzig Minuten in Ihrem Lokal. Daß nun gerade in nächster Nähe des Hauses, in dem der Kaufmann Beverstorff ermordet wurde, ein Mensch sich Blutflecke vom Mantel beseitigen läßt, das wäre immerhin ein beachtenswerter Sachverhalt. Beschreiben Sie mal den Mann, Frau Schurich!«

Die Wirtin machte ein Gesicht einer angestrengt Nachdenkenden. Doch sie mußte schließlich zugeben, es sei ihr von dem Aeußeren des Fremden nichts weiter im Gedächtnis haften geblieben als der auffällig helle Ulster.

»Aber die Sylvia!« fiel ihr ein. »Die Sylvia Rickstetten – das ist eine von meinen Kellnerinnen – die kann gewiß den Mann beschreiben. Sie saß bei ihm am Tisch, hat ihm auch das Blut abgewaschen.«

»Sylvia Rickstetten«, notierte Weinreich, indem er den Namen vor sich hinsprach. »Schicken Sie das Mädel auf jeden Fall mal her! Geben Sie auch die Wohnung an!«

»Sie wohnt als einzige von meinen Kellnerinnen bei mir im Hause«, erklärte die Schurich, um sogleich wieder in ihre selbstgefällige Geschwätzigkeit zu verfallen. »Sie ist eine entfernte Verwandte von mir – aus Hamburg, wo auch ich daheim bin – von gut bürgerlichem Herkommen. Ihre Mutter starb während des Krieges. Als der Vater aus dem Felde heimkam, machte er ein Fotografiergeschäft auf. Er war vorher Maler. Porträts hat er gemalt. In der Inflation ging er in Konkurs. Da brachte er sich ums Leben. Vor seinem Selbstmord schrieb er an mich, und da ich ein zartfühlendes Herz habe, besann ich mich nicht erst und nahm das Mädel ins Haus. Aber glauben Sie, Herr Kommissar, man hätte Dank dafür? Ein ganz eigentümliches Geschöpf, die Sylvia. Man kann und kann ihr nicht näherkommen. Deshalb stehen wir einander auch heute noch so fremd gegenüber, als wären wir – – –«

Ungeduldig unterbrach der Kommissar: »Na, nun mal halt, meine Liebe! Die Lebensgeschichte Ihrer Verwandten brauchen wir nicht. Schicken Sie das Mädel her! Und nun auf Wiedersehen! Oder vielmehr auf Nichtwiedersehen – – – was Ihnen angenehmer sein dürfte.«

Frau Schurich verschwand.

»Nun, Schulze, was halten Sie von dem Mann mit dem Nasenbluten?« forschte der Kommissar, als die Schwätzerin endlich draußen war.

Schulze sah seinen Vorgesetzten ernst an und behauptete: »Der Mann ist der Mörder Beverstorffs – ganz ohne Zweifel.«

Verdutzt blickte Weinreich auf: »Aber wie kommen Sie denn zu dieser Meinung? Die Puderquaste, die Haarspange, die Frauenhaare – deutlichere Beweise für die Täterin gibt's ja gar nicht. Nicht jeder Fall wird einem so leicht gemacht. Eine im Verbrechen ganz unerfahrene Person, sonst hätte sie die Spuren vertilgt – sie muß nach der Tat gleich weggelaufen sein.«

Schulze verteidigte seine feste Ueberzeugung: »Ein Mensch, der in der nahen Umgebung des Tatortes mit Blutspuren auf dem Mantel auftaucht – – –«

»Quatsch!« schnitt Weinreich überheblich ab, um zu widerlegen: »Dieser Mann war zwischen halb elf und elf Uhr in der Schurichschen Weinstube. Was steht dem gegenüber? Die gerichtliche Leichenöffnung hat aus dem Verdauungsstande des Mageninhalts klargestellt, der Tote müsse frühestens acht Stunden nach der letzten Nahrungsaufnahme verschieden sein.«

»Auch Gerichtsärzte können irren«, knurrte Schulze mürrisch.

Der Kommissar fuhr fort: »Nimmt man an, der Beverstorff habe um acht Uhr sein Abendbrot zu sich genommen, so hätte er also um vier Uhr am Morgen noch gelebt. Und nun, wann rief man uns in das Mordhaus?«

Widerwillig, als passe der Umstand nicht zu seiner Ueberzeugung, antwortete Schulze: »Es war eben acht vorbei, denn ich hatte wenige Minuten vor dem Anruf die Post entgegengenommen.«

»Na, sehen Sie«, stellte der Kommissar zufrieden fest. »Was aber fanden wir an dem Toten? Daß in den unteren Extremitäten die vom Kopf an vorschreitende Leichenstarre noch nicht eingetreten war. Resultat dieses Befundes, kombiniert mit dem ärztlichen Befund: der Beverstorff war um vier Uhr in der Frühe mindestens noch am Leben. Des ferneren: alle Anzeichen sprechen dafür, daß der Tötung ein heftiger Kampf mit dem Angreifer vorausgegangen ist. Beim Tode nach einer körperlichen Anstrengung und nach einer hochgradigen seelischen Erregung tritt die Leichenstarre bekanntlich viel rascher als sonst ein.«

»Das weiß ich nicht«, gab Schulze zu. »Aber ich erinnere mich freilich: als wir gegen halb neun den Körper betasteten, war er keineswegs schon völlig steif.«

»Schlußfolgerung?« fuhr der Kommissar fort. »Der Mann könnte sogar um sechs Uhr noch gelebt haben. Der Mord wäre also in den frühen Morgenstunden geschehen. Wie reimt sich das zusammen mit der – an Hand der Auskunft der Radiosendestelle – ja sicher erfaßten Tatsache, daß der Mann mit dem hellen Ulster sich bereits zwischen halb elf und elf am Abend Blutflecke vom Mantel waschen ließ?«

Friedrich Schulze knurrte eine unfreundliche Zustimmung.

»Nun, Schulzeken«, scherzte der Kommissar, »Sie brauchen sich nicht zu ärgern, weil Sie nicht recht behalten sollen.«

»Ach, das ist es nicht«, bestritt Schulze verlegen. »Ich bin nur müde, Herr Kommissar. Mich hat dieser Vormittag scheußlich mitgenommen.«

Weinreich sprach weiter: »Ich kann die Tatsachen noch so viel hin und her wenden – was meinen Verdacht anbelangt, so bleibt er an dieser Frau Schlomke haften. Die Person hatte mühelosen und unauffälligen Zutritt zu der Wohnung. Sie kann keinerlei Beweise beibringen, daß sie wirklich erst um acht Uhr ihre Dienststelle aufsuchte. Allerdings, es fehlen vorläufig auch die Beweise, daß die Schlomke schon vorher einmal – sagen wir: gegen sechs Uhr – die Räume betrat, die Tat ausführte, sich wieder entfernte und um acht Uhr zurückkehrte, um heuchlerisch die Behörde anzurufen.«

»Darf ich Ihren Ausführungen etwas gegenüberstellen?« bat Schulze eindringlich.

»Nur zu!«

»Dann will ich folgendes sagen: daß der Stich den Ermordeten etwa augenblicklich tötete, das – so sagt der ärztliche Bericht – ist nur Hypothese, nicht zu beweisen, nur zu vermuten. Beverstorff kann nach dem Einstich bewußtlos gelegen haben und kann gegen Morgen noch einmal zu sich gekommen sein. Er wäre also solange noch am Leben gewesen und hätte dann erst mit dem Tode gerungen, bis das Verscheiden eintrat.«

Der Kommissar kratzte sich nachdenklich das Kinn und meinte: »Ich verstehe, was Sie dem Urteil des Arztes entgegenstellen – erst wenn ein Organismus jede Tätigkeit aufgibt, erst dann endet auch die Verdauungstätigkeit. Hm, nicht so unrichtig.«

Schulze sagte fest: »So kann der Mann mit dem hellen Ulster der Täter sein, der schon gegen halb elf am Abend den Stich führte und den Mord beging.«

»Hm – ja«, machte Weinreich gedehnt. »Dann müssen wir eben doch nach dem Manne fahnden. Wenn diese Sylvia Rickstetten nicht von selbst kommt, so lassen Sie das Mädchen vorführen. Wir müssen eine Beschreibung des Kerls mit dem hellen Ulster haben. Ich aber bleibe bei meiner Ueberzeugung: ein Weib vollführte die Tat. Der Ruf dieses Beverstorff war ganz danach angetan.«

»Ja«, sagte Schulze verachtungsvoll. »Allem Gehörten nach war er ein Lump, der kein Weib in Ruhe lassen konnte.«

»Kein Weib«, betonte der Kommissar in felsenfester Ueberzeugung. »Kein Weib – und also auch seine hübsche Aufwärterin, die Schlomke, nicht. Da läge denn der Grund zu der Tat aus Eifersucht.«


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