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7.

»Ich finde Ihre Vorstellungen recht eigentümlich«, sagte Staatsanwalt Bissung, indem er einen scharfen Blick auf den ihm gegenübersitzenden Dr. Aurelius heftete.

Der Untersuchungsrichter entgegnete: »Nur weil Sie noch immer nicht dahingelangt sind, unsere Unterredung rein als Privatgespräch zu betrachten.«

Staatsanwalt Bissung hob hervor: »Das Verhängen der Untersuchungshaft ist doch nichts weiter als ein berechtigter behördlicher Eingriff in die Bewegungsfreiheit eines Menschen, dessen körperlicher Person man sich zu versichern hat zum Zweck der Aufklärung eines Verbrechens schwerer Natur.«

»Vielen Dank für die Belehrung«, versetzte Aurelius mit einem kaum unterdrückten Spottlächeln. »Neu ist sie mir allerdings nicht, Ihre Erläuterung der Untersuchungshaft, die auf Antrag des Gerichts ja durch mich, den Untersuchungsrichter, verhängt wird. Ich stelle mich aber auf den Standpunkt, die Untersuchungshaft sei nur bei zwei Anlässen menschlich gerechtfertigt: erstens, wenn Fluchtverdacht vorliegt, zweitens, wenn sich gegen den Angeschuldigten wirklich unabweisbare Verdachtsgründe für die Täterschaft ergeben haben.«

»Und das bestreiten Sie im vorliegenden Falle?« knurrte der Staatsanwalt.

»Keiner von beiden Anlässen ist zutreffend bei Frau Beverstorff«, behauptete Aurelius. »Von dieser Erwägung ausgehend, kam ich auf den Einfall einer – hier betone ich stark! – einer vollkommen privaten Unterhaltung mit Ihnen, Herr Staatsanwalt, um auf diesem Wege die von mir beabsichtigte Haftentlassung der Dame zu erhellen.«

Der Staatsanwalt rückte in schlecht verhehltem Unwillen an seiner Brille und sagte: »Fluchtverdacht – gut, ich will zubilligen, eine so besonnene Frau wie die Beverstorff sei da unverdächtig. Wirklich unabweisbare Gründe für den Verdacht der Täterschaft – lieber Doktor, das Eheunglück als Vorspiel eines Mordes, der Mord als Folge der niederträchtigen Handlungsweise eines in jeder Beziehung brutalen Ehegatten ... Wir mögen als Menschen uns im tiefsten Innern sagen, die Tat der Frau sei begreiflich. Als Beamte der Strafjustiz aber müssen wir anerkennen: eine zerrüttete Ehe, häufige Zwiste nach der Trennung, nach eigener Aussage der Verhafteten diese Zwiste verbunden mit nicht nur wörtlichen, schlimmer noch: tätlichen Beleidigungen – das sind wahrlich mehr als genug dringliche Gründe für den Täterschaftsverdacht. Ich kann nicht einsehen, es gebe hier auch nur einen leisen Grund, auf die Inhaftierung der Frau zu verzichten. Und einen Anlaß, sie gegen geldliche Sicherheitsleistung zu entlassen – nein, das lehne ich noch schroffer ab.«

Dr. Aurelius erwiderte trotzig: »Ich habe die unglückliche Frau bis jetzt viermal verhört. Es waren langdauernde, der Dame und mir selbst zur Qual werdende Vernehmungen. Sie haben noch nicht einmal einen Anhalt von Staubkorngröße ergeben, von dem her sich ein Ausblick gewinnen ließe für die auf diesem Wege zu erlangende Aufdeckung des geheimnisvollen Mordes.«

»Die breite Oeffentlichkeit muß berücksichtigt werden«, hielt Staatsanwalt Bissung dem entgegen. »In den weitesten Kreisen beschäftigt man sich mit der Ohnmacht der Behörde, dem Geheimnis der Tat beizukommen. Die Haftentlassung der Beverstorff würde aufgefaßt werden als ein neuerliches Bekenntnis, wie wenig wir in diesem Kriminalfall bis jetzt erreichten. Vielleicht auch, wie wenig wir vermögen gegen einen Täter, der uns an List und Scharfsinn überlegen ist.«

Erbittert brach Aurelius los: »Also nur Rücksichten auf den Tratsch des Pöbels sollen bestimmend sein für unsere Maßnahmen? Ich möchte beinahe sagen: Dann bedanke ich mich dafür, der Zunft anzugehören!«

Bissung erhob sich mit einem Ruck: »Herr Doktor, mit diesem Anwurf endet unser Privatgespräch. Obwohl wir uns in meiner persönlichen Behausung befinden, muß ich Ihren Besuch nunmehr dienstlich auffassen.«

Der Untersuchungsrichter stand gleichfalls auf und sagte grimmig: »Ich stelle das Ihrem Dafürhalten anheim, Herr Staatsanwalt.«

»Dann handle ich gewiß richtig, wenn ich von dieser Minute an Voraussetzungen Raum gebe, die ich sogleich näher skizzieren will: Sie können sich nicht länger eines Gefühls persönlicher Befangenheit gegenüber einer Tatverdächtigen erwehren – Ihre Unterhaltung mit mir hätte also den Zweck gehabt, mich vorzubereiten auf ein Ausscheiden Ihrerseits aus dem Amte. Aus dem Amte, Herr Doktor! Nicht nur aus dem Prozeß. Ich danke Ihnen für dies Vertrauen, und ich werde trotz vorgerückter Stunde noch heute veranlassen, daß die Akten in andere Hände übergehen. Ich wünsche Ihnen alles Gute für eine Rückkehr ins Privatleben. Sie fingen an, sich als tüchtiger Beamter zu bewähren. Man wird Sie gewiß mit Bedauern aus der Anstellung scheiden sehen.«

Es blieb dem völlig überrumpelten Aurelius nichts übrig, als diesen sehr deutlichen Wink genau so zu verstehen, wie er gemeint war. Er kannte den knurrigen Alten und seinen Machteinfluß zu gut: er würde dem ihm mißliebig gewordenen Untersuchungsrichter den Hals zu brechen wissen, sofern der nicht freiwillig aus Amt und Anstellung schied.

Aurelius verabschiedete sich in Eiseskühle von dem Staatsanwalt und ging heim, um noch in dieser Nacht sein Gesuch um Amtsenthebung aufzusetzen.

Aurelius begriff, daß er unwillkürlich und durch eine unbedachte Aeußerung seine Gefühle für Frau Harthilt verraten haben müsse.

Dr. Aurelius schrieb sein Gesuch mit bitterem Herzen. Als er aber die Unterschrift darunter gesetzt hatte, fühlte er sich doch frei. Endlich frei für den Kampf zur Befreiung einer geliebten Frau von dem furchtbaren Verdacht des Menschenmordes; denn die persönliche Freiheit – soweit war es ja gekommen – die konnte er ihr als Untersuchungsrichter nun nicht mehr zurückgeben.

Er durfte sich nicht verhehlen:

Frau Harthilt hatte sich in mancherlei Widersprüche verstrickt. Mit eigentlich amtswidriger List brachte er sie dahin, einen Alibibeweis anzutreten. Zu seinem Schrecken aber war dieser Beweis gründlich mißlungen. Nicht nur das, der versuchte Beweis vertiefte die Tatverdächtigung noch!

Die Dienerin hatte nämlich ausgesagt, Frau Beverstorff sei in der Mordnacht nicht, wie sie behauptete, daheim gewesen, sondern im Morgengrauen erst nach Hause gekommen.

Sobald er ihr von diesem Zeugnis des Mädchens Kenntnis verschafft hatte, gab Frau Harthilt die nächtliche Abwesenheit ohne weiteres zu, verweigerte aber jede Angabe, wo sie bis zum Morgengrauen gewesen sei.

»Der Schein ist gegen mich«, hatte sie gesagt. »Ich will es lieber auf mich nehmen, einen Schurken aus der Welt geschafft zu haben, denn ich hätte dadurch nur Mut bewiesen. Und ich beweise wahrscheinlich auch nur meinen Mut, indem ich verschweige, wo ich war.«

Er hatte erwidert: »Seien Sie doch vernünftig! Es kann Sie den Kopf kosten, wenn Sie über Ihren Verbleib schweigen.«

Und sie: »Sind nicht Sie selbst es, Herr Doktor, der mich durch sein Drängen nun in diese Lage brachte? Ich fühle, Sie haben es gut gemeint. Ich weiß nicht, ob die Dienerin mit ihrer Behauptung im Recht ist oder ob ich mich irre. Mein Kopf ist verwirrt. Ich ergebe mich in mein Verhängnis und setze mein Vertrauen auf die Gerechtigkeit des Schicksals.«

Da hatte er sich der Erzählung des Friseurgehilfen Scheufgen entsonnen. Er klang schon fast flehentlich, als er die geliebte Frau bat, sich zu erinnern, ob es nach einer außerhalb des Hauses verbrachten Nacht gewesen sei, als sie sich am Vormittag des 28. März die Haare waschen ließ. Sie war nicht zum Reden zu bewegen. Wie in den Tagen vorher gab sie Antworten, die in ihrer Einsilbigkeit nichts leugneten, nichts eingestanden.

Er hatte die Vernehmung schließen müssen, nachdem Frau Harthilt noch vorbrachte: »Es wissen bis zu dieser Stunde nur die Allmacht und der Täter, wer die Tat beging. Ich warte geduldig auf die Offenbarung. Sie kann nicht mehr fern sein.«

Weder Eingeständnis noch Leugnen, weder Ja noch Nein, weder Bekenntnis noch Rechtfertigung ... wehe ihr, wenn nun ein anderer sie verhörte, quälte, in die Enge trieb, mit Fragen sie folterte, sie mit Vorwürfen entmutigte, mit Behauptungen sie einschüchterte!

Sein Herz war ihr zugetan, und er hatte den Eindruck gewonnen, als sei ihr das nicht fremd geblieben. Frei war er nun. Sie kämpfte durch nichts für sich. Er aber wollte mit allen Mitteln für sie kämpfen. Dadurch vielleicht um ihr Herz!

Wo aber den Kampf beginnen – und wie? Wo den Schlüssel finden, der für Frau Harthilt das Tor zur Freiheit erschloß? Wie den Lichtstrahl erzeugen, der das Dunkel der Tat entzauberte?

Ruhelos schritt Aurelius in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Dann wieder saß er lange Viertelstunden, tief in sich versunken, nachgrübelnd im Schreibtischsessel. Ganz plötzlich vernahm er in seinem Innern eine ungewisse Stimme. Er lauschte dem Wort, das erst sinnlos klang, dann mehr und mehr sich verdeutlichte. Es wurde ein Name daraus: Schlomke!

Der Name der Frau, die zugegeben hatte, am Abend vor der Tat heimlich in der Beverstorffschen Wohnung gewesen zu sein. Sie hatte Beverstorff mit einem Manne reden hören. Und dieser Mann hatte gesprochen von einer Schande, die mit Feuerbuchstaben an den Himmel geschrieben werden müßte. Also Drohungen – ein Mann war der Mörder – dieser Mann!

Aurelius sprang auf.

Nein – und doch wieder: die Puderquaste, die Haarspange, die blonden Frauenhaare. Woher kamen die Haare, und wie waren sie in die Faust des Ermordeten gelangt? Eine Frau, die zwei Gegenstände ihrer Eitelkeit zurückließ am Ort eines galanten Abenteuers? War diesem Abenteuer die blutige Tat gefolgt?

Als diese Fragen verklungen waren in seiner Seele, gab es für den Doktor keine andere Ueberzeugung mehr, als daß ein Weib die Schuldige war. Ein Weib – jedoch keinesfalls die schöne, stolze Frau mit den schweren rotblonden Flechten über der reinen Stirn.

Um sich zu ruhigem, folgerichtigem Nachdenken zu zwingen, schrieb der Untersuchungsrichter die Aussagen der Frau Schlomke auf ein Blatt Papier, so wie er sich des ungefähren Wortlauts entsann:

»Wäre in der Wohnung die Person gewesen, deren Anwesenheit ich vermutet hatte, dann hätte ich Beverstorff sofort gewarnt, daß er beschwindelt wurde.«

Und weiter:

»Ich werde den Namen dieser Person nicht nennen, denn ich will niemanden ins Unglück bringen.«

Zuletzt noch:

»Die Person hat hellblonde Haare, aber das könnte man ja auch von Frau Beverstorff sagen.«

Die langsam hingeschriebenen Worte standen da. Den Nachsatz über Frau Harthilt strich Aurelius mit fester Hand durch. Wenn nicht die mittelalterliche Folter, so gab es keine Gewalt, der Schlomke den Namen der Hellblonden abzuzwingen.

Aber es gab – die List! Den kriminalistischen Kniffen, durch Ueberlistungsversuche zum Namen der blonden Person zu gelangen, diesen Kniffen war die Schlomke mit wunderbarer Geschicklichkeit ausgewichen.

Und doch war der Name vermutlich das erste, was zu den Spuren des Täters oder der Täterin hinführen konnte. Es galt also, diesen Namen zu erfahren.

Aurelius schrieb ein paar kurze Zeilen der Einladung an den Friseurgehilfen Scheufgen. Er brauchte diesen Mann bei seinem Plane.

Es dämmerte, als der Doktor mit dem Schreiben fertig war. Ein erster Sonnenstrahl legte den goldenen Finger über des Doktors ruhende Hand. Wie eine schöne Verheißung!

*

Friedrich Schulze quälte sich mit kummerschwerem Herzen ob des abwegigen Verhaltens seiner Frau. Oftmals, wenn er des Abends aus dem Dienst heimkam, fand er die Wohnung leer. Für sein leibliches Wohl war allerdings stets gesorgt: Frau Alma hatte immer den Tisch hergerichtet.

Da prunkten auf schneeiger Damastdecke die Teller mit ihren Goldrändern, neben ihnen die Silberbestecke. In der Mitte des Tisches flimmerte im Licht der Glühbirnen die Kristallvase, über deren Rand freundliche Blumen quollen. Eine Schüssel mit einladend geordnetem kalten Aufschnitt. Nichts fehlte, und der Tisch bot einen fast vornehmen Anblick, der ebenso sehr die sorgsam ordnende Hand der jungen Frau wie aber auch ihre Vorliebe für den Prunk verriet.

Doch war der Tisch auch noch so schön gedeckt, sie selbst war nicht da. Sie trieb sich als Soldatin der Heilsarmee in der nächtlichen Stadt umher. Und wenn sie spät nach Hause kam, wenn Schulze dann manchmal, längst nicht immer, wach wurde und brummig ihr Vorwürfe machte, so hatte sie nur einen eigenartigen Blick für ihn.

Diesen Blick fest auf ihn heftend, sagte sie ruhig: »Ich tue nichts Unrechtes, Friede. Ich suche nach einem Mann, dem der Mord an Beverstorff zuzutrauen wäre. Du solltest dich darüber freuen als Kriminalbeamter.«

Mehr war nicht aus ihr herauszubringen. Sie ging zur Ruhe und schlief fast augenblicklich ein. Oder sie tat wenigstens so.

Am Morgen weckte sie ihn pünktlich und legte sich sofort wieder hin, um – wie sie sagte – die versäumten Schlafstunden nachzuholen. Wiederum saß er dann allein am geschmackvoll gerichteten Kaffeetisch.

Wenn er ohne Lust und Behagen den Morgenimbiß zu sich genommen und die sorgfältig eingewickelten Frühstücksschnitten in die Tasche gesteckt hatte, verließ er das Haus. Oftmals hatte er innerhalb vierundzwanzig Stunden dann nicht mehr als ein paar brummige Bemerkungen mit seinem jungen Weibe ausgetauscht.

Der seit Tagen aufgestaute Groll brach natürlich doch einmal über die Dämme der Selbstbeherrschung. Schulze machte beim Mittagessen seinem Grimme Luft.

Sowie er aber laut und heftig wurde, erhob sich Frau Alma vom Tisch. Ohne ein Wort der Entgegnung oder der Verteidigung verließ sie das Zimmer. Er gab das Mittagessen preis, stürmte wutschnaubend von dannen und rannte aufs Büro. In der Stille und Einsamkeit, die um diese Zeit dort noch herrschten, beruhigte er sich allmählich.

So war es auch heute gewesen. Der zweite derartige Auftritt schon. Wie oft würde sich solch ein Auftritt nun wiederholen? Schulze saß stumpf und dumpf vor seinem Arbeitspult und würgte seine seelische Erregung nieder.

Mit dem Glockenschlag zwei ging im Nebenraum, im Arbeitszimmer Weinreichs, die Tür. Schulze wartete ein paar Minuten, um dem Vorgesetzten zum Ablegen des Ueberrocks und zum Anzünden der Verdauungszigarre Zeit zu lassen. Dann pochte er an die Verbindungstür und trat entsprechend der Vorschrift ohne Aufforderung ein.

Nach kurzem Gruß erstattete er Bericht: »Außer einer Meldung über die Festnahme des Handtaschenräubers Willy Kreitz, als schnoddriger Willem bekannt, liegt nichts vor, Herr Kommissar.«

»So, den hätten wir also wieder mal«, sagte Weinreich.

›Wie sattgegessen und zufrieden der Mann aussieht!‹, dachte Schulze, sich voll Neid der in seinem Heim eingerissenen Unbehaglichkeit erinnernd.

Der Kommissar hatte gelangweilt seinen Untergebenen betrachtet in jener Stimmung, der man nach einer reichlichen Mahlzeit verfällt.

»Was ist eigentlich mit Ihnen los, Schulze?« erkundigte er sich. »Sie fallen von Tag zu Tag mehr ab, tun mürrisch und verdrossen Ihren Dienst, sehen immer aus, als wäre Ihnen alles Wurst oder als hätten Sie Kummer.«

»Den habe ich auch, Herr Kommissar«, gestand Schulze nach einem Seufzer ein. »Meine Frau macht mir schwere Sorgen. Ich bin oft ganz trostlos, muß mir Vorwürfe machen, daß ich nicht allein geblieben bin.«

»Ein merkwürdiges Huhn, Ihre Frau«, bestätigte Weinreich. »Was treibt sie nur dazu, sich um den Kriminalfall Beverstorff zu kümmern?«

Erst nach langem Zögen« begann Schulze: »Ich habe keinerlei Erklärung dafür. Es ist offenbar ein Koller. Weil ich der Kriminalbehörde angehöre, glaubt sie wahrscheinlich, sie müsse da mittun, um mich zu unterstützen.«

Dem Kommissar kam plötzlich ein Gedanke, und er fragte: »Sagen Sie, Schulze – sind Sie ganz sicher, daß Ihre Frau vor der Ehe nicht in Beziehung gestanden hat zu Beverstorff? Ich meine, weil sie sich in so ungewöhnlicher Weise mit der Sache befaßt.«

Schulze starrte seinen Vorgesetzten an, als fände er nicht gleich Worte der Erwiderung auf diese erstaunliche Frage.

Endlich hub er schwerfällig an: »Nein, Herr Kommissar, – da bin ich – bin ich so sicher – so sicher, wie ich sicher bin, daß der verdammte Kerl tot ist.«

»Warum sprechen Sie stets in so gehässigem Tone von dem Toten?« sagte Weinreich streng. »Das fällt mir heute nicht zum erstenmal auf.«

Schulze suchte eine kurze Weile nach einer Erklärung, meinte aber dann in treuherziger Beteuerung: »Das ist wohl begreiflich, da ich mich bitter ärgere, daß meine Frau sogar den Frieden unseres Hauses vergißt, um das Ende eines Weiberjägers aufzuklären. Sie wissen, Herr Kommissar, wie ich bei meinen hausbackenen Grundsätzen über diese Menschensorte denke.«

»Richtig«, bekannte Weinreich. »Daran hatte ich nicht gedacht.«

»Ich kenne meine Frau«, sprach Schulze weiter. »Ich hätte sie nicht genommen, wäre auch nur das Geringste an ihrer Vergangenheit nicht einwandfrei gewesen.«

»Sie haben mich mißverstanden«, tröstete der Kommissar. »Ich habe nichts Tadelnswertes gemeint. Eine Frau kann doch einen Mann kennen, ohne daß man gleich auf Anrüchigkeit der Bekanntschaft schließen muß.«

»Meine Frau kannte den Beverstorff aber nicht«, rief Schulze aufbrausend. »Weder auf die eine noch auf die andere Art. Wie kommen Sie überhaupt zu solch einer Vermutung, Herr Kommissar?«

Weinreich sah den urplötzlich erregten Mann erstaunt an. Wie unheimlich dies sonst so harmlose Biedermannsgesicht auf einmal verändert war!

»Was geraten Sie denn so aus dem Häuschen, mein Bester?« beruhigte der Kommissar. »Eine ganz harmlose Frage, wenn ich sie auch nicht ohne Grund stellte.«

»Grund – was für Grund?« fragte der Beamte mit stark erhobener Stimme. »Ich muß doch bitten, mir diesen Grund zu sagen.«

Der Kommissar verbarg seine Gedanken: dieser Ehemann weiß durchaus nicht alles über die Vergangenheit der Gattin, sonst würde ihn die Frage nicht so in Harnisch bringen.

Dann tupfte Weinreich die Zigarrenasche ab und sog mit gespitzten Lippen die Luft ein. Der leis pfeifende Laut wirkte wie ein Stachel auf Friedrich Schulze.

»Wollen Sie mir den Grund nicht nennen?« stieß er heftig hervor.

Der Kommissar äußerte: »Ich könnte verneinen, weil mir der Ton nicht behagt, den Sie gegen mich anschlagen, Verehrtester. Man hat mir jedoch erzählt, Sie würden schon eifersüchtig, wenn man Ihre Frau nur mal genauer anguckt. Deshalb will ich Nachsicht üben. Den Grund aber, den sollen Sie sofort hören: Ihre Frau kennt nämlich eine Frau, die zu Beverstorff unzweifelhaft in engeren Beziehungen stand.«

»Das ist völlig ausgeschlossen!« brüllte Schulze förmlich. »Meine Frau – meine Frau, die – – –«

»Warten Sie, bitte, bevor Sie mich Lügen strafen wollen«, unterbrach Weinreich unbeirrt. »Erinnern Sie sich, daß vor kurzem Ihre Frau eine Unterredung mit mir nachsuchte?«

»Wir haben hinterher einen schweren Streit gehabt.«

»Sagte sie Ihnen daraufhin, was sie bei mir gewollt hat?«

»Meine Vorwürfe hatten ihren Trotz erweckt. Sie lehnte jede Auseinandersetzung über den Besuch ab.«

Der Kommissar machte eine kleine Pause, um dann zu vollenden: »Ich sagte soeben, Ihre Frau kenne eine Dame, die Beverstorff nahestand. Sie bestreiten das. Ich weiß also mehr als Sie. Ihre Frau war zu mir gekommen, um sich die bei dem Ermordeten gefundenen Gegenstände zeigen zu lassen.«

Schulze sah aus wie ein Raubtier, als er nun mit zusammengepreßten Lippen flackernden Auges den Vorgesetzten musterte. Dann versuchte er etwas zu sagen. Doch der Mund verzerrte sich nur zu einem Entblößen der Zähne.

Der Kommissar sprach weiter: »Sie gestand sofort, die Gegenstände zu erkennen. Ja, sie beschrieb sogar die Person, der die Dinge gehört haben, wenn sie das auch auf Grund von Vermutungen und Gedankenfolgerungen tat, die ich nicht anerkennen kann.«

»Meine Alma sagt niemals etwas ohne Ueberlegung«, murmelte Schulze mit einem Lächeln, das dem Kommissar ins Herz schnitt, obwohl er nicht zu den mitfühlenden Menschen gehörte.

»Und nun sollen Sie auch hören, was mir später erst auffiel«, fuhr Weinreich nach kurzem Schweigen fort. »Es waren am Tage des Besuches Ihrer Frau die Haare noch nicht zurückgeliefert, die der zweite Sachverständige zur mikroskopischen Untersuchung erhalten hatte. Ihre Frau sah also nur die Puderquaste und die Spange. Eben noch so listig in ihren spitzfindigen Rückschlüssen, verlor sie plötzlich die Fassung. Sie wurde so erregt, daß ich sie auf mein Amtszimmer führen mußte. Dort auf dem Stuhl am Fenster saß sie, bleich bis in die Lippen. Sie nahm den Hut ab, um sich Erleichterung zu verschaffen. Auf ihrer Stirn glitzerten Schweißperlen einer für mich vollkommen überraschenden Erregung. Und über dieser Stirn bauschten sich die modisch kurz geschnittenen Haare zu einer blonden Gloriole.«

»Weiter – weiter!« stieß Schulze hervor, Worte, die wie ein Schrei völliger Verzweiflung klangen.

»Ganz kurz nach dem Weggang Ihrer Frau brachte der Sachverständige selbst mir die bei Beverstorff gefundenen Haare zurück. Da entdeckte ich dies: die Frauenhaare aus der Faust des Ermordeten und die Haare Ihrer Frau – sie glichen einander in der blonden Farbe wie – nun, wie eben ein hellblondes Haar dem anderen.«

»Nein – nein«, stöhnte Schulze aus tiefer Kehle.

»Doch!« betonte Weinreich. »Und da wir alle im Gegensatz zu der seltsamen Behauptung Ihrer Frau der Ueberzeugung sind, daß die Tat von einer weiblichen Person verübt wurde, so bleibt nur die einzige Annahme –«

Kommissar Weinreich konnte nicht vollenden. Schulze taumelte sekundenlang wie ein Trunkener, vergeblich Halt suchend an der Wand hinter sich. Dann sank der schwere Körper wie unter einem Hieb gefällt zu Boden.

Der rasch herbeigeholte Arzt stellte einen Gehirnkrampf fest.

»Es wäre dem armen Menschen wahrscheinlich wohler, wäre es eine richtige Gehirnlähmung geworden, die das Aufhören der Herztätigkeit und der Atmung bedingt, so daß sofort der Tod hätte eintreten müssen.«

So sagte der Arzt, und Weinreich fügte hinzu: »Ja, es wäre ihm wahrscheinlich wohler – davon bin ich im tiefsten überzeugt.«

»Ah, Sie wissen, daß Menschen nach einem solchen Zusammenbruch kaum je wieder wirklich – hm – Menschen werden?«

»Es ist nicht das«, murmelte der Kommissar mit ernster Miene.

Er vergegenwärtigte sich das Bild der reizenden Frau, die so heiter und lieblich lächeln konnte und so harmlos aussah.

*

Man konnte die lenzlich schönen Tage wirklich nicht Aprilwetter nennen. Ostwind hatte einen klarblauen Himmel gefegt, und die Sonne wärmte täglich stärker. Es ließ sich gut wandern in diesen Tagen.

Viktor Felsing schritt rüstig dahin. Er kam gut vorwärts, obgleich er das Marschieren gar nicht so gewöhnt war wie sein Begleiter, ein untersetzter Mann in einem dunkelblauen Anzug.

Dieser Mann griff allerdings keineswegs sonderlich aus. Er lief einen schaukelnden Trott, stetig aber und ohne das Schrittmaß zu wechseln, bevor nicht mindestens eine Stunde um war. Nach einstündigem Wege erst gönnte er sich selbst und seinem jungen Gefährten Rast. Doch schon nach wenigen Minuten trieb er zum Weitermarsch an.

In dieser Weise wanderte Viktor bereits seit vier Tagen neben dem Fremden her. Er kannte den Namen des Mannes nicht. Der hatte ihn auch nicht nach seinem Namen gefragt, und so glaubte er dem Gefährten die gleiche Rücksicht erweisen zu müssen. Es war wohl so Brauch auf der Landstraße.

Am Spätnachmittag saßen sie auf der Steinbrüstung einer kleinen Brücke nebeneinander. Von der Vornehmheit der Kleidung Viktors war nicht viel übriggeblieben. In Staub und Sonne hatte sich der Anzug dem von Wind und Wetter verfärbten Gewande des Gefährten angeglichen. Doch sauber und ordentlich sahen die beiden Wandergenossen aus. Das nicht zuletzt war es, was ihnen in zur Abendzeit erreichten Dörfern ein Unterkommen verschaffte.

»Nicht zu lange ausruhen«, warnte jetzt der Mann, indem er sich vom Brückenrande erhob.

»Ich verstehe Ihr Prinzip nicht«, erwiderte Viktor müde. »Nur gründliches Ausruhen ermuntert doch den Körper und gibt den Muskeln neue Kraft.«

»Gewiß«, gab der Mann im blauen Anzug zu. »Aber nur dann soll man gründlich ausruhen, wenn der Körper den ganzen Tag hindurch das geleistet hat, was die Muskeln zu leisten vermögen. Das aber ist weit mehr, als ihr verwöhnten Gebildeten glaubt. Ich habe meine Kenntnis von einem Doktor.«

»Von einem Arzt?« staunte Viktor.

»Ja, das war er. Oder er ist es wenigstens gewesen, bevor er in Südamerika Landstreicher wurde. Dort habe ich ihn kennengelernt. Ich war damals von meinem Schiff abgegangen – ich bin Seemann. Von Buenos Aires aus tippelte ich landeinwärts. Wie du dich mir anschlossest, so schloß ich mich damals dem Doktor an, als wir – genau wie du und ich – einander nach dem Weg fragten.«

»Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie sich meiner so annehmen«, flocht Viktor ein.

»Geschieht gern«, sagte der Seemann. »Wenn ein Sohn aus gutem Hause – und das bist du ohne Zweifel – wenn solche Bengels der Seefahrt zulaufen, dann fangen sie es zumeist auf merkwürdige Weise an. Konntest du nicht vor deinen Alten hintreten und darauf bestehen: ich will nun mal Seemann werden?«

Viktor gab zurück: »Hätte das genützt, so säße ich jetzt nicht müde neben Ihnen.«

»Richtig.«

»Erst wenn wir in Hamburg sein werden, kann ich meinem Vater Forderungen stellen.«

»So hast du mächtig Glück gehabt, daß du in mir auf einen befahrenen Mann trafst. Ich mache den Weg auf Schusters Rappen, weil ich in der Heimat zwecklos mein Geld verpulverte. Du läufst zu Fuß nach Hamburg, weil ihr Gebildeten glaubt, man müsse das, was ihr ein Abenteuer nennt, auf recht verquere Art beginnen. Na, mein Junge, komm erst auf Schiffsplanken – da werden sie dir zeigen, wie verdammt wenig Aehnlichkeit die Seefahrt mit Abenteuern hat.«

»Sie wollten von dem Arzt in Südamerika erzählen«, erinnerte Viktor, um dem Gespräch eine Wendung zu geben, die weniger peinlich war.

»Kann geschehen«, versprach der Matrose. »Los, auf, mein Sohn, du sitzt schon viel zu lange.«

Er trieb den jungen Gefährten vorwärts und erzählte während des Weitermarsches von seinen Landfahrten.

Seinen Worten nach war er seit zwanzig Jahren Seemann. Aber er hatte es in diesem Beruf nicht weiter gebracht, weil ein unbändiger Freiheitswille und der Wandertrieb ihn manchmal drängten, sich vom Schiffe ablohnen zu lassen. Viele Monate trieb er sich dann in überseeischen Staaten herum. Er sagte, einen bestimmten Zweck verfolge er dabei nicht, sondern er müsse zu manchen Zeiten nun einmal der Leidenschaft frönen, ein ungebundenes Leben zu führen, und sich tüchtig auslaufen. Ginge dann sein Geld zur Neige, so mache er einfach kehrt mit einer Hafenstadt als Ziel. Von da an halte er wieder Ruhe und fahre zur See, ein so guter Matrose wie je zuvor.

»So leben kann selbstverständlich nur jemand wie ich«, führte er aus. »Jemand, der nach keiner Menschenseele zu fragen hat, sich nur nach sich selbst zu richten braucht und der weder Vater noch Mutter mehr besitzt oder nicht sonst einem Menschen nahesteht.«

»So traurig ist es um Sie bestellt?« bemitleidete ihn Viktor. »Sie sagten doch aber, Sie seien in Ihrer Heimatstadt gewesen. Was suchten Sie da, wenn nicht Angehörige?«

»Es gab dazu freilich einen seltsamen Anlaß«, berichtete der Seemann.

Er kramte aus der Brusttasche seiner marineblauen Düffeljacke ein Ding hervor, das aussah, wie ein abgebrauchtes Lederbehältnis. Die kleine Mappe enthielt eine Menge Papiere. Der Matrose suchte einen Zeitungsausschnitt heraus und überließ ihn dem Gefährten zum Lesen.

Da stand unter der dick gedruckten Ueberschrift »Lodernde Worte über der Stadt« folgendes:

»Wir bezeichnen mit diesem Titel eine Einrichtung, die demnächst dem Nachtbild unserer Stadt ein ganz neues Gepräge verleihen wird. Es handelt sich um eine bewegliche Lichtreklame. Durch Flammenschrift über den Dächern in der Finsternis werden Firmen ihre Erzeugnisse anpreisen. Auch unser Blatt hat sich den ersten Platz gesichert. In lodernden Worten werden wir künftighin Abendnachrichten bringen, die erst nach vollendeter Drucklegung unserer Zeitung zur Kenntnis der Schriftleitung gelangen. Herstellerin dieser Lichtreklame ist die Firma Felsing, die damit von neuem beweist, daß sie Schritt zu halten weiß mit den Errungenschaften des Jahrhunderts der technischen Triumphe. Der bekannte Finanzmann Arthur Beverstorff ist Mitbeteiligter des Unternehmens. Diese von der Firma Felsing uns bestätigte Tatsache läßt darauf schließen, daß in der Absicht, wahrscheinlich auch in anderen Städten des Reiches die bewegliche Flammenschrift einzuführen, das neuartige Unternehmen großzügig ausgebaut werden soll.«

Viktor war stehengeblieben, um den Zeitungsausschnitt in Ruhe lesen zu können. Ein sonderbares Gefühl beschlich ihn.

Er war geflüchtet vor dem ihm so furchtbar gewordenen Namen Beverstorff. Von der kleinen Eisenbahnstation aus hatte er sich im Morgengrauen nordwärts gewendet in der Absicht, den Ozean zwischen sich und diesen Namen des Entsetzens zu bringen. Den verräterischen hellen Ulster hatte er mit Steinen beschwert und noch in der Dunkelheit das Kleidungsstück in einen Flußlauf versenkt, der ihm einmal Halt geboten hatte während der Flucht querfeldein.

Im Laufe des Morgens war er mit dem Mann im blauen Seefahreranzug zusammengetroffen. Sie gelangten zu einem kurzen Gespräch über die Wegrichtung. Und da der Mann erwähnte, er sei auf der Wanderschaft nach Hamburg, hatte Viktor ihn gebeten, sich anschließen zu dürfen.

Und dieser Mann gab ihm nun einen Zeitungsausschnitt zu lesen ... einen abgegriffenen Papierfetzen, aus dessen Buchstaben der Name Beverstorff ihm förmlich entgegengeschrien wurde.

Mit aller Kraft bewahrte Viktor die Fassung. Er reichte das Blättchen zurück und fragte möglichst gleichgültig, was der Wisch mit der Wanderfahrt des Matrosen zu schaffen habe.

Während sie den Marsch wieder aufnahmen, erzählte der Seemann:

»Ich war von einem Schiff abgemustert worden und las im Seemannshaus die Zeitungen nach, was für Dampfer in nächster Zeit abgingen. Oftmals hat man mehr als mit dem Heuerbaas Glück, wenn man sich an den Kapitän selbst wendet. Die Zeitung nahm ich zur Hand, nur weil sie in meiner Heimatstadt erscheint. Als ob ein besonderer Zufall es gewollt hätte: das erste Wort, über das meine Augen glitten, war der Name Beverstorff! Ich heiße nämlich auch so.«

»Beverstorff«, sagte Viktor mit einem heiseren Auflachen ... der Name schien in vervielfachter Gestalt ihn verfolgen zu wollen.

»Nichts zu lachen, mein Junge«, knurrte der Matrose. »Kannst mein Seefahrtsbuch sehen. Darin steht mein Name: Otto Beverstorff. Und er ist verdammt nicht erlogen. – Doch weiter. Ich hatte bis dahin geglaubt, es gebe in meiner Heimat keinen Verwandten dieses Namens. Wohl aber wußte ich von einem Onkel Arthur. Noch zu Lebzeiten meiner Eltern war er auf seltsame Weise ein reicher Mann geworden. Er galt aber als verschollen – in Amerika – irgendwo. Warum sollte er nicht in die Heimat zurückgekehrt sein? Es schwebte da zwischen meinem Vater und diesem Onkel Arthur eine alte, bittere Abrechnung. Ich las den Namen zehnmal und sagte mir: Ist er es, so wirst du die Abrechnung in Ordnung bringen müssen, denn nicht umsonst trägt die Zeitung da dir den Namen unter die Nase.«

Otto Beverstorff marschierte eine Weile schweigend. Sein von der Sonne aller Meere und aller Länder braun gebranntes Gesicht hatte sich verdüstert. Er schritt mit geballten Fäusten dahin, als müsse er eine zornige Erinnerung meistern. Endlich sprach er weiter:

»Ich hatte nach der Abmusterung vom Schiffe fast hundert Mark in der Tasche. Ein Drittel wandte ich dran, um durch eine Eisenbahnfahrt zu diesem Arthur Beverstorff zu gelangen. Nach kurzem Herumforschen in der Heimatstadt fand ich heraus, wo er wohnte. Ich ging hin. Es war da in der Wohnung eine Frauensperson, die mir sagte, der Herr käme vor Abend nicht zurück. Auch gut. Ich faßte vor der Haustür Posten und nahm mir vor: von hier weichst du nicht, ehe du ihn nicht gesprochen hast! Es war schon ziemlich lange dunkel, als ein Auto vorfuhr. Ein feiner Herr stieg aus und schloß die Haustür auf. Ich dachte: du redest ihn an – ist er es, dann gut – wenn nicht, dann wartest du weiter.«

»Und er war es?« fragte Viktor gespannt.

Der Matrose fuhr in seinem Bericht fort:

»Ich sagte nur: ›Guten Abend, Onkel Beverstorff.‹ Er: ›Was wollen Sie von mir?‹ Ich: ›Also Sie sind es?‹ Er: ›Ja, ich heiße Beverstorff – aber Sie stören mich jetzt, kommen Sie morgen vormittag in meine Wohnung.‹ Ich erwiderte: ›Was wir miteinander zu reden haben, dauert nicht lang‹; ich bin der Sohn von Gustav Beverstorff.‹ Daraufhin sagte er: ›Auch wenn Sie das sind, können Sie mir um diese Zeit nicht ein Gespräch zumuten!‹ – Und nun ging er nochmals an das Auto zurück und sprach zu jemandem hinein. Ich meine gehört zu haben: ›Hole dir das Geld, mein Kind, wenn ich morgen daheim bin!‹ Er schlug die Wagentür zu, und als das Auto anfuhr, sah mich durch die Fensterscheibe das Gesicht einer Frauensperson an.«

Völlig unbedacht stimmte Viktor bei: »Wie in der ganzen Stadt bekannt, hatte Beverstorff immer mit Weibern zu tun.«

Des Matrosen Kopf fuhr mit einem Ruck herum: »Woher weißt du das?«

Viktor mußte einsehen, daß er sich verraten hatte, und so gab er zu. »Ich komme aus der gleichen Stadt wie Sie.«

»Hättest du längst sagen müssen, mein Junge«, tadelte Otto Beverstorff. »Aber höre weiter! Während ich dem Auto nachsah, benutzte Onkel Arthur fix die Gelegenheit, ins Haus zu schlüpfen. Es war nichts zu machen. So fand ich mich am anderen Morgen in der Wohnung ein. Wieder war die Weibsperson da und schickte mich fort, weil der Herr schon ausgegangen sei. Das wiederholte sich ein paarmal. Nun paßte ich abends auf – es nützte nichts. Ich paßte morgens auf – es nützte ebensowenig. Das ging einige Tage lang so, in denen mein Geld weniger wurde, weil ich mich gründlich umsah in der Stadt, die ich ja zwanzig Jahre lang nicht betreten hatte.«

»Wie alt sind Sie denn?« warf Viktor ein.

»Fünfunddreißig«, gab der Matrose Auskunft, um dann weiter zu erzählen: »Schließlich dachte ich, es werde mir doch nicht gelingen, die alte Rechnung meines Vaters ins reine zu bringen. Darüber war ich zur Besinnung gekommen. Was konnte ich, ein lumpiger Matrose, ausrichten gegen einen Mann, der Geld wie Heu hatte und in der Stadt ein Ansehen genoß wie ein Fürst!«

»So machten Sie sich auf die Wanderschaft«, folgerte Viktor.

»Nicht gleich«, widerlegte Otto Beverstorff. »Er sollte mir wenigstens das Reisegeld geben. Obdach hatte ich wegen Geldmangels ohnehin nicht mehr. So setzte ich mich in eine Haustür gegenüber, um Beverstorff abzupassen, bevor er sein Haus betrat oder bevor er es verließ. Endlich spät am Abend kam er. Er sprach aber sofort mit einem Manne, der plötzlich dastand. Deshalb zögerte ich, auf Beverstorff zuzugehen, und ehe ich die Straße überqueren konnte, war er mit dem Mann im Haus verschwunden. Aber ich kam doch noch rechtzeitig genug, um die Haustür am völligen Zuschlagen zu verhindern. Wie ich in den Tagen vorher beobachtet hatte, schnappt sie zwar von selbst ins Schloß und ist dann von außen nicht zu öffnen. Aber der selbsttätige Türschließer funktioniert nicht richtig. Ich konnte den Hausflur betreten, hörte die Männer die Treppe hinaufgehen, und als sie hinter der Wohnungstür verschwunden waren, stieg ich treppauf und nahm Posten auf einem Treppenabsatz, der höher liegt als die Wohnungstür.«

Viktor zitterte innerlich: unzweifelhaft war er selbst es gewesen, den der Matrose mit Beverstorff das Haus hatte betreten sehen.

Der Seemann berichtete weiter:

»Ich war verdammt müde von dem vielen Umherlaufen tagsüber und von dem Lauern in der Haustür drüben. Der Teufel wollte, daß ich auf der Treppe einschlief. Und wir Seeleute sind es gewöhnt, auch in einem harten Winkel fest zu schlafen. Ich weiß nicht, um welche Zeit es gewesen sein mag, als ich erwachte, und ich habe nachher auch nicht auf die Zeit geachtet, weil ich viel zu aufgeregt war.«

»Warum – was hatten Sie denn erlebt?« wollte Viktor hören.

»Kommt sofort«, vertröstete Otto Beverstorff. »Ich erwachte also. Ein Geräusch auf der Treppe hatte mich geweckt. Rings war alles dunkel. Jemand tappte die Stufen hinab. Ich horchte auf das Zuschlagen der Haustür. Nichts dergleichen. Nach einer Weile zündete ich ein Streichholz an. Da sah ich die Wohnungstür halb offen stehen. Diesmal muß er dich anhören, dachte ich und betrat die Wohnung, ganz einerlei, um welche Stunde es sein mochte. Mein Junge, es wäre besser gewesen, ich hätte das nicht getan. Grauenvolles geschah.«

Von da an schwieg der Matrose lange Minuten. Plötzlich unterbrach er den Marsch. Er sagte, es werde ihm schwach vor innerer Erregung und er müsse sich eine Pfeife anzünden. Er wankte auf einen Kilometerstein zu und ließ sich nieder. So wartete er, bis ihn die Schwäche verließ. Dann stopfte er ein fast schwarz gekohltes Kalkpfeifchen. Das vollführte er mit jener Gewissenhaftigkeit, die Seeleuten bei all ihrem Tun eigen ist. Erst als er den Tabak ins Glimmen gebracht hatte, sprach er wieder:

»Da du aus derselben Stadt kommst wie ich, so wirst du ja wissen, daß Arthur Beverstorff ermordet wurde.«

Und nun sah er seinen Gefährten mit Blicken an, aus denen das Entsetzen der Erinnerung an einen grauenhaften Augenblick nur zu deutlich sprach.

Viktor murmelte: »Sie wollen sagen, daß Sie den Mord begangen haben?«

Der Matrose lachte plötzlich hell auf.

»Nein, mein Junge. Als ich den Flur betrat, vernahm ich ein Wimmern. Ich öffnete die Tür, hinter der das Aechzen ertönte. Beim Schimmer eines rasch angeriebenen Streichhölzchens sah ich den Ermordeten in seinem Blute liegen. Daß ich da flüchtete, kannst du dir denken. Ich bin überzeugt, das Geräusch auf der Treppe, das mich weckte, rührte von dem Manne her, der der Mörder ist. Und das muß der Mann sein, der mit Arthur Beverstorff spät am Abend das Haus betrat. Es war ein Mann mit einem sehr hellen Ueberzieher.«

Nach langen Minuten erst wagte Viktor zu fragen: »Wie kamen Sie denn aus dem Hause?«

»Ganz einfach«, sagte der Matrose. »Der flüchtende Mörder hatte in der Hast wohl vergessen, die Haustür fest hinter sich zuzuziehen. Sie klaffte um Zentimeterbreite. So kam ich ins Freie. Ich wartete ein paar Tage, ob der Mord aufgeklärt würde. Nichts dergleichen.«

»Aber warum leisteten Sie dem noch lebenden Manne nicht Beistand – warum schwiegen Sie über Ihr Erlebnis?« forschte Viktor mit bleichen Lippen.

»Will ich dir sofort erklären, mein Junge«, verhieß der Seemann. »Ich war ein paarmal nahe daran, der Polizei meine Beobachtungen anzuzeigen. Wer jedoch hätte mir geglaubt, ich sei auf die geschilderte Weise in Haus und Wohnung hinein- und wieder hinausgelangt? Man hätte mich festgehalten – mich, als den vermeintlichen Mörder.«

Er erhob sich erfrischt und klopfte an einem Baumstamm die Pfeife aus. Dann wanderten die beiden Gefährten weiter.

Unterwegs sagte Otto Beverstorff: »Zwei Tage noch, dann sind wir in Hamburg. Wenn ich nur ein bißchen Glück habe, nenne ich eine Woche später einen Monatsvorschuß mein. Dann dampfe ich ab. Von drüben irgendwo werde ich dann an die Polizei schreiben. Mögen sie sehen, wie sie den Mann mit dem hellen Mantel finden!«

Viktor meinte: »Daß der es getan hat, wissen Sie doch gar nicht bestimmt.«

»Mein Junge, darauf schwöre ich glatt einen Eid«, versetzte der Matrose.

Er pfiff ein Seemannslied vor sich hin und schritt wacker aus. Das konnte er nicht wissen, daß nach einer molligen Nacht in einer Bauernscheune sein Wandergefährte spurlos verschwunden sein würde.


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