Friedrich der Große
Geschichte meiner Zeit
Friedrich der Große

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Geistesleben

Die Fortschritte in der Philosophie, der Volkswirtschaft, der Kriegskunst, im Geschmack und den Sitten fesseln unstreitig mehr, als Betrachtungen über Schwachköpfe im Purpurgewande, über Gaukler in der Bischofsmütze und jene Unterkönige, die man Minister nennt: von denen nur sehr wenige einen Platz im Andenken der Nachwelt verdienen. Wer aufmerksam in der Geschichte liest, wird finden, daß dieselben Szenen oft wiederkehren; man braucht nur die Namen der handelnden Personen zu ändern. Hingegen die Entdeckung neuer Wahrheiten zu verfolgen, den Ursachen der Veränderungen in den Sitten nachzuspüren und die Anlässe zur Vertreibung der finsteren Barbarei zu erforschen, die sich der Aufklärung der Geister widersetzte: das sind sicherlich Gegenstände, der Beschäftigung aller denkenden Geister würdig. Beginnen wir mit der Physik. Sie ist kaum hundert Jahre alt. Descartes gab seine Grundsätze der Physik im Jahre 1644 heraus. Ihm folgte Newton, der die Gesetze der Bewegung und der Schwerkraft entdeckte (1684) und uns die Mechanik des Weltalls mit erstaunlicher Genauigkeit darlegte. Lange nach ihm haben Forscher an Ort und Stelle, in Lappland wie unter dem Äquator, die Wahrheiten bestätigt gefunden, die der große Mann in seinem Studierzimmer vorgeahnt hatte. Seit jener Zeit wissen wir bestimmt, daß die Erde gegen die Pole abgeplattet ist. Newton tat noch mehr. Mit Hilfe seiner Prismen zerlegte er die Lichtstrahlen und fand darin die ursprünglichen Farben (1666 und 1704). Torricelli wog die Luft und fand das Gleichgewicht zwischen der Luftsäule und einer Quecksilbersäule. Ihm verdankt man auch die Erfindung des Barometers (1643). Otto von Guericke erfand zu Magdeburg die Luftpumpe (1650). Bei der Reibung des Bernsteins entdeckte er eine neue Eigenschaft der Natur, die Elektrizität (1672). Dufay stellte Experimente über diese Entdeckung an (1733), die zeigten, daß die Natur unerschöpfliche Geheimnisse birgt. Höchstwahrscheinlich wird man erst nach vielfachen Versuchen über die Elektrizität zu Kenntnissen gelangen, die für die Gesellschaft nützlich sind. Eller goß zwei durchsichtige weiße Flüssigkeiten zusammen und brachte ein dunkelblau gefärbtes Wasser hervor. Er machte Experimente über die Verwandlung der Metalle und über die festen und salpeterhaltigen Bestandteile des Wassers (1746). Lieberkühn hat durch Einspritzungen die feinsten Verästelungen der Adern sichtbar gemacht (1745), deren zartes Gewebe dem Kreislaufe des Blutes dient; er ist der Geograph der organischen Körper. Boerhave entdeckte (1708) nach Ruysch den flüchtigen Saft, der in den Nerven zirkuliert und der nach dem Tode des Menschen verdunstet; das hatte man nie zuvor geahnt. Unstreitig dient dieser Nervensaft dem menschlichen Willen zum Boten, um dessen Befehle mit Gedankenschnelle in den Gliedern zur Ausführung zu bringen. Leeuwenhoek (1675 und 1703) und Trembley (1742 und 1744) fanden durch ihre Versuche an Polypen, daß diese merkwürdigen Tiere sich in so viel Stücken, als man sie zerlegt, vermehren. Zu zahllosen Forschungen hat die Menschen ihre Wißbegierde getrieben; sie haben erstaunliche Anstrengungen gemacht, um die Urelemente der Natur zu entdecken: umsonst! Sie stehen zwischen zwei Unendlichkeiten, und es scheint festzustehen, daß der Schöpfer der Dinge sich allein ihr Geheimnis vorbehalten hat.

Über einem von der Büste des römischen Philosophen Seneca gekrönten Schranke hängen die Bilder des späteren preußischen Akademiepräsidenten Maupertuis, der sich vor allem durch seine Forschungsreise nach Lappland und die dort vorgenommenen Erdmessungen einen Namen gemacht hatte, und des berühmten Mathematikers Leonhard Euler, der ebenfalls Mitglied der Berliner Akademie wurde: beide Gelehrte Repräsentanten des blühenden Geisteslebens des 18. Jahrhunderts.

Die vervollkommnete Physik trug die Fackel der Wahrheit in die Finsternisse der Metaphysik. In England erschien ein Weiser, der, von jedem Vorurteil befreit, keinen anderen Führer als die Erfahrung anerkannte. Locke löste die Binde des Irrtums ganz, die sein Vorläufer, der skeptische Bayle, schon teilweise gelockert hatte. Nun erschienen in Frankreich die Fontenelle und Voltaire, in Deutschland der berühmte Thomasius, in England ein Hobbes, Collins, Shaftesbury und Bolingbroke. Der Deismus, die schlichte Verehrung des höchsten Wesens, gewann zahlreiche Anhänger. Mit dieser Vernunftreligion kehrte die Toleranz ein, und man feindete den Andersdenkenden nicht mehr an. Wenn der Epikuräismus im Heidentum der Abgötterei Abbruch tat, so nicht minder der Deismus in unseren Tagen den jüdischen Hirngespinsten, die unsere Vorfahren gläubig angenommen hatten.

Die Gedankenfreiheit, die England genießt, hatte viel zu den Fortschritten in der Philosophie beigetragen, ganz anders als in Frankreich, wo die Werke die Spuren des Zwanges trugen, den die theologische Zensur ihnen auferlegte. Ein Engländer denkt ganz laut; ein Franzose darf seine Gedanken kaum erraten lassen. Doch entschädigten sich die Franzosen für die fehlende Freiheit, indem sie die Gegenstände des Geschmacks und alles, was zur schönen Literatur gehört, meisterlich behandelten. Durch Feinheit, Anmut und Leichtigkeit kamen sie allem gleich, was die Zeit uns von den Schriften des Altertums an Kostbarem erhalten hat. Wer unparteiisch ist, wird Voltaires »Henriade« den Gedichten Homers vorziehen. Heinrich IV. ist kein Märchenheld; Gabrielle d'Estrées steht der Prinzessin Nausikaa nicht nach. Die »Ilias« schildert uns die Sitten von Kanadiern; Voltaire macht seine Personen zu wahren Helden, und seine Dichtung wäre vollkommen, hätte er noch mehr Interesse für Heinrich IV. zu erregen verstanden, indem er ihn in größeren Gefahren zeigte. Boileau kann sich mit Juvenal und Horaz messen; Racine übertrifft alle seine antiken Nebenbuhler. Chaulieu ist bei aller Nachlässigkeit dem Anakreon in einzelnen Stücken sicherlich weit überlegen. Rousseau war in einigen Oden glänzend. Und wenn wir gerecht sein wollen, so stehen die Franzosen in der Technik über den Griechen und Römern. Bossuets Beredsamkeit gleicht der des Demosthenes. Fléchier kann für Frankreichs Cicero gelten, ohne die Patru, Cochin und so viele andere berühmte Gerichtsredner zu rechnen. Werke wie Fontenelles »Gespräche über die Mehrheit der Welten« (1686) und Montesquieus »Persische Briefe« (1721) waren dem Altertum unbekannt; sie werden auf die späteste Nachwelt kommen. Haben die Franzosen auch dem Thukydides keinen Schriftsteller an die Seite zu stellen, so haben sie doch Bossuets »Abriß der Weltgeschichte«, haben die Werke des kenntnisreichen Präsidenten de Thou, die »Römischen Staatsumwälzungen« des Abbé de Vertot, ein klassisches Buch, »Größe und Verfall des Römischen Reiches« von Montesquieu (1734), kurz, so viele historische und literarische, volkswirtschaftliche und unterhaltende Werke, daß ihre Aufzählung zu weit fuhren würde.

Man wird sich vielleicht wundern, daß die Wissenschaften, die in Frankreich, in England und Italien blühen, in Deutschland nicht den gleichen Glanz entfalten. Die Gründe dafür sind folgende.

Nach Italien gelangten die Wissenschaften aus Griechenland zum zweiten Male, nachdem sie schon am Ende der Republik und in der ersten Kaiserzeit alle gebührende Achtung genossen hatten. Der Boden war also vorbereitet, um sie zu empfangen, und der Schutz der Medici, besonders Papst Leos X., trug viel zu ihren Fortschritten bei.

In England fanden die Wissenschaften leicht Verbreitung, weil die Regierungsform die Mitglieder des Parlaments berechtigt, Reden zu halten. Der Parteigeist selbst trieb zum Studium an. In den Parlamentsreden galt es, alle Regeln der Rhetorik, insbesondere der Dialektik, anzuwenden, um so das Übergewicht über die Gegenpartei zu erlangen. Daher haben die Engländer fast alle klassischen Autoren im Gedächtnis. Sie sind im Griechischen wie im Lateinischen bewandert und besitzen ebenso geschichtliche Kenntnisse. Infolge ihrer finsteren, schweigsamen, hartnäckigen Geistesart haben sie es in der höheren Geometrie weit gebracht.

In Frankreich waren unter Franz I. einige Gelehrte an den Hof gezogen worden. Sie haben gleichsam den Samen des Wissens ausgestreut; aber die folgenden Religionskriege erstickten die aufkeimende Saat, wie ein später Frost die jungen Pflanzen vernichtet. Die Krisis währte bis ans Ende der Regierungszeit Ludwigs XIII., wo Kardinal Richelieu, später Mazarin und vor allem Ludwig XIV. den Künsten und Wissenschaften glänzenden Schutz gewährten. Die Franzosen waren eifersüchtig auf die Italiener und Spanier, die ihnen auf dieser Bahn zuvorgekommen waren, aber die Natur brachte bei ihnen einige der glänzendsten Geister hervor, die bald ihre Nebenbuhler übertrafen. Die französischen Schriftsteller zeichnen sich besonders durch ihre Technik und durch verfeinerten Geschmack aus.

In Deutschland wurden die Fortschritte in Kunst und Wissenschaft gehemmt durch die Kriege, die von Karl V. bis zum Spanischen Erbfolgekrieg aufeinanderfolgten. Das Volk war elend, die Fürsten arm. Man mußte zuerst daran denken, das Land wieder anzubauen, um sich den unentbehrlichsten Lebensunterhalt zu sichern. Man mußte Manufakturen einführen, um die vorhandenen Rohstoffe zu verwerten. Diese Aufgabe nahm die Nation fast ganz in Anspruch und hinderte sie, sich von der Barbarei, die ihr noch anhaftete, vollständig freizumachen. Dazu kommt, daß die Künste in Deutschland keinen Mittelpunkt hatten, wie es Rom und Florenz in Italien, Paris in Frankreich und London in England waren. An den Universitäten saßen zwar gelehrte, aber pedantische und schulmeisterische Professoren; kein Mensch konnte mit diesen ungehobelten Leuten verkehren. Nur zwei Männer ragten durch ihr Genie hervor und machten der Nation Ehre: der große Leibniz und der gelehrte Thomasius. Wolff lasse ich unerwähnt. Er käute Leibnizens System wieder und wiederholte weitschweifig, was jener mit Feuer geschrieben hatte. Die meisten deutschen Gelehrten waren Handwerker, die französischen waren Künstler. Das war der Grund, warum die französischen Werke so allgemein Verbreitung fanden, warum ihre Sprache die lateinische verdrängte und warum jetzt jeder, der französisch versteht, durch ganz Europa ohne Dolmetscher reisen kann. Der allgemeine Gebrauch der fremden Sprache tat der Muttersprache noch mehr Abbruch. Sie blieb nur im Munde des gemeinen Volkes und konnte den feinen Ton nicht erlangen, den jede Sprache nur in der guten Gesellschaft gewinnt. Der Hauptfehler im Deutschen ist der Wortschwall. Man muß ihn eindämmen und würde durch Milderung einiger Wörter von zu hartem Klang das Deutsche auch wohllautender machen. Der Adel studierte nur das öffentliche Recht, besaß aber keinen Sinn für die schöne Literatur und brachte von den Universitäten nur die Pedanterie seiner Lehrer heim. Kandidaten oder Theologen, die Schusters- oder Schneiderssöhne waren, spielten den Mentor dieser Telemache: daraus schließe man, welche Bildung sie zu geben vermochten! Die Deutschen hatten wohl Schauspiele, aber die waren plump oder gar unanständig. Unflätige Hanswürste spielten geistlose Stücke, bei denen jeder Feinfühlige errötete. Unsere Armut zwang uns, bei dem Überfluß der Franzosen Hilfe zu suchen, und an den meisten Höfen sah man französische Schauspielertruppen die Meisterwerke Molières und Racines aufführen.

Am erstaunlichsten aber muß für einen Philosophen die Erniedrigung sein, in die das königliche Volk, die weltbeherrschenden Römer herabgesunken sind. Statt daß Konsuln, wie zu Zeiten der Republik, gefangene Könige im Triumph aufführten, erniedrigen sich in unseren Tagen die Nachkommen eines Cato und Ämilius bis zur Entmannung für die Ehre, auf den Schaubühnen von Fürsten zu singen, auf welche die Zeit der Scipionen mit der gleichen Verachtung herabsah wie wir auf die Irokesen. O tempora! O mores!

In Deutschland waren Opern, Tragödien und Komödien noch vor sechzig Jahren unbekannt. Im Jahre 1740 hatte Deutschland durch das Aufblühen von Handel und Industrie einen Anteil an den Schätzen erlangt, die die Neue Welt alljährlich über Europa ausschüttet. Die neuen Quellen des Wohlstandes hatten die Vergnügungen, die Bequemlichkeiten und wohl auch die Sittenlosigkeit mit sich gebracht, die eine Folge wachsenden Reichtums zu sein pflegen. Alles hatte sich vermehrt: Einwohner, Hausgerät, Bediente, Wagen und Pferde und Tafelluxus. Was man an schöner Baukunst im Norden sieht, stammt ungefähr aus der gleichen Zeit: das Schloß und das Zeughaus in Berlin, die Reichskanzlei und die Kirche des heiligen Karl Borromäus in Wien, das Schloß zu Nymphenburg in Bayern, die Augustusbrücke und der Zwinger in Dresden, das kurfürstliche Schloß in Mannheim, das Schloß des Herzogs von Württemberg in Ludwigsburg. Sind diese Gebäude auch den Bauten von Athen und Rom nicht vergleichbar, so übertreffen sie doch die gotische Baukunst unserer Vorfahren.

In den früheren Zeiten schienen die deutschen Höfe Tempel zu sein, in denen Bacchanalien gefeiert wurden. Jetzt sind solche Orgien, als der guten Gesellschaft unwürdig, nach Polen verbannt oder Pöbelbelustigungen geworden. Nur noch an einigen geistlichen Höfen muß der Wein die Priester über eine liebenswürdigere Leidenschaft hinwegtrösten, die ihr Stand ihnen verbietet. Früher gab es keinen deutschen Hof, der nicht voller Hofnarren war. Die Plumpheit ihrer Spaße ersetzte den mangelnden Witz der Gäste, und man hörte Torheiten an, weil man selbst nichts Gescheites zu sagen wußte. Diese Unsitte, eine ewige Schande für den gesunden Menschenverstand, ist verschwunden und erhält sich nur noch am Hofe Augusts III., des Königs von Polen und Kurfürsten von Sachsen. Das Hofzeremoniell, für den Unverstand unserer Vorfahren noch die Wissenschaft der Fürsten, scheint dem gleichen Schicksal verfallen wie die Hofnarren. Die Etikette erleidet täglich Abbruch, und einige Höfe haben sie ganz abgeschafft. Indes machte Kaiser Karls VI. Hof eine Ausnahme von der Regel; er war ein zu eifriger Anhänger der burgundischen Hofetikette, um sie aufzugeben. Selbst in seiner letzten Krankheit, kurz vor seinem Ende, traf er noch Anordnungen für die Messen und die Sterbegebete wie für die ganze Leichenfeier, ja, er bestimmte sogar die Personen, die sein Herz in einer goldenen Kapsel, ich weiß nicht in welches Kloster tragen sollten. Die Höflinge bewunderten seine Hoheit und Würde; die Verständigen tadelten seinen Stolz, der ihn noch zu überleben schien.

Aus allem, was wir von den Fortschritten der Künste und Wissenschaften in Europa berichtet haben, ergibt sich daß die nordischen Länder seit dem Dreißigjährigen Kriege es sehr viel weiter gebracht haben. Damals genoß Frankreich den Vorrang in allem, was zu den schönen Wissenschaften und zu den Dingen des guten Geschmacks gehört, die Engländer in der Mathematik und Metaphysik, die Deutschen in der Chemie, der Experimentalphysik und Gelehrsamkeit, die Italiener begannen zu sinken, aber Polen, Rußland, Schweden und Dänemark waren im Vergleich zu den kultiviertesten Völkern noch um hundert Jahre zurück.


 << zurück weiter >>