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DER MENSCH IM VERKEHR

 

Ein kluger Mensch wird schon aus Egoismus bescheiden sein. Er schützt sich damit vor seinem perfidesten Gegner: vor sich selbst.

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Von zwei gleich gescheiten Menschen wird derjenige den weiteren Horizont haben, der mehr Herz hat. Mit anderen Worten: Wärme dehnt aus.

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Artige Verbeugungen machen, nicht mit dem Messer essen, seine Karte abgeben – das ist noch nicht Wohlerzogenheit. Die Seele seines Mitmenschen bekommen, für drei Stunden seine Melancholien, seine Idiosynkrasien, seine Schulden, seinen Ehrgeiz, seine Krankheiten haben: das heißt wohlerzogen sein.

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Der menschliche Verkehr besteht ganz einfach darin, daß jeder des anderen Irrenwärter ist. Nur aus diesem Altruismus kann man die Kraft schöpfen zu der noch viel schwierigeren und ernsteren Aufgabe: sein eigener Irrenwärter zu sein.

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Der Mensch schwankt im Verkehr mit seinen Brüdern zwischen zwei falschen Extremen: zwischen kalter Distanz und stilloser Fraternität. Wenn du kein Herz hast, so wirst du einem andern niemals etwas bedeuten können; aber wenn du ihm nicht wenigstens so fern bleibst, daß er dich sehen kann, so wirst du ihm auch nichts bedeuten.

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Erst wenn zwei Menschen sich nichts mehr zu sagen haben, beginnt der menschenwürdige Verkehr.

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Für die meisten Menschen hat der Nebenmensch nur dann Wert, wenn er als ihr Vergrößerungsspiegel fungiert. Der größte Teil unserer Gesellschaftsformen ist hierauf zurückzuführen.

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Es wäre der größte Leichtsinn, Schulden zu machen, wenn man die Absicht hätte, sie zu bezahlen.

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Ja, wenn die reichen Leute Vergnügen am Geldausgeben hätten: dann müßte man freilich Sozialist werden. Aber so …

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Was das Gymnasium wert ist, sieht man weniger an denen, die es besucht haben, als an denen, die es nicht besucht haben.

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Der Franzose spricht gern und stolz von »la mort sans phrase«. Aber er hat noch nie daran gedacht, es einmal mit »la vie sans phrase« zu versuchen.

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DIE SEELE DES ENGLÄNDERS

In ihr gibt es keine moralischen Konflikte; infolgedessen hat er die Welt erobert. Er ist in ethischen Dingen ein unerreichter Virtuose der doppelten Buchführung. Er ist ebenso fromm wie geschäftstüchtig, man kann gar nicht sagen, was von beidem er in höherem Maße ist. Nur befindet sich beides bei ihm in vollkommen getrennten Seelenfächern. Wenn er das eine öffnet, ist das andere fest geschlossen, ja er erinnert sich gar nicht, daß das andere überhaupt existiert. Er glaubt an den Feiertagen an Gott und die Ewigkeit und während der Woche an die Physik und den Börsenbericht, und beide Male mit der gleichen Inbrunst. Am Sonntag ist die Bibel sein Hauptbuch und am Wochentag ist das Hauptbuch seine Bibel.

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KULTUR

Der bulgarische Oberstleutnant, der alle drei Kriege mitgemacht hatte, sagte zu mir: »Wir sind ein armes Volk, das heißt: an Kultur. Wir haben nur einen einzigen Wunsch: möglichst viel von allen anderen Völkern zu lernen.« Ich sagte zu mir selbst: Ein Volk, das diesen Wunsch hat, ist nicht arm an Kultur, sondern unermeßlich reich an Kultur und besitzt überhaupt die höchste Kultur, die irgendein Volk auf der Welt haben kann. Es besitzt das, wodurch Deutschland in seiner großen Zeit groß war, nämlich die sogenannte »Fremdländerei«, die einfach darin besteht, daß man das, was am anderen gut und wertvoll ist, anerkennt, versteht und seinem eigenen Wachstum einzuverleiben versucht. Es besitzt das, was Frankreich niemals besessen hat und weswegen Frankreich unfähig war zu jener europäischen Hegemonie, von der es immer geträumt hat. Es besitzt das, was aus Goethe Goethe gemacht hat. Goethe hatte nämlich ebenfalls nur eine einzige Leidenschaft: zu lernen. Er fragte jedem Menschen, jedem Ding und jedem Ereignis seine geheime innere Weisheit ab, denn irgendeine Weisheit steckt in allem und jedem. Es ist dies überhaupt das wesentlichste Merkmal, nach dem sich eine Einteilung der Menschen, Völker und Rassen treffen läßt. Wenn irgendein Mensch sagt: »Bitte, in dieser Angelegenheit bin ich Fachmann, da kann man mir nichts Neues erzählen«, so hat er mit dieser Bemerkung bereits untrüglich bewiesen, daß er kein Fachmann ist, sondern das Gegenteil davon, nämlich ein leerer, aufgeblasener, beschränkter, unwissender Tropf. Es ist dies im Grunde auch das Wesen und der Sinn aller Religion, vor allem des Christentums. Sich nicht hochmütig gegen andere Völker abschließen und sich nicht für etwas Besonderes, Besseres und Exquisites halten, wie es das Volk tat, aus dem Christus hervorging; sondern allen, auch den Kleinen und Niedrigen, den Armen und Unwissenden sich mit Liebe und Verständnis nähern, ist die einzige Möglichkeit, größer, klüger und besser zu werden. Es ist auch das Wesen aller Kunst. Für den Künstler gibt es auf der ganzen Welt nichts Gleichgültiges, Nebensächliches, Minderwertiges: das Kleinste ist für ihn genau so wichtig, tief und interessant wie das Größte. Wenn alle Bulgaren so denken, dann haben sie eine ungeheure Zukunft, dann sind sie ein Eroberervolk, eine »grande nation«, nämlich groß und erobernd nicht durch Größenwahnsinn und Ländergier, sondern durch den weisen Willen, alle Kraft der ihrigen hinzuzuaddieren.

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Die meisten Menschen schämen sich origineller Beobachtungen, sie halten sie für eine Art Vergehen gegen die Sittlichkeit.

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Es gibt Menschen, die selbst für Vorurteile zu dumm sind.

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Soeben höre ich einen Esel sagen: »Das sind lauter schillernde irreführende Paradoxa.«

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