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ZUR WISSENSCHAFT VON DER SEELE

 

DER PSYCHOLOG

Wenn ich auf einem Berge stehe und von dort aus einen entlegenen Punkt fixiere, so sagen die Resultate meiner Beobachtung von diesem Punkt nicht übermäßig viel aus, wohl aber sehr viel von meiner Sehkraft, der Art meines Standortes, der Atmosphäre, die mich umgibt. Mit anderen Worten: Psychologie ist die Wissenschaft von der Seele – dessen, der sie betreibt.

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WISSEN UND HANDELN

Die Seele alles Handelns ist Blindheit. Wer einmal weiß, kann nicht mehr handeln. Wissen heißt die Tat wegwerfen und die Leidenschaft verleugnen.

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DAS ECHO

Es gibt manche Erlebnisse in unserem Dasein, die uns nichts zu sagen haben, solange wir sie anrufen; und wir halten sie für stumm. Aber wenn wir nur die Geduld haben, ein wenig zuzuwarten und stillezuhalten, so hallt uns mit einem Male ihr drei- und vierfaches Echo donnernd zurück.

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DIE MONDE IN UNSERER ERSCHEINUNGSWELT

Es gibt Dinge in unserem Leben, die keine eigene Leuchtkraft besitzen: sie enthüllen uns erst ihr Wesen, wenn ein fremdes Licht auf sie fällt. Aber dann erblicken wir sie plötzlich in einem seltsamen und zauberhaften Glanze, während alles übrige in Nacht versunken ist.

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MAN MUSS SICH SELBST MYSTERIUM SEIN

So vieles auch die Menschen unterscheidet, es gibt doch nur eines, was sie wahrhaft im Range und in der Tiefe unterscheidet: nämlich dies, ob sie sich als Schale eines ihnen selbst fremden und unbekannten Kerns fühlen, als Ausstrahlung einer geheimnisvollen, ja feindlichen und furchterregenden Kraft.

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NICHTS IST DRAUSSEN

Unsere Seele macht es ganz genau so wie unser Körper: sie verzehrt eine Menge der verschiedenartigsten Stoffe, aber aus allen diesen Stoffen baut sie immer wieder die gleiche Sache auf: nämlich sich selbst. Die Kuh macht aus allem Milch und Dünger, die Biene macht aus allem Wachs und Honig, der Künstler macht aus allem Schönheit, der Melancholiker macht aus allem Trauer und der Genius macht aus allem etwas Neues. Jeder menschliche Organismus ist auf ein bestimmtes Quantum Freude und Leid gewissermaßen geeicht, und hat er dieses nicht, so ist er seelisch unterernährt und fühlt sich unglücklich. Ein Leben kann verfehlt sein, weil weniger Schmerz in ihm ist, als es braucht, und es kann verfehlt sein, weil mehr Freude in ihm ist, als es verdauen kann. Aber dies sind immer schon Krankheitserscheinungen. Eine gesunde Seele wird ganz von selber jene Diätetik einschlagen, die ihrem Gleichgewichte entspricht. Wie viele »psychologische Rätsel« erfahren da mit einem Male ihre höchst einfache Lösung! Oft trifft einen Menschen, der soeben einen Schmerz erlitten hat, ein weit stärkerer Schlag, und dieser zweite läßt ihn kalt und stumm. Man nennt diesen Menschen dann hart und gefühllos. Aber er hatte ganz einfach seine »Kummergrenze« schon vorher erreicht. Und wie oft sieht man Frauen und Mädchen ohne jeden ersichtlichen Grund in Tränen ausbrechen! Ist das Hysterie? Nein, es ist höchste Gesundheit: der Organismus hungert nach Trauer und befriedigt rücksichtslos dieses Bedürfnis, auch »ohne Grund«. Der Regenwurm frißt Erde und lebt und gedeiht dabei, denn er weiß die Nahrungsstoffe, deren er bedarf, auch in dem toten Erdreich aufzuspüren; und ebenso: wer Freude braucht, wird Freude finden, überall, auch in Tod und Finsternis. Auf die » seelische Stoffwechselgleichung« kommt es an! Jeder hat eine andere, aber alle sind gleich glücklich, wenn sie die ihrige erfüllen. Es ist ganz gleichgültig, was das Leben einem Menschen zufügt, er leidet doch immer nur das, was er leiden muß. Ob man arm oder reich, jung oder alt ist, macht keinen Unterschied. Das arme Kind ist mit seiner leeren Zigarettenschachtel ebenso glücklich wie das reiche Kind mit seinem kompletten Kaufmannsladen. Nietzsche, der kaum einen Tag lang völlig gesund war und nie einen wahren Freund und Versteher fand, ersann sich eine Philosophie der extremen Lebensbejahung und Byron wurde durch ein Leben voll Ruhm, Liebe, Reichtum und Schönheit zum Weltverächter. Verfolgen wir die Sache weiter, so gelangen wir in gerader Linie zu der Folgerung, daß jeder Selbstmord nichts anderes sein kann als der Ausdruck eines Defekts, einer unheilbaren Betriebsstörung im Organismus. Und ebenso notwendig gelangen wir auf diesem Wege zu einem optimistischen Fatalismus. Gott regiert die Welt nicht von außen, nicht mit Schwerkraft und chemischer Affinität, sondern im Herzen der Menschen: wie deine Seele ist, genau so ist das Schicksal der Welt, in der du lebst und handelst. Nichts ist draußen.

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NUR IN DIE SEHNSUCHT

Nur in die Sehnsucht vermögen die Menschen ihre eigensten Gedanken, Kräfte, Möglichkeiten zu legen. Nur in ihren Wünschen und Hoffnungen sind sie originär, singulär, sie selbst. Im Besitz, in der Erfüllung, im Haben verschwindet ihr Sein, hier werden sie Gattung, Tier, Mechanismus, Begriff: – sie sind dann plötzlich wie alle anderen.

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LA TRAGEDIA UMANA

Die Menschen fragen sich immer: wie spät ist es?

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LOB DER FIXEN IDEE

Nur durch übertriebenes, leidenschaftliches, ja, wenn man will, pathologisches Interesse kann man in das Herz einer Sache eindringen. Die hausbackenste und beschränkteste Mutter versteht ihr Kind in allen seinen Lebensäußerungen, auch wenn es ein Genie oder ein Verbrecher ist: sie gelangt zu diesem Verständnis durch ihre übertriebene, keineswegs logisch berechtigte Mutterliebe. Und so ist es mit allem. Kühle Unparteilichkeit und »Objektivität« haben keinerlei Zugänge zu den Dingen. Der Dichter versteht von der Welt und ihrem Lauf nur darum mehr als die übrigen Menschen, weil er sie lieber hat. Wenn man will, ist alles Übertreibung: jede lebhaftere Handlung, jedes tiefere Gefühl. Aber Übertreibung ist das einzig Produktive, und alles Neue und Große ist durch sie geschaffen worden. Alle Entdeckungen waren Übertreibungen, fixe Ideen, solange sie noch in den Gehirnen ihrer Urheber existierten. Idée fixe! Alles Große ist eine idée fixe, muß eine idée fixe sein. Die griechische Weltkultur war eine idée fixe Alexanders des Großen, die deutsche Einheit war eine idée fixe Bismarcks, die Erdumdrehung war eine idée fixe Galileis, Westindien war eine idée fixe des Columbus, sogar eine falsche! Die Schönheit der Welt ist eine idée fixe des Dichters. Und die Wahrheit: die sollte in jedem Menschen eine idée fixe sein.

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AUFGABE DES MENSCHEN:

Steuermann seines Narrenschiffes zu sein.

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POLYCHROMIE

Vielleicht sind die größten Menschen einfach diejenigen, die die meisten Eigenschaften haben, so daß die Bedeutung eines Menschen im geraden Verhältnis zu der Anzahl der Attribute stünde, die man ihm beilegen könnte. Und vielleicht wird einmal eine Zeit kommen, in der es nicht die größte Schande sein wird, schlechte Eigenschaften zu haben, sondern wenige Eigenschaften zu haben.

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Die wenigsten Menschen leben ihre eigene Biographie.

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