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WAS IST WAHRHEIT?

 

Das Leben ist für den Alltagsmenschen ein wissenschaftliches Problem, für das Talent ein künstlerisches und für das Genie ein religiöses.

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Jede Wahrheit tritt zuerst als Irrlehre in die Welt, denn die Welt ist immer von gestern.

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Bei einem Denker sollte man nicht fragen: welchen Standpunkt nimmt er ein, sondern: wie viele Standpunkte nimmt er ein? Mit anderen Worten: hat er einen geräumigen Denkapparat oder leidet er an Platzmangel, das heißt: an einem »System«?

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Jede neue Wahrheit beginnt als Anachronismus; sie wird erst langsam wahr. Es braucht immer eine gewisse Zeit, bis ihre Tiefe heraufsteigt, nach oben kommt und sichtbar, das heißt: oberflächlich wird.

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Die meisten unserer heutigen Wahrheiten haben so kurze Beine, daß sie gerade so gut Lügen sein könnten.

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Ein gedachtes Leben ist voll Größe, ein gelebter Gedanke ist voll Erde.

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ALLE DINGE HABEN IHRE PHILOSOPHIE

Ja noch mehr: alle Dinge sind Philosophie. Alle Menschen, Gegenstände und Ereignisse sind einfache Verkörperungen eines bestimmten Naturgedankens, einer eigentümlichen Weltabsicht. Aber die Dinge pflegen oft erst spät einem einzigen dazu Berufenen ihren Sinn zu enthüllen. Wie lange hat es gedauert, bis der magnetische Stahl dem sehenden Auge Gilberts seine wunderbaren wirksamen Kräfte enthüllte! Wie lange hat es gedauert, bis die einfache und elementare Tatsache der menschlichen Seele von einem galiläischen Wanderprediger entdeckt wurde! Wie viele geheime Naturkräfte warten noch immer geduldig, bis einer kommt und den Gedanken in ihnen erlöst! Daß die Dinge geschehen, ist nichts: daß sie gewußt werden, ist alles. Der Mensch hatte seinen schlanken, ebenmäßigen Körperbau, seinen aufrechten, edlen Gang, sein weltumspannendes Auge seit Jahrtausenden und Jahrtausenden: in Indien und Peru, in Memphis und Persepolis; aber schön wurde er erst in dem Augenblicke, wo die griechische Kunst seine Schönheit entlarvte und abbildete! Und darum scheint es uns auch immer, als ob über Pflanzen und Tieren eine eigentümliche Melancholie gebreitet sei: sie alle sind schön, sie alle sind Sinnbilder irgend eines tiefen Schöpfungsgedankens, aber sie wissen es nicht und darum sind sie traurig.

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DIE PROBE

Eine Philosophie hat erst dann ihre Existenzberechtigung bewiesen, wenn mindestens eine Handvoll Menschen an ihr verrückt geworden ist.

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»WIDERSPRÜCHE AUFDECKEN«

Jeder fruchtbare Kopf widerspricht sich. Er erkennt eine bestimmte Wahrheit, aber in demselben Augenblick erkennt er auch die gegenteilige Wahrheit. Er widerspricht sich, weil er mehr von den Menschen und Dingen weiß als die übrigen Menschen.

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NICHT ZU VERWECHSELN

Es gibt eine doppelte Originalität: eine gute und eine schlechte. Originell ist jeder neue Organismus: diese physiologische Originalität ist wertvoll und fruchtbar. Es gibt aber auch eine pathologische Originalität, und die hat gar keinen Wert, obgleich sie vielfach als die einzige und echte Originalität gilt. Aber diese Originalität, die auffällt, ist etwas sehr Pöbelhaftes und Flaches, und außerdem hat sie gar keine Lebensfähigkeit. Es ist die Originalität der siamesischen Zwillinge und des Kalbs mit zwei Köpfen.

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PLATON ODER PLUTON?

Das ist die Frage: wem von beiden sollen wir dienen? Sollen wir dem »Licht« opfern oder der »Finsternis«? Die hellen Gipfel besiedeln, wo alles klar, luftig, sonnig, durchsichtig, einfach und schön ist? Oder in die dunklen Tiefen hinabgraben, wo alles schwankend, brauend, unterirdisch, rotglühend, höllisch ist? Wo soll unser Reich sein? Sind es die Höhen des Geistes oder die Höhlen des Geistes? Was ist für uns vorteilhafter? – Aber diese Frage ist müßig. Damit, daß eine Sache für uns »vorteilhafter« ist, ist sie noch nicht unsere Sache. Wir können immer nur tun, was wir müssen. Und wir von heute müssen »hinunter« und dürfen nicht »hinauf«. Wir haben leider keine Wahl. Auch der Weg nach oben würde für uns ganz von selber ein abschüssiger Weg. Wie Odysseus müssen wir schon bei Lebzeiten die Hadesfahrt tun. Aber immer noch lieber Odysseus als Ikarus! So ist es ehrlicher, so ist es vielleicht auch für uns vorteilhafter.

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GEDULD GEGEN IRRTÜMER

Es steht nicht in unserer Macht, Irrtümer »abzulegen«, wie man Kleider ablegt, weil einem andere besser gefallen, sondern erst, wenn wir unsere Irrtümer nicht mehr brauchen, wenn sie wirklich »aufgetragen« sind, entsteht in uns die Kraft, sie abzulegen.

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NEUE VERNUNFT WIRKT LÄCHERLICH

Wir pflegen alles Vernünftige erst dann ernst zu nehmen, wenn es eigentlich nicht mehr ernst zu nehmen ist, in dem Augenblicke nämlich, wo es eingelebt ist, was aber ganz dasselbe bedeutet wie ausgelebt.

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DER INSTINKT FÜR ANALOGIEN

Der Instinkt für Analogien ist das untrügliche Merkmal des unkünstlerischen, unproduktiven, ungenialen Menschen. Die Bemerkung: »Das ist mir nichts Neues, das habe ich schon gelesen« wird man am häufigsten im Munde unkultivierter und unbegabter Menschen hören. Der bedeutende Kopf dagegen weiß, daß er nichts »schon irgend woanders gelesen hat« und daß alles neu ist. Dem Europäer scheint es, als ob alle Neger dieselben Gesichter hätten, weil er von Negergesichtern nichts versteht. Und dem Philister scheint es, als ob alle Menschen dieselbe geistige Physiognomie hätten, weil er von geistigen Physiognomien nichts versteht.

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WAS LEHREN UNS DIE MARSKANÄLE?

Keineswegs ohne weiteres eine höhere geistige Stufe der Marsbewohner. Wenn wirklich dieser ganze Stern von einem gradlinigen, geometrisch angelegten Schema und Netz überzogen ist, so würde dies eher zu dem Schluß berechtigen, daß wir es hier mit einer großen Instinkt-Organisation in der Art der Termitenbauten zu tun haben. Es gibt auf unserem Planeten nur ein einziges Land, das ebenfalls riesige Flächen mit einem ausgedehnten Fluß- und Kanalsystem bedeckt hat, und dieses Land ist China! Vielleicht ist es ein ganz besonderes und im Weltall nur selten in Erscheinung tretendes Vorrecht gerade der Erdbewohner, daß sie keine exakten Anpassungen vornehmen, sondern individuelle, ungenaue, unlogische, ja größtenteils falsche, mit einem Wort: daß sie denken. Vielleicht ist unser Stern der Stern der unvollkommenen und daher individuellen Organismen. Dies wäre eine sehr sonderbare Stellung, die wir einnehmen. Der Mars wäre demnach viel weiter, als wir je sein werden, soweit zweckmäßige Organisation der Lebensbedingungen in Betracht kommt, dort gäbe es keine Krankheiten, keine falschen Züchtungsergebnisse, keine Kriege, keine Verbrechen, sondern alles verliefe in mathematischer Vollkommenheit, Exaktheit und Ordnung. Aber dort gäbe es auch keine Fiktionen und Täuschungen, keine Kunst, keine Wissenschaft, keine Philosophie, keine Erotik: denn alles das sind bloße lebensteigernde und lebenverklärende Irrtümer. Und so wäre demnach das Privileg der Erdenwesen das »Recht auf Irrsinn«?

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DAMASKUS

Nur der Jude Paulus konnte die Idee des Judentums in ihrem innersten Kern auflösen; nur in Luther, dem katholischen Priester, konnte der Katholizismus sich radikal verneinen; nur ein so durch und durch theologisch und moralisch orientierter Geist wie Nietzsche konnte Antichrist und Immoralist werden. Und war es nicht Graf Mirabeau, der die französische Revolution ins Rollen brachte? Um etwas mit der tiefsten Leidenschaft bekriegen zu können, muß man aufs tiefste daran leiden können, und um daran wirklich leiden zu können, muß man es sein.

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DIE ÜBERWINDUNG DER PHYSIK

Es ist eine oft beobachtete Tatsache, daß gerade die hellsichtigsten Köpfe in reifen Jahren zu einer Art Köhlerglauben zurückkehren, über den sich der »vorurteilslose« Positivist nur deshalb erheben zu können glaubt, weil er ein moralischer und intellektueller Parvenü ist. Daß es keinen Zufall gibt, keine übelwollenden Dämonen und boshaften Kobolde, das weiß er; auch scheint es ihm erwiesen, daß ein Freitag sich in nichts Wesentlichem von einem Sonntag unterscheidet und daß zwischen der Tatsache, daß man den linken Fuß zuerst aus dem Bette schiebt, und irgend einem äußeren Ereignis unmöglich physikalische Beziehungen bestehen können. Daß aber alles untereinander in Beziehung steht; daß es geheimnisvolle überphysikalische Zusammenhänge gibt, die wir nur deshalb übernatürlich nennen, weil wir ihr Gesetz noch nicht entdeckt haben; daß es zwar keine Dämonen gibt, wohl aber einen Dämon, für jeden Menschen einen eigenen, der ihn regiert und hin und her bewegt, einen Dämon, der um so mächtiger, gefährlicher und magischer ist, je größer eben dieser Mensch ist; daß unser Schicksal sich zwar nicht mittels astrologischer Geheimbücher aus den Sternen ablesen läßt, daß es aber doch dort genau aufgeschrieben ist: das alles weiß er noch nicht. Er hat einige ungereimte Vorurteile abgelegt und sich einige nützliche Kenntnisse zugelegt, aber er ist viel zu eingebildet auf diese kleinen provisorischen Errungenschaften, um sich über sie stellen zu können, um zu wissen, daß es gewissermaßen nur punktierte Hilfslinien sind, nützlich und unentbehrlich wie alle Hilfslinien, aber schließlich doch nur dazu da, um eines Tages ausradiert zu werden. Die Physik ist etwas, das überwunden werden muß, und zwar – durch Physik.

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KULTUR IST REICHTUM AN PROBLEMEN

Der Fortschritt der Menschheit besteht in der Zunahme ihres problematischen Charakters. Je polychromer die Ideale einer Zeit sind, je dehnbarer ihre Werte, desto vergeistigter erscheint sie uns. Der Pegel der Kultur steht am tiefsten, wenn sie am eindeutigsten ist.

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FALSCHER IRRATIONALISMUS

Es ist entweder alles rätselhaft oder nichts. Die Frage, was die Dinge wirklich sind, ist natürlich für jedermann »zu hoch«. Alles ist ein Symbol, ein Gleichnis, ein Bild, daher letzten Endes unerklärlich, wie man ja auch ein Gemälde nicht »erklären« kann. Aber mit welchen Farben und in welcher Technik es gemalt ist, kann man sehr wohl sagen, wenn man etwas von Malerei versteht. Das Phänomen des Magnetismus ist das verwirrendste Geheimnis, das sich denken läßt, und auch der größte Naturforscher kann es nicht enträtseln. Aber eine mathematische Formel kann er dafür finden! Das Empirische einer Erscheinung muß allemal zu ergründen sein, das ist immer nur eine Frage der Urteilskraft und der Sachkenntnis. Man darf und soll also alles für erforschbar halten, nur soll man nicht glauben, dann habe man den Schlüssel des Weltgeheimnisses, wie das die törichten Monisten tun. Gottesfurcht und Demut vor den ewigen Rätseln läßt sich mit wissenschaftlicher Neugierde und Glauben an die menschliche Vernunft sehr wohl vereinigen.

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ZUWARTEND

Zuwartend ist die Gesamtstellung, die die Philosophie zu den Dingen einnimmt. Alle gute Philosophie ist im tiefsten Sinne Parodie, Selbstparodie. Sie ist eine Art von sublimer Selbstverhöhnung des menschlichen Geistes. Sie tut so, als ob sie etwas wüßte; und dennoch ist die einzige geistige Betätigungsform, die über die tiefe Relativität, gröber gesagt: die tiefe Unwissenheit alles menschlichen Denkens genau und bestimmt unterrichtet ist. Das ist der ironische Grundzug, das sokratische Element aller Philosophie, nicht bloß der sokratischen.

Philosophie will bewegen und nichts als bewegen. Sie verändert fortwährend, sich selbst aber verändert sie eigentlich niemals. Sie wird zu allen Zeiten bleiben, was sie zu allen Zeiten gewesen ist: eine Entwicklungsbeschleunigerin. Sie hat insofern große Ähnlichkeit mit einem chemischen Ferment. Wie dieses, verursacht sie bloß Zersetzungen und Umbildungen, ohne sich an den Umwandlungsprozessen, die sie hervorgerufen hat, selbst zu beteiligen: sie gibt nur den Anstoß.

Wenn wir daher den Wert einer beliebigen Philosophie zu beurteilen haben, so wollen wir nicht fragen, was sie ist: Monismus oder Dualismus, Empirismus oder Kritizismus, Ideologie oder Tatsachenwissenschaft. Wir wollen fragen, wie sie wirkt. Ist sie eine produktive Zersetzerin, ist sie die Ursache von neuen geistigen Chemismen, steigert sie die Geschwindigkeit seelischer Reaktionsvorgänge? Dann ist sie Philosophie.

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KURZUM:

Es gibt eine bestimmte, ziemlich kleine Zahl von unveränderlichen Wahrheiten. Aber die Stellung, die die einzelnen Menschen zu diesen Wahrheiten einnehmen, ist eine recht verschiedenartige. Der Durchschnittsmensch zweifelt sie an. Das Talent macht den vergeblichen Versuch, sie zu vermehren. Und das Genie wiederholt sie.

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LIEBER LESER,

wenn schon ich mir so oft widerspreche, so ist es wirklich gänzlich überflüssig, daß auch noch du mir widersprichst.

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