Gustav Freytag
Ingo und Ingraban
Gustav Freytag

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6. Der Abschied

Zum Notkampf auf der Aue, den die Sonne nicht schauen darf, schritt im Grau des nächsten Morgens Ingo mit seinen Schwertgesellen Berthar und Wolf. Unter ihren Füßen ächzte der Schnee, der Nachtwind fuhr um ihre Häupter und trieb Schneewolken von den Bergen in das Tal; die schwarze Wolkendecke barg alles Himmelslicht, nur die Geister des Todes herrschten auf der Erde, sie schrien aus dem Winde, sie rasselten in den dürren Bäumen und rauschten im Eiswasser die Kunde, daß von zwei Eidgesellen eines Herdes der eine geschieden werden sollte vom Sonnenlicht, damit er hinabsteige in das kalte Nebelreich. Berthar wies schweigend in die Dämmerung, auf der anderen Seite des Baches standen drei Männer, es war Theodulf mit Sintram und Agino, seinen Genossen. »Ihre Füße waren schneller,« sprach Ingo unzufrieden, »rühme die, welche zuerst der Nebelaue den Rücken kehren.« Vor ihnen lag die Stätte des Kampfes, ein sandiges Eiland mit dünner Schneedecke, auf beiden Seiten vom strudelnden Wasser umgeben. Die Schwerthelfer grüßten einander lautlos über den Bach, sie schritten zu den Weiden am Uferrand, schnitten starke Zweige und schälten mit dem Messer die Rinde. Dann sprangen Berthar und Sintram durch das Wasser, beide betraten zu gleicher Zeit den Grund der Aue und steckten den Kampfplatz mit weißen Stäben ab. Darauf trat jeder von ihnen an eine Spitze des Eilandes, der eine stromauf, der andere stromab und winkte seinem Kämpfer mit dem Arm. Die Kämpfer neigten sich vor den hilfreichen Göttern und murmelten den Notsegen, dann wateten sie durch das Wasser zu ihren Gesellen. Die Helfer wichen zurück über den Bach und die Todfeinde sprangen gegeneinander, schildlos in Helmkappe und Panzerhemd mit geschwungenem Schwert. Stahl schlug an Stahl, um sie stöhnte der Wind und rauschte das Eiswasser. Es war harter Männerkampf, nicht unwert erwies sich Theodulf des Ruhmes, den er unter seinen Genossen hatte, eine Weile dröhnte der Streit, der so schnell zum Tode führt, und Berthar sah unzufrieden das Rot am Morgenhimmel, den Boten des Tages. Da strauchelte Theodulf unter schwerem Schlage, und wieder sprang Ingo nach ihm und zerbrach ihm mit starkem Schwertstreich das Haupt durch den Eisenhelm, daß ein Blutstrom herausbrach und der Mann des Fürsten rückwärts auf den Schnee sank. Ingo schwang sich über ihn und erhob das Schwert, ihm mit der Spitze die Gurgel zu durchstechen. In demselben Augenblick brach der erste Lichtstrahl über die Hügel, der rote Schein fiel auf das Angesicht des wunden Mannes, Sintram vergaß in der Todesangst das gebotene Schweigen und schrie über den Bach: »Schone sein, die Sonne sieht's.« Bei dem Lichtstrahl und dem Schrei fiel ein weicher Gedanke in die grimmige Seele des Siegers, er zuckte das Schwert zurück und sprach: »Die Herrin soll's nicht schauen, daß ich dem Gastfreund seinen Mann durchsteche. Lebe, wenn du kannst«, er wandte sich ab. Theodulf murmelte am Boden, die Faust gegen ihn erhebend: »Ich danke dir's nicht.« Ingo aber sprang durch das eisige Wasser ans Ufer und wandte der Insel und dem Gefallenen den Rücken, während Berthar vorwurfsvoll sagte: »Zum erstenmal kargte der König, als er einem Todfeind das Reisegeld in das Nebelland zahlte.«

»Ich sorge nicht um eines Mannes Rache, der unter meinem Schwert lag«, versetzte Ingo. Schweigend folgten ihm seine Schwertgesellen, während die Helfer des anderen über das Wasser drangen und an der Rüstung des Verwundeten zerrten.

Vor der Gastherberge standen die Vandalen im Haufen gerüstet, ihren Gruß, da sie den König gerettet von der Aue zurückkehren sahen, hemmte Berthar. Im Hofe sammelten sich die Mannen des Fürsten und die Landgenossen in finsterer Erwartung, bis der Weheruf Sintrams erscholl und hinter ihm zwei Männer den gefällten Helden auf einer Bahre in den Hof trugen. Als die Bahre vor dem Hause der Frauen niedergesetzt wurde, stürzte die Fürstin heraus, warf sich mit lautem Schrei neben dem Verwandten nieder und hob die Arme flehend zu ihrem Gemahl. Dem starren Schweigen im Hofe folgte wilde Bewegung. Racheruf und Geschrei; die Landgenossen, die Häupter des Volkes eilten beschwichtigend von einem Haufen zum anderen, auch sie bedachten sorgenvoll, daß ein Feuer aufgebrannt war, welches schwerlich durch klugen Rat gelöscht wurde.

Zuerst geriet Wolf in Bedrängnis. Als er zu seinen alten Bankgenossen trat, welche in gedrängtem Schwarme vor dem Krankenhaus standen, da gaben sie ihm feindselige Blicke und wendeten die Rücken und Agino sprach: »Wer im Waffengang gegen unseren Gesellen gestanden hat, der ist geschieden von unserer Bank, und wenn ich dir zum letztenmal Gutes raten soll, so meide unsere Nähe, damit dir nicht kaltes Eisen für deinen Verrat zahle.«

»Ihr handelt schmachvoll an dem Genossen,« entgegnete Wolf heftig, »ehrlich habe ich mich gehalten nach meinem Schwur, den ihr damals alle rühmtet; wie durfte ich mich meinem Herrn versagen in der Not zwischen Wasser und Heide?«

»Warst du sein Geselle in der Not,« versetzte der andere, »so birg dich in seiner Kammer und zeche unter seinen Fremden den Met, den er dir schenkt; denn verhaßt ist uns dein Name und getilgt sei dein Gedächtnis in unserem Ringe.«

Auch Hildebrand trat zu ihm und begann feierlich: »Seit du ein Knabe warst, kenne ich dich, und gern möchte ich dir Gutes raten, wenn ich vermöchte; aber es ist ein alter Spruch: wo der Herr gleitet, fällt der Mann zur Erde. Auch wenn unser Fürst Answald dir wohlmeinend ist, er vermag dich nicht zu schützen gegen den Grimm des Hofes. Vielleicht berede ich ihn, daß er dich freigibt von deinem Hofeid, dann wandere mit deinem Schwert und suche dein Heil in der Fremde.«

Wolf trat zur Seite an die Hofmauer und barg sein heißes Gesicht vor dem Blick der Genossen.

»Ist dein Reisegepäck so schwer, daß du weinst wie ein Kind, das die Wanderschaft fürchtet?« sprach eine Frauenstimme neben ihm. Wolf antwortete erbittert: »Daß auch du mich höhnst, Frida, ist ärger als das andere, denn um deinetwillen war ich froh in dem Hofdienst.«

»Es gibt wohl andere Höfe als diesen Saal, der abseit liegt von dem Reisepfad der Helden, wo ein Krieger leichter die Gunst des Herrn gewinnt und vielleicht auch Haus und Land, damit er sich einem Weib vermähle. Mir gefällt nicht die Bank der Helden, an welcher ein Weib gebietet.«

»Du rätst mir zu gehen.« antwortete Wolf in hellem Erstaunen, »und du selbst bleibst doch hier.«

»Für die Kunkel bin ich geschaffen und ich muß harren, bis mich ein Mann auf sein Roß hebt und in seinen Hof führt. Aber verächtlich dünkt mich eine Herrschaft, welche zuerst vor dem Gaste die Arme ausbreitet und dann beängstigt wird durch seine Gegenwart. Schwinge dich auf, trabe mutig über die Heide und suche dir einen treueren Herrn.«

»Du warst selten freundlich gegen mich, Frida, dennoch kommt mir's schwer an, dich unter den Hofknaben zurückzulassen«, versetzte der ehrliche Wolf.

»Vielleicht weiche auch ich einmal aus dem Hofe«, antwortete Frida trotzig. »War ich auch zuweilen hart gegen dich, Wölflein, so wisse doch, daß ich die Tölpel dort hasse, seitdem sie dir die Genossenschaft weigern.« Sie sah ihn freundlich an und verschwand, Wolf schritt getröstet nach der Herberge der Gäste.

»Was raunen dort die stolzen Knaben untereinander?« fragte ihn Berthar prüfend.

»Sie haben sich von mir geschieden«, antwortete Wolf finster, »weil ich mit dem König Ingo zur Aue ging.«

»Und was meinst du zu tun, junger Thüring?«

»Ich habe mich deinem Herrn gelobt«, antwortete Wolf. Berthar faßte ihn bei der Hand. »So spricht ein wackerer Mann. Immer hast du mir gefallen, denn du warst treu im Dienst und gutartig gegen meine Gesellen. Jetzt will ich sorgen, soweit ich vermag, daß dich die Wahl nicht reue. Tritt zunächst abwärts von uns zu dem Helden Isanbart, damit er dich schütze und dir durch seine Fürsprache von dem Eide helfe, der dich an den Hofherrn bindet. Dann kehre dich zu uns. Einen Sohn haben mir die Götter versagt, ich will dich halten wie mein eigen Blut, den letzten Trunk teile ich mit dir und mein letzter Schwertschlag sei an deiner Seite. Willkommen in unserer Mitte zur Wanderung auf der Männererde, zum Gewinn von Beute und zum seligen Ende in der Männerschlacht.«

Aber auch Irmgard empfand die Verstörung dieses Morgens. »Wo ist die Tochter?« rief der Fürst am Lager des Verwundeten, »daß sie mit ihrer Heilkunst der Mutter helfe.«

Leise, damit kein anderer die Worte höre, antwortete die zornige Fürstin: »Ungehorsam weigert sie, seinem Lager zu nahen.« Herr Answald trat heftig in Irmgards Gemach, die Wange der Jungfrau war erblichen, aber ihr Auge mied nicht den zornigen Blick des Vaters. »Am Lager deines Verlobten ist dein Sitz, du Kaltsinnige!« rief er ihr zu.

»Hassen würde ich mich selbst, hätte ich mein Leben jenem gelobt«, antwortete Irmgard unbeweglich.

»Der Vater tat es für dich, und hätte ich's nicht getan, von deinem Geschlecht ist er und mein Waffengenosse. Ehrst du so wenig, was die Sitte von dir heischt?«

»Auch ich gedenke, mein Vater, was deinem Kinde geziemt. Er, der getroffen liegt von wohlverdientem Schlage, hat die Meute gehetzt gegen unseren Gastfreund. Bin ich ein Kind dieses Hauses, so ist er mir fortan ein Fremder und ein Feind.«

»Wie eine Wahnwitzige redest du. Wohl kenne ich den argen Wunsch, der dir den Sinn betört; zu lange habe ich nachsichtig das Unleidliche getragen.« Er hob den Arm gegen die Tochter.

»Töte mich, mein Vater,« schrie Irmgard, »du hast die Macht, aber auf meinen Füßen trete ich nimmer zu dem Bett des argen Mannes.«

»Bist du jetzt so entschlossen.« rief der Fürst außer sich, »so sollst du doch dem Zwange dich beugen. Ich gehe, den Quell abzuleiten, der diesen Jammer in meinen Hof treibt. Du aber lebe gesondert als Gefangene, bis dein trotziger Mut sich fügt.« Drohend verließ er das Gemach und schritt über den Hof nach dem Herdsitz. Dort sammelten sich die Gaugenossen, dorthin wurde auch Ingo von zwei Häuptern des Volkes geleitet.

Das Antlitz des Fürsten war rot vor Zorn und ihm bebte die Stimme, da er an seinem Herdfeuer in der Versammlung begann: »Zum Tode verwundet hast du, Ingo, Ingberts Sohn, meinen Schwertträger Theodulf, einen Edlen des Volkes, den Verwandten meines Ehegemahls, den Sohn, dem ich meine Tochter zur Hausfrau gelobt; geschädigt hast du ihn an Leib und Leben in heimlichem Kampf, den die Sonne haßt; gekränkt hast du meine Ehre, verletzt die Gastpflicht, gebrochen den Eid, darum weigere ich dir fortan den Frieden meines Hauses und Hofes, ich löse das Bündnis, das einst die Väter verband, die Flamme des Herdes tilge ich, die jetzt noch wärmt, und das Wasser verschütte ich, über dem wir einander gastlichen Frieden gelobt.« Er schwenkte den Herdkessel empor und goß ihn in die Flamme, daß der Weiße Dampf sich zischend im Hause verbreitete.

Ingo aber rief dagegen: »Eine Nottat verübte ich, bis zum Tode gekränkt an meiner Ehre, wie sie jeder üben muß, der nicht achtlos im Volke leben will. An deinen gastlichen Herd dachte ich. als der arge Mann unter meinem Schwerte lag und ich die Spitze zurückzog. Für das Gute, das ich unter deinem Dach genossen, danke ich dir noch jetzt beim Scheiden; vor dem Argen, das du und deine Freundschaft mir fortan sinnen, werde ich mich bewahren. Wie du die Flamme getilgt, die mir gastlich geleuchtet, so werfe ich das Gastzeichen, das dein Vater meinem Vater übergab, in die kalten Kohlen deines Herdes, ab tue auch ich die Gastpflicht, die mich hier band, als ein Fremder kam ich und als ein Fremder gehe ich; den Göttern, den hohen Schwurzeugen klage ich das Anrecht, das du an mir und meinem Geschlecht verübst, und ihren Segen erflehe ich für jeden, der in diesem Hofe und Lande mir Gutes wünscht.« Er wandte sich zum Abgang, da erhob sich Isanbart und sprach: »Bist du durch eine Nottat verfeindet unserem Häuptling, den wir ehren, so bist du noch nicht verfeindet dem Volk, das dir durch unseren Mund den Frieden gelobt hat. Willst du harren, bis die Gemeinde über deinen Zwist mit Herrn Answald entschieden hat, so bist du willkommen mit deinem Gesinde im Hofe und am Herd eines Alten, der einst im Kampf an der Seite deines Vaters gestanden hat.«

Ingo trat zu dem Greis und neigte sich tief vor ihm: »Segne mein Haupt, o Vater, bevor ich scheide. Denn unrühmlich wäre mir fortan noch im Gaue zu verweilen und Zwiespalt in den Dörfern aufzuregen. Deiner Treue denke ich aber, solange ich atme.«

Der Greis legte ihm schweigend die Hand auf das Haupt, dann trat Ingo auf die Schwelle. Mit Zorn und Sorge sah der Fürst, daß sich ein Teil seiner Landgenossen erhob, den Scheidenden zu geleiten. Isanbart bot dem Fremden die Hand und führte ihn durch die Schar der Hofmannen, welche bewaffnet mit drohenden Gebärden um die Tür drängten; diesen gegenüber hielten auf ihren Rossen die Vandalen, bereit zum Aufbruch und, wenn es not war, zum Kampfe. Aber die Würde der Volkshäupter bändigte den Grimm der Jüngeren; Ingo schwang sich auf sein Roß, das ihm Berthar zuführte, noch einen langen Blick warf er zurück in den Hof, dann trieb er sein Roß zum Sprung durch das Hoftor, ihm folgte ebenso die Schar seiner Mannen. Als die Hofgenossen ihnen Drohworte nachriefen, gebot die zürnende Stimme Isanbarts Schweigen. Der Fürst aber saß stumm in schweren Gedanken an seinem kalten Herde.

Hinter den Reisenden klapperten auf dem gefrorenen Boden Roßhufe, Bero trieb sein Pferd an Ingos Seite und begann, nachdem er eine Weile neben ihm geritten war: »Ich war's, der deine Gesellen dir zuführte, heut möchte ich dir guten Willen erweisen; das Dorf, in dem ich hause, liegt auf deinem Wege, laß dir's gefallen, Held, bei mir einzukehren und Bauernkost zu versuchen.«

»Ich rate, Herr,« sprach Berthar, »daß du der Ladung des Freien folgst, denn wohlgesinnt habe ich ihn gefunden und von klugem Rat.«

»Du bist nicht der einzige deines Geschlechtes, der es mit uns gut gemeint hat, da wir im Herrenhofe waren«, versetzte Ingo mit trübem Lächeln. Und die Helden verabredeten den Besuch, worauf Bero zufrieden seinen Gaul in einen Seitenpfad lenkte.

Ihm folgte mit lautem Zuruf Rothari. »Eure erste Einkehr sei in meinem Hofe«, rief der runde Mann und streckte seine Hand vom Roß aus, um vielen die Hand zu schütteln. »Wirf die Sorgen hinter dich, Held, und grolle nicht mit uns anderen, weil du in Unfrieden von einem scheidest«, und neben Ingo reitend fuhr er vertraulicher fort: »Auch in unserem Gau wird mancher Mann sich wundern, daß dein Schwert einem Zänker nicht die letzte Ehre vergönnt hat, denn der Mann und sein Geschlecht haben Feinde im Volke, weil sie unbillig sind, und ich bin auch einer davon.« So trabte er mit tröstlichen Worten unter den Gästen, wirbelte zuweilen seinen Speer in der Luft und erzählte lustige Fahrten, bis auch die Fremden zuhörend lachten.

Als am nächsten Morgen der erste Dämmerschein in das dunkle Gemach fiel, erhob sich Irmgard leise vom Lager, damit sie die schlafende Wächterin nicht wecke und sprach bei sich selbst: »Mir träumte, oben am Gießbach steht der eine, der mich erwartet. Vereist ist das Ufer der rinnenden Flut, gelöst ist der Fichtenbaum, der an unserem Boden hing, talab treibt er mit dem Wasser zwischen Eis und Steinen und nimmer sehe ich ihn wieder. Nicht weiß ich, was ich noch im Leben lieben soll, da er von uns wich.« Sie warf eine dunkle Hülle um ihr Gewand, öffnete leise die Tür und schritt über den leeren Hof. »Wer löst mir die Riegel am Tor?« sprach sie an der Pforte, aber als sie daran rührte, fand sie die Holzkeile des Sperrbaumes herausgetrieben. Sie ging durch das Tor und eilte über den Schnee den Bergen zu an die Stelle, wo sie früher den Geliebten gefunden. Als sie aber näher kam und am Gießbach eine hohe Gestalt in der Dämmerung erkannte, erschrak sie und hielt an. Da eilte Ingo ihr entgegen: »Ich dachte dich zu finden an dieser Stelle, die Ahnung trieb mich auf schnellem Rosse durch die Nacht.«

»Unter die Feinde reitet der König,« antwortete Irmgard, »weil mein Geschlecht ihm die Treue brach. Bitter ist der Gedanke, verhaßt ist mir das Leben. Denn auch du wirst uns zürnen, wenn du in der Not an die Halle meiner Väter denkst.«

»Deiner gedenke ich, wo ich auch weile,« rief Ingo, »von dir hoffe ich alles Heil meiner Tage. Die Liebste bist du mir und stark ist dein Mut, darum lege ich heut in deine Hand die Fäden, an denen, wie die Priesterin sprach, mein Schicksal hängt.« Er bot ihr eine kleine Tasche von Otterfell mit starken Riemen daran. Irmgard sah scheu auf die Gabe. »Sie birgt den Drachenzauber,« fuhr Ingo leise fort, »den Sieg der Römer, wie unsere Krieger meinen, und auch mein Los. In der Königsburg hat der Römer Gold gespendet, möglich ist, daß die Mannen des Königs mir Unheil bereiten. Töten sie mich mit meinem Gesinde, so soll doch der Römer nicht wiedergewinnen, was, wie man sagt, ihm den Sieg verleiht. Darum bewahre du mir den Purpur, bis ich ihn fordere: wenn aber den Feinden ihr Werk gelingt, dann trage das Geheimnis zu dem Totenhügel, den sie über mich werfen, und senke es dort tief in die Erde, damit kein Fremder es jemals gewinne.«

Irmgard ergriff die Tasche, hielt sie mit beiden Händen, und ihre Tränen rollten darauf. »Fremd wurdest du dem Herd meiner Väter, mein Gastfreund bleibst du doch, Ingo, und nahe an meinem Herzen sollst du wohnen. Hier bewahre ich, was du mir botest, und zu den Schicksalsgöttern flehe ich, daß dies Unterpfand auch mir Anteil werde an deinem Geschick. Wäre ich als Knabe geboren, wie die Eltern sich wünschen, ich dürfte dir auf deinem Pfade folgen. Aber einsam werde ich sitzen mit verschlossenen Lippen im freudelosen Hause, und an dich werde ich denken, den nur die Habichte schauen, die wilden Vögel, wenn sie zwischen Himmel und Menschenerde fliegen. Denn ruhelos wanderst du, edler Mann, durch feindliche Mauern unter wehendem Wind und fallendem Reif.«

»Traure nicht, Holde,« bat Ingo, »denn ich fürchte nicht, daß es den Feinden gelingen wird mich auszutilgen; wirbelt auch kalter Schnee, mein Herz ist froh, da ich dir vertraue, um die ich sorge. Bei Nacht und Tag ist mein Gedanke, wie ich dich mir gewinne.«

»Dem der Vater zürnt und den die Mutter haßt, den liebt das Kind, gibt es größeres Leid auf Erden?« klagte Irmgard.

Da umschlang er sie mit seinen Armen und sprach zärtlich: »Birg deine Liebe still vor den anderen, wie der Baum seine Kraft in der Erde birgt, wenn der Sommer weicht. Jetzt tobt um uns die wilde Gewalt des Winterriesen, mit weißem Bahrtuch bedeckt ist die Wonne der Flur. Auch du, Holde, trage still die eisige Last. Wenn die Knospen springen und junges Grün aus der Erde sprießt, dann schaue empor zur Frühlingssonne und lausche, ob du den Sang der wilden Schwäne hörst, wenn sie durch die Luft ziehen.«

»Ich berge und harre,« antwortete Irmgard feierlich, »du aber denke, wenn der Sturm um dein Haupt tobt, daß ich zu dir klage und rufe, und wenn die milde Sonne über dir lacht, daß ich um dich weine.« Sie riß ein Band von ihrem Gewande und knüpfte es um seinen Arm. »So binde ich dich für mich, damit du auch wissest, daß du mir gehörst wie ich dir«, und sie warf die Arme um seinen Hals und hielt ihn fest umschlungen.

Von der Seite klang mißtönend der Schrei eines Raubvogels. »Der Wächter mahnt, daß du dich von mir wenden sollst«, rief Ingo. »Segne mich, Irmgard, daß meine Reise heilvoll sei für dich und mich.« Er neigte das Haupt unter ihre Hände, sie aber hielt die Arme über ihn, bewegte die Finger und raunte den Segen. Dann umfing der Mann sie noch einmal in heißem Trennungsweh und schwang sich aufwärts in den Tannenwald. Irmgard stand wieder allein zwischen Fels und Wald, und um sie wehte der Winterschnee.

Spät am Morgen ritten die Vandalen aus dem Hofe Rotharis, unter ihnen Ingo mit gehobenem Mut, obwohl er schwieg, denn seine Gedanken flogen zurück zu dem Weib im Herrenhofe. Um Mittag kamen sie zu dem Dorf, das man im Lande »freies Moor« nannte, wo die Hofstätte Beros stand. Die Sonne schien lustig auf das weiße Erdtuch, und an den Häuptern der Weiden glitzerte der Reif. Die Brücke über den Torfgraben war mit grünen Fichtenzweigen geschmückt, am Wächterhaus daneben standen die Landleute im Festkleide, vor ihnen Bero und seine sechs Söhne, kräftige Jünglinge mit starten Gliedern und großen Händen. Und Bero rief: »Als die letzten Gaugenossen wohnen wir an deiner Straße, und wir gedenken euch warm zu halten unter unseren Rohrdächern, bis ihr in die Fremde reitet.« Die Reiter stiegen fröhlich ab und schritten zwischen den Landleuten in das Dorf. »Wir teilen uns in die Bewirtung,« fuhr Bero fort, »damit jeder von den Nachbarn Gastfreunde ehre, und gefällt es den jungen Gesellen, so mögen sie nach dem Mahl mit unseren Knaben die Mädchen zum Tanze führen in geräumiger Stube oder auf gefegter Tenne, wie unser Brauch ist.« Darauf ergriff er selbst den Zügel von Ingos Roß und geleitete seine edlen Gäste durch das offene Hoftor. Während seine Söhne die Rosse anbanden und den Hafer schütteten, traten die Herren vor das Haus, auf dessen Schwelle Fridas Mutter mit ihren Mägden auf die Fremden wartete und die sonnengebräunte Hand bot. Über dem gestampften Lehmboden der weiten Hausflur stand ein gedeckter Tisch mit den Holzstühlen, von der erhöhten Bühne im Hintergrunde guckten blauäugige, flachsköpfige Kinder hervor und bargen, wenn die Gäste ihnen zulachten, verlegen die Köpfe hinter der Brüstung. »Rufe zum Mahl«, mahnte der Bauer seine Frau, »und bringe das Beste, was wir vermögen, denn die Gäste sind Herrenkost gewohnt.« Ingo lud die Wirtin neben sich auf den Sitz, sie aber wehrte und trug selbst die Speisen auf und ab. »Das dünkt mich gute Gewohnheit,« erklärte Bero, »denn das Auge der Wirtin sieht am schnellsten, was dem Gaste fehlt, und auch dem Wirte wird zuweilen lästig, wenn die Ohren der Dienstleute auf das gesprochene Wort horchen.«

Viele Gerichte bot die Wirtin, endlos trug sie die Schüsseln, und bei jeder nötigte sie zu nehmen. Endlich führte der Wirt den König und Berthar in seine Kammer, dort saßen die drei am kleinen Tisch nieder, und er schenkt ihnen in die Töpfe kräftigen Met, vor Alter schwärzlich und dick wie Honigseim. »Den Trank hat meine Mutter gebraut, da sie in diesen Hof kam«, sagte er empfehlend. Er hob seinen Krug, brachte den Gästen den Heilgruß und begann feierlich: »Unsere Alten verkünden, daß einst ein Gott die Edlen schuf, die freien Bauern und die Knechte, da er über den Erdgarten wanderte. Jeder Art verlieh er besondere Gaben, euch Edlen, das Volk im Kampfe anzuführen, wenn wir euch folgen; uns dagegen, im Sommer und Winter über den Fluren zu walten, den Knechten, sorgenvoll mit gekrümmtem Rücken zu arbeiten. Der Edle und der Freie – beide können einander nicht entbehren. Ihr Helden vermögt nicht Ruhm zu gewinnen, wenn wir euch nicht auf die Kampfheide nachziehen, und wir mögen nicht sicher bauen, wenn ihr uns nicht durch Rat und Waffenwerk die feindlichen Nachbarn abwehrt. Ihr habt die beste Ehre im Kampfe, denn selten feiert der Sänger die Kriegstat der Bauern, aber ruhelos ist euer Leben, und unstet fahren die Geschlechter der Edlen dahin. Wir aber weilen dauerhaft auf dem Acker, und wenn auch ein Wirt erschlagen wird und sein Hof verbrannt, so treten doch seine Söhne in die Schuhe des Vaters, zimmern und bauen wieder über den Schollen.«

Die Gäste freuten sich der guten Rede und nickten ihm Beifall. Und bedächtig fuhr Bero fort: »So habe ich nun euch, ihr Helden, durch manche Woche beachtet, und ich habe erkannt und vernommen, daß ihr billig denkt und in guter Zucht lebt. Darum meine ich, wir könnten wohl einander nützlich sein. Hofft völlig nichts von unseren Edlen, manche unter ihnen wissen sich selbst nicht zu beraten; und erwartet nichts von dem Könige, denn er hegt Argwohn und Neid gegen jedermann, der ihm nicht dient. Versucht darum euer Heil mit den Bauern. Als ich dich, Held Berthar, vom Süden herführte, da sprach ich bereits ein wenig von meinem Geheimnis, wie man mit einem Fremden spricht; heut aber will ich euch völlig vertrauen. Gastfreund bin ich von den Ahnen her mit freien Männern am Idisbach. Sie gehören einem redlichen Volk zu, man nennt sie die Marvinge. Blutsverwandt sind sie uns Thüringen, längst aber hausen sie für sich als ein kleiner Stamm in den Tälern am Bach der Idis, der hohen Schicksalsfrau. Sie haben vor Jahren ihr Herrengeschlecht und die besten Krieger verloren, weil diese sich ihnen verfeindeten und nach Ruhm und Beute westwärts unter die Franken zogen.

Seitdem sitzen die Zurückgebliebenen bedrängt von unseren Siedlern jenseit der Berge und südwärts gegen den Main von den Burgunden. Unleidlich ist ihnen die Doppelzwinge geworden, und ein Teil bereitet sich in der Stille, wenn die Bäume wieder grüne Reiser treiben, gleichfalls auszureisen und den Fürsten nachzuziehen. Deshalb ritt auch ich im Herbst über die Berge, um Rosse und Zugochsen zu vertauschen gegen ihre Schweine, die sie nicht selbst schlachten wollen. Dort sah ich wonnevolles Weideland, billig zu kaufen, und ich dachte an die Knaben in meinem Hofe. Die Gastfreunde aber klagten mir, soviel ihrer jetzt noch im Land der Väter bleiben wollten, daß ihrem kleinen Bienenschwarm der Weisel fehle, denn sie entbehren ein Herrengeschlecht, welches für sie mit den Nachbarn gute Freundschaft halten könnte oder auch rühmlichen Streit führen gegen die raublustigen Edlen an der Grenze. Die Bauern im Idistale aber wollen nicht Thüringe, nicht Burgunden werden, sondern ihre eigene Art behalten und wollen sich lieber mit einem fremden Geschlecht zusammenschwören, als mit unseren Edlen, am wenigsten aber mit den Königen. Darum denke ich an dich, Held Ingo. Denn euer sind wenige, ihrer sind mehre, und ihr vermögt nicht, sie zu bedrücken. Dorthin rate ich dir im Frühjahr zu gehen. Ob es euch zum Heile wird, da müßt ihr selbst zusehen, aber manchem, der das Land baut, wäre es Vorteil, und darum rate ich's euch.«

»Achte auf seine Rede, mein König,« rief Berthar, »dies ist die beste Botschaft, die du seit lange gehört, und wahrhaft jedes Wort; ich selbst sah das Land und sprach die Männer. Vom Main waren wir nordwärts geritten über die Grenze der Burgunden, durch mageren Kiefernwald und sandige Heide, da erblickten wir von der Höhe ein weites Tal, darin ein rinnendes Wasser, das sie den Bach der Schicksalsfrau, der heiligen Idis, nennen. Steile Hügel mit Laubwald, auf der Wiese so hohes Gras, daß unsere Rosse Mühe hatten durchzuschreiten. Dort weiß ich eine Berglehne, wohl geeignet für eines Königs Burg: wie von einer Warte sieht man über das Idistal und über die Wälder bis weit hinter den Main.«

Ingo lachte. »Auch du, grauer Wanderer, hoffst auf Zimmerarbeit und einen warmen Sitz am eigenen Herde? Seltsam ist das Schicksal des Fahrenden, der Fürst weist mich von seinem Hofe, der Bauer bietet mir ein Land, gerade da wir wieder dahinziehen ohne Haft auf dem Boden, der Wolke ähnlich, die unter der Sonne treibt. Nur eines fürchte ich, du verständiger Wirt: durch die Mauern des Königs Bisino muß ich zu dem Idisbach reiten.«

»Meide den König,« mahnte Bero, »weiche über die Grenze, so wirst du seiner ledig.«

»Zürne nicht,« antwortete Ingo, »wenn ich diesmal in die Gefahr springe wie ein fahrender Recke und nicht herumgehe wie ein seßhafter Mann. Ich selbst habe dem König auf seine Ladung die Antwort gegeben, daß ich kommen werde, und ich halte mein Wort, obgleich er mir abhold ist. Auch du wirst die Fahrt nicht schelten. Denn meide ich jetzt noch den König, so erkennt er meinen feindlichen Sinn, und wenn unsere Knaben, wie du willst, im Frühjahr einen Holzring unweit seiner Landesmark zimmern, so würde seine Rache den Siedlern am Idisbach schnell ein finsteres Schicksal bereiten.« Er ergriff die Hand des Bauern. »In anderem will ich deinem Rate folgen, und darum sage mir jetzt, wie ich um den Landbesitz mit deinen Gastfreunden handeln soll, damit wir uns in der grünen Reisezeit durch Bündnis vereinen.«

Die Helden neigten die Häupter und saßen lange in Beratung, während draußen die Schalmei und Sackpfeife tönte und die jauchzenden Paare zum Tanze zogen.

 


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