Gustav Freytag
Aus dem Staat Friedrichs des Großen / Die Erhebung
Gustav Freytag

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Die Erhebung

Der größte Segen, welchen die Reformatoren der Erde nachkommenden Geschlechtern hinterlassen, liegt selten auf dem, was sie selbst für die Frucht ihres Erdenlebens halten, nicht auf den Lehrsätzen, um die sie kämpfen, leiden und siegen, von ihren Zeitgenossen gesegnet und verflucht werden. Nicht ihr System ist das Bleibende, sondern die zahllosen Quellen eines neuen Lebens, welche unter ihrer Arbeit fröhlich aus der Tiefe der Volksseele ans Licht treten. Das neue System, welches Luther der alten Kirche entgegengestellt hatte, verlor wenige Jahre, nachdem er sein Haupt zur Ruhe gelegt hatte, einen Teil seiner bildenden Kraft. Aber was er während seinem großen Kampfe mit der Hierarchie getan hatte, seinem Volke die Selbsttätigkeit des Geistes zu steigern, das Pflichtgefühl zu vermehren, die Sittlichkeit zu erhöhen, Zucht und Bildung zu gründen, dieser Abdruck seiner Seele in jedem Gebiete des idealen Lebens blieb in den schweren Kämpfen der folgenden Jahrhunderte ein unzerstörbarer Gewinn, aus welchem zuletzt eine Fülle neuen Lebens erwuchs. Auch das System Friedrichs des Großen wurde wenige Jahrzehnte nach seinem Tode durch fremde Sieger als eine unvollkommene menschliche Erfindung widerlegt. Aber das beste Resultat seines Lebens blieb wieder ein unvertilgbarer Erwerb für Preußen und Deutschland. Er hatte in Tausenden seiner Beamten und Krieger Eifer und Pflichttreue, in Millionen seiner Untertanen Pietät gegen sein Haus lebendig gemacht, er hatte als ein weiser Haushalter überall die Saat des geistigen und materiellen Gedeihens ausgestreut. Das war das Bleibende seines Staats, der vortrefflich bearbeitete Boden, auf welchem das neue Leben aufblühte. Als sein Heer zerschlagen, das Land von Fremden überschwemmt war, als die bittere Not zwang, das Leben zu suchen, wo es zu finden war, da begann, noch während die feindlichen Gewalten zerstörten, die frische Kraft der Nation ihre Arbeit. Sogar was in der Erscheinung am widerwärtigsten war, die Schnelle und Haltlosigkeit, mit welcher das Alte zusammenstürzte, wurde ein Glück, denn es beseitigte plötzlich zwar nicht alle Träger des alten Systems, aber doch die größte Gefahr ihres Widerstandes. Grade jetzt wurde deutlich, wie tüchtig das Material war, das sich in Preußen vorfand: Beamte und Offiziere, vor allen das Volk selbst. Unerhört wie der Fall, ebenso unerhört war die Erhebung.

Untätig, betäubt sieht das Volk den Bruch seines Staates, es ist gewöhnt, nur von oben herab seine Impulse zu empfangen. In der chaotischen Verwirrung, welche jetzt folgt, scheint nirgend eine Rettung, der Schwache verflucht die schlechte Regierung, schadenfroh sieht der Seichte die Niederlage der geistlosen und anmaßenden Privilegierten, der Schwächste folgt den Sternen des Siegers. Männer von warmem Gefühl, wie Steffens, schließen sich ein und dichten eine traurige Ode auf den Fall des Vaterlandes, klügere untersuchen griesgrämig die Schäden des alten Systems und verurteilen bitter das Gute mit dem Schlechten.

Größer wird die Not, es ist die Absicht des Kaisers, auch dem Teil von Preußen, dem er ein Scheinleben lassen will, alle Adern zu öffnen, damit es sich verblute. Unerschwinglich sind die Kontributionen, die französische Armee wird über das Land verteilt, sie bezieht in Schlesien und den Marken Kantonierungsquartiere, Offiziere und Soldaten werden dem Bürger in die Häuser gelegt, sie sollen gefüttert und vergnügt werden. Auf Kosten der Kreise müssen gemeinschaftliche Tafeln eingerichtet und Bälle gegeben werden. Der Soldat soll sich für die Strapazen des Krieges entschädigen. Wir sind die Sieger, rufen übermütig die Offiziere. Kein Recht gibt es gegen ihre Brutalität und die Frechheit, womit sie den Frieden der Familien stören, in denen sie jetzt wie Herren regieren. Daß sie gegen die Frauen des Hauses artig sind, macht ihnen die Männer nicht geneigter. Noch ärger treiben es die Generäle und Marschälle. Prinz Hieronymus hat sein Hauptquartier in Breslau und hält dort seinen üppigen Fürstenhof; noch jetzt erzählt dort das Volk, wie ausschweifend er gelebt und wie er sich täglich in einem Faß Wein gebadet. In Berlin spannt der Generalintendant Daru seine Forderungen mit jedem Monat höher. Auch die demütigenden Bestimmungen des Friedens sind noch zu gut für Preußen, höhnend verändern die Tyrannen seine Paragraphen. Sie geben die Festungen nicht zurück, wie sie gelobt haben, sie steigern die Millionen der Kriegskosten mit raffinierter Grausamkeit ins Ungeheure. Mehr als 300 Millionen haben sie seit sechs Jahren aus dem Lande gezogen, das noch den Namen Preußen führen durfte.

Auch über Handel und Verkehr legt sich vernichtend das neue System. Durch die Kontinentalsperre wird Einfuhr und Ausfuhr fast aufgehoben. Die Fabriken stehen still, der Umlauf des Geldes stockt, die Zahl der Bankerotte wird übergroß, auch die Bedürfnisse des täglichen Lebens werden unerschwinglich; die Menge der Armen wächst zum Erschrecken, kaum vermögen die großen Städte die Scharen der Hungernden, welche die Straßen durchziehen, zu bändigen. Auch der Wohlhabende zieht seine Bedürfnisse ins Kleine. Er beginnt die freiwillige Zucht des eigenen Lebens, indem er kleinen Genüssen, an die er gewöhnt war, entsagt. Auch er trinkt statt des Kaffees geröstete Eicheln, Schwarzbrot, Roggen; größere Gesellschaften vereinigen sich, keinen Zucker mehr zu gebrauchen; die Hausfrauen sieden nicht mehr Früchte ein. Wie Ludwig von Vincke, der damals als Gutsbesitzer im neuen Großherzogtum Berg saß, hartnäckig den Huflattich statt Tabak rauchte und seinen Wein aus Johannisbeeren keltert, so verzichten auch andere auf die Bedürfnisse, welche der fremde Tyrann mit seinem Monopol belegt hat.

Und die Wissenschaft beginnt ihr großes Werk, die entweihten Hallen des Staates wieder für den Dienst guter Götter zu segnen, sie entsühnt, reinigt, erhebt die Seelen. Während die französische Trommel durch die Straßen Berlins wirbelt und die Spione der Fremden um die Häuser lungern, hält Fichte seine Reden an die deutsche Nation: ein neues kräftiges Geschlecht müsse erzogen werden, den Nationalcharakter zu bessern, die verlorene Freiheit wieder zu erobern.

Und aus dem äußersten Osten des Staates, wo jetzt die größte Kraft des preußischen Beamtentums an der Spitze der Geschäfte steht, beginnt eine neue Organisation des Volkes. Die Untertänigkeit wird aufgehoben, das Grundeigentum frei gemacht, die Städte erhalten Selbstregiment. Der alte Gegensatz der Stände wird gebrochen, die Privilegien abgeschafft. Auch im Heer bereitet Oberst Scharnhorst die Neubildung vor. Jetzt darf sich frei regen, was von Lebenskraft im Volke ist.

Schon im Jahre 1808 steht der Preuße nicht mehr mutlos, schon hebt er erwartungsvoll das Haupt und sieht um sich nach Helfern. Die ersten politischen Gesellschaften bilden sich. Tugendbund, Bildungsverein, wissenschaftliche Kränzchen, Offizierklub, sie alle haben denselben Zweck, ihr Vaterland von fremder Herrschaft zu befreien, das Volk heranzubilden zu einem nahen Kampfe. Noch ist Ungeschick, maßloser Eifer, auch Spielerei dabei, aber sie verbinden doch eine große Anzahl patriotischer Männer. Emsig laufen die Boten mit Geheimschriften, schwer wird es den ungeübten Verbündeten, die Späher des Feindes zu täuschen. Auch finstere Rachepläne werden in manchem Vereine beraten und Verzweifelte hoffen durch eine große Untat das Vaterland zu retten.

Höher steigt die Hoffnung im nächsten Jahre; in Spanien hat der Krieg begonnen, Österreich rüstet zu dem heldenmütigsten Kampf, den es je unternommen. Auch in Preußen ist der Boden unter den Fremden unterwühlt, alles ist zum Aufstande vorbereitet, der Polizeipräsident von Berlin, Justus Gruner, ist einer der tätigsten Leiter der Bewegung. Aber es gelingt nicht, Preußen mit Österreich zu verbinden, in einzelnen hoffnungslosen Versuchen verpufft die erste große Erregung des Volkes. Schill, Dürnberg, der Herzog von Braunschweig, der Aufstand in Schlesien zerschellen. Die Schlacht bei Wagram nimmt die letzte Hoffnung auf Österreichs Hilfe.

Vielen sinkt der Mut, nicht den Besten. Unablässig üben sich die Vaterlandsfreunde im Gebrauch der Schußwaffe, auch das preußische Heer, das nicht mehr als 42 000 Mann betragen soll, wird im geheimen auf mehr als die doppelte Zahl gebracht, in allen Militärwerkstätten sitzen die Soldaten aus dem Handwerkerstande und arbeiten an der Ausrüstung für einen künftigen Krieg.

Und zum zweitenmal erhebt sich die Hoffnung des Volkes, Napoleon rüstet zum Kriege gegen Rußland. Wieder ist die Zeit gekommen, wo ein Kampf möglich wird, schon darf Hardenberg dem französischen Gesandten St. Marsan sagen, daß Preußen sich nicht ohne Todeskampf zerstören lasse, und mit hunderttausend Kriegern einem feindlichen Anlauf entgegentreten werde. Aber der König vermag nicht den Entschluß eines verzweifelten Widerstandes zu fassen, er gibt die Hälfte des stehenden Heeres als Verbündeter zu der Großen Armee. Da verlassen sogar patriotische Offiziere seinen Dienst und eilen nach Rußland, dort gegen Napoleon zu kämpfen. Und wieder wird in Preußen die Hoffnung klein, in unabsehbare Ferne scheint die Befreiung gerückt.

Überall im nördlichen Deutschland brennt der Haß gegen den fremden Kaiser. Auch im Westen der Elbe, wo seine unaufhörlichen Kriege die männliche Jugend auf die Schlachtbank führen. Die Konskription wird dort als Todeslos betrachtet. Die Kosten eines Stellvertreters sind auf zweitausend Taler gestiegen. Auf allen Straßen sind die Trauerkleider zu sehen, welche Eltern um die verlorenen Söhne tragen. Aber am gewaltigsten ist der Haß der Preußen; in jedem Lebensberuf, in jedem Hause ruft er unablässig zum Kampfe. Alles, was in dem Deutschen hold und herzlich ist, Sprache, Poesie, Wissenschaft, die Sitte des Hauses, arbeitet dort in der Stille gegen Napoleon und sein fremdes Wesen. Alles Schlechte, Verdorbene, Frevelhafte, alle Hinterlist und Grausamkeit, Verleumdung, Tücke und brutale Gewalt wird gallisch und korsisch gescholten. Wie der wunderliche Jahn nennen den Kaiser auch andere Eifrige nicht mehr beim Namen, er wird »Er« genannt, wie einst der Teufel, oder mit verächtlichem Ausdruck Bonaparte.

So werden die Charaktere in Preußen durch sechs Jahre gehärtet.

Es war nicht mehr ein großer Staat, welcher im Frühjahr 1813 zu seinem Kampf um Leben und Tod rüstete. Was von Preußen noch übrig war, umfaßte nur 4 700 000 Menschen. Dieses kleine Volk hat im ersten Feldzug ein Heer von 247 000 Mann ins Feld gestellt, von je neunzehn Menschen, Frauen, Kinder, Greise mitgerechnet, je einen. Was das bedeutet, wird klar, wenn man berechnet, daß eine gleiche Anstrengung des gegenwärtigen Deutschen Reiches von 40 Millionen Einwohnern die ungeheure Zahl von reichlich 2 000 000 Soldaten zur Feldarmee geben würde.Bei der Summe von 247 000 Kriegern sind die Freikorps abgezogen, weil sie meist aus Nichtpreußen bestanden. Die Berechnung Beitzkes, deren Ziffer hier festgehalten wurde, weil sie die niedrigste ist, rechnet allerdings auch die Landwehrbataillone und Eskadronen, welche im Lauf des Feldzugs aus dem Terrain jenseit der Elbe formiert wurden, es sind daher etwa 20 000 Mann von seiner Summe abzusetzen. Aber da seine Rechnung nur die Stärke des ausrückenden Heeres begreift, nicht aber die Ergänzungen, welche bis zur Schlacht bei Leipzig fast ganz aus dem alten Terrain Preußens aufgebracht wurden, so ist doch die Ziffer eher zu niedrig als zu hoch gegriffen. – Im Jahre 1815 war das Verhältnis der Krieger zur Bevölkerung noch auffallender. Damals hatte Ostpreußen sieben Prozent seiner Einwohner, jeden siebenten Menschen männlichen Geschlechts in den Krieg gesandt, es waren fast nur Kinder und ältere Leute im Lande, sehr wenig Männer von 18–40 Jahren.

Die Ziffer der Bevölkerung ist nach der letzten amtlichen Zählung von 1810 gerechnet. Preußen hatte nach dem Frieden von Tilsit noch Neuschlesien an Polen abgeben müssen, dadurch und in der elenden Zeit seit 1806 mehr als 300 000 Menschen verloren. Es ist deshalb auch bis Frühjahr 1813 keine Zunahme der Bevölkerung anzunehmen. Außerdem waren die Hauptfestungen in französischen Händen, und ihre Einwohnerzahl ist bei einer Abschätzung der Leistungen des Volkes noch abzurechnen.
Und diese Summe drückt nur das Verhältnis der Menschenzahl, nicht des damaligen und gegenwärtigen Wohlstandes aus.

Denn es war auch ein sehr armes Volk, welches in den Krieg zog. Kaufleute, Fabrikanten, Handwerker kämpften seit sechs Jahren fruchtlos gegen die eiserne Zeit; dem Landwirt war mehr als einmal sein Getreideboden geleert, seine besten Pferde aus dem Stall geführt worden, das verschlechterte Geld, welches im Lande umrollte, störte den Binnenverkehr mit den nächsten Nachbarn, die ersparten Taler aus besserer Zeit waren längst ausgegeben. In den Tälern des Gebirgs hungerte das Volk, auf der Marschlinie der Großen Armee war drückender Mangel an notwendigen Lebensmitteln, Gespanne und Saatkorn hatten schon seit 1807 dem Landmann gefehlt, im Jahr 1812 trat dieselbe Not ein.

Es ist wahr, heißer Schmerz über den Sturz Preußens, tiefer Haß gegen den Kaiser Frankreichs arbeiteten in dem Volk. Aber großes Unrecht würde den Preußen tun, wer ihre Erhebung vorzugsweise aus der finstern Gewalt des Ingrimms herleiten wollte. Mehr als einmal in alter und neuer Zeit hat eine Stadt, auch ein kleines Volk in Verzweiflung seinen Todeskampf bis zum äußersten durchgekämpft, mehr als einmal setzt uns der wilde Heldenmut in Erstaunen, welcher den freiwilligen Tod durch die Flammen des eigenen Hauses oder durch die Geschosse der Feinde der Ergebung vorzieht. Aber solche hohe Steigerung des Widerstandes ist sonst nicht frei von einem düstern Fanatismus, der die Seelen bis zur Raserei entflammt. Davon ist in Preußen kaum eine Spur. Im Gegenteil, durch das ganze Volk geht ein Zug von herzlicher Wärme, ja von einer stillen Heiterkeit, die uns unter all dem Großen der Zeit am meisten rührt. Es ist gläubiges Vertrauen zur eigenen Kraft, Zuversicht zu der guten Sache, überall eine unschuldige, jugendliche Frische des Gefühls.

Beispiellos ist diese Stimmung, schwerlich, solange es Geschichte gibt, hat ein zivilisiertes Volk das Größte in so reiner Begeisterung geleistet. Für den Deutschen aber hat dieses Moment im Leben seiner Nation eine besondere Bedeutung. Seit vielen hundert Jahren geschah es zum erstenmal, daß die politische Begeisterung im Volke zu hellen Flammen aufschlug. Durch Jahrhunderte hatte der einzelne in Deutschland unter der Herrschaft des fürstlichen Staates gestanden, oft ohne Liebe, Freude und Ehre, immer ohne tätigen Anteil. Jetzt in der höchsten Not nahm das Volk sein altes unveräußerliches Recht wieder in Anspruch. Seine ganze Kraft warf es freiwillig und freudig in einen tödlichen Krieg, um seinen Staat vom Untergange zu retten.

Und noch höhere Bedeutung hat der Kampf für Preußen und sein Königsgeschlecht. Durch hundertfünfzig Jahre hatten die Hohenzollern ihre Untertanen zu einem Volk, unverbundene Landschaften zu einem Staat zusammengeschlossen. Ein großer Fürst, teure Siege, glänzende Erfolge des Hauses hatten dem neuen Volke Liebe zu seinen Fürsten gegeben. Jetzt war die Regierungskunst eines Hohenzollern zu schwach gewesen, das Erbe seiner Väter zu erhalten. Jetzt kam das Volk, das seine Ahnen geschaffen, und gab der letzten Anstrengung, die sein Fürst machen konnte, eine Richtung und eine Größe, welche den König fast wider seinen Willen aus der Niederlage emporriß. Mit seinem Blute zahlte das preußische Volk dem Geschlechte seiner Fürsten für das Große und Gute, das ihm die Hohenzollern getan. Und diese Hingabe, so treu und pflichtvoll, ging aus der sichern Empfindung hervor, daß Leben und die wahren Interessen des Fürstenhauses und des Volkes eins waren. Auch diese Art von Erhebung ist ohne Beispiel in der Geschichte.

Wer aber das Aufglühen der Volkskraft im Jahre 1813 betrachtet, der findet noch einiges Besondere darin, was schon uns, den Söhnen, fremdartig erscheint. Wenn jetzt eine große politische Idee das Volk erfüllt, so vermögen wir genau die Stadien zu bestimmen, welche sie zu durchlaufen hat, bevor sie sich zu einem festen Wollen verdichtet. Die Presse beginnt zu belehren und zu erwärmen, Gleichgesinnte treten in öffentlichen Versammlungen zusammen, der Vortrag des begeisterten Redners übt seine Wirkung. Allmählich vergrößert sich die Zahl der Teilnehmenden, aus dem Streit verschiedener Ansichten, welche in der Öffentlichkeit gegeneinander kämpfen, entwickelt sich die Erkenntnis dessen, was nottut, Einsicht in Wege und Mittel, dann der Wille solche Forderung durchzusetzen, Opferlust, Hingabe. Von dieser allmählichen Steigerung der Volksstimmung durch ein öffentliches Leben ist im Jahre 1813 noch kaum eine Spur. Was auf die Nation von außen wirkt, ist von anderer Art: die Phantasie wird durch einzelne Bilder in Anspruch genommen, die Empfindung durch einzelne große Momente angeregt; im ganzen aber liegt eine Stille auf dem Volke, die man wohl episch nennen darf. Gleichzeitig bricht das Gefühl in Millionen auf, nicht reich an Worten, ohne glänzenden Schein, immer noch still und, wie eine Naturkraft, von unwiderstehlicher Gewalt. Es ist eine Freude, diesen Verlauf in einzelnen Hauptmomenten zu betrachten. Nicht wie er in hervorragenden Personen, sondern wie er im Leben des kleinern Mannes sichtbar wurde, soll hier dargestellt werden.

Es war nach dem Neujahr 1813. Das scheidende Jahr hatte dem neuen einen strengen Winter als Erbschaft zurückgelassen, aber in Haufen standen die Leute auch in einer mäßigen Stadt vor dem Posthause. Glücklich, wer zuerst das Zeitungsblatt nach Hause trug. Kurz und vorsichtig war der Bericht über die Ereignisse dieser Tage, denn in Berlin saß der französische Militärgouverneur und bewachte jede Äußerung der verschüchterten Presse. Dennoch war längst die Kunde von dem Schicksal der Großen Armee bis in die entlegenste Hütte gedrungen, zuerst dunkle Gerüchte von Not und Verlust, dann die Nachricht von einem ungeheuren Brande in Moskau und den himmelhohen Flammen, die rings um den Kaiser aus dem Boden gestiegen waren. Dann von einer Flucht durch Eis und Wüsteneien, von Hunger und unsäglichem Elend. Vorsichtig sprach auch das Volk darüber, denn die Franzosen lagerten nicht nur in der Hauptstadt und den Festungen des Landes, sie hatten ihre Agenten auch in den Provinzen, Späher und verhaßte Angeber, denen der Bürger aus dem Wege ging. Seit den letzten Tagen wußte man, daß der Kaiser selbst von seinem Heer geflohen war. In offenem Schlitten, nur einen Begleiter neben sich, war er verhüllt, als Herzog von Vicenza, Tag und Nacht durch preußisches Land gefahren. Am 12. Dezember war er um acht Uhr abends in Glogau angelangt, dort hatte er eine Stunde geruht, und war um zehn Uhr in grimmiger Kälte aufgebrochen. Am nächsten Morgen war er zu Hainau in der alten Burg eingefahren, wo damals der Posthof war. Dort hatte die entschlossene Postmeisterin Gramsch ihn erkannt, in ihrer Küche mit den Löffeln geschlagen und geschworen, ihm keinen Tee zu gönnen, sondern einen andern Trank zu brauen. Durch die ängstlichen Vorstellungen ihrer Umgebung war sie endlich bis auf Kamillentee erweicht worden, den sie mit hartem Fluch in die Kanne goß. Er hatte doch getrunken und war weitergejagt, auf Dresden zu. Jetzt war er in Paris angekommen, man las in den Zeitungen, wie glücklich Paris war, wie zärtlich ihn seine Gemahlin und sein Sohn begrüßt hatten, wie wohl sich der Kaiser befinde, und daß er bereits am 27. Dezember die schöne Oper »Das befreite Jerusalem« angehört habe. Und man las weiter, daß die Große Armee trotz Ungunst der Jahreszeit doch noch in furchtbaren Massen über Preußen zurückkehren solle, und daß der Kaiser von neuem rüste. Aber man las auch von der Untersuchung gegen General Malet. Und man wußte, wie frech sich die Lüge in den französischen Zeitungen breitete.

Man sah, was von der Großen Armee übrig war. In den ersten Tagen des Jahres fielen die Schneeflocken; weiß wie ein Leichentuch war die Landschaft. Da bewegte sich ein langsamer Zug geräuschlos auf der Landstraße zu den ersten Häusern der Vorstadt. Das waren die rückkehrenden Franzosen. Sie waren vor einem Jahre der aufgehenden Sonne zugezogen mit Trompetenklang und Trommelgerassel, in kriegerischem Glanz und empörendem Übermut. Endlos waren die Truppenzüge gewesen, Tag für Tag ohne Aufhören hatte sich die Masse durch die Straßen der Stadt gewälzt, nie hatten die Leute ein so ungeheures Heer gesehen, alle Völker Europas, jede Art von Uniformen, Hunderte von Generälen. Die Riesenmacht des Kaisers war tief in die Seelen gedrückt, das militärische Schauspiel mit seinem Glanz und seinen Schrecken füllte noch die Phantasie.

Aber auch die unbestimmte Erwartung eines furchtbaren Verhängnisses. Einen Monat hatte der endlose Durchzug gedauert, wie Heuschrecken hatten die Fremden von Kolberg bis Breslau das Land aufgezehrt. Denn schon im Jahre 1811 war eine Mißernte gewesen, kaum hatten die Landleute Samenhafer erspart, den fraßen 1812 die französischen Kriegspferde, sie fraßen den letzten Halm Heu, das letzte Bund Stroh, die Dörfer mußten das Schock Häckselstroh mit sechzehn Talern, den Zentner Heu mit zwei Talern bezahlen. Und gröblich, wie die Tiere, verzehrten die Menschen. Vom Marschall bis zum gemeinen Franzosen waren sie nicht zu sättigen. König Hieronymus hatte in Glogau, keiner großen Stadt, täglich vierhundert Taler zu seinem Unterhalt erpreßt, der Herzog von Abrantes vier Wochen lang täglich fünfundsiebenzig Taler. Die Offiziere hatten von der Frau des armen Dorfgeistlichen gefordert, daß sie ihnen die Schinken in Rotwein koche; den fettesten Rahm tranken sie aus Krügen und gossen Zimtessenz darüber, auch der Gemeine bis zum Trommler hatte getobt, wenn er des Mittags nicht zwei Gänge erhielt, wie Wahnsinnige hatten sie gegessen. Aber schon damals ahnte das Volk, daß die Frevelhaften so nicht zurückkehren würden. Und die Franzosen sagten das selbst. Wenn sie sonst mit ihrem Kaiser in den Krieg gezogen waren, hatten ihre Rosse gewiehert, sooft sie aus dem Stall geführt wurden, damals hingen sie traurig die Köpfe; sonst waren die Krähen und Raben dem Heere des Kaisers entgegengeflogen, damals begleiteten die Vögel der Walstatt das Heer nach Osten, ihren Fraß erwartend.(Schlosser), Erlebnisse eines sächsischen Landpredigers von 1806 bis 1815. S. 66. Die fremden Nationen, Portugiesen, Italiener waren mäßiger.

Aber was jetzt zurückkehrte, das kam kläglicher, als einer im Volk geträumt hatte. Es war eine Herde armer Sünder, die ihren letzten Gang angetreten hatten, es waren wandelnde Leichen. Ungeordnete Haufen aus allen Truppengattungen und Nationen zusammengesetzt, ohne Kommandoruf und Trommel, lautlos wie ein Totenzug nahten sie der Stadt. Alle waren unbewaffnet, keiner beritten, keiner in vollständiger Montur, die Bekleidung zerlumpt und unsauber, aus den Kleidungsstücken der Bauern und ihrer Frauen ergänzt. Was jeder gefunden, hatte er an Kopf und Schultern gehängt, um eine Hülle gegen die markzerstörende Kälte zu haben: alte Säcke, zerrissene Pferdedecken, Teppiche, Schals, frisch abgezogene Häute von Katzen und Hunden; man sah Grenadiere in großen Schafpelzen, Kürassiere, die Weiberröcke von buntem Fries wie spanische Mäntel trugen. Nur wenige hatten Helm und Tschako, jede Art Kopftracht, bunte und weiße Nachtmützen, wie sie der Bauer trug, tief in das Gesicht gezogen, ein Tuch oder ein Stück Pelz zum Schutz der Ohren darüber geknüpft, Tücher auch über den untern Teil des Gesichts. Und doch waren der Mehrzahl Ohren und Nasen erfroren und feuerrot, erloschen lagen die dunklen Augen in ihren Höhlen. Selten trug einer Schuh oder Stiefel, glücklich war, wer in Filzsocken oder in weiten Pelzschuhen den elenden Marsch machen konnte, vielen waren die Füße mit Stroh umwickelt, mit Decken, Lappen, dem Fell der Tornister oder dem Filz von alten Hüten. Alle wankten auf Stöcke gestützt, lahm und hinkend. Auch die Garden unterschieden sich von den übrigen wenig, ihre Mäntel waren verbrannt, nur die Bärenmützen gaben ihnen noch ein militärisches Ansehen. So schlichen sie daher, Offiziere und Soldaten durcheinander mit gesenktem Haupt, in dumpfer Betäubung. Alle waren durch Hunger und Frost und unsägliches Elend zu Schreckensgestalten geworden.

Tag für Tag kamen sie jetzt auf der Landstraße heran, in der Regel sobald die Abenddämmerung und der eisige Winternebel über den Häusern lag. Dämonisch erschien das lautlose Erscheinen der schrecklichen Gestalten, entsetzlich die Leiden, welche sie mit sich brachten; die Kälte in ihren Leibern sei nicht fortzubringen, ihr Hunger sei nicht zu stillen, behauptete das Volk. Wurden sie in ein warmes Zimmer geführt, so drängten sie mit Gewalt an den heißen Ofen, als wollten sie hineinkriechen, vergebens mühten sich mitleidige Hausfrauen, sie von der verderblichen Glut zurückzuhalten. Gierig verschlangen sie das trockene Brot, einzelne vermochten nicht aufzuhören, bis sie starben. Bis nach der Schlacht bei Leipzig lebte im Volke der Glaube, daß sie vom Himmel mit ewigem Hunger gestraft seien. Noch dort geschah es, daß Gefangene in der Nähe ihres Lazaretts sich die Stücke toter Pferde brieten, obgleich sie bereits regelmäßige Lazarettkost erhielten; noch damals behaupteten die Bürger, das sei ein Hunger von Gott, einst hätten sie die schönsten Weizengarben ins Lagerfeuer geworfen, hätten gutes Brot ausgehöhlt, verunreinigt und auf dem Boden gekollert, jetzt seien sie verdammt, durch keine Menschenkost gesättigt zu werden.Schlosser, Erlebnisse. S. 129.

Überall in den Städten der Heerstraße wurden für die Heimkehrenden Lazarette eingerichtet, und sogleich waren alle Krankenstuben überfüllt, giftige Fieber verzehrten dort die letzte Lebenskraft der Unglücklichen. Ungezählt sind die Leichen, welche herausgetragen wurden, auch der Bürger mochte sich hüten, daß die Ansteckung nicht in sein Haus drang. Wer von den Fremden vermochte, schlich deshalb nach notdürftiger Ruhe, müde und hoffnungslos der Heimat zu. Die Buben auf der Straße aber sangen: »Ritter ohne Schwert, Reiter ohne Pferd, Flüchtling ohne Schuh, nirgend Rast und Ruh. So hat sie Gott geschlagen, mit Mann und Roß und Wagen«, und hinter den Flüchtlingen gellte der höhnende Ruf: »Die Kosaken sind da!« Dann kam in die flüchtige Masse eine Bewegung des Schreckens und schneller wankten sie zum Tore hinaus.

Das waren die Eindrücke des Winters von 1813. Unterdes hatte die Zeitung gemeldet, daß General York mit dem Russen Wittgenstein die Konvention von Tauroggen abgeschlossen hatte. Und mit Schrecken hatte der Preuße gelesen, daß der König den Vertrag verwarf, den General seines Kommandos entsetzte. Aber gleich darauf sagte man sich, daß das nicht Ernst werden könne, denn der König war aus Berlin, wo sein teures Haupt unter den Franzosen nicht mehr sicher war, nach Breslau abgereist. Jetzt hoffte man.

In der Berliner Zeitung vom 4. März las man unter den angekommenen Fremden noch französische Generäle, aber an demselben Tage betrat »Herr von Tschernitschef, Commandeur eines Corps Kavallerie«, in friedlicher Ordnung die Hauptstadt.

Seit drei Monaten wußte man, daß der russische Winter und das Heer des Kaisers Alexander die Große Armee verdorben hatten. Schon in der Weihnachtszeit hatte Gropius für die Berliner den Brand von Moskau im Diorama aufgestellt. Seit einigen Wochen waren unter den neuen Büchern häufig solche, welche russisches Wesen behandelten, Beschreibungen des Volkes, russische Dolmetscher, Hefte russischer Nationalmusik. Was von Osten kam, wurde verklärt durch den leidenschaftlichen Wunsch des Volkes. Niemand mehr, als die Vortruppen des fremden Heeres, die Kosaken. Nächst dem Frost und Hunger galten sie als die Besieger der Franzosen. Wunderbare Geschichten von ihren Taten flogen ihnen voraus. Sie sollten halbwilde Männer sein, von großer Einfachheit der Sitten und von ausgezeichneter Herzlichkeit, von unbeschreiblicher Gewandtheit, Schlauheit und Tapferkeit. Wie schnell ihre Pferde, wie unwiderstehlich ihr Angriff sei, wurde gerühmt, daß sie die größten Flüsse durchschwimmen, die steilsten Hügel erklettern, die grimmigste Kälte mit gutem Mut ertragen könnten.

Schon am 17. Februar waren sie in der Nähe von Berlin erschienen; seitdem erwartete man sie täglich in den Städten, welche weiter nach Westen lagen, täglich zogen die Knaben aus den Toren, um zu spähen, ob ein Trupp heranreite. Als endlich ihre Ankunft verkündet wurde, strömte alt und jung auf die Straßen. Mit fröhlichem Zuruf wurden sie bewillkommt, eifrig trugen die Bürger herbei, was das Herz der Fremden erfreuen konnte, man war der Ansicht, daß Branntwein, Sauerkraut, Heringe ihrem nationalen Geschmack am meisten entsprechen würden. Alles an ihnen wurde bewundert, ihre starken Vollbärte, das lange dunkle Haar, der dicke Schafpelz, die weiten blauen Hosen und ihre Waffen: Pike, lange türkische Pistolen, oft von kostbarer Arbeit, die sie in breitem Ledergurt um den Leib trugen, und der krumme Türkensäbel. Erfreut sah man, wie sie sich auf die Pike stützten und behend über das dicke Sattelkissen schwangen, das ihnen zugleich als Mantelsack diente. Und wenn sie darauf die Pike einlegten und ihre mageren Pferde mit lautem Hurra antrieben, oder wenn sie gar ihre Lanze mit einem Riemen am Arm befestigten und dahintrotteten, ein fremdes Werkzeug, den Kantschu, das Staunen der Jugend, in der rechten Hand schwingend, – dann trat jeder zur Seite und blickte ihnen achtungsvoll nach. Auch ihre Reiterkünste entzückten. Im Karriere beugten sie sich zur Erde und hoben die kleinsten Gegenstände auf. Im schnellsten Ritt drehten sie die Pike wirbelnd um den Kopf und trafen sicher den Gegenstand, nach dem sie zielten.Mehre Einzelheiten hier und im folgenden nach einer handschriftlichen Aufzeichnung des Appellationsrat Tepler in Naumburg, für deren gütige Mitteilung der Herausgeber dankbar ist. Das frohe Erstaunen wich bald vertraulichen Empfindungen. Schnell gewannen sie das Herz des Volkes. Sie waren besonders freundlich gegen die Jugend, hoben die Kinder auf ihre Pferde und ritten mit ihnen auf dem Platze umher. In den Familien wurde gesungen, wie der Behauptung nach die Kosaken sangen. Jeder Knabe wurde Kosak oder doch Kosakenpferd. Freilich wurden einige Gewohnheiten der heldenhaften Freunde empfindlich, sie hatten die Unart zu mausen, und in ihren Nachtquartieren merkte man's handgreiflich, daß sie gar nicht säuberlich waren. Dennoch blieb ihnen bei Freund und Feind lange noch ein phantastischer Schimmer, selbst als sie sich in den Kämpfen, die jetzt unter zivilisierten Menschen geführt wurden, als räuberisch, unzuverlässig und wenig brauchbar erwiesen. Als sie später aus dem Kriege heimkehrten, bemerkte man, daß sie sich sehr verschlimmert hatten.

Nur dreimal in der Woche wurden die Zeitungen ausgegeben, und die Wege waren im Tauwetter des Frühjahrs schlecht; so zogen die Neuigkeiten nur langsam, in Absätzen durch die Provinzen, auch wo nicht Truppenmärsche und das Gewirr des Kampfes zwischen vordringenden Russen und weichenden Franzosen hinderte. Aber jedes Blatt, jedes Gerücht, das neue Kunde aus der Provinz Preußen zuführte, wurde mit gespannter Teilnahme aufgenommen. Es wurde auch darüber in den Familien, in den Gesellschaften der Stadt gesprochen, aber leidenschaftlichen Ausdruck hatte die Erregung selten. Es ist wahr, in den Seelen war ein pathetischer Zug, aber nicht mehr in Wort und Gebärde kam er zutage. Hundert Jahre hatte der Deutsche seine Tränen mit Behagen betrachtet und um nichts große Gefühle gehegt, jetzt trat das Größte mächtig an sein Leben, und es fand ihn still, ohne jede Phrase, mit verhaltenem Atem bändigte er sein unruhiges Herz. Kam eine große Nachricht, dann trat dem Hausherrn, der die Botschaft den Seinen verkündete, wohl die Träne in die Augen, er wischte sie heimlich ab. Diese Ruhe und Selbstbeherrschung ist für uns das Eigentümlichste jener Zeit.

Was sonst noch von außen an den einzelnen schlug, das wurde weit mehr deshalb aufgenommen, weil es der eigenen Stimmung entsprach, als weil es eine höhere gab. Mit Erbauung wurden einzelne kleine Flugschriften gelesen, am liebsten, was der treue Arndt so mannhaft seinem Volke zurief. Neue Lieder flatterten durch das Land, in kleinen Heften, nach dem Bänkelsängerbrauch »gedruckt in diesem Jahr«, in der Regel schlecht und roh, voll Haß und Spott, schon einzelne heißempfundene darunter, es waren Vorläufer der schönen Jünglingspoesie, welche wenige Monate darauf von den preußischen Bataillonen gesungen wurde, wenn sie in die Schlacht zogen. Die besseren dieser Lieder wurden in den Familien zum Klavier gesungen, oder der Gatte blies die Melodie auf der Flöte, die damals noch zur Hausmusik gehörte, und die Mutter mit den Kindern sang leise den Text. Durch Wochen war es das innigste Abendvergnügen. Stärker als auf den Gebildeten wirkten die Verse auf die kleinen Kreise des Volkes, schnell verdrängten sie den alten Vorrat von Gassenliedern. Zuweilen kaufte der Städter auch eine der häßlichen Karikaturen auf Napoleon und seine Armee, welche damals als Flugblätter im Lande vertrieben wurden, oft aber durch den Pariser Dialekt ihres Textes verraten, daß sie von den Franzosen verfertigt sind. Die Roheit und schadenfrohe Gemeinheit, welche uns an den meisten verletzt, übersah man damals leicht, weil sie demselben Hasse dienten; sie haben nur in größeren Städten das Volk der Straße beschäftigt, im Lande selbst geringe Einwirkung geübt.

In solcher Stimmung empfing das Volk die großen Erlasse seines Königs, welche vom 3. Februar, wo die freiwilligen Jäger, bis zum 17. März, wo die Landwehr aufgerufen wurde, die gesamte Wehrkraft Preußens unter die Waffen stellten. Wie ein Frühlingssturm, der die Eisdecke bricht, fuhren sie durch die Seele des Volkes. Hoch wogte die Strömung, in Rührung, Freude, stolzer Hoffnung schlugen die Herzen. Und wieder in diesen Monaten des höchsten Schwunges dieselbe Einfachheit und ruhige Fassung. Es wurden nicht viele Worte gemacht, kurz war der Entschluß. Die Freiwilligen sammelten sich still in den Städten ihrer Landschaft und zogen mit ernstem Gesang aus den Toren der Hauptstadt, nach Königsberg, Breslau, Kolberg, bald auch nach Berlin. Die Geistlichen verkündeten in der Kirche den Aufruf des Königs; es war das kaum nötig, die Leute wußten bereits, was sie zu tun hatten. Als ein junger Theologe, der predigend seinen Vater vertrat, die Gemeinde von der Kanzel ermahnte, ihre Pflicht zu tun, und zufügte, daß er nicht leere Worte spreche und sogleich nach dem Gottesdienst selbst als Husar eintreten werde, da stand sofort in der Kirche eine Anzahl junger Männer auf und erklärte, sie würden dasselbe tun. Als ein Bräutigam zögerte, sich von seiner Verlobten zu trennen, und ihr endlich doch seinen Entschluß verriet, sagte ihm die Braut, sie habe in der Stille getrauert, daß er nicht unter den ersten aufgebrochen sei.Denknisse eines Deutschen. S. 229. Es war in der Ordnung, es war nötig, die Zeit war gekommen, niemand fand etwas Außerordentliches darin. Die Söhne eilten zum Heere und schrieben vor dem Aufbruch ihren Eltern von dem fertigen Entschluß; die Eltern waren damit einverstanden, es war auch ihnen nicht auffallend, daß der Sohn selbstwillig tat, was er tun mußte. Wenn ein Jüngling sich zu einem der Sammelpunkte durchgeschlagen hatte, fand er wohl seinen Bruder bereits ebendort, der von andrer Seite zugereist war, sie hatten einander nicht einmal geschrieben.

Die akademischen Vorlesungen mußten geschlossen werden, in Königsberg, Berlin, Breslau. Auch die Universität Halle, noch unter westfälischer Herrschaft, hörte auf, die Studenten waren einzeln oder in kleinen Haufen aus dem Tor nach Breslau gezogen. Die preußischen Zeitungen meldeten das lakonisch in den zwei Zeilen: »Aus Halle, Jena, Göttingen sind fast alle Studenten in Breslau angekommen, sie wollen den Ruhm teilen, die deutsche Freiheit zu erkämpfen.« Auf den Gymnasien waren die großen und alten nicht immer für die besten Schüler gehalten worden, und mit geringer Achtung hatten die Lehrer über die griechische Grammatik nach den hinteren Bänken gesehen, wo die Recken mißvergnügt saßen; jetzt waren sie die beneideten, der Stolz der Schule, herzlich drückten die Lehrer ihnen die Hand, und mit Bewunderung sahen die jüngeren den Scheidenden nach. Nicht nur die erste blühende Jugend trieb es in den Kampf, auch die Beamten, unentbehrliche Diener des Staats, Richter, Landräte, Männer aus jedem Kreise des Zivildienstes. Auch die Stadtgerichte, die Departements der Landesregierungen, die Bureaus der Subalternen begannen sich zu leeren. Schon am 2. März mußte ein königlicher Erlaß diesen Eifer einschränken, der Ordnung und Verwaltung des Staates ganz aufzuheben drohte; der Zivildienst dürfe nicht leiden, wer Soldat werden wolle, bedürfe dazu der Erlaubnis seiner Vorgesetzten, wer die Verweigerung seiner Bitte nicht tragen könne, müsse den Entscheid des Königs selbst anrufen. Auch der Landadel, der in den letzten Jahren grollend den Umsturz alter Privilegien getragen hatte, jetzt fand er sich wieder. Die Stärkeren traten in allen Kreisen an die Spitze der Bewegung, auch die Schwachen folgten endlich dem übermächtigen Impulse. Wenige Familien, die nicht ihre Söhne dem Vaterlande darboten, vieler Namen stehen in gehäufter Zahl in den Listen der Regimenter. Vor allem der Adel Ostpreußens. Derselbe Alexander Graf von Dohna-Schlobitten, welcher 1802 Minister des Innern gewesen war, war der erste Landwehrmann, welcher sich im Bataillon des Mohrunger Kreises einschreiben ließ. Wilhelm Ludwig Graf von der Gröben, Hofmarschall des Prinzen Wilhelm, trat als Unteroffizier in das Regiment Prinz Wilhelm Dragoner; drei seines Geschlechts fielen auf den Schlachtfeldern dieses Krieges. Solches Beispiel wirkte auch auf das Landvolk. Ungezählt ist die Menge der Kleinen, die mit ihren gesunden Gliedern dem Staate alles brachten, was sie besaßen.

Während die Preußen an der Weichsel in dem Drange der Stunde ihre Rüstungen selbständiger, mit schnell gefundener Ordnung und unerhörter Hingabe betrieben, wurde Breslau seit Mitte Februar Sammelpunkt für die Binnenlandschaften. Zu allen Toren der alten Stadt zogen die Haufen der Freiwilligen herein. Unter den ersten waren dreizehn Bergleute mit drei Eleven aus Waldenburg, Kohlengräber, die ärmsten Leute, ihre Mitknappen arbeiteten so lange umsonst unter der Erde, bis sie zur Ausrüstung für die Kameraden 221 Taler zusammenbrachten: gleich darauf folgten die oberschlesischen Bergleute mit ähnlichem Eifer. Kaum wollte der König solche Opferfähigkeit des Volkes für wahr halten; als er von den Fenstern des Regierungsgebäudes den ersten langen Zug der Wagen und Männer sah, welcher aus der Mark ihm nachgereist war und die Albrechtsstraße füllte, als er den Zuruf hörte und die allgemeine Freude erkannte, rollten ihm die Tränen über die Wangen, und Scharnhorst durfte fragen, ob er jetzt an den Eifer des Volkes glaube.

Mit jedem Tage steigt der Andrang. Die Väter bieten ihre gerüsteten Söhne dar, unter den ersten der Geheime Kriegsrat Eichmann, der zwei Söhne, und der frühere Sekretär von Haugwitz, Bürde, welcher drei Söhne bewaffnete. Landschaftsyndikus Elsner zu Ratibor stellt sich selbst und rüstet drei freiwillige Jäger, Geheimer Kommerzienrat Krause in Swinemünde sendet einen reitenden Jäger ganz ausgerüstet mit vierzig Dukaten und dem Anerbieten, zwanzig Jäger zu Fuß zu rüsten und ein Jahr zu besolden, und zehn Molden Blei zu liefern; Justizrat Eckart in Berlin leistet auf seinen Gehalt von 1450 Talern Verzicht und tritt als Kavallerist in Dienst, ein Rothkirch stellt sich selbst und zwei equipierte Leute zur Kavallerie, außerdem fünf Pferde, dreihundert Scheffel Getreide und alle tauglichen Arbeitspferde seines Gutes zum Fuhrwesen. Unter den Feurigsten war der wilde Heinrich von Krosigk, Senior eines alten Geschlechts auf Poplitz bei Alsleben. Sein Gut lag im Königreich Westfalen. Er hatte nach 1807 in seinem Park eine Säule von rotem Sandstein mit den eingegrabenen Worten errichtet: »Fuimus Troes«, und hatte die Franzosen und das Königreich Westfalen mit herber Verachtung behandelt. Seiner Einquartierung hatte er stets den schlechtesten Wein hingesetzt, er selbst mit den Freunden hatte den bessern getrunken, sobald sich die Fremden entfernten, und wenn sich ein Franzose beklagt hatte, war er grob und zu jeder Genugtuung bereit gewesen, die geladenen Pistolen hatten immer auf seinem Tische gelegen. Zuletzt zwang er gar seine Bauern, die Gendarmen ihres eigenen Königs zu arretieren. Jetzt war er grade erst aus der Festung Magdeburg, wohin ihn die Franzosen geführt, ausgebrochen und hatte sein Gut den Feinden preisgegeben. Der heldenhafte Mann fiel bei Möckern.

So geht es in langer Reihe fort, bald folgen die Städte und Kreise. Schievelbein, damals der kleinste und ärmste Kreis Preußens, war der erste, welcher anzeigte, daß er dreißig Reiter stelle, ausrüste, auf drei Monate besolde; Stolpe war eine der ersten Städte, welche meldete, daß sie zur Ausrüstung der freiwilligen Jäger 1000 Taler sogleich und fortan jeden Monat 100 zahle; Stargard hatte zu demselben Zweck schon am 20. März 6169 Taler und 1170 Lot Silber gesammelt, ein einzelner Gutsbesitzer K. hatte 616 Lot gegeben. Immer größer und zahlreicher werden die Angebote, bis die Organisation der Landwehr den Kreisen volle Gelegenheit gibt, ihre Hingabe in dem eigenen Bezirk zu betätigen.

Die einzelnen blieben nicht zurück. Wer nicht selbst ins Feld zog oder einen seiner Familie ausrüsten half, der suchte durch Gaben dem Vaterland zu helfen. Es ist eine holde Arbeit, die langen Verzeichnisse der eingelieferten Spenden zu durchmustern. Beamte verzichten auf einen Teil ihres Gehaltes, Leute von mäßigem Wohlstand geben einen Teil ihres Vermögens, Reiche senden ihr Silbergeschirr, Ärmere bringen ihre silbernen Löffel, wer kein Geld zu opfern hat, bietet von seinen Habseligkeiten, seiner Arbeit. Gewöhnlich wird es, daß Gatten ihre goldenen Trauringe – sicher oft das einzige Gold, das im Hause war – einsenden (sie erhielten dafür zuletzt eiserne mit dem Bild der Königin Luise zurück), Landleute schenken Pferde, Gutsbesitzer Getreide, Kinder schütten ihre Sparbüchsen aus. Da kommen 100 Paar Strümpfe, 400 Ellen Hemdenleinwand, Stücke Tuch, viele Paar neue Stiefeln, Büchsen, Hirschfänger, Säbel, Pistolen. Ein Förster kann sich nicht entschließen, seine gute Büchse wegzugeben, wie er in lustiger Gesellschaft versprochen hat, und geht daher lieber selbst ins Feld. Junge Frauen senden ihren Brautschmuck ein, Bräute die Halsbänder, die sie von den Geliebten erhalten. Ein Mädchen, der ihr Haar gelobt worden war, schneidet es ab zum Verkauf an den Friseur, patriotische Spekulation verfertigt daraus Ringe, wofür mehr als 100 Taler gelöst werden. Was das arme Volk aufbringen kann, wird eingesendet, mit der größten Opferfreudigkeit grade von kleinen Leuten.

Der nächste Absatz wird aus technischen Gründen nicht wie im Original als Fußnote wiedergegeben. Re.

Es sei verstattet, hier aus den Quittungen, welche Heun in den Zeitungen ausstellte, noch einiges anzuführen. Es ist freilich zufällig, was gerade in ihnen an die Spitze gestellt wird, zumal seine Listen nur einen sehr kleinen Teil der Gaben aufzählen, die ostpreußischen gar nicht. – Vor allen sei die erste patriotische Gabe aufgeführt, welche überhaupt im Jahr 1813 öffentlich erwähnt wird. Schon um Neujahr, lange bevor die freiwilligen Jäger gerüstet wurden, stellte die katholische Gemeinde zu Marienburg in Westpreußen alles entbehrliche Silberzeug ihrer Kirche, etwa 100 Kölnische Mark, dem Staat zur Verfügung, und bat, weil sie Kirchengut nicht wegschenken dürfe, in Zukunft um die Zinsen des Silberwerts. Der erste Geldbeitrag aber, den Heun verzeichnet, war vom Schneidermeister Hans Hofmann in Breslau, 100 Taler. – Die ersten, welche ein Pferd schenkten, waren die Bauern Johann Hinze in Deutsch-Borgh, Amt Saarmünd, und Meyer in Elsholz desselben Amts, der letztere hatte nur zwei Pferde. – Der erste, welcher Hafer schenkte, 100 Scheffel, war ein Axleben. – Die ersten, welche ihre goldenen Trauringe einsandten und die Hoffnung aussprachen, daß viel Gold zusammenkommen könne, wenn das jeder tue, waren der Lotteriekollekteur Rolin und Frau in Stettin. – Die ersten Beamten, welche auf einen Teil ihres Gehalts verzichteten, waren Professor Hermbstädt in Berlin, jährlich 250 Taler, Professor Gravenhorst in Breslau, die Hälfte seines Gehalts, und Professor David Schulz, jährlich 100 Taler. – Der erste, welcher einen Teil seines Vermögens gab, war ein ungenannter Beamter, von 4000 Talern gab er 1000. – Der erste, welcher sein Silbergeschirr einsandte, war Graf Sandretzky aus Manze in Schlesien, Wert 700 Taler, dazu 3 schöne Pferde. – Ein Kanzleidiener 4 silberne Eßlöffel. – Ein Ungenannter 2000 Taler. – Das Schlächtergewerk von Berlin 1000 Taler. – Ein Ungenannter 3 goldene Dosen mit Brillanten, Wert 5300 Taler. – Ein alter Krieger sein einziges Goldstück, Wert 40 Taler. – Eine alte Frau aus einer kleinen Stadt ein Paar wollene Strümpfe.

Nicht selten hat seither der Deutsche zu patriotischem Zweck beigesteuert. Aber die Gaben des großen Jahres verdienen wohl ein höheres Lob. Denn wenn man von jenen Sammlungen der alten Pietisten für ihre menschenfreundlichen Institute absieht, ist es zum erstenmal, daß ein deutsches Volk in solcher Opferlust auflodert. Und überhaupt zum erstenmal, daß dem Deutschen die Freude wird, für seinen Staat freiwillig hinzugeben.

Auch die Summen, welche damals aufgebracht wurden, würden zusammengezogen alles, was seither aus weiteren Landstrichen zusammengeschossen wurde, so weit übersteigen, daß sie kaum verglichen werden dürfen. Allein die Ausrüstung der freiwilligen Jäger und was für die Freischaren in den alten Provinzen gesammelt wurde, muß weit über eine Million gekostet haben. Und sie begreift nur einen kleinen Bruchteil der freiwilligen Gaben und Einsendungen, welche das Volk brachtet.Es wurden 10 000 Mann freiwilliger Jäger und etwa die Hälfte der Freischaren mit 2500 Mann aus den alten Provinzen gerüstet, darunter etwa 1500 Pferde. Schlägt man die Kosten eines Jägers zu Fuß auf 60 Taler, die eines Reiters auf 230 Taler an, – der Pferdepreis war hoch, – so erhält man die Summe von 1 150 000 Talern, welche sicher zu niedrig ist. Dabei sind der Sold und die Zuschüsse, welche den einzelnen Jägern von Privaten gezahlt wurden, gar nicht gerechnet. Und wie war das kleine Volk verarmt!

Nahe aneinander lagen auf der Schmiedebrücke in Breslau die beiden Werbestellen für die freiwilligen Jäger und das Lützowsche Freikorps. Für die Jäger arbeitete Professor Steffens, der als erster sich und einen Teil der Breslauer Studenten darbrachte, für die Lützower sprach, gestikulierte und schrieb Ludwig Jahn. Beide Truppen wurden ganz durch patriotische Gaben einzelner ausgerüstet. Die Beiträge für die freiwilligen Jäger sammelte Heun, der hier bessere Geschichten mit treuer Seele durchlebte, als er später in seinen weichlichen Lieslinovellen den Lesern gegönnt hat. Zwischen den Lützowern und den Jägern war ein Wettstreit, ein freundlicher und mannhafter; aber auch hier brach wieder der Gegensatz in den Richtungen hervor: ob mehr deutsch, ob mehr preußisch; noch waren es nur verschiedene Brechungen desselben Lichtstrahls. Auch der alte Gegensatz des Gemüts, der bereits seit dem vorigen Jahrhundert im Bürgertum erkennbar ist, wurde sichtbar: ein weicher, enthusiastischer Sinn und höherer Schwung und wieder feste, umsichtige, bescheidene Kraft. Die erstere Richtung vertraten meist die patriotischen Jünglinge, welche aus der Fremde herzugeeilt waren, die letztere die Preußen. Nicht gleich war das Schicksal der beiden Freiwilligenbureaus. Aus den 10 000 freiwilligen Jägern, welche jedem Regiment der Preußen zugeteilt wurden, ging die Kraft des preußischen Heeres hervor, sie waren das moralische Element der Armee, die Hilfe, Stärke und Ergänzung des Offizierkorps, und sie haben dem preußischen Kriege von 1813 nicht nur die stürmische Tapferkeit, auch den Adel und hohen Sinn gegeben, welcher in der Kriegsgeschichte etwas ganz Neues war. Die Freischar Lützows dagegen erfuhr, daß rauhes Schicksal den Schöpfungen höchster Begeisterung gern feindlich gegenübertritt. Zumeist an sie hatte sich die Poesie der Gebildeten geheftet, sie enthielt einen großen Teil der deutschen Studentenschaft, leidenschaftlich Erregte, aber sie schwoll ebendeshalb zu übergroßer Stärke an, die zu behendem Dienst im Rücken des Feindes kaum mehr geeignet war, und ihr Führer, ein braver Soldat, hatte nicht die Eigenschaften und das Glück eines verwegenen Parteigängers. Ihre Kriegstaten entsprachen nicht der hochgespannten Erwartung, womit man ihre Rüstung begleitete, sie hat später einen Teil ihrer tüchtigsten Kräfte an andere Heerkörper abgegeben. Aber unter ihren Offizieren war der Dichter, der vor andern bestimmt war, kommenden Geschlechtern den hinreißenden Zauber jener Tage im Liede zu überliefern, er selbst von vielen rührenden Jünglingsgestalten jenes Kampfes eine der reinsten und herzlichsten im Leben, Lied und Tod: Theodor Körner.

Auch in der großen Stadt, wo der Freiwillige sich die Ausrüstung zu besorgen hatte, fand er nicht ein lärmendes Getöse aufgeregter Massen. Kurz und ernsthaft tat jeder seine Pflicht, ebenso er selbst. Wer kein Geld hatte, den unterhielt der fremde Kamerad, der zufällig mit ihm zusammentraf. Die einzige Sorge des Ankommenden war, seine Armatur zu finden. Hatte er zwei Röcke, so ließ er als Lützower schnell den einen schwarz färben und zurichten, sein größter Kummer war, ob die Patrontasche auch zur Zeit fertig würde. Fehlte ihm alles, und konnte ihm das Bureau nicht sogleich den Bedarf geben, so wagte er nur selten ein Zeitungsinserat, in dem er bat. Sonst hatte ihm das Geld so wenig Bedeutung als seinen Kameraden. Er behalf sich dürftig, was lag jetzt daran, für tönende Phrasen und patriotische Reden hatte er keine Zeit und kein Ohr. Wer ja gespreizt einherging in kriegerischem Putz, wurde verlacht, alles Renommieren und Säbelklirren war verächtlich. So war die Stimmung der Jugend. Es war eine tiefe Begeisterung, eine innige Hingabe, ohne das Bedürfnis des lauten Ausdrucks. Schon damals stieß das Wichtigtun und die Schauspielerei des eifrigen Jahn viele ab, kurz darauf brachte ihn dieselbe Unart sogar in den Ruf eines Poltrons.

In manchen war ein Zug von schwärmerischer Frömmigkeit, nicht in der Mehrzahl. Aber jeder der Bessern war voll von dem Gedanken, daß er jetzt eine Pflicht übernehme, vor der jede andere Erdenpflicht nichts sei; darum kam zu der Freudigkeit, die ihn erfüllte, eine gewisse feierliche Ruhe. In solchem Sinne tat er emsig, ehrbar, gewissenhaft seinen ernsten Dienst, übte sich unermüdlich auch auf der Zimmerecke, die er bewohnte, in Bewegung und Gebrauch der Waffen. Er sang unter Kameraden mit freudiger Empfindung eines der neuen Kriegslieder, aber auch diese Lieder erwärmten ihn, weil sie ernst und feierlich waren, wie er selbst. Er wollte nicht Soldat heißen. Das Wort war berüchtigt aus der Zeit, in welcher der Stock herrschte. Er war ein Krieger. Daß er gehorchen müsse, seine Pflicht bis zum äußersten tun, auch den beschwerlichen Mechanismus des Dienstes, davon war er innig überzeugt. Auch daß er sich musterhaft halten müsse, als Beispiel für die weniger Gebildeten, die neben ihm standen. Er war entschlossen, streng wie er gegen sich war, auch auf die Ehre seiner Kameraden zu halten. In dem heiligen Kriege sollte keine Frechheit und keine Roheit der alten Soldaten die Sache schänden, für die er focht. Er mit seinen »Brüdern« hielt selbst das Ehrengericht und strafte den Unwürdigen. Aber er wollte nicht beim Heere bleiben. Wenn das Vaterland frei war und der Franzose gebändigt, dann wollte er zurückkehren zu seinen Vorlesungen, zu den Akten, in die Arbeitsstube. Denn dieser Krieg war nicht wie ein anderer. Jetzt stand er als Gemeiner in Reih und Glied, aber wenn er am Leben blieb, würde er übers Jahr wieder sein, was er vorher gewesen.

Neben solche Freiwillige trat der alte Offizier aus der Zeit der Adelsherrschaft und des Stockes. Er hatte seine Pflicht im unglücklichen Kriege getan, er war vielleicht als Gefangener, ausgeplündert, abgerissen durch die Straßen Berlins geschleppt worden, dort hatte das Volk der Straße ihn mit Schmähreden und Flüchen verfolgt und die Faust gegen ihn geballt; dann war nach dem Frieden ein Kriegsgericht über ihn gehalten worden, er war freigesprochen, aber auf elendes Wartegeld entlassen worden. Seitdem hat er gedarbt und in der Stille mit den Zähnen geknirscht, wenn die fremden Sieger ebenso übermütig auf ihn herabsahen, wie einst er selbst auf die Zivilisten. Er hatte, wenn er nicht Weib und Kind erhalten mußte, mit seinen Schicksalsgefährten jahrelang in dürftiger Wohnung gehaust, in unordentlichem Haushalt; einige von den Fehlern des alten Offizierstandes hatte er nicht abgelegt, die Zeit der Entbehrungen hatte ihn nicht weicher und milder gemacht, die herrschende Empfindung seiner Seele war Haß, tiefer, grimmiger Haß gegen den fremden Eroberer. An unsicherer Hoffnung, vielleicht an eitlen Racheplänen hatte er lange gezehrt, jetzt kam die Zeit der Vergeltung. Auch in seinem Haupt hatte die Zeit der Knechtschaft einiges geändert. Er hatte gemerkt, wie ungenügend sein Wissen war, und er hatte in ernsten Stunden etwas für seine Bildung getan, er hatte gelernt und gelesen, auch er war durch das edle Pathos Schillers begeistert worden. Aber er sah doch mit Mißtrauen und Abneigung auf die neumodischen Krieger, die jetzt vor ihm im Gliede stehen sollten, der alte Groll gegen das Schreibervolk war noch sehr lebendig, das ungeschulte Wesen mit seinen hohen Ansprüchen verletzte ihn. Derselbe Gegensatz stieß sich oben wie unten, unter den Generälen wie in der Kompanie. Es ist eine der merkwürdigen Erscheinungen dieses Krieges, daß er so gut gebändigt wurde; die Freiwilligen lernten schnell militärischen Gehorsam und wie wertvoll die Dienstkenntnis ihres Vorgesetzten sei; und der Offizier verlor einiges von der Rauheit und Willkür, womit er sonst seine Mannschaft behandelt hatte. Und er hörte zuletzt behaglich zu, wenn ein verwundeter Jäger mit dem Arzt darüber stritt, ob ihm der flexor des Mittelfingers durchgehauen sei, oder wenn seine Gemeinen beim Biwakfeuer etwa in Erinnerung an juristische Kollegienhefte lebhaft erörterten, ob bei dem zweideutigen Verhältnis, in welches ein Kosak zu einer Gans getreten war, culpa lata oder dolus anzunehmen sei. Im ganzen erwies sich die Mischung als vortrefflich.

Aber unendlich größer als die freiwilligen Leistungen war der Gewinn, welcher für die Regierung Preußens daraus hervorging, daß sie jetzt erst erfuhr, was sie einem solchen Volke als Pflicht zumuten dürfe. Die großartigen Dimensionen, welche der Kampf annahm, die imponierende Kriegsmacht Preußens, das Gewicht, welches dieser Staat durch die Bedeutung seines Heeres bei den Friedensverhandlungen erhielt, beruhen im letzten Grund auf dem hohen Sinn, der in den ersten Frühlingsmonden des Jahres die Welt überraschte. Durch ihn erhielt die Regierung den Mut, die Kräfte so hoch zu spannen, wie sie getan. Daß Ostpreußen außer seinem Kontingent zum stehenden Heer zwanzig Bataillone Landwehr und das berittene Nationalregiment aus eigener Kraft, fast ohne die Regierung zu fragen, in wenigen Wochen aufgestellt hatte, nur diese ungeheure Kraftentwicklung machte die Errichtung der Landwehr im ganzen Staatsgebiet möglich.

Und daß auf Befehl seines Königs das Volk dies zweite Heer in geordneter Weise gehorsam und willig schuf, daß es in den alten Provinzen 120 Bataillone und 90 Schwadronen Landwehr rüstete und verpflegte, ist wieder nur ein Teil seiner Anstrengung.

Und wie treu hat es dem Befehl seines Königs gehorcht!

Die Landwehr des Frühjahrs 1813 hatte noch wenig von dem kriegerischen Aussehen, welches sie durch die Schlachten und die spätere Organisation erhielt.Für mehres ist bei Herausgeber einer Aufzeichnung des würdigen Oberregierungsrat Häckel zu Dank verpflichtet. Ihre Mannschaft bestand aus solchen, welche zum Dienst im stehenden Heere nicht herangezogen waren und jetzt aus der männlichen Bevölkerung bis zu vierzig Jahren durch Los und Wahl genommen wurden. Da die gebildete Jugend, das erste Kriegsfeuer der Nation, zum größten Teil bei den freiwilligen Jägern eingetreten war oder die Lücken des stehenden Heeres ergänzt hatte, so waren die Elemente der Landwehr wahrscheinlich von geringer Kriegstüchtigkeit gewesen, wenn nicht auch hier ein Teil der Besitzenden sich freiwillig eingereiht hätte. Es war die schwere Masse des Krieges, die Gemeinen meist Landvolk, die Führer Landedelleute, Beamte, ältere Offiziere auf Halbsold, und wer sonst durch das Vertrauen seines Kreises gewählt war, aber auch junge Freiwillige. Ein ungewöhnliches bunt zusammengewürfeltes Material für den Felddienst, viele der Offiziere ohne jede Kriegserfahrung wie die Gemeinen. Auch die Ausrüstung war im Anfang nur unvollkommen, sie wurde – bis auf einen Teil der Waffen – von den Kreisen beschafft: die Litewka, lange Hosen von grauer Leinwand, eine Tuchmütze mit weißem Blechkreuz, die Waffen im ersten Glied Piken, im zweiten und dritten Gewehre, der Reiter führte eine Pistole, Säbel und Pike. In der Kreisstadt wurde die Mannschaft eingereiht, exerziert und notdürftig ausgerüstet; bei der Eile geschah es, daß Bataillone zum Heere kommandiert wurden, die noch keine Waffen und kein Schuhwerk hatten, dann zogen die Leute barfuß, mit Stangen der Elbe zu, im Aussehen mehr einem Haufen Räuber als gesetztem Kriegsvolk zu vergleichen, auch sie willig, oft mit Gesang und dem kräftigen Hurra, das sie von den Kosaken angenommen hatten. Durch einige Wochen sah die Linie, zumal der alte Offizier, mit Verachtung auf die neue Einrichtung, niemand grimmiger als der strenge York. Als sich der würdige Oberst Putlitz zu Berlin ein Landwehrkommando ausbat, er, der schon tapfer in der französischen Kampagne gefochten und im Jahr 1807 ein Schützenkorps im schlesischen Gebirge gesammelt hatte, – da fragten ihn die Stabsoffiziere spöttisch: ob er sich denn mit diesen Haufen zu schlagen gedenke. Nach dem Kriege erklärte der tapfere General die Zeit, in welcher er Landwehr kommandiert, für die glücklichste seines Lebens. Denn in keiner neuen Organisation des Heeres hat sich die Gewalt des großen Jahres und die Tüchtigkeit des Volkes so glänzend bewährt, als in dieser. Diese Bauerknaben und linkischen Ackerknechte wurden in wenig Wochen zuverlässige und tapfere Soldaten. Es ist wahr, sie haben unverhältnismäßigen Verlust an Menschen gehabt, sie haben auch in ihrem ersten Zusammentreffen mit dem Feind nicht immer die feste Haltung gezeigt, sondern den schnellen Wechsel von Zagheit und Mut, welcher jungen Truppen eigen ist; aber sie haben, vom Pfluge und von der Werkstatt zusammengerufen, schlecht bekleidet, schlecht geübt, schlecht bewaffnet, wie sie waren, schon in den ersten Wochen alle schwere Feldarbeit kriegsgewohnter Truppen tun müssen. Daß sie das überhaupt vermocht, und daß sich schon damals einzelne Bataillone so brav geschlagen, daß sogar ihr Gegner York sie mit abgezogenem Hut begrüßte, dies ist, soviel bekannt, in der Kriegsgeschichte unerhört. Bald waren sie von den Truppen der Linie nicht zu unterscheiden, es war ein Wetteifer der Tapferkeit.

Billig rühmt der Sohn jener Zeit zuerst die Männer der Landwehr selbst, welche sich dem Rufe stellten. Aber nicht weniger wichtig war der Eifer, mit welchem das Volk daheim nach dem Gebot für den Krieg arbeitete. Jeder Beruf, jeder Bürger, die kleinsten Orte, entlegene Landkreise, trugen ihren Teil an dem Werk, oft war in ihnen, zumal wenn sie an der Grenze lagen, Leiden und Arbeit am größten. Eine einfache Einrichtung genügte für die Geschäfte in den Kreisen: eine Kreiskommission aus zwei Rittergutsbesitzern, einem Städter, einem Landbewohner gebildet, der Landrat des Kreises und der Bürgermeister der Kreisstadt waren fast immer die eifrigsten Mitglieder. Und es war allerdings eine Tätigkeit für einfache Männer, welche geeignet war, außergewöhnliche Kraft wachzurufen. Die Reste der französischen Armee mit ihrem Hunger und Typhus, die nachdrängenden Russen, durch mehre Monate in zweifelhafter Stellung, zwei Sprachen, die der neuen Freunde noch fremdartiger als die der weichenden Feinde, dazu die Roheit und Wildheit der neuen Bundesgenossen, deren Subalternoffiziere zum großen Teil nicht besser waren als ihre Leute, lüstern nach Branntwein und wenigstens bei den irregulären Truppen ebenso räuberisch und weit brutaler. Bald lernte der Kreiskommissar mit dem wilden Volk verkehren. Der Tabakkasten mit den Tonpfeifen stand geöffnet in der Amtsstube, es war ein endloses Kommen und Gehen der russischen Offiziere, sie stopften und rauchten, forderten Branntwein und erhielten das unschädliche Bier. Kam die Roheit bei den Fremden einmal zum Ausbruch, so lernte der preußische Beamte zuletzt die Unartigen mit ihren eigenen Waffen schlagen, mit dem Kantschu, den ihm vielleicht ein russischer Stabsoffizier zurückgelassen hatte, damit er mit seinen Leuten leichter fertig werde. Noch füllten die letzten Typhuskranken der Franzosen das Hospital der Stadt, die Baschkiren biwakierten mit ihren Filzmützen auf dem Marktplatz, die Einwohner zankten sich mit der fremden Einquartierung, jeden Tag wurden von den Russen Lebensmittel und Fuhren requiriert, Kuriere, russische und preußische Offiziere forderten Vorspann, die Ackerbürger und die Bauern der nahen Dörfer klagten, daß ihre Pferde abgetrieben seien, kein Knecht zu finden und eine Bestellung des Ackers unmöglich. Und in solchem Wirrwarr kamen Befehle der eigenen Regierung, diktatorisch und gewaltsam, wie es die Zeit verlangte, und nicht immer praktisch, wie es bei der Eile natürlich war. Die Tuchmacher sollten Tuche liefern, die Schuhmacher Schuhwerk, Riemer und Sattler Patrontaschen und Sättel, soviel hundert Paar Stiefeln und Schuhe, so viel hundert Stück Tuch, soviel Sättel, alles in kurzen Wochen, ohne Geld, gegen unsichere Anweisungen. Die Handwerker aber waren zum größten Teil arme Leute, selbst ohne Kredit, wie sollte der Rohstoff beschafft werden, wie die Arbeiter bezahlt, wie das Leben getragen in diesen Wochen, in denen man den gewöhnlichen Verdienst, der jetzt grade kam, versäumte? Das ging nicht eine Woche, ein ganzes Jahr hindurch. Wahrlich, der Opfermut, welcher sich in Gaben betätigte und in Darbringung des eigenen Lebens, war in dieser großen Zeit das Hohe und Schöne; aber nicht minder ehrenwert war die aufopfernde, anspruchslose und unbemerkte Pflichterfüllung von vielen tausend Kleinen, welche, jeder in seinem Kreise, in der Stadt, im Dorf, für dieselbe Idee des Staats arbeiteten bis an die äußersten Grenzen der eigenen Kräfte.

Noch ungelöst ist die Frage, welche militärische Bedeutung in einem zivilisierten Lande die allgemeine Volksbewaffnung haben könne. Bis an die letzte Möglichkeit der Forderung ging das Gesetz über Errichtung des Landsturms. In dem ersten Erlaß (21. April) ist eine fast fanatische Strenge, die bei der späteren Aufnahme in die Gesetzsammlung (24. Juli) sehr gemildert wurde. Das Edikt übte eine große moralische Wirkung, es war eine scharfe Mahnung an den Säumigen, daß es sich jetzt für alle um Tod und Leben handle. Es hat durch seine drakonischen Paragraphen auch dem Feind imponiert. Aber es wurde sogleich nach seinem Erscheinen von unbefangenem Urteil scharf getadelt, weil es Unmögliches forderte, und es hat eine große praktische Wirkung nicht gehabt. Die Preußen waren von je ein kriegerisches Volk, aber sie waren 1813 nicht in dem Sinne kriegstüchtig, wie wohl jetzt. Neben dem stehenden Heere saß vor Einführung der allgemeinen Dienstpflicht der friedliche Bürger ohne jede Übung in Waffe und Massenbewegung, höchstens die alten Schützengilden hantierten mit altertümlichen Schußwaffen. Jetzt aber hatte das Volk seine gesamte kampffähige Mannschaft ins Feld gesandt, hoch war bereits die Kraft gespannt, jede Familie hatte abgegeben, was sie von kriegerischem Mut besaß. Die älteren Männer, welche zurückblieben, ohnedies unentbehrlich bei der täglichen Arbeit des Feldes und der Werkstatt, waren durchaus nicht vorzugsweise befähigt, tapferen Waffendienst zu tun. So war es kein Wunder, daß grade dieses furchtbare Gesetz die heitere Kehrseite der großen Zeit zutage brachte, neben unendlichem gutem Willen auch Unbehilflichkeit und Spießbürgerei. Es wurde mit großer Erbauung gelesen, daß das ganze Volk in Waffen treten solle, dem andringenden Feinde zu widerstehen. Auch daß Weiber und Kinder zu einzelnen Geschäften verwendet werden sollten, war nach dem Herzen der Leser, zumal der unerwachsenen. Bedenklicher war schon der Satz, daß auf Feigheit Verlust der Waffen, Verdopplung der Abgaben und körperliche Züchtigung gesetzt sei, denn wer Sklavensinn zeige, solle als Sklave behandelt werden. Da war der arme kleine Handwerker, der kümmerlich seine Kinder vor dem Hunger bewahrte und nie ein Gewehr berührt hatte, auch jeder Balgerei sein Lebtag ängstlich aus dem Wege gegangen war, allerdings in der Lage, sich nachdenklich die schwierige Frage vorzulegen: was ist Feigheit? zumal gegenüber feindlichen Gewehren? Und wenn das Gesetz ferner verbot, in der Stadt, welche vom Feinde besetzt war, irgend Schauspiel, Ball, Lustbarkeit zu besuchen, nicht die Glocken zu läuten, keine Trauung zu vollziehen, zu leben wie in tiefster Trauer, so erschien auch das dem unbefangenen Sinn der Deutschen gewaltsam, mehr spanisch und polnisch, als deutsch.

Dennoch sah das Volk in der Begeisterung des Frühjahrs über die Härten weg, und rüstete sich zum Sturme. Schon vor dem Erlaß war in Ostpreußen durch patriotischen Sinn hier und da ähnliches eingerichtet worden. Jetzt verbreitete sich der Eifer durch die Städte, weniger auf dem offenen Lande. Begonnen wurde die Organisation fast überall, durchgeführt an mehren Orten. Die Fanale wurden aufgerichtet, von Berlin bis zur Elbe und nach Schlesien ragten die Lärmstangen, harzige Kiefern, auf welche eine leere Teertonne genagelt war, mit geteertem Stroh umwunden. Neben ihnen hielt ein Posten die Wache; sie haben mehr als einmal ihren Dienst getan. Jede Art Waffen wurden zusammengesucht, Jagdflinten und Pistolen, was auch § 43 der Vorordnung klug vorausgesehen hatte, wenn er bestimmte: »Zur Munition kann in Ermangelung von Kugeln jede Art von grobem Schrot benutzt werden, daher die Besitzer von Feuergewehren beständig Pulver und Blei hinreichend vorrätig haben müssen.« Wer kein Gewehr hatte, ließ sich, wie eben erst die Landwehrmänner, jetzt auch für den Sturm die Pike anfertigen; in Kompanien wurde exerziert, die Fleischer, Brauer, Vorwerker bildeten Schwadronen. Das erste Glied des Fußvolks waren Lanzenträger, das zweite und dritte trug womöglich Gewehre. Auch hierbei gingen die geistigen Führer des Volkes mit gutem Beispiel voran, sie wußten wohl, daß das nötig war. Es wurde grade ihnen nicht immer leicht, zumal wenn sie nicht mehr in der ersten Jugend lebten. In Berlin saßen Savigny und Eichhorn bereits im Landwehrausschuß, beim Landsturm war niemand eifriger als Fichte, seine Pike und die seines Sohnes lehnten im Vorsaal an der Wand, und es war eine Freude den eifrigen Mann zu sehen, wenn er auf dem Exerzierplatz die Waffe schwenkte und zur Attacke ausfiel. Man hatte ihn zum Offizier machen wollen, er hatte das mit den Worten abgelehnt: »Hier tauge ich nur zum Gemeinen.« Er, Buttmann, Rühs, Schleiermacher exerzierten in derselben Kompanie; Buttmann aber, der große Grieche, vermochte durchaus nicht rechts und links zu unterscheiden, er erklärte das für das schwerste. Rühs war in derselben Lage, und immer wieder begegnete den beiden Gelehrten, daß sie bei den Wendungen einander den Rücken zukehrten oder verdutzt in die Augen sahen. War dann einmal von dem Zusammentreffen mit dem Feind die Rede, und wie sich ein tapferer Mann dabei zu halten habe, dann hörte Buttmann zu, betrübt auf seinen Spieß gelehnt, und sagte endlich: »Ihr habt gut reden, ihr seid von Natur herzhaft.«Nach Familienerinnerungen.

Und sollte der Landsturm einmal mobil gemacht werden, zur Aufrechterhaltung der Sicherheit im Kreise, oder zum Dienst im Rücken des Feindes, auch in der Nähe der Festungen, welche noch von Franzosen besetzt waren, dann läutete die Sturmglocke und die Stadt geriet in stürmische Bewegung. Ängstlich packten die Hausfrauen Speise und Trank, Bandagen und Scharpie in die Tornister, – denn nach § 42 des Reglements durfte niemand Tornister, Brotsack und Feldflasche vergessen, und nach § 54 war es seine Pflicht, Proviant für drei Tage bei sich zu tragen, – und nicht selten empfanden die weiblichen Einwohner, wie die Frau eines Messerschmieds in Burg, welche vor dem Kommando die Erklärung abgab, ihr Mann müsse zurückbleiben, denn er sei der einzige Messerschmied im Orte, oder wie die Frau eines Uhrmachers, die den Gatten gezwungen hatte, sich zu verstecken. Er aber wurde von andern Frauen, deren Männer ausgezogen waren, erspürt, auf dem Kirchhof über ein Grab gelegt und mit der flachen Hand mütterlich abgestraft.

Wer als Kind jene Zeit durchlebt hat, der erinnert sich noch der Begeisterung, mit welcher auch die Knaben rüsteten. Die größeren traten ebenfalls in Kompanien zusammen und bewaffneten sich mit Piken. Auch der kleinere mußte einen tüchtigen Knüttel bewahren. Ein armer Knabe, der in einer Fabrik arbeitete, wurde gefragt, weshalb er keine Waffe führte. »Ich hab' alle Taschen voll Steine«, – die trug er gegen die Franzosen fortwährend mit sich herum.Aufzeichnung des Appellationsgerichtsrat Tepler, der selbst als Knabe mit dem Landsturm gegen die Franzosen in Magdeburg zu Felde zog. Und keine Bestimmung der Landsturmordnung fand bei dem heranwachsenden Geschlecht so eifrigen Gehorsam, als § 50: »Jeder Landstürmer trägt womöglich eine hellgellende Pfeife mit sich, um sich mit andern in der Dunkelheit zu erkennen und zu verständigen.« Durch angestrengten Fleiß lernte die Jugend jeder Akt von Signalpfeifen schrille Töne entlocken, und es ist Grund zu der Annahme, daß der virtuose Gebrauch der Pfeife, welche noch jetzt bei jeder Erregung der Straßen hörbar wird, zuerst durch den Franzosenhaß zu den geheimen Fertigkeiten unserer Jugend gefügt wurde. – Nur selten hat der Landsturm im Jahre 1813 militärischen Dienst geleistet. Er hat öfter die Landkreise von marodierendem Gesindel gesäubert, hat Wachen und Botendienste verrichtet; ernste Waffenarbeit gegen die Feinde hat er wohl nur in demselben Büren getan, welches schon unter Friedrich II. seine fahnenflüchtigen Söhne zum Heer des Königs zurückjagte. Dort trugen nach dem Frieden alle Männer die Kriegsmedaille. Aber fest haftet noch heut im Volk die Erinnerung an diese Einrichtung des großen Jahres, sie ist lebendiger geblieben, als andere von machtvollerer Wirkung. Noch heut rühmt sich der Alte, der damals nicht mit im Feld lag, daß er wenigstens daheim für das Vaterland die Waffe getragen hat. So ziemt auch den Söhnen daran zu gedenken. Denn von da an wurde in anderen Formen und mit strenger Zucht der allgemeine Waffendienst des Volks Stolz und Vorzug der deutschen Wehrkraft.

Während aber in den Städten daheim das gefahrlose Spiel dicht bei furchtbarem Ernste lag, war doch Ohr und Auge eines jeden unablässig in die Ferne gerichtet. Der wilde Krieg hatte begonnen. Um die Lieben, die gegen den Feind rangen, um das Geschick des Vaterlandes sorgten unablässig die Zurückgebliebenen. Kein Tag, der nicht Gerüchte, kein Posttag, der nicht bedeutungsvolle Ereignisse verkündete. Das eigene Leben schwand fast dahin vor der Sehnsucht und Erwartung, womit man über die Stadtmauern in die Ferne sah. Jeder kleine Erfolg der Waffen erfüllte mit Entzücken. An der Tür des Rathauses, in der Kirche, im Theater, wo sich irgend Menschen zusammenfanden, wurde er verkündet. Am 5. April war das Gefecht bei Zehdenick, der erste zweifellose Sieg der Preußen, weit herum in der Landschaft eilten die Leute auf die Kirchtürme, zuerst eine Kunde zu erspähen. Und als der Geschützdonner schwieg und die frohe Botschaft durch die Landschaft lief, da kannte die Freude keine Grenzen. Alles Löbliche wurde stolz gerühmt, vor allem die tapfere Batterie, welche mit Geschütz und Pulverwagen durch den brennenden Flecken Leitzkau auf den Feind zugejagt war, mitten durch die Flammen, welche über ihr zusammenschlugen; dann die schwarzen Husaren mit dem Totenkopf, wackere Litauer, welche die geputzten roten Husaren aus Paris beim ersten Ansprung überritten hatten. Und als der Gutsherr des Fleckens darauf in den Zeitungen für seine armen abgebrannten Leute sammelte und sich dabei entschuldigte, daß er in solcher Zeit noch für Privatunglück Hilfe erbitte, da vergaß man auch die Landsleute nicht, welche dort zuerst durch den Krieg gelitten hatten.

Lauter wurde das Getöse des Krieges, grimmiger der Zusammenstoß der Massen, Siegesjubel und bange Sorge nahmen in schnellem Wechsel die Herzen der Zurückgebliebenen gefangen. Nach der Schlacht bei Großgörschen wurde verkündet, daß den Verwundeten Hilfe nottue: Decken, Binden, Verbandzeug. Da begann überall im Volke ein Sammeln von Leinwand und ein Scharpiezupfen. Unermüdlich zogen Kinder und Erwachsene die Fäden alter Leinwand auseinander, die Frauen schnitten Binden, der Lehrer sogar schnitt in der Schule mit der Papierschere die Lappen zurecht, welche ihm Mädchen und Knaben nach seiner Forderung von Hause mitgebracht hatten, und mit heißen Wangen zerzupften die Kinder, während er lehrte, ihre Stücke zu großen Ballen. Es wurde eine gewöhnliche Abendarbeit der Familien. Es konnte den Kriegern doch ein wenig helfen.

In der Nähe der verbündeten Heere, in den Hauptstädten wurden große Lazarette eingerichtet, überall traten die Frauen helfend dazu, Hofdamen, Schriftstellerinnen, wie Rahel Levin, treue Hausmütter. In einem großen Lazarett Berlins waren Frau Fichte und Frau Reimer die Vorsteherinnen der weiblichen Pflege. Das Lazarett war durch die heimkehrenden Franzosen zu einem Pestort geworden, bösartige Nervenfieber herrschten und die Phantasien der Kranken machten den Aufenthalt entsetzlich. Der Gattin Fichtes graute vor dem Furchtbaren, er aber suchte sie in seiner großen Weise festzuhalten. Da wurde auch sie vom Nervenfieber befallen; er pflegte die Erkrankte, wurde angesteckt und fand selbst den Tod. Auch Reil, der große Arzt und Gelehrte, erlag dort in seiner menschenfreundlichen Arbeit. Frau Reimer aber hielt aus. Ihr Haus war vor dem Kriege ein Sammelpunkt für die preußischen Patrioten gewesen, jetzt stritt ihr Hausherr als märkischer Landwehrmann unter Putlitz. Die Sorge um den Gatten, um sein Geschäft, um ihre kleinen Kinder, das alles nahm der tapferen Frau nicht Mut, nicht Zeit; vom Morgen bis zum Abend, das Frühjahr, den Sommer war sie in der aufregenden Tätigkeit, unermüdlich teilte sie sich zwischen dem Hause und der Krankenpflege, unzerstörbar erschien ihr selbst ihr Leben.Sie starb 1864 in Berlin als Mutter eines großen Geschlechts. Dem Gatten, den Freunden, den Zeitgenossen war dieser Eifer natürlich und selbstverständlich. In ähnlicher Weise haben deutsche Hausfrauen an allen Orten ihre Pflicht gefaßt, mit größter Selbstverleugnung opferfreudig, in stiller dauerhafter Kraft.

Die furchtbare Schlacht bei Bautzen kam, der Waffenstillstand folgte. Sorgenvoller wurde der Blick der Preußen. Ströme von Blut waren geflossen, ihr Heer zurückgedrängt, der Kaiser schien für irdische Waffen unbesiegbar. Und doch, obgleich grade die Klügsten einige Wochen finster in die Zukunft schauten, dem Volke erhielt eine richtige Empfindung das Selbstgefühl und den gehobenen Entschluß. Vertrauen zu Gott, zur guten Sache, zur eigenen Kraft war die Grundstimmung. Jeder sah, daß die preußische Kraft in diesem Feldzug unvergleichbar stärker war, als im unseligen letzten Kriege. Nur noch wenig schien an Stärke zu fehlen und man warf den Tyrannen; wenn man die Anstrengung noch um etwas erhöhte, so mochte er hinweggeschleudert werden. Die freiwilligen Beiträge gingen fort, noch im Spätherbst wurde über den Empfang quittiert. Die Ausrüstung der Landwehren wurde beendet, überall schnitt, nähte, pochte der Handwerker für seinen König und das Vaterland.

Und wieder begann der Drang des Krieges, Stoß und Gegenstoß, Flut und Rückschlag; hart drängten die Heere, bald sah man vom Turm die Heerhaufen der Feinde, bald der Freunde heranziehen. Die Städte und Landschaften im Westen von Berlin und Breslau erfuhren jetzt selbst das Schicksal des Krieges. Ach, seine schrecklichen Bilder sind dem Deutschen nicht fremd, bis zur Zeit unserer Väter haben sie fast jeder Generation deutscher Bürger die Seele erschüttert.

Dumpfe kurze Schläge in der Luft; es ist ferner Kanonendonner. Auf dem Markt, vor den Toren stehen lauschende Haufen, wenig wird gesprochen, halbe Worte mit gedämpfter Stimme, als fürchte der Sprecher den Klang in der Luft zu übertönen. Vom Kranz der Türme, vom Giebel der Häuser, welche dem Kampfplatz zu liegen, spähen die Augen der Bürger ängstlich in die Ferne. Am Rande des Horizonts liegt es wie eine weiße Wolke im Sonnenlicht, nur zuweilen regt es sich darin, ein helles Aufleuchten, ein dunkler Schatten. Aber auf den Seitenwegen, welche aus den nächsten Dörfern von der Landstraße seitab führen, bewegen sich dunkle Haufen. Es sind flüchtige Landleute, welche quer durch das Land in den Wald oder in die Berge ziehen. Jeder trägt auf den Schultern, was er zusammenraffte, nur wenige vermögen ihre Habe zu fahren, denn Wagen und Pferde sind ihnen schon seit Wochen vom Kriegsvolk genommen, Buben und Männer treiben mit ängstlichem Schlag ihre Herden, laut jammernd tragen die Weiber ihre kleinsten Kinder. Und wieder ein Rollen in der Luft, deutlicher, heller. In wildem Rennen stürmt ein Reiter durch das Stadttor und wieder einer. Die Unsern ziehen sich zurück. Die Haufen der Bürger fahren auseinander, angstvoll rennt das Volk in die Häuser und wieder auf die Straßen; auch in der Stadt beginnt die Flucht. Laut ertönt Schrei, Zuruf und Klage. Wer noch ein Gespann besitzt, reißt die Rosse zur Deichsel, die Tuchmacher werfen ihre Ballen, der Kaufmann die wertvollsten Kisten auf das Geflecht, oben darauf die eigenen Kinder und die der Nachbarn. Zu den abliegenden Toren drängt Fuhrwerk und der Haufen flüchtiger Menschen. Ist ein sumpfiges Bruchland, schwer zugänglich, oder ein dichter Wald in der Nähe, so geht die Flucht dorthin. Unwegbare Verstecke, noch von der Schwedenzeit her bekannt, werden jetzt wieder aufgesucht. Dort sammeln sich große Scharen, enge gedrängt; unter Rindern und Füllen birgt sich der Städter und der Landmann durch mehre Tage. Zuweilen noch länger. Nach der Schlacht bei Bautzen hauste die Gemeinde Tillendorf bei Bunzlau über eine Woche im nahen Walde, ihr treuer Seelsorger, Senftleben, begleitete sie und hielt in der Wildnis auf Ordnung, auch ein Kind hat er dort getauft.Aus dem Tagebuch des Pastor Fricke in Bunzlau.

Wer aber in der Stadt bei seinem Eigentum oder in seiner Pflicht zurückbleibt, der ist eifrig, die Seinen und die Habe zu verdecken. Lange ist der Fall überlegt und erfinderisch sind Schlupfwinkel ausgedacht. Hat gar die Stadt den besonderen Grimm des Feindes zu fürchten, weil sie durch preußischen Eifer auffällig wurde, dann drohen ihr Brand, Plünderung, Verjagen der Bürger. In solchem Fall tragen die einzelnen Mitglieder der Familie das Gold fest eingenäht in ihren Kleidern.

Eine angstvolle Stunde verrinnt in fiebrigem Hoffen. Auf der Straße rasseln die ersten Verkünder des Rückzugs, beschädigte Geschütze, von Kosaken eskortiert. Langsam ziehen sie zurück, ihre Mannschaft ist unvollständig, von Pulver geschwärzt, mehr als einer wankt verwundet. Die Infanterie folgt, Wagen überfüllt mit wunden und halbtoten Kriegern. Die Nachhut postiert sich, am Tor und den Straßenecken den Feind erwartend. Halbwüchsige Buben laufen aus den Häusern und tragen den Kriegern noch zu, wonach sie gerufen, einen Trunk, ein Brot, sie halten den Wunden die Tornister und helfen bei schnellem Verbande.

Staubwolken auf der Landstraße. Der erste feindliche Reiter nähert sich dem Tor; vorsichtig spähend, den Karabiner auf dem rechten Schenkel; da fällt aus der Nachhut ein Schuß, auch der Chasseur schießt seinen Karabiner ab, wendet das Pferd und zieht sich zurück. Gleich darauf dringt der feindliche Vortrab im schnellen Trabe vor, die preußischen Tirailleurs ziehen sich von Stellung zu Stellung zurück und feuern. Endlich hat der letzte die Häuserreihe verlassen. Draußen am Tore sammeln sie sich noch einmal, die feindlichen Reiter, die sich wieder geordnet, aufzuhalten.

Leere Straßen, lautlose Stille. Auch die Knaben, welche die preußischen Tirailleurs begleitet haben, sind verschwunden, die Vorhänge der Fenster werden herabgelassen, die Türen geschlossen, aber hinter Vorhang und Tor spähen ängstliche Blicke auf den heranziehenden Feind. Plötzlich ein rauher tausendstimmiger Ruf: Vive l'empereur! und wie eine Wasserflut stürzt französisches Fußvolk in die Stadt. Sogleich dröhnen die Kolbenschläge an den Haustüren, öffnet sich eine Tür nicht schnell, so wird sie zornig erbrochen. Und nun folgt der wüste Streit, welchen der schutzlose Bürger mit dem gereizten Feind auszumachen hat, unerschwingliche Forderungen, Drohung, nicht selten Mißhandlung und Todesgefahr, überall Geschrei, Jammern, Gewalttat. Schränke und Truhen werden erbrochen, Wertvolles und Wertloses geraubt, verdorben, zerschlagen, am meisten bei solchen, welche geflohen sind, denn die Habe ihres ungastlichen Hauses ist nach Soldatenbrauch dem Eindringenden verfallen. Die Behörden der Stadt werden auf das Rathaus geschleppt, und über die Quartiere der Truppen, über Lieferung von Lebensmitteln und Furage und über eine unmögliche Kontribution, welche die Stadt zahlen soll, beginnt die peinliche Verhandlung.

Können die feindlichen Führer nicht durch Geschenke befriedigt werden, oder soll die Stadt eine Strafe erhalten, so werden angesehene Einwohner zusammengetrieben, festgehalten, bedroht, vielleicht beim Aufbruch als Geiseln fortgeführt. Lagert ein größeres Korps um die Stadt, so biwakiert auch wohl ein Bataillon auf dem Markt. Schnell ist der Franzose eingerichtet, aus den Vorstädten hat er sich Stroh herbeigeholt, die Lebensmittel hat er unterwegs geraubt, zum Brennholz zerschlägt er die Türen und Möbeln, häßlich dröhnt das Krachen der Äxte in den Balken und Schränken der Häuser. Hell flackern die Lagerfeuer auf, lautes Lachen, französische Lieder klingen um die Flammen.

Und zieht am Morgen nach einer Nacht, die der Bürger ängstlich durchwachte, der Feind wieder ab, dann sieht der Städter erstaunt die schnelle Verwüstung in der Stadt, und vor dem Tor die plötzliche Verwandlung der Landschaft. Das unabsehbare Getreidemeer, welches gestern um seine Stadtmauern wogte, ist verschwunden, von Roß und Mann zerwühlt, niedergestampft, zertreten; die Holzzäune der Gärten sind zerbrochen, Sommerlauben, Gartenhäuser abgerissen, Fruchtbäume abgehauen. In Haufen liegt das Brennholz um die erlöschenden Wachtfeuer, der Bürger mag darin die Bretter seines Wagens, die Tore seiner Scheuer finden; kaum erkennt er die Stelle, wo sein eigner Garten war, denn mit Lagerstroh und wüstem Unrat, mit dem Blute und Eingeweide geschlachteter Tiere ist der Platz bedeckt. Und in der Ferne, wo die Häuser des nächsten Dorfes aus dem Baumlaub ragten, erkennt er auch die Umrisse der Dächer nicht mehr, nur die Wände stehen, wie ein Trümmerhauf.

Herb war es, solche Stunden zu durchleben, und auf Tage fiel wohl manchem der Mut. Auch dem Begüterten wurde jetzt schwer, den Seinen nur das Leben zu fristen. Alles war aufgezehrt und verwüstet, die Lebensmittel der Stadt und der Umgegend, und kein Landmann brachte das Unentbehrliche auf den Markt, weit in das Land mußte man senden, den Hunger zu stillen. Aber der Mensch wird bei einer schnellen Folge großer Ereignisse kälter, zäher, härter gegen sich selbst, der starke Anteil, welchen jeder einzelne an dem Schicksal des Staates nahm, machte gleichgültiger gegen die eigene Not. Nach jeder Gefahr empfand man mit Behagen, daß man das Letzte, das Leben, doch gerettet. Und man hoffte.

Nicht lange, und die verheerende Welle schlägt zurück. Wieder dröhnt der Geschützdonner, rasseln die Trommeln. Die Unseren sind vorgedrungen, um die Stadt tobt der wilde Kampf. Gegen den Feind, der noch die westliche Vorstadt hält, dringen die preußischen Bataillone in die Straßen und auf den Markt. Es ist junge Landwehr, die heut ihre Bluttaufe erhalten soll. Die Kugeln pfeifen durch die Straßen, sie schlagen die Dachziegel und den Kalk von den Häusern, die Bürger haben Frauen und Kinder wieder in Kellern und abgelegenen Räumen geborgen. Auf dem Marktplatz halten die Bataillone, Munitionswagen werden aufgefahren und geöffnet. Die ersten Kompanien dringen vor, an demselben Tor, durch welches vor wenigen Tagen der Feind in die Stadt stürzte, brennt der heiße Kampf, im Anlauf wird der Feind zurückgeworfen, aber neue Haufen setzen sich in den Häusern der Vorstadt fest und ringen um den Eingang in die Straßen. Schwer verwundete, verstümmelte Männer werden aus den Kampflinien zurückgetragen und auf dem Markte niedergelegt, mehr als einmal müssen die Kämpfenden abgelöst werden. Wenn die Kameraden aus dem Gefecht zurückkehren, das Antlitz von Pulver geschwärzt, mit Schweiß und Blut bedeckt, da will der ungeübten Mannschaft fast der Mut entsinken, aber die Offiziere, auch sie vielleicht zum erstenmal vor dem Handgemenge, springen vor: »Vorwärts, Kinder, das Vaterland ruft!« schallt es in die Reihen. Einmal ist es dem Feind gelungen, das Obertor zu erstürmen, aber kaum ist er in die erste Straße gedrungen, die zum Markte führt, so wirft sich ihm eine Kompanie Landwehr mit lautem Hurra entgegen, treibt ihn zum Tore hinaus und hält das Tor fest.Szene aus dem Gefecht in Goldberg am 23. August, nach Mitteilung eines Augenzeugen.

Der Donner dröhnt, der feurige Hagel schlägt durch Türen und Fenster, die Toten liegen auf dem Pflaster und den Schwellen der Häuser. Da vermag, wer von den Bürgern ein mannhaftes Herz hat, nicht länger die geschlossene Luft seines Verstecks zu ertragen. Dicht hinter den fechtenden Landsleuten drängt er sich in die Nähe des Kampfes. Die Verwundeten hebt er vom Pflaster und trägt sie sich auf dem Rücken in das Haus oder ins Lazarett. Nicht die Letzten sind wieder die Knaben, sie holen Wasser und rufen in die Häuser nach einem Trunk, sie stützen die Verwundeten, sie klettern auf den Munitionswagen und reichen die Patronen herab, stolz auf ihre Arbeit, unbekümmert um das pfeifende Blei. Ja auch Frauen stürzen aus den Häusern, in den Schürzen geschnittenes Brot, in den Händen die gefüllten Krüge. Es mag doch etwas helfen für das Vaterland.

Das Gefecht ist vorüber, der Feind zurückgeschlagen. Da bewegt sich im heißen Sonnenschein ein trauriger Zug durch die Stadt, gefangene Feinde, von Kosaken eskortiert. Hartherzig treiben die Reiter den ermatteten Haufen, auf dem freien Platz der Vorstadt wird kurze Rast gestattet. Erschöpft, wund, halb ohnmächtig legen sich die Gefangenen in den Staub der Landstraße, es ist der zweite Tag, daß sie nicht Speise, nicht Trank erhalten; nicht einmal einen Trunk aus Brunnen oder Graben haben die Treiber gestattet, mit Schlägen und Lanzenstößen haben sie die Ermatteten gemißhandelt. Jetzt flehen diese mit ausgestreckten Händen in ihrer Sprache zu den Städtern, welche neugierig und teilnahmvoll umherstehen. Es ist in der Mehrzahl junges Franzosenvolk, das hier wimmert, arme Knaben, bleich und verfallen die Gesichter. Wieder eilen die Bürger mit Speise und Trank herzu, reichliche Haufen von Brot werden herangetragen; aber die Russen hungern selbst, sie stoßen die herantretenden Leute rauh zurück und entreißen ihnen die Gaben. Da legen die Hausfrauen Körbe und Flaschen in die Hände ihrer Kinder, ein beherzter Knabe springt voran, die kleine Schar, Mädchen und kleine Buben trippeln nach, mitten unter die liegenden Gefangenen, auch die kleinsten wanken tapfer von Mann zu Mann und teilen lächelnd aus, unbekümmert um die bärtigen Wächter.So am 22. Mai in Bunzlau während des Rückzugs nach der Schlacht bei Bautzen; die Gefangenen, rote Husaren, lagen in der Vorstadt neben dem Galgenteich. Denn der Kosak tut den Kindern nichts zuleide. Der Deutsche aber ist auch gegen seine Feinde nicht unbillig.

Wer aber aus dem nahen Gefecht einen wunden Landsmann in sein Haus geholt hat, wie treu und sorglich pflegt er ihn! Er ist dem Hause wie der eigne Sohn und Bruder, der fern beim Heere des Königs steht. Das beste Zimmer, ein weiches Lager wird ihm bereitet, selbst überwacht die Hausfrau Verband und Wartung.

Denn das ganze Volk fühlte sich wie eine große Familie. Der Unterschied der Stände, die Verschiedenheit des Berufes trennten nicht mehr, Freude und Leid waren gemeinsam, auch von Habe und Erwerb ward williger mitgeteilt. Die Fürstentochter stand neben der Frau des Handwerkers in demselben Verein, und beide berieten eifrig und achtungsvoll miteinander, und der feste Landjunker, der noch vor wenig Monaten jeden bürgerlichen Mann in seiner Ressource als Eindringling betrachtet hätte, ritt jetzt wohl täglich vom Gute nach der Stadt, um bei seinem neuen Freunde, dem Ratsherrn oder Fabrikanten, die Kriegspfeife zu rauchen und mit ihm über die Neuigkeiten und über das zu plaudern, was beiden das Liebste war, über das Regiment, in welchem ihre Söhne nebeneinander fochten. Freier, sicherer, besser wurden die Menschen in dieser Zeit, die grämliche Pedanterie des Beamten, der Hochmut des Edelmannes, selbst der mißtrauische Eigennutz des Bauern waren den meisten wie Staub von gutem Metall weggeblasen, Selbstsucht wurde von jedermann verachtet, altes Unrecht, lange genährter Groll war vergessen, der Kern der Menschen war für alle sichtbar zutage gekommen. Wie sich jeder gegen den Staat gezeigt, danach wurde er beurteilt. Überrascht sahen die Leute in Stadt und Land, daß plötzlich neue Charaktere unter ihnen zur Geltung kamen; manch kleiner Bürger, der bis dahin wenig beachtet war, wurde Ratgeber, Freude und Stolz der ganzen Stadt. Wer sich aber schwach gezeigt, dem gelang es selten, das Vertrauen seiner Mitbürger wiederzugewinnen, der Makel haftete an ihm, solange die Generation lebte. Und diese freie und großartige Auffassung des Lebens, der herzliche gesellige Ton und der unbefangene Verkehr verschiedener Stände dauerten noch Jahre nach dem Kriege. Ältere der Mitlebenden wissen wohl davon zu erzählen.

Und als nach dem Waffenstillstande die glorreiche Zeit der Siege kam, Großbeeren, Hagelsberg, die Katzbach, Dennewitz, als einzelne Gestalten preußischer Feldherren sich immer höher vor den Augen des Volkes erhoben, und Millionen die Freude wurde, stolz zu sein auf das Heer und seine Führer; als endlich die Völkerschlacht geschlagen und das Größte erreicht war, die Niederlage und Flucht des verhaßten Kaisers und die Befreiung des Landes von seinen Heeren, da wurde auch die höchste Freude, wie in der Zeit lag, mit stiller Innigkeit genossen. Die Leute eilten in die Kirche und hörten ehrfürchtig die Dankesworte des Geistlichen an, und am Abend setzten sie, ihre Straße erleuchtend, die Lichter ans Fenster.

Diese Festfeier war nicht neu. Sooft in den letzten Jahren feindliche Truppen des Abends in die Stadt gerückt waren, hatten sie nach Lichtern gerufen; wo französische Besatzung lag, hatten die Bürger bei jedem Siege, den der gehaßte »Verbündete« ihres Königs verkünden ließ, erleuchten müssen. Jetzt geschah das allerdings freiwillig. Jeder hatte Übung darin und in jedem Hause stand die einfache Vorrichtung bereit. Vier Lichter am Fenster waren damals schon eine ansehnliche Sache, auch der Ärmste sparte die Kreuzer für zwei, und benutzte, wo ihm die Lichter fehlten, nach alter Gewohnheit die stets nützliche Kartoffel; der Unternehmende wagte wohl auch ein Transparent, und ein armes Mütterchen hing neben den Lichtern die beiden Briefe aus, die ihr Sohn aus dem Felde geschrieben hatte. Auch solche Feier war damals einfach und anspruchslos. Jetzt machen wir dergleichen weit glänzender.

In den östlichen Provinzen des preußischen Staates begann die große Erhebung; wie sie dort sich im Volke dargestellt, wurde zu schildern versucht. Aber dieselbe starke Strömung flutete auch in den Ländern jenseit der Elbe, nicht nur in den altpreußischen Landesteilen, auch an den Küsten der Nordsee, in Mecklenburg, Hannover, Braunschweig, Thüringen, Hessen. Sie umfaßte die Landschaften, welche im 18. Jahrhundert größere Kriegstüchtigkeit bewährt haben. In den Ländern des alten Reichs ergriff sie nur einzelne. Die neuen Staaten, welche dort unter französischem Einfluß entstanden waren, sollten erst später auf einem Umwege das Bedürfnis zu innigem Anschluß an den größeren Teil der Nation erhalten. Für Österreich aber war dieser Krieg ein Akt politischer Klugheit.

Noch zwei Jahre hoher Anspannung, blutiger Schlachten folgten, wieder drängte sich die aufblühende Jugend, der im ersten Jahre Alter und Kraft gefehlt hatten, mit starker Begeisterung in die Reihen des Heeres. Aber es war ein anderer Krieg und andere Siege, denn nicht mehr um das Leben Preußens und Deutschlands wurde gerungen, sondern um Leben und Untergang des fremden Kaisers.

Das Jahr 1813 hat Deutschland von der Herrschaft eines fremden Volkes befreit, wieder schwebte der preußische Adler jenseit des Rheins über den alten Toren von Cleve. Es hat die Mehrzahl der deutschen Stämme durch einen neuen Kreis sittlicher Interessen brüderlich verbunden. Es hat zum erstenmal, seit es eine deutsche Geschichte gibt, durch eine gewaltige Entwicklung der Volkskraft eine ungeheure politische Entscheidung herbeigeführt. Es hat die Stellung der Nation zu ihren Fürsten durchaus geändert. Denn es hat über den Interessen der Dynastien und dem Hader der Regierungen die Existenz einer stärkeren Gewalt erwiesen, welche sie alle scheuen, ehren, gewinnen müssen, um sich auf die Dauer zu behaupten. Es hat jedem einzelnen Manne einen größeren Inhalt gegeben, Teilnahme am Ganzen, politische Leidenschaft, die höchsten irdischen Interessen, ein Vaterland, einen Staat, für den er zu sterben, allmählich auch zu leben lernte.

Die Preußen haben den größten Anteil an der Arbeit dieses Jahres, das wird ihnen das übrige Deutschland nie vergessen.

Uns aber, den Söhnen des Geschlechts von 1813, ziemt nicht, den glorreichen Kampf unserer Väter zu verkleinern, weil sie auch uns zu tun übrigließen.

Fast allen, welche die große Zeit kämpfend und opfernd durchlebt, blieb die Erinnerung daran der größte Besitz ihres späteren Lebens, vielen umgab sie wie mit einem verklärenden Scheine das Haupt. Und von Tausenden wurde dasselbe empfunden, was der warmherzige Arndt aussprach: »Wir können nun zu jeder Stunde sterben, wir haben auch in Deutschland das gesehen, weswegen es allein wert ist zu leben, daß Menschen in dem Gefühl des Ewigen und Unvergänglichen mit der freudigsten Hingebung alle ihre Zeitlichkeit und ihr Leben darbringen können, als seien sie nichts.« –

In den Kirchen des Landes aber wurde zur Erinnerung für das spätere Geschlecht eine einfache Tafel aufgehängt, darauf das eiserne Kreuz der großen Zeit und die Namen der gefallenen Männer. Es ist auch in mäßigem Kirchspiel eine lange Reihe von Namen.

Und da in diesen Blättern versucht wird, aus den Worten vergangener Menschen ein Bild der Zeit zu geben, in welcher sie atmeten, so soll auch hier eine Aufzeichnung aus dem Jahre 1813 mitgeteilt werden.

»Unser Sohn George wurde am 2. April in seinem zweiundzwanzigsten Jahre in dem ewig denkwürdigen Gefecht zu Lüneburg von einer Kugel getroffen. Als freiwilliger Jäger im leichten Bataillon des ersten Pommerschen Regiments focht er nach dem Zeugnis seines braven Chefs, des Hrn. Majors von Borcke, nahe bei diesem mit Mut und Entschlossenheit und starb so den Tod für Vaterland, deutsche Freiheit, Nationalehre und unsern geliebten König. Ein so schneller Verlust ist hart, aber es ist tröstend, daß auch wir einen Sohn geben konnten zu dem großen heiligen Zweck. Wir fühlen tief die Notwendigkeit solcher Opfer.

Berlin, den 9. April 1813.

Der Regierungsrat
und
Ober-Kommissarius Häse und seine Gattin.Vossische Zeitung Nr. 45 vom 15. April.

Auch der Teil des Volkes, welcher nicht gewöhnt ist, seine Empfindung der Schrift zu überliefern, fühlte dasselbe. Als der Lützower GutikeGestorben als praktischer Arzt in Halle. Die Mitteilung ist aus dem Munde des verehrten Mannes. im Sommer 1813 von Berlin nach Perleburg abging, fand er in dem Orte Kletzke die Wirtin in Trauer: sie machte sich schweigend um den Gast zu tun, und sagte endlich mit der Hand nach der Erde weisend: »Ich habe auch einen dort unten, – aber die Peters hat zwei.« Sie fühlte das bessere Recht der Nachbarin.

 


 


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