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Aus schlimmen Tagen.

I.

Der Herbst des Jahres 1798 prangte in der ganzen Fülle der milden und zugleich erhabenen Schönheit, mit welcher diese Jahreszeit unser Hochland zu schmücken weiß. Vor Allem konnten sich die ältesten Leute nicht erinnern, jemals in ihrem Leben die Gebirge in solch purpurenem Abendglanze leuchten gesehen zu haben. Wo das Auge hinschauen mochte, vom Säntis bis an die fernen Walliser Firnen hinüber, erhoben sich die Firsten und Hörner jeden Spätnachmittag fast stundenlang wie frisch aufgeblühte, unermeßliche Rosenbüsche und ließen ihre höchsten Kuppeln noch erglänzen, wenn sich drunten in den dämmernden Thälern bereits die Abendnebel über See und Fluß zu kräuseln begannen. Es war als ob der große Völkerhirte dem Volke zwischen den Alpen und dem Rheine Tag um Tag ein neues Trost- und Bundeszeichen errichten wolle, das da verkündete: Sei getrost, ich bin noch immer der Herr, der diese strahlenden Wälle deinen Vätern als Schirm- und Schutzmauern aufgethürmt; fasse Muth und harre aus, die Trübsal wird vorübergehen. –

Aber im ganzen Lande gab es nur Wenige, die diese Sprache verstanden oder verstehen wollten, da selbst die Muthigsten begannen zaghaft zu werden und die festesten Herzen erzitterten vor dem Wehgeschrei, das eben erst vom Gestade des Vierwaldstättersees, aus den Thalschaften zwischen dem Stanserhorn und dem Pilatus erschollen war. Das kleine Volk Nidwaldens hatte sich aus unbezähmbarer Vorliebe für sein altes Herkommen geweigert, der neuen helvetischen Verfassung, die unter dem Schutze französischer Heerschaaren allen Eidgenossen Freiheit und Einheit bringen sollte, den Schwur der Treue zu leisten, und für diese mit den Waffen in der Hand verfochtene Weigerung lagen nun seine Hütten in rauchenden Trümmern, seine muthigsten Männer und Frauen erschlagen, und irrten zahllose Waisen brod- und obdachlos im Gebirge umher. Der schreckliche Kampftag des neunten September hatte an sechshundert Wohnungen des Ländchens mit Feuer verzehrt und selbst den Boden der Hauptkirche von Stans bis an den Altar hinan mit Leichen bedeckt. Was Wunder, wenn drum das Schweizervolk bei dem abendlichen Glühen seiner Gebirge eher an Blut und Brand dachte, als an göttliche Trostzeichen, zumal allerwärts in Dörfern und Städten das sinkende Alte mit dem werdenden Neuen in hadernder Zwietracht lag und jeder kommende Tag ein anderes Unheil in seinem Schooße bergen konnte.

Zu verwundern war's sich nun wohl auch nicht, wenn in solcher Stimmung und Lage des Landes kein festliches Beginnen gedeihen wollte und jedes derartige Bemühen unwillkürlich an einen Unglücklichen erinnerte, der ein Lächeln auf seine bekümmerten Züge zu erzwingen versucht.

Einem solchen kummerlächelnden Gesichte glich denn auch die Stadt Luzern, die sonst stets frohe und heitere, in den letzten Septembertagen des genannten Jahres, obwohl sie sich äußerlich aufgeschmückt hatte wie eine Braut, die den Bräutigam erwartet. Thore und Straßen waren mit Laubgewinden geziert, denen der mannigfaltige Farbenwechsel der herbstlichen Vegetation die freundlichste Anmuth verlieh; aus allen Fenstern hingen bunte Tücher und von den Erkern und Thürmen wimpelten zahllose grün-roth-goldene Fahnen und Fähnlein herab, während von der nahen Anhöhe des Gütsch in gemessenen Zwischenräumen Kanonenschüsse die Luft erschütterten. Auch der Himmel ruhte mild und klar über See und Gebirg und selbst der sonst mürrische Pilatus hatte seit mehrern Tagen nicht daran gedacht, sich seine Nebelkappe aufzusetzen; aber bei alledem blieb es in den Straßen der Stadt auffallend öde und still, oder wenn sich da und dort eine Schaar durch dieselben bewegte, zog sie lautlos dahin wie eine große Welle, die, nachdem sich der Föhn gelegt, langsam und ermüdet über den See heran an's Ufer schwimmt. Die Menschen beschauten in dumpfer Neugierde lange Wagenzüge, die mit mächtigen Kisten beladen und von einzelnen Berittenen begleitet von der Emmenbrücke her in die Stadt zogen, und verliefen sich dann unter leisen Gesprächen und Kopfschütteln in die engen Seitengäßchen.

Bewegter und lebhafter wurde es in den ersten Nachmittagsstunden des 29. September, als in rascher Folge fünfundzwanzig Kanonenschüsse vom Gütsch erdröhnten und sich bald in den Straßen der Ruf erhob: »Die Regierung, das Direktorium kommt!« – ein Ruf, der wirklich der Ankunft der obersten Behörden der Einen- und untheilbaren helvetischen Republik galt, die eben von ihrem bisherigen Sitze Aarau nach Luzern übersiedelten. Alles drängte sich nun dem Baselthore zu, vor dem sich am Fuße eines hochragenden Freiheitsbaumes eine Musikbande aufgepflanzt hatte, um den Ankömmlingen einen schallenden Festgruß darzubringen; aber nicht etwa in heimathlichen Liederweisen, sondern mit dem unaufhörlich wiederholten » ça ira«, dem Nationalgesange der fränkischen Freiheitsbringer und Volksdränger. In der rasch anschwellenden Volksmenge ließ sich da und dort eine Stimme hören, welche die Geigen und Musikhörner mit Gesang begleiten wollte; aber nach kurzem Anlaufe verstummte sie wieder, wohl nicht blos aus dem Grunde, daß die fremde Melodie weder Begeisterung, noch allgemeine Gesangeslust zu erwecken vermochte, sondern mehr noch, weil sich um den Sänger augenblicklich ein unruhiges Drängen und Stoßen erhob, das zugleich mit drohendem Gemurmel Schweigen verlangte. –

Auf dieses bewegte Treiben schaute von der Altane eines stattlichen Hauses, das hart neben dem Thore stand, mit großer Aufmerksamkeit ein vornehm und zierlich gekleideter Mann herab, als ob er irgend etwas in der Menge entdecken möchte, das sich auf den ersten Anblick nicht zeigen wollte. Sein feurigdunkles Auge folgte spähend einigen Gestalten, die sich scheinbar harmlos in dem Gedränge hin- und herbewegten und bald da, bald dort mit Bekannten plaudernd stehen blieben, aber immer die Ersten waren, die auf einen Sänger zusteuerten, der einen neuen Versuch mit dem ça ira wagte. Der Beobachter mußte jetzt etwas bemerkt haben, was ihn betroffen machte, wenigstens glitt plötzlich ein halb spöttisches, halb zorniges Lächeln über sein bräunliches Gesicht hinweg, und mit einer raschen Bewegung wollte er sich der Glasthüre nähern, die in's Innere des Hauses führte, als sich dieselbe öffnete und zwei junge Damen auf die Altane heraustraten. »Ich bitte für mich und meine Begleiterin um gütigste Entschuldigung, Bürger Kommissär,« sagte die Größere der Beiden, eine schlanke, dunkeläugige Brünette, mit schalkhafter Anmuth; »aber da sich Papa nach dem Rathhause begeben hat, so haben wir Niemanden, der uns die herannahenden Landesväter, wenigstens aus der Ferne, vorstellen könnte. Dürften wir Sie nicht um diesen Ritterdienst ersuchen, Herr Olivier?«

»Mit dem größten Vergnügen, meine schöne Hausherrin,« erwiderte der Angeredete, sich zierlich verbeugend, nachdem er noch einen raschen Blick auf die unten versammelte Menge geworfen; »nur befürchte ich, ein schlechter Ceremonienmeister zu sein und Ihnen die wenigsten Namen der sich Anmeldenden nennen zu können. Aber wahrhaftig, dort lenkt die erste Equipage der hohen Herrschaften bereits in die Straße herein.«

Und in der That wurde am äußern Ende der Straße im nämlichen Augenblicke ein Wagen sichtbar, der mit vier Pferden bespannt und von einigen berittenen Jägern in grüner Uniform begleitet in scharfem Trabe gegen das Thor heranfuhr. Drunten unter'm Freiheitsbaume stimmte die Musikbande ihr ça ira mit verstärkter Kraft an, aus der Menge ließen sich vereinzelte Vivatrufe hören, und auf den Thürmen der Stadt begannen alle Glocken, groß und klein, anzuschlagen, während vom Gütsch herab die Kanonen in ununterbrochenem Krachen niederdonnerten; aber von den ankommenden Gästen ließ der um die lange Wagenreihe aufwirbelnde Staub kaum schattenhafte Umrisse erkennen, so daß Herr Olivier bald lachend ausrief: »Sie sehen, meine schönen Bürgerinnen, die Regenten und Gesetzgeber des Landes hüllen sich in den Dunst ihrer Weisheit ein, und ich kann meine Pflicht als Cicerone mit dem besten Willen nicht erfüllen.«

Wirklich rasselte auch der ganze Zug so rasch vorüber, daß die reitende Schlußeskorte desselben bereits durch das Thor trabte, bevor Herr Olivier im Stande gewesen wäre, seinen Begleiterinnen auch nur einen Einzigen der Ankömmlinge kenntlich zu machen. Enttäuscht und mißvergnügt wollte sich die Brünette schon wieder zum Verlassen der Altane anschicken, als die Jüngere, auf deren lichtem Antlitz kaum der erste Rosenschein knospender Jungfräulichkeit zu dämmern begann, mit heller Stimme rief: »Sieh, Franziska, dort rückt noch ein Nachtrab an, der unserer Neugierde am Ende eine kleine Entschädigung gewährt. Stattlich genug nehmen sich die beiden Reiter wenigstens von Weitem schon aus.« – »Du hast Recht, Nanny, wahrhaftig,« erwiderte die Angeredete, ihre braunen Augen wieder nach der Straße zurückwendend, »die Beiden machen sich hübsch in den kleinen, grünen Federhüten; aber um Gotteswillen, Herr Olivier,« fuhr sie in heitre Lustigkeit ausbrechend fort, »wer ist wohl das Ungethüm in dem altmodischen Wägelchen, dem die schmucken Reiter so ehrerbietig das Geleit zu geben scheinen?«

Herr Olivier hatte die langsam sich nahende Gruppe ebenfalls mit scharfen Blicken betrachtet und zog sich nun, bevor er Antwort gab, mit einer unmerklichen Bewegung hinter die dichtbelaubten Schlinggewächse zurück, die auf der einen Seite über dem Geländer der Altane sich emporrankten. »Den struppigen, bärtigen Gesellen, meinen Sie,« sagte er sodann, indem sich das spöttische Lächeln wieder um seine Lippen zu kräuseln begann, »dessen Gesicht von den Schultern einer alten Wahrsagerin gestohlen zu sein scheint? Ja, wahrhaftig, das ist ein Prachtexemplar und man könnte Mitleiden mit ihm haben, wenn er nicht ein so verzweifelt gescheidter Narr wäre; Pestalozzi heißt er … ein Zürcher.«

»Wie, Pestalozzi?« rief die jüngere der Damen, sich rasch an dem Geländer vorbeugend, »das wäre Heinrich Pestalozzi?«

»Kennst du ihn denn?« fragte Franziska, die ihre Lachlaune noch immer nicht überwinden zu können schien; »wirklich eine äußerst liebenswürdige Bekanntschaft für ein siebenzehnjähriges Jungfräulein!«

»Nein«, erwiderte Nanny ernst, »ich kenne ihn nicht; aber ich weiß, daß mein Vater nie ohne die größte Ehrerbietung von dem Manne gesprochen hat.«

»Nun denn geschwind, bevor sie vorüber sind, Herr Olivier,« sagte Franziska, »wer sind seine beiden Begleiter? der zur Rechten zuerst?«

»Der sieht freilich etwas schmucker aus,« antwortete der Befragte; »es ist der Bürger Zschokke, der als Abgeordneter der vertriebenen Bündner Patrioten sich hier befinden wird. Der zur Linken aber, geben Sie Acht, schöne Bürgerin – das ist der glückliche Held von Holligen. Hier hätt' ich ihn freilich jetzt nicht erwartet.«

»Der Berner Hauptmann König?« rief nun Franziska ihrerseits überlaut und machte eine so rasche Bewegung gegen das Geländer hin, daß die beiden Reiter, die unterdessen unmittelbar an das Thor herangekommen waren, aufmerksam wurden und zu gleicher Zeit emporblickten. Herr Olivier versuchte noch tiefer hinter das Blätterwerk niederzutauchen; Franziska konnte sich in ihrer Neugierde nicht enthalten, dem Hauptmanne mit wenig Zurückhaltung in das männlich schöne Antlitz zu schauen, und so bemerkte Keines von Beiden, daß die schüchterne Nanny erglühte, wie eine aus der Knospe springende Rosennelke, als ihr Blick mit demjenigen des Reiters zur Rechten zusammentraf. Dieser selbst hielt den Zügel seines Pferdes einen Augenblick an und schaute sinnend und nachdenklich empor, als ob er sich über der lieblichen Erscheinung, die ihm entgegentrat, auf irgend etwas Vergangenes besinnen müßte; dann fuhr er rasch mit der Hand über die Augen und legte sie zu einem lächelnden Gruße an den Hut, von dem eine dunkelgrüne Feder in kecker, malerischer Art herabnickte.

Als Wagen und Reiter durch den Thorbogen verschwunden waren, klatschte Franziska, wieder vom Geländer auf die Altane zurücktretend, in die kleinen Hände und rief: »Nun haben wir am Ende vom ganzen Zuge wohl auch das Beste gesehen; der Pestalozzi und der Hauptmann König machen ein prächtiges Ensemble zusammen, ein voller Rosenstrauch und eine magere Distel am nämlichen Stämmchen. Aber daß wir den Dritten nicht vergessen, ist das wohl der nämliche Zschokke Bürger Kommissär, der schon so hübsche Sachen geschrieben hat? z. B. die Geschichte vom Abällino, dem großen Banditen?«

»Darüber weiß ich leider keinen Bescheid, schöne Bürgerin,« sagte Herr Olivier, seine schnellen Blicke wieder auf die Menge werfend, die sich unten auf dem Platze nach allen Seiten zu zerstreuen anfing. »Zu allerlei tollen Streichen nach Poetenart scheint der junge Herr wohl aufgelegt zu sein, wie ich mir in Aarau habe erzählen lassen. An Gelegenheit wird es nun bald auch nicht fehlen, mehr von ihm zu erfahren, wenn sich die Damen, die ich jetzt leider verlassen muß, darum interessiren sollten.« Mit diesen Worten machte er eine rasche, aber höfliche Verbeugung und trat von der Altane durch die Glasthüre in's Haus zurück.

Franziska blieb horchend stehen bis die Tritte des sich Entfernenden verhallt waren und fing dann an, die Hände vor sich hingefaltet und das Antlitz leicht vorgebeugt, langsam auf- und niederzugehen. Auch ihre Begleiterin saß in schweigendem Sinnen bis sie endlich beinahe schüchtern sagte: »Wie ist es denn nur mit dem Herrn König – ich habe wohl schon davon sprechen gehört, aber nicht besonders Acht gegeben darauf.«

Franziska blieb stehen und schaute ihre junge Freundin einen Augenblick zerstreut an, als ob sie die Frage nicht verstanden habe; dann aber gewann das ernste Gesicht plötzlich wieder einen heitern Ausdruck und mit neckischem Lächeln rief sie: »Ah, jetzt interessirst du dich mit einem Male für den Herrn – ja, ja, in der That ein schöner Mann; aber leider – er ist schon verlobt.«

Nanny schüttelte das blonde Köpfchen fast unwillig und erwiderte schmollend: »Soviel ist mir schon in Erinnerung geblieben, Franziska!«

»Nun, viel mehr weiß ich sonst auch nicht,« sagte diese wieder etwas ernster werdend. »Seine Braut, Adelaide von Holligen, habe ich diesen Sommer am Genfersee kennen gelernt, und nach ihrer Schilderung muß der Hauptmann nicht nur ein wackerer Mann, sondern fast ein Halbgott sein. Vor dem Einmarsche der Franzosen saß er in Bern unter der Anklage frankenfreundlicher Gesinnungen in heimlicher Gefangenschaft und es mußte gefährlich genug ausgesehen haben für ihn; selbst der Herr von Holligen, Adelaidens Vater, gehörte unter seine erbittertsten Gegner, vielleicht auch noch aus dem Grunde, weil er die Liebe seiner einzigen Tochter zu dem armen Maler entdeckt hatte. Denn das war der König; da dieser aber bei dem losbrechenden Sturme freigegeben werden mußte, erzeigte er sich als so tapfrer und einsichtiger Offizier, daß die Berner Regenten das Unrecht zu spät bereuten, das sie ihm und dadurch dem ganzen Lande angethan. Besonders schwer mußten sie es büßen, seinen Warnungen vor einem fränkischen Spion, der sich in ihr Vertrauen einzuschleichen gewußt, nicht beachtet zu haben. Um wenigstens seinen Theil an dem Unrechte so weit möglich wieder gut zu machen, verlobte dann der Herr von Holligen dem früher so bitter gehaßten Hauptmanne seine Tochter. Ist das nicht hübsch?«

Diese ganze Mittheilung war in so gleichgültigem Tone gegeben, und die letzte Frage in so sichtlicher Zerstreuung gestellt worden, daß Nanny mit dem Ausdrucke aufrichtiger Bekümmerniß ihr Köpfchen tiefer sinken ließ, ohne zu antworten. Doch nach wenigen Augenblicken erhob sie sich wieder und sagte mit wehmüthigem Ernste: »Franziska – ich werde morgen heimgehen.«

»Morgen – du?« rief Franziska wie aus tiefen Gedanken erwachend und überrascht; »was fällt dir ein, Kind?«

»Ich bin hier überflüssig, wo nicht gar lästig, Franziska.« Bei diesen Worten wollten sich die blauen Augen mit Thränen füllen, so daß nun die ältere Freundin leiser, aber erschrocken fragte: »Mein Gott, was hast du denn – ich verstehe gar nicht, was du sagen willst!«

»Du thust mir weh, sehr weh, ohne daß du es willst oder daran denkst,« erwiderte Nanny mit noch immer gleichbewegter Stimme; »denn sieh' – du verstellst dich vor mir, Franziska.«

»Ich? vor dir?« fragte diese halb erröthend, halb mit beschwichtigendem Lächeln; »nein, vor dir verstelle ich mich nicht, wahrlich nicht.«

»Doch, doch!« beharrte Nanny bekümmert, »vor mir, wenigstens in meiner Gegenwart, und wenn es dann auch nur auf den Bürger Olivier gemünzt sein sollte. Sieh', Franziska, wüßte ich nicht, daß du die Braut eines Mannes bist, der dir theurer als dein Leben ist – es wären mir diese Tage seltsame Gedanken gekommen. Sobald der Franzose in der Nähe ist, bist du heiter, muthwillig, und sogar – nimm mir es nicht übel – beinahe ausgelassen. Aber diese Art will dir auch so gar nicht anstehen, und du gibst dir jeden Augenblick noch eine Blöße dazu! – Gerade vorhin – wie hast du über den edeln Pestalozzi dich lustig gemacht, und doch weiß ich, daß sein Name in euerm Hause sonst mit nicht weniger Achtung und Verehrung genannt wird, als daheim bei mir. Und dann hast du dich auch noch so rasch an das Geländer vorgedrängt, daß – daß –.«

»Nun?«

»Daß die beiden andern Herren verwundert nach uns heraufgeschaut haben.«

Das unschuldvolle und reizende Erröthen, von dem diese Antwort begleitet war, würde zu einer andern Zeit einer gutmüthigen Neckerei Franziska's schwerlich entgangen sein; jetzt aber entgegnete sie befangen und leise: »Und was willst du mit all' dem sagen, was meinst du eigentlich?«

»Ach, ich weiß es ja eben nicht, was ich denken und sagen soll,« antwortete Nanny; »daß du dir des Franzosen wegen Zwang anthust, ist mir wohl deutlich, wenn ich oft auch nicht einmal sagen könnte, worin dieser Zwang besteht. Im Ganzen sieht es aus, als ob du ihm stets und überall zu gefallen dich bemühtest; aber – mir kommt es vor, als ob jedesmal bei seinem Anblicke ein Erschrecken durch dich ginge, und doch suchst du stets in seiner Nähe zu sein, sobald du ihn daheim weißt.«

»Du argloses und doch so ahnungsvolles Herz!« sagte Franziska bewegt, indem sie ihre beiden Hände auf die lichten Haarwellen ihrer jugendlichen Freundin legte; »ja, du hast recht; ich wollte den harmlosen Frieden deiner Seele nicht stören durch Befürchtungen, die vor meiner eigenen Seele selbst nur wie unfaßbare, gespenstische Schreckensgestalten stehen. Doch nun ist's besser so. Aber komm', hier können wir nicht sprechen davon, denn ich fürchte, wir haben es mit einem Gegner zu thun, dem all' unsere Vorsicht nicht gewachsen sein wird.«

 

II.

Während Franziska in der Stille ihres Gemaches der jüngern Freundin die Bekümmernisse anvertraute, die sie seit dem vor einigen Wochen erfolgten Einzuge des französischen Kommissärs in das Haus ihres Vaters, des wackern, gradsinnigen Alt-Rathsherrn Meyer, bedrängten, folgten die beiden Reiter dem kleinen Wagen ihres Gefährten langsam durch das Gedränge der Straßen, bis dieser endlich das Gefährt vor dem alterthümlichen Gasthause »zu Pfistern« anhielt und mit größerer Behendigkeit auf den Boden sprang, als seine scheinbar unbehülfliche Gestalt erwarten ließ. Franziska hatte übrigens in ihrem, wenn auch blos angenommenen Muthwillen vollständig recht gehabt; der Mann nahm sich neben seinen schmucken, nun ebenfalls aus den Bügeln gestiegenen Begleitern in der That äußerst seltsam aus. Das hagere, schmale Gesicht, das in der dunkeln Umrahmung eines verworrenen Haares und Bartes wohl noch unscheinbarer aussah, als es in der Wirklichkeit sein mochte, der nachlässig und weitfaltig um die etwas vorgebeugte Gestalt schlotternde Rock, die übelaussehenden Strümpfe, deren obere Theile mit bedenklicher Sehnsucht nach den ausgetretenen Schuhen niederstrebten, dies und noch manches Andere im Aeußern des Mannes schien wenig geeignet zu sein, ihn zum vertrauten Genossen zweier stattlich aussehenden Kavaliere zu machen, und doch reichte er ihnen jetzt mit so unbefangener Freudigkeit beide Hände entgegen, als ob sie sich nach langer, schmerzlicher Trennung begrüßen müßten. »Da wären wir endlich mit Gottes Hülfe,« rief er mit einem hellen Aufblicke seiner großen, milden Augen; »daß der Himmel unsern Eingang segnen möge! Das kann ich euch versprechen, bei Vater Reber sind wir aufgehoben wie Hasen im Maienklee, und wenn das Haus bis unter die First mit Gästen vollgepfropft wäre.« Und wirklich, als sollte dieses Versprechen alsbaldige Bestätigung erhalten, kamen im Augenblicke zwei Hausknechte über den Hausplatz hergelaufen, die, ohne sich um etwas Anderes auf ihrem Wege zu bekümmern, wie beutelustige Wölfe über die kleinen vor das Wägelchen gespannten Rappen herfielen, während sie deren Herrn mit lachenden Gesichtern ihre Grüße zuriefen. »Grüß euch Gott, grüß euch Gott,« rief auch dieser den Burschen entgegen; »aber was denkt ihr, meine Kinder, Christoph, Andres – zuerst die beiden Herren da bedient, es sind meine Freunde; nur zu, nur zu, ich kann warten. Wo ist denn Vater Reber, zu Hause? gesund und wohlauf, hoff' ich!« – Die Frage mußte im Hause gehört worden sein, denn plötzlich rief eine helle Kinderstimme: »Der Herr Pestalozzi ist draußen!« und augenblicklich kam es wie ein kleines wildes Heer purzelnd und springend durch die Thüre gekollert – ein Haufe pausbackiger Knaben und Mädchen, die mit lautem Gejubel auf ihren angekommenen Freund losstürmten, ohne sich in ihrer Freude durch die beiden andern Gäste im mindesten stören zu lassen. »Daß euch –« rief Pestalozzi, über dessen bleiches Gesicht es dahinglitt wie ein Strahl milden Sternenscheines; »da haben wir ja die ganze Bescheerung beisammen – den Resli, den Peter, den Balz und meine kleine Fränzel zu allererst; aber wartet nur, ihr kleinen Weltbürger, die Aarauer Bäcker sind auch nicht auf den Kopf gefallen.« Mit diesen Worten schob er seine Hände in beide Seitentaschen des Rockes und brachte aus denselben eine solch endlose Reihe mächtiger Düten hervor, daß die beiden Freunde, die bisher dem lieblichen Schauspiele still vergnügt zugeschaut, in ein unaufhaltsames Gelächter ausbrechen mußten. »Wahrlich Freund,« rief Zschokke, »sonst glaubt' ich, nur dein Wohlwollen sei unerschöpflich, aber nun seh' ich, daß deine Taschen es noch vielmehr sind; gewiß, du hast des Fortunatus Wünschhütlein unter deinem Rock eingenäht!« – »Ja, ja,« erwiderte Pestalozzi, vergnügt die Hände reibend und mit lachenden Blicken die Freude der Kinder betrachtend, »an Wünschen fehlt's mir wenigstens nicht für die kleine Welt; aber seht, da rückt Vater Reber an; dem wirst du statt Dütenkrams heut Abend eines deiner patriotischen Lieder singen, Heinrich Apollo!«

Der Genannte, der jetzt unter die Hausthüre trat, war ein Mann mit wohlwollendem und zugleich klugem Gesichte, der seinen alten Bekannten mit großer Herzlichkeit, und die Begleiter desselben mit einem Anstande begrüßte, welcher weit entfernt war von jener handwerksmäßigen Höflichkeit, mit der sonst vornehmere Gäste von den Wirthen empfangen werden. Er führte sie dann an der großen Gaststube, in der sich ein buntes Gedränge durcheinandertrieb, vorüber, nach einem freundlichen Seitengemache, und bald saßen die Drei behaglich vor einem dampfenden Imbisse, dem sie nach der anstrengenden Fahrt alle Ehre erwiesen. Aber nach kaum beendigtem Mahle trieb es den rastlosen Pestalozzi schon wieder fort, da er sich bereits schon mit jenem großartigen Gedanken beschäftigte, dessen bald darauf erfolgte Verwirklichung allein hinreichen würde, ihm in der Geschichte der edlern Menschheit einen unsterblichen Namen zu bewahren – mit dem Gedanken nämlich, den Waisen der im Kampfe gefallenen Nidwaldner Vater und Erzieher zugleich zu werden. Seine beiden Freunde, die einander erst seit einigen Tagen kennen gelernt und sich schnell liebgewonnen hatten, gingen an die Reuß hinunter, die hart vor dem Gasthause niederströmt und folgten dem Laufe derselben aufwärts nach der Brücke, welche, am Ende des Sees, den Strom in weitem Bogen überspringend, ehemals zu den stolzesten Bauzierden der Stadt gehörte, und noch heute eine der ergreifendsten Aussichten im ganzen herrlichen Schweizerlande gewährt. Hier setzten sie sich auf eine der Ruhebänke, die an der innern Seite des Brückengeländers hinliefen und schauten lange schweigend hinaus auf den silberblinkenden See und die aus seinem Spiegel emporsteigenden Gebirge, deren höchste Spitzen und Halden sich bereits mit einem röthlichen Dämmerdufte zu umspinnen begannen.

»Ich vermag diesen Anblick nicht länger zu ertragen,« sagte der Hauptmann nach einer Weile, die Hand über die Augen legend; »je mächtiger mir die Schönheit dieses Landes entgegentritt, um so schmerzlicher muß ich das Loos seiner Bewohner beklagen. Sieh' einmal die Unterwaldner Berge, wie sie mit dem Schmucke junger Rosen angethan vor uns aufsteigen; und doch welch ein Jammer zu ihren Füßen, wie viel Schmerzen und Todesangst, die sich vergeblich in ihren Klüften zu verbergen suchen!«

»Du hast recht,« erwiderte Zschokke, »und doch wollt' ich dir wünschen, daß du diese klagende, gedrückte Stimmung, die dich zu keinem Handeln kommen läßt, bald überwinden möchtest. Füge dich in das Unvermeidliche, das mit jahrhundertalten Wurzeln in die Gegenwart hineingreift: aber hilf rüstig arbeiten an einer bessern Zukunft. Deine Idee wird in ihrer Verwirklichung dem Lande und seiner Freiheit die herrlichsten Früchte bringen, ich bin es tief überzeugt. Sammlung und Gründung einer starken, einheimischen Wehrkraft, um im eigenen Hause selbst die Ordnung aufrecht erhalten, um nach West und Ost eine achtunggebietende Stellung einnehmen zu können – ja, das ist es, was noth thut; aber darum auch frisch Hand an's Werk gelegt, da du mehr als tausend Andere in der glücklichen Lage bist, es fördern zu können.«

»Ich muß dich um deine stets frische Zuversicht beneiden, Freund,« sagte der Hauptmann, sich erhebend; »aber glaube mir, wärest du das eingeborene Kind dieses Landes, es würde dir nicht so leicht, Tag um Tag die liebsten Hoffnungen in's Grab sinken zu sehen. Nun mag es freilich für uns alle ein Gewinn sein, daß du unbefangener, unbeirrt von den tausend unsichtbaren Fäden, die uns Andere von Kindesbeinen an umsponnen und da oder dort festhalten, in das entbrannte Getriebe der Leidenschaften hineinzuschauen und mit herzlichem Wort und frischer That auch einzugreifen im Stande bist. Doch komm', wir wollen uns an diesen Bildern Kraft und Ruhm vergangener Tage auf's Neue in Erinnerung bringen; sei's zum Troste, sei's zur Lehre.«

So gingen die Beiden langsam auf der Brücke dahin, um die mannigfaltigen Schildereien zu betrachten, die am Balkenrande der Dachbrüstung angebracht, hervorragende Scenen der Schweizer- und Luzernergeschichte darstellten. »Es war das eine schöne und sinnige Art der Alten, öffentliche Plätze und Gebäude auszuschmücken,« sagte der Hauptmann, »eine fortwährend lebendige und für Jeden verständliche Ermahnung zum Tüchtigen und Großen, zur Liebe und Opferbereitwilligkeit für das Vaterland, wie sie das gedruckte Wort so allgemein bei Weitem nicht eindringlich zu machen vermag. Aber sieh' da, ein Bild von äußerst kräftiger Zeichnung und Farbe, das ich mich nicht erinnere, früher einmal hier gesehen zu haben.«

»Es ist offenbar auch nur eingefügt,« erwiderte Zschokke, das Gemälde näher betrachtend, »obschon es selbst älter als alle andern zu sein scheint; in der That ein schönes Bild, nur kann ich nicht denken, welche geschichtliche Scene es darstellen will.«

»Ich ebenfalls nicht,« sagte der Hauptmann, den Blick mit dem Wohlgefallen eines Künstlers auf der Schilderei ruhen lassend; »doch sieh' nur, wie sicher die kräftige und doch feingehaltene Gestalt des Schiffers auf dem Vordertheile des kleinen Kahnes steht, dessen Hintertheil erst aus dem Grabe schäumender Wogen emporsteigt – ein wahrer Götterjüngling, an welchem keine Anstrengung, keine menschliche Furcht sichtbar würde, flöge nicht sein gelbes Haar wie ein Knäuel verworrener Blitze im Sturmwinde. Im Hintergrunde treibt ein ruderloses Boot auf den Wassern, zu dessen Rettung er zu spät gekommen zu sein scheint; ein wirksames Motiv des Malers, um die an seinem Helden siegreich dargestellte körperliche Kraft mehr hervorzuheben und sie zugleich im Bunde mit einem schönen, menschlichen Wollen zu zeigen.«

»Ich weiß nicht,« erwiderte Zschokke, über den warmen Eifer lächelnd, in den sich sein Freund an dem Bilde so rasch hineingeredet, »mir scheint es fast, dein Held werfe eher einen kalten, verächtlichen Blick nach dem verunglückten Schiffchen hinüber, als daß er das Schicksal desselben bedaure – etwa ein Tell, der auf die Platte springt. Aber sieh', da in der Ecke läßt sich am Ende der Schlüssel des Geheimnisses entdecken, eine Inschrift – halt: Zum Andenken – nein, da sind einige Worte gänzlich erblichen – Konrad Meyer – 1522.«

»Das hilft uns freilich nicht viel weiter,« sagte der Hauptmann, indem er sich von dem Bilde abwendete, als ob er sich nach einem eingeborenen Erklärer umsehen wollte; aber auf der ganzen Brücke war keine Seele zu erblicken, als ein altes Weib, das sich den Beiden offenbar in der Absicht näherte, sie um eine Gabe anzusprechen. Der junge Bündner Abgeordnete zog auch sogleich die Börse und sagte, der Alten eine kleine Münze reichend: »Du bekommst das Doppelte, gutes Mütterchen, wenn du uns erklären willst, was dieses schöne Bild da darstellt – das mußt du wohl wissen, denk' ich.« Die Bettlerin schlug bei diesem Versprechen behende die Augen auf; aber kaum hatte sie den Schiffer mit dem röthlich flatternden Haare auf dem dunkeln Nachtgrunde erblickt, als sie eben so behende mit der Rechten sich bekreuzigend über Gesicht und Brust herabfuhr und mit hörbarem Schrecken murmelte: »Alle Heiligen seien gelobt, der rothe Schiffer ist's.« Dabei ließ sie das erhaltene Geschenk auf den Boden fallen und trollte sich, ohne weitere Rede zu stehen, mit einer Schnelligkeit davon, als ob ihre Füße im Augenblick um ein halbes Menschenalter jünger geworden wären.

»Da haben wir's,« rief Zschokke der Alten lachend und zugleich verwundert nachschauend, »am Ende verwandelt sich dein Götterjüngling gar in ein Teufelskind, über das uns kein aufrichtiger Christenmensch Auskunft geben mag. Rother Schiffer – das klingt wohl bedenklich genug in einem Zeitalter, wo das reinste Gold der Locken als eine böse Mitgift des Schicksals angesehen wird; aber freilich, jetzt müssen wir erst recht wissen, woran wir sind mit unserm Helden.« Und die beiden Männer blickten zugleich nach den entgegengesetzten Enden der Brücke, um offenbar entschlossen abzuwarten, bis ihrer Neugierde Jemand zu Hülfe kommen werde; doch nach wenigen Augenblicken schon wurde ihre Aufmerksamkeit von einem andern Gegenstande in Anspruch genommen.

 

III.

Nach der Schifflände hin nämlich, welche unweit der Brücke gelegen war und an der so eben ein kleines Segelboot mit grün-roth-goldenem Wimpel angelegt hatte, machte sich ein auffallendes Laufen und Gedränge bemerkbar, das wohl einem besondern Umstande gelten mußte; bald auch ließ sich erkennen, daß zwei französische Grenadiere ausstiegen und sich wie zwei regelrechte Schildwachen vor dem Schiffchen aufstellten, während ein Dritter die andrängenden Zuschauer auseinanderschob und eiligen Schrittes den Weg nach der Stadt hinab einschlug.

»Ein sehenswerthes Schauspiel, dem die Leute zurennen – fürwahr,« sagte der Hauptmann bitter, »fränkische Soldaten, die ganz auf eigene Faust unter helvetischer Flagge fahren. Kein übles Bild unserer Lage und Zustände mein' ich!« – »Es muß noch etwas Anderes dabei sein,« erwiderte Zschokke aufmerksam hinschauend, »wir wollen doch einmal nachsehen; unser Schiffer hier wird unterdessen schwerlich in See stechen.« Der Hauptmann nickte beistimmend; aber als sie zur Stelle kamen, hatten sie bereits Mühe, zu dem Schiffchen hindurch zu gelangen. Die Menge, größtentheils aus Landleuten und Schiffern bestehend, zeigte keineswegs bereitwillige Höflichkeit, ihnen freien Paß zu lassen, und sie bemerkten wohl auch, daß sich mehr als ein drohender Blick nach der kleinen helvetischen Cocarde richtete, die sie an ihren Hüten trugen. Im Hintertheile des Bootes aber lag, als sie endlich an's Ziel gelangten, ein großer, kräftiger Mann, in die einfache Linnentracht des Aelplers gekleidet, die Hände kreuzweis mit einem groben Stricke übereinander gebunden und um die Stirn ein Tuch geschlungen, an dem trotz seiner rothen Farbe deutliche Blutspuren erkennbar waren. Die Augen hatte er geschlossen, man wußte nicht, ob aus körperlicher Ermattung, oder aus Scheu, seine Umgebung anzusehen. »Was ist's mit dem Manne,« fragte der Hauptmann einen der Grenadiere, »wo bringt ihr ihn her?« Aber der Soldat antwortete nur mit einem kurzen Kopfschütteln und erwiderte dann, als die Frage französisch wiederholt wurde, sein Gewehr fester anziehend: »Ich habe keine Ordre, Auskunft zu ertheilen.« Der Hauptmann preßte die Lippen zusammen und wendete sich zur Seite nach dem Fährmann, der neben seinem Boote stehend langsam das Segel aufrollte; doch kaum hatte der zweite Grenadier diese Bewegung bemerkt, als er die Muskete erhob und mit dem Kolben derselben den Schiffer zurückzudrängen versuchte. »Halt, Kamerad,« rief nun Zschokke, das Gewehr mit raschem Griffe anfassend, »der Fährmann wird schwerlich euer Gefangener sein und deshalb soll ihm auch freistehen, auf eine ungefährliche Frage Antwort zu geben.« Der Soldat, der seine Waffe wie von einem eisernen Schraubstocke festgehalten fühlte, blickte halb verblüfft, halb zornig nach seinem Gefährten, welcher auch wirklich ohne langes Besinnen seine Muskete senkte, um mit dem Bajonette auf den verwegenen Bürger einzudringen; aber noch bevor er einen Schritt vorwärts gethan, war sein Gewehr schon in den Händen des Hauptmanns, während er selbst von einem kräftigen Stoße aus dem Gleichgewichte gebracht gegen das Schiffchen zurücktaumelte. Dieser ganze Auftritt war so unerwartet und rasch gekommen, daß die Zuschauer erst jetzt zur Besinnung kamen, um was es sich handle, und nun mit unzweideutigen Geberden gegen die Grenadiere vorzudringen begannen; der Hauptmann jedoch rief dieses bemerkend den Leuten zu, sich ruhig zu verhalten, und wollte sich eben wieder an den Schiffer wenden, als sich eine Hand auf seine Schulter legte und eine Stimme an sein Ohr flüsterte: »Ihr thut wohl daran, Ordnung zu schaffen!« Halb um sich schauend konnte er einen leisen Ausruf der Ueberraschung nicht unterdrücken, da er das kalte, lauernde Gesicht des Franzosen Olivier erkannte, der mit einem unverkennbaren Ausdrucke höhnischer Schadenfreude nach der Muskete blickte, die der Hauptmann noch immer in seiner Rechten hielt. »Ein unerwartetes Wiedersehen, Bürger Kapitän,« sagte der Franzose mit einem höflichen Neigen des Kopfes, indem er an der breiten, dreifarbigen Schärpe rückte, welche er über die Brust trug; »nur thut es mir leid, Euch in einer, wie es scheint, unangenehmen Unterhaltung anzutreffen.«

»Unangenehm wohl für einen Schweizer, Bürger Kommissär,« erwiderte der Hauptmann mit einem scharfen Blick auf die Beamtenauszeichnung seines Gegenübers; »wollten mir doch Eure Grenadiere verwehren, ein Wort an diesen Schiffer zu richten, welcher, wie ich denke, so gut ein freier Mann ist, als Ihr und ich.«

»Wenn es sich, wie ich vermuthe, nur um eine Auskunft über jenen Gefangenen handelt,« sagte der Franzose in seiner kalten Höflichkeit, »so kann ich Euch dieselbe besser mittheilen als unsere Soldaten da. Der Bursche ist, was Ihr ohne Zweifel erwartet, ein Nidwaldner Rebell, der auf meinen Befehl aufgegriffen und zu seiner Bestrafung nach Frankreich abgeführt werden soll.«

»Auf Euern Befehl nach Frankreich!« rief der Hauptmann, indem ein dunkles Roth über seine Stirne flog, »haben wir denn kein Recht und Gericht im Lande, um zu strafen, wo es nöthig erscheint?«

»Diese Frage solltet Ihr an unsere braven Soldaten richten,« erwiderte der Franzose stolz, »die im Kampfe gegen die barbarischen Fanatiker Eurer Berge ihr Blut vergossen haben. Uebrigens möchte hier weder die Zeit noch der Ort sein, solche Dinge zu verhandeln, Bürger Kapitän.« Mit diesen Worten wendete er sich ab und winkte einem kleinen Fuhrwerke, das, eben angefahren, von zwei helvetischen Gensdarmen in ihrer grünen Uniform begleitet war. Diese betraten das Schiffchen, schoben den Gefangenen, der sich kaum auf den Füßen zu halten vermochte, hinaus und hoben ihn auf das Wägelchen empor, das, nachdem sie mit blanken Karabinern neben dem Unglücklichen Platz genommen, unter dem dumpfen Schweigen der Menge davonrollte. Der Kommissär grüßte den Hauptmann und seinen Begleiter mit einer kurzen Handbewegung und machte sich dann im Geleite der Grenadiere, welche den Fährmann mit sich führten, ebenfalls auf den Weg zur Stadt hinein.

Die beiden Freunde blieben am Gestade zurück, bis sich die Menge grollend und unter leisen Verwünschungen verlaufen hatte. »Diese Leute würden bereitwillig zur Befreiung des Gefangenen mitgewirkt haben,« sagte Zschokke, den Abgehenden nachblickend, »und ich weiß nicht, ob wir's nicht hätten probiren sollen.«

»Was würd' es ihm und uns genützt haben,« erwiderte der Hauptmann düster, »an seine Rettung wäre doch nicht zu denken gewesen und ist ja das Schicksal des Einzelnen auch nur ein Tropfen in der großen Unglücksfluth, die das ganze Land überschwemmt. Aber komm', laß uns ein wenig auf den See hinausfahren; mir ist's so schwül und dumpf, als läge die Last eines Gebirges auf meiner Seele.« – »Du hast recht,« rief Zschokke in eines der am Ufer liegenden Boote steigend und ein Ruder ergreifend, das mit wenigen Schlägen das Schifflein auf die ruhige Fläche gleiten ließ. – »Das Wasser ist das Element, das Freie schützt.«

Schweigend ging lange die Fahrt und man hörte nichts, als den gleichmäßigen Takt der Ruder, die mit kräftigen Stößen in's Wasser sanken, und das Plätschern der leichterregten Wellen, die sich an dem Schifflein brachen. Jeder der beiden Dahingleitenden hing seinen eigenen Gedanken nach oder überlegte bei sich, wie der am Ufer erfolgte fast demüthigende Auftritt zu besprechen sei. Zschokke schaute nachdenklich auf die gekräuselte Fläche, die von der bereits tief sinkenden Sonne mit hellen Lichtern übergossen wurde, während der Hauptmann finster, über sein Ruder gebeugt, vor sich niederblickte, bis das Ufer immer weiter zurücktrat und die am Landungsplatze hantierenden Schiffer kaum noch wie kleine Knaben erschienen. »Höre,« sagte endlich Zschokke, »ich kann mir das Auftreten dieses Franzosen noch immer nicht zurechtlegen; offenbar müßt ihr Beide euch kennen und sogar genau kennen.«

»Ob ich ihn kenne?« erwiderte der Hauptmann, »hab' ich dir denn nicht schon mehrmals erzählt von ihm, von diesem Menschen, den ich aus dem innersten Grunde meiner Seele verabscheuen und dem ich doch meine Freiheit, wenn nicht gar das Leben verdanken muß?«

»Wie,« rief Zschokke, seine Blicke unwillkürlich nach dem Landungsplatze zurückwendend, »das war der ehemalige Helfershelfer Mengauds, dein Gefangener am Grauholze und dein Richter am folgenden Tage?«

»Eben derselbe, ein Meuchelmörder vielleicht, gewiß aber ein im Finstern schleichender Dämon, der zum Unheil unsers Landes Menschengestalt angenommen hat. Hast du ihn noch nie gesehen bis heute?«

»Ich entsinne mich nicht,« sagte nachdenklich der bündnerische Abgeordnete.

»Und hast dich doch im öffentlichen Auftrage deiner Landsleute bereits zwei Monate in Aarau aufgehalten?«

»Seit Ende Juli – ja.«

»Dann glaube mir, daß er deine Absichten, deine Verhältnisse und Beziehungen, ja selbst deine geheimen Neigungen so genau kennt, als ein Geizhals das Innere seiner Schatzkammer.«

»Wenn mir deine Befürchtungen auch übertrieben erscheinen – denn was hätte der Mann sich groß um mich zu kümmern! – so machst du mich doch neugierig. Was mag er nun wohl hier beabsichtigen und zu schaffen haben?«

»Uebertrieben, meinst du?« erwiderte der Hauptmann kopfschüttelnd; »nein, nein, du kennst den Menschen noch nicht, und wenn ich selbst ihn in Bern nur kurze Zeit zu beobachten Gelegenheit hatte, so sah ich doch bald, daß er überall und nirgends war, in allen Kreisen, in allen Gestalten auftrat; am Morgen im Hauptquartier oder in den geheimen Berathungen der Staatsmänner, und Abends in irgend einer abgelegenen Weinspelunke, wo sich wildes und lichtscheues Volk zusammenfand. Und glaube mir, überall spielte er seine Rolle mit solch sichrer Gewandtheit, als ob er von Kindesbeinen an auf dem Boden gestanden, auf dem er sich eben im Augenblick zu bewegen hatte. Was er hier will? Ohne Zweifel hat ihn der Nidwaldner Aufstand hergerufen; aber sicher verfolgt er für sich noch einen besondern Zweck, drum erscheint er in der Gestalt eines Kommissärs, die ihm in bürgerlichen wie militärischen Angelegenheiten gleich freie Hand läßt.«

»Mir ist's nun auch wirklich, ich müßte das Gesicht schon irgendwo gesehen haben,« bemerkte Zschokke nachdenklich; »aber immerhin muß es bei einem ganz bedeutungslosen Anlasse oder dann unter total verändertem Aeußern geschehen sein. Ich habe sonst ein ziemlich genaues Erinnerungsvermögen; diesmal läßt es mich im Stich mit einem traumhaften Nachdämmern.«

»Nun siehst du,« sagte der Hauptmann nach einer Pause, während welcher selbst die Ruder ruhten, »das eben ist es, was mit so unnennbarer Last mich niederdrückt und mir den frischen Muth des Handelns, des zuversichtlichen Ergreifens in das wirre Getriebe unserer Zustände benimmt. Ich hab' es schon genug bemerkt, du hältst mich oft für kleinmüthig und zaghaft, und doch hab' ich in meinem frühern Leben den schwierigsten Verhältnissen und dem stärksten Gegner gegenüber keine Furcht gekannt; nur mußt' ich diese feindlichen Verhältnisse überschauen und den Gegner sehen können. Aber jetzt – ist es nicht, als tappten wir in tiefster Finsterniß, aus welcher uns bei jedem Schritte, ob vorwärts oder rückwärts, verborgene Fußangeln entgegenlauern? Wahrlich, es sind nicht die fränkischen Kommissäre, welche öffentlich im Namen der Brüderlichkeit unsere Schätze plündern, und nicht diese zahllosen Heerhaufen, die unter dem Titel freier Bundesgenossenschaft das Mark unsers Landes aufzehren – nein, nicht diese sind es, die ich fürchte; aber was mich ängstigt, das ist das unsichtbare Heer der ungezählten Spione, die uns tausendgestaltig auf Weg und Steg entgegentreten, die, ohne daß wir's ahnen, uns schon den ersten Gedankenkeim einer That ablauern und jede unserer Handlungen, auch die unschuldigste und absichtsloseste, in ihr großes Intriguennetz einflechten, um uns nach Belieben einmal die Schlinge um den Hals werfen zu können. Glaube mir, mit diesen geheimen Fäden hält uns der Franke fester an seine Willkür gebunden, als durch die Bajonette seiner Bärenmützen und die Winkelzüge seiner Staatsmänner in den Rathssälen. Du lächelst ungläubig, aber Geduld, die Erfahrung wird dir nur zu bald den Glauben bringen.«

»Nein, nein,« machte Zschokke mit abwehrender Geberde, »ich begreife dein Mißtrauen nach dem, was du erlebt, und mir selbst ist auch in der kurzen Zeit, daß ich die stillen Mauern von Reichenau verlassen, schon manches Räthselhafte vorgekommen, dem ich nicht auf den Grund zu sehen vermochte; aber ich meine, man könne auch das berechtigtste Mißtrauen übertreiben. Sollen wir uns doch die Dornen nicht spitziger vorstellen, als sie es in der Wirklichkeit sind, sonst getrauen wir uns erst nicht, sie anzufassen.«

»Ja, ja, ich versteh' dich,« erwiderte der Hauptmann nicht ohne einen Ton verhaltener Bitterkeit, indem er das Ruder mit einem fast zornigen Schlage niedertauchte; »aber was meinst du, wie wird der Herr Kommissär unsern ganz absichtslosen Wortwechsel mit den Soldaten gegebenen Falls ausbeuten? Oder weißt du auch nur, ob er blos zufällig gerade in dem Augenblicke an dem Landungsplatze erscheinen mußte? Ich wollte schwören darauf, er hat uns schon beim Einzuge in die Stadt bemerkt und ist uns, oder wenigstens mir, aus irgend einem Grunde nachgeschlichen. Schweig, schweig – ich seh' es deinen Augen an, was du mir erwidern willst; aber wer bürgt dir dafür, daß wir selbst hier, mitten auf den stummen Wassern, nicht belauscht und beobachtet werden?«

»Das wäre!« – lächelte Zschokke; »wenn die Franken sogar die Fische in Sold genommen haben, dann freilich ist es schlimm bestellt.«

»Du magst immerhin spotten, ich muß die Sache um so ernster nehmen.«

Der dumpf verhaltene Ton, mit dem diese Worte gesprochen waren, verscheuchte den heitern Zug, der um die Lippen des Bündner Abgeordneten spielen wollte, und die rechte Hand gegen seinen Freund ausstreckend, sagte er begütigend: »Unverzagt – wenn's selbst so schlimm wäre, wie du glaubst, Rudolf.«

»Wo nicht noch schlimmer; doch gleichwohl unverzagt, Heinrich.«

Die Ruder fielen wieder rascher in's Wasser und das Schifflein glitt in den Schatten eines Felsens, der mit schroffem Vorsprunge in den See hinausragte. Die Gegend war mit einemmale einsam, fast wild geworden, obwohl man in nicht allzugroßer Ferne noch deutlich Thürme und Häuser der Stadt unterscheiden konnte.

»Da haben wir die Nacht plötzlich vor der Dämmerung,« sagte Zschokke, die Hand über seine Augen legend; »siehst du, oben um die Spitzen des Felsens spielt ein noch fast blendender Abendschein, und hier an seinem Fuße ist's auf dem Wasser so dunkel, daß ich kaum mehr einen Gegenstand zu erkennen vermag.«

»Einen doch wohl noch,« antwortete der Hauptmann langsam, indem er scharf nach einer von hängendem Gesträuche halbverdeckten Einbuchtung des gigantischen Gesteines hinschaute; »oder sollte das nicht ein Kahn sein, der dort gegen die scharfe Ecke steuert?«

»Wahrhaftig, du hast recht,« sagte Zschokke nun selbst mit unwillkürlich leiserer Stimme; »aber einen Fährmann seh' ich nicht darin.«

»Und doch bewegt sich das Schifflein sicher und gleichmäßig,« erwiderte der Hauptmann, »und zwar gegen die vom Gestade zurückgehende Strömung; das werden die stummen Fische, von denen du vorhin gesprochen, schwerlich zu Stande bringen.«

»Daran zweifle ich auch; doch mögen wir es statt mit einem menschenfangenden, wohl eher nur mit einem sehr unschuldige Netze werfenden Petrus zu thun haben.«

»Das wollen wir bald des Genauern erfahren, Freund,« rief der Hauptmann leise; »halte mehr links, gerade dort auf die graue Spitze, damit wir dem Burschen den Vorsprung um die Biegung abgewinnen; so recht, und nun fest zugegriffen!«

Dieser Weisung wurde getreulich Folge geleistet, und das Schifflein schoß, von vier rüstigen Armen getrieben, laut rauschend in die Schattennacht hinein; aber auch das andere begann sich, wie dem nämlichen Kommando gehorsam, rascher vorwärts zu bewegen, obwohl nicht das leiseste Geräusch eines Ruderschlages vernehmbar wurde.

»Da steckt der Teufel drin,« murmelte der Hauptmann, »oder wenigstens haben wir es mit einer Art fliegendem Holländer zu thun. Sieh', sieh' – bei Gott, jetzt hat er mit einem einzigen, pfeilschnellen Rucke die Biegung erreicht.« Zschokke hatte trotz aller rüstigen Anstrengung dem seltsamen Schauspiele wie sein Gefährte mit steigender Verwunderung zugeschaut; aber jetzt machte diese einer plötzlichen Ueberraschung Platz, die sich in einem lauten, halberschreckten Ausrufe verkündete. Bisher hatte er immer noch gedacht, daß sie Beide den vielleicht dunkel gekleideten Fährmann in der schattenhaften Dämmerung blos nicht zu unterscheiden vermöchten und sich das Räthsel bei größerer Annäherung auf eine ganz natürliche, und dann wohl auch ergötzliche Weise lösen werde; aber wie nun das Schifflein kaum Steinwurfslänge von ihnen entfernt über einen lichtern Wasserstreifen weg um die Felsenecke glitt und auch in dem deutlichern Lichte die Hand, welche es regierte, nicht sichtbar wurde, da konnte er sich eines kühlen Fröstelns nicht mehr erwehren. Und doch – jetzt im Augenblicke des Verschwindens regte sich's in der geheimnißvollen Barke und hinter ihrem Rande tauchte der obere Theil eines Kopfes empor, der mit einem röthlichen Tuche oder dichten, lichthellen Haaren bedeckt erschien; aber die ganze Erscheinung glich nur dem zweifelhaften Wiederschein eines Blitzes, der hinter einer dunklen Wolke aufglimmt, um sogleich wieder in Nacht zu versinken. Das Schifflein war scharf um die Ecke beugend verschwunden.

»Nun siehst du wohl,« sagte der Hauptmann, dem keine dieser Bewegungen entgangen war, »der Bursche kennt sein Fahrwasser auswendig und regiert seinen Kahn, auf dem Boden desselben ausgestreckt, sicherer, als wir's mit aller Anstrengung unserer Arme und Augen vermögen; aber gerade deshalb scheint es ein Einheimischer zu sein.«

»Das glaub' ich auch,« erwiderte Zschokke, das unangenehme Gefühl plötzlichen Erschreckens abschüttelnd, »und am Ende behalt' ich doch recht – es ist ein harmloser Fischer, den wir in seinem Geschäfte gestört haben.«

»Kann sein,« machte der Hauptmann; »gleichwohl werden wir gut thun, eine etwas größere Beugung dort um die Ecke zu nehmen, um genauer zu übersehen, was auf der andern Seite des Felsens vorgehen mag.«

So wurden die Ruder wieder fester gefaßt, und nach wenigen kräftigen Stößen bog das Schifflein in weiterm Kreise um die Ecke herum. Der Felsen stieg auf dieser Seite weniger steil auf und war in einem breiten Gürtel bis zum Fuße herab mit gleichmäßigem, dichtem Laubgebüsche bekleidet. Die Dunkelheit machte hier noch auf eine weite Strecke einer milden Abendhelle Raum, wenn auch der lichtere Schein an den kahlen höhern Spitzen zu erbleichen begann. In diesem raschen Licht- und Schattenspiele liegt einer der Hauptreize des felsenumthürmten Vierwaldstättersees, und unsere Schiffer besaßen beide genug Schönheitssinn, um diesen schnellen Uebergang trotz ihrer auf Anderes gespannten Aufmerksamkeit mit einem gleichzeitigen, lauten Ah zu begrüßen; doch war es freilich nicht die günstigste Gelegenheit, sich länger, als der erste Eindruck erforderte, mit dem lieblichen Naturspiele zu beschäftigen, und Beider Blicke schweiften sofort wieder dem Fuße der Felsenwand entlang nach dem Gegenstande ihrer gemeinsamen Neugierde; aber nachdem sie hin und wieder geschaut, von der naheliegenden Ecke bis weit hinauf, wo sich das Ufer in neuer Beugung abermals in schattige Nacht verlor, blickten sie sich selbst gegenseitig betroffen an, die Ruder ruhen lassend. Das Schiffchen war nirgends zu erspähen, obwohl es in der kurzen Frist die jenseitige Schattenfläche unmöglich erreicht haben konnte; es war, als ob es plötzlich in der Tiefe versunken wäre. »Wir fahren noch eine Strecke da am Felsen hin,« sagte der Hauptmann in halb ärgerlichem, halb scherzhaftem Tone, »hier ist's immer noch zu hell, um sich vor Gespenstern zu fürchten. Sind deine Pistolen in Ordnung?« – Zschokke nickte schweigend und die Ruder tauchten abermals, doch etwas langsamer als bisher, in's Wasser. Sie fuhren scharf ausspähend die langgestreckte Felsenmauer hinan und wieder zurück, ohne ein Wort zu sprechen; aber sie kamen auch wieder zur Stelle, von der sie ausgegangen, ohne nur das mindeste Zeichen, daß hier herum ein Leben athme, entdeckt zu haben; nicht einmal das Aufplätschern eines Fisches oder der Abendruf eines einsamen Wasservogels waren vernehmbar geworden.

»Das nenn' ich doch ein Abenteuer,« nahm endlich Zschokke das Wort, als das Schifflein wieder anhielt; »ein Begegniß, das unerklärt bleibt, hat stets den größten Reiz für mich.«

»Eine Erklärung wäre wohl noch übrig,« entgegnete der Hauptmann, »und sie ist nicht einmal ganz unwahrscheinlich. Der Bursche, der uns durch seine bequeme Ruderkunst geneckt, hatte nahe Helfer, die seine Naue, sobald sie unsern Blicken um die Felsenecke entschwunden war, aus dem Wasser in's Gebüsch hinaufzogen. Ein Einzelner freilich hätte das in so kurzer Zeit nicht zu Stande gebracht.«

»Ach was,« erwiderte der junge Dichter lächelnd, »wir wollen uns weiter keine Mühe mehr geben über das wie und wo; du hast mich vorhin mit deinen Andeutungen über das geheimnißvolle Treiben der fränkischen Intriguenkunst selbst zu einer Stimmung angeregt, in welcher mir das Unerklärliche willkommener ist, als die greifbare Wirklichkeit. Drum möcht' ich aber jetzt auch lieber noch eine Weile in dieser traumhaften Wassereinsamkeit bleiben, als sogleich die Heimfahrt antreten.«

»Da seht mir einmal den plötzlich bekehrten Saulus,« erwiderte der Hauptmann, »dem ich seine weitere Straße nach Damaskus jetzt wohl um so weniger versperren darf, da er sich trotz aller heimlichen Gefahren als Ritter ohne Furcht erzeigt. Ueberdies wird uns bald der Mond den Rückweg weisen.«

Mit dieser Zustimmung glitt das Schifflein vom Felsengestade weiter in den See hinaus, über den sich nun allerwärts die Dämmerung niedergesenkt. Weiter aufwärts war mitten auf demselben noch ein schwarzer Punkt bemerkbar – eine Barke, die ihren Heimweg suchte, sonst allerwärts lautlose Stille, durch welche die leichten Ruderschläge fast wie ein schrilles Rauschen ertönten; aber auch diese wurden allmälig leiser und hörten bald gänzlich auf, als von benachbarter Höhe die zitternden Klänge eines Abendglöckleins herabzuschwimmen begannen. Die Laute, welche die Seele so tief zu ergreifen vermögen, von einem unsichtbaren Munde zu den eben erwachenden, ewigen Sternen und zu den sich zur Ruhe rüstenden, vergänglichen Menschen wie in versöhnender Zwiesprache gesprochen, waren schon längst verhallt und noch immer saßen die beiden Schiffer mit vorgebeugtem Haupte im Kahne, wie im stillen Gebete verloren. Es mochte auch ein Gebet sein, das durch ihre Seele gegangen; wenigstens sagte endlich der Hauptmann wieder nach seinem Ruder greifend: »Was müßte aus dem Menschen werden, diesem stets begehrlichen, ewig hadernden Geschöpfe, wenn ihm nicht der heilige Friede der Natur zur Seite ginge und ihn dann und wann an die höhere Heimath seines bessern Selbst erinnerte.« – »Dieses bessere Theil seines Wesens ginge ihm eben verloren, und wie er dann mit seinem schlimmern Erbe, seinen Begierden und Leidenschaften wirtschaften möchte,« erwiderte Zschokke, »davon mag uns manche Erfahrung eine Ahnung geben. Seltsam kommt es mir nur vor, daß selbst gute und denkende Menschen blos die schlimmen Regungen, die von Außen in ihr Gemüth fallen, dem Einflusse der Natur zuschreiben wollen, während diese doch stets und überall der unendliche Schleier ist, durch dessen Gewebe uns allein die Lichtblicke des Ewigen zufallen können.«

»Ich weiß nicht, ob ich dich ganz verstehe,« entgegnete der Hauptmann sinnend, »doch irre ich mich nicht, so ist das eben Ausgesprochene der Anfang des kürzesten Weges, der dich zu den Spekulationen über dein sogenanntes zweites Gesicht führt. Oder nicht so?«

»Ganz richtig, und das wohl um so eher, als ich gerade heute das zweite Gesicht gehabt habe. Du schüttelst ungläubig den Kopf und lächelst? … Nun wohl; hast du die zwei Damen gesehen, die von einem Balkone aus neben dem Baselthore unserm Einzuge zuschauten?«

»Ach, da will es hinaus?« lächelte der Hauptmann; »dann ja – zwei Gesichter hab' auch ich bemerkt auf jenem Balkone, und zwar noch recht hübsche dazu.«

»Du mißverstehst mich,« erwiderte Zschokke ernst, aber wie in lautem Selbstgespräche und ohne aufzublicken; »kanntest du die Damen, die dort standen, oder hast du sie vielleicht früher schon gesehen?«

»Ich kenne meines Wissens kein Frauenzimmer in Luzern; an eine Einzige habe ich Aufträge von meiner Adelaide, an eine Rathsherrentochter Meyer, doch hab' ich auch die noch nie gesehen.«

»Auch mir geht es so,« fuhr Zschokke fort, »ich habe Luzern heute zum erstenmale betreten in meinem Leben; und doch sag' ich dir, daß jenes blonde Mädchen auf dem Balkone noch irgend eine bedeutsame Rolle in meinem Leben spielen wird. Ihr eben hat mein zweites Gesicht gegolten.«

»Wahrhaftig, da wäre ich doch begierig.«

»Du beirrst mich nicht, Freund, mit deiner ungläubigen Neckerei, um so weniger, als ich den angedeuteten Zustand weder selbstwillig herbeiführen kann, noch auch nur einen halbwegs hinreichenden Erklärungsgrund für denselben wüßte. Magst du die ganze Sache selbst unbedenklich in's Gebiet leerer Träumerei verweisen – gleichviel; als ich heute die Augen zufällig nach jenem Balkone richtete, war mir's bei'm ersten Anblicke, als müßt' ich das Mädchen schon irgend einmal gesehen haben, aber vor langen, langen Jahren, die selbst außer meinem Lebensumfange zu liegen schienen. Sogleich jedoch, mit der Schnelligkeit des Gedankens, stand ihr Doppelbild vor mir. Ich sah sie in fremder Umgebung an einem mir gänzlich unbekannten Orte, um einige Jahre älter und das Gesicht von dem Glanze mütterlicher Liebe verklärt, während sie mir ein neugeborenes Kind auf den Armen entgegenreichte.«

Bei dieser unerwarteten Wendung hatte der Hauptmann Mühe einen Ausbruch lauter Heiterkeit zu unterdrücken – eine Mühe, die er sich wohl umsonst gegeben hätte, wäre sein Freund nicht mit Miene und Stellung sinnenden, in sich selbst versunkenen Ernstes vor ihm dagesessen. Dieser Anblick half ihm über den ersten seltsamen Eindruck weg, so daß er nach einer Weile bedächtlich erwidern konnte: »Das muß man deinem dichterischen Talente lassen, Heinrich; du verstehst die Gelegenheit trefflich zu wählen, deine Mittheilungen wirksam anzubringen. Jetzt, da die Abendglocke schweigt, führst du ihre träumerischen Klänge in Worten weiter, bis unser Schifflein endlich mit vollen Segeln am Gestade des Mährchenreiches landet. Zöge nur nicht dieses schwarze Wolkenheer, das uns um den Mondschein betrügen wird, vom Pilatus herüber, würd' ich dich gerne auf dieser Fahrt begleiten. So aber denk' ich – doch halt, was war das?«

»Ein Schuß,« rief Zschokke, ebenfalls aus seiner vorgebeugten Stellung auffahrend; ein zweiter – sieh' dort droben, nach dem Pulverblitze muß es auf dem Schiffe sein, das wir vorhin noch bemerken konnten.«

Diesen Worten folgte rasch aufeinander noch ein Knallen, das mit vielfach gebrochenem Nachhalle an den Uferfelsen dahinlief und die eben noch so stille Gegend mit lautem Tumulte erfüllte. »Es sind scharfe Schüsse,« sagte der Hauptmann mit gespannter Aufmerksamkeit hinhorchend; »aber wie Knall und Blitz zeigen, müssen sie von einem Punkte aus abgefeuert werden. Ein Gefecht zwischen zwei Parteien ist es nicht.«

»Eine Verfolgung ohne Zweifel,« bemerkte Zschokke, »wenn nicht ein blinder oder übermüthiger Lärm, der bereits sein Ende erreicht zu haben scheint, – nein, noch ein Blitz!«

»Und da auch sein Begleiter, – bei Gott, die Kugel hat keine zehn Schritte vor uns aufgeschlagen. Rückwärts gerudert, wenn wir nicht eine wenig beneidenswerthe Zielscheibe abgeben wollen.«

Eine abermalige Salve von vier bis fünf Schüssen, deren im Wasser aufprallendes Kugelgezisch sich deutlich hörbar machte, war ganz geeignet, dieser Mahnung Nachdruck zu geben, und die beiden Freunde legten mit kräftigen Ruderschlägen aus, um aus dem gefährlichen Bereiche wegzukommen; aber kaum hatten sie einige Schiffslängen zurückgelegt, als sich hinter ihnen ein dumpfes Rauschen erhob, das pfeilschnell heranschießend einer aufgejagten Sturmwelle glich.

»Eine Barke!« rief Zschokke leise, und im nämlichen Augenblicke ertönte auch schon die kräftige Stimme des Hauptmanns mit einem »Halt – werda,« – dem unmittelbar das Knacken eines sich spannenden Pistolenhahnes folgte. Statt der Antwort jedoch kam ein scharfes Krachen zurück, zwischen dessen Geräusch man deutlich die Laute eines unterdrückten Fluches vernahm, indem das fremde Schifflein mit einer matt auslaufenden Schwingung gegen die beiden Freunde herangleitete. Es war eine kleine Naue, in der ein einzelner Mann in aufrechter, etwas vorgebeugter Stellung stand. Bei dem Schein neuaufblitzender Schüsse war eine kräftige Gestalt in der Landestracht zu erkennen, die mit vorgestreckten Armen eine Ruderstange in den Händen hielt, wie ungewiß, ob sie dieselbe fallen lassen oder mit ihr zu einem Schlage ausholen sollte. »Noch einmal, wer seid Ihr?« rief der Hauptmann, seine Pistole in Gesichtshöhe haltend, während auch Zschokke bei dem ebenso drohenden als unerwarteten Anblicke sich schußfertig machte; »sprecht, bevor es zu spät werden könnte. Gelten die Kugeln Euch, die da heranfliegen?«

Der Fremde schien einen Augenblick unschlüssig; dann aber ließ er die Arme sinken und erwiderte hastig: »Ich wollt' ihnen wenigstens ausweichen und da ist mir über der zu starken Anstrengung die Ruderschaufel zerbrochen.«

»Sind es Franzosen, die dort schießen?«

»Ich glaub' es.«

»Und Ihr – der Sprache nach ein Landsmann?«

»Ein armer Schiffer, wie ihr seht, ihr Herren.«

»Dann rasch zu uns herein,« rief Zschokke, da eine neue Kugel über das Wasser heranzischte; »hier ist keine Zeit zu verlieren – die Jäger dort sind noch immer auf der Fährte.« Der Fremde schien, obwohl diese Einladung im Tone entschlossener Theilnahme erfolgt war und auch der Hauptmann seine Waffe senkend bereits wieder nach dem Ruder griff, immer noch zögern zu wollen und die Beiden durch die Dunkelheit mißtrauischen Blickes anzustarren; auf einen erneuerten Zuruf sprang er jedoch mit einem einzigen Satze und lautem »Gelobt sei Jesus Christ« in's Schiffchen hinüber, während er die eigene Naue durch einen Fußtritt seitwärts umstürzte. Sein Aufsprung selbst war so sicher und gemessen, daß das Schifflein trotz des harten Stoßes kaum in's Schwanken gerieth und keine Linie aus seiner Längenrichtung gebracht wurde.

»Habt Ihr das absichtlich gethan?« fragte der Hauptmann, auf die umgestürzte Naue deutend; »so wird Euch das Ding verloren gehen.«

»Im Gegentheil,« erwiderte der Schiffer kurz; »es wird sich weniger mit Wasser füllen – durch Regen oder einen andern Zufall!« –

Das ganze Begegniß war so gedankenschnell gekommen und vorübergegangen, daß die beiden Freunde die Ueberraschung, in die sie durch die plötzliche Vermehrung ihrer Gesellschaft versetzt worden waren, augenblicklich durch nichts Anderes zu bemeistern wußten, als daß sie instinktartig mit fester Hand die Ruder faßten und sie in Bewegung setzten. Auch der unerwartete Ankömmling schien nicht sogleich Worte finden zu können; er stand schweigend mitten im Schiffchen, abwechselnd auf den einen und andern seiner neuen Gefährten blickend und dann mit vorgebeugtem Gesichte nach den Verfolgern zurückspähend. »Die werden uns nicht mehr stark plagen,« sagte er nach einer kurzen Weile sich wieder aufrichtend, »Füchse springen und Fische schwimmen – das ist zweierlei; aber zu Dreien ist die Last schwerer – ich will Euch ablösen, Herr.« Mit diesen Worten hatte er sich rasch nach Zschokke umgewendet und dessen Ruder angefaßt, bevor sich's dieser versehen konnte. »Laßt nur, guter Herr,« fügte er hinzu, als er einiges Widerstreben fühlte, »Ihr seid's weniger gewohnt als ich.«

Damit war das Ruder in seiner Hand, und wie der erste Schlag bewies, in einer Meisterhand. Das Schifflein schien sich bei seinem Anstoße aus dem Wasser zu heben und dann mit einem mächtigen aber sichern Sprunge vorwärts zu schießen; in wenigen Sekunden war es gänzlich außer dem Bereiche der Kugeln, die bisher noch immer sich nahe genug bemerkbar gemacht. –

Menschen, bei denen in den alltäglichen Lebensverhältnissen ein ausgebildetes Zartgefühl vorwaltet, begegnet es leicht, daß sie in manchen außerordentlichen Lagen sich anfänglich fast blöde benehmen. So kam es auch, daß unter den drei Dahinfahrenden nun bald der Fremde der Unbefangenste schien. Die beiden Freunde hielten ihn für einen verfolgten, vielleicht der Gefangenschaft entflohenen Nidwaldner und mochten daher bei aller neugierigen Theilnahme sich nicht sofort mit Fragen hervordrängen, wohl in der Erwartung, daß ihr Schützling von selbst mittheilen werde, was er zu sagen für gut finde. Vielleicht mochte auch die äußere Erscheinung des Mannes ihres Eindruckes nicht verfehlen; denn in der Nähe ließ sich nun trotz der Dunkelheit erkennen, daß es bei aller schon bewiesenen Gelenkigkeit eine herkulische Gestalt war mit einem festentschlossenen Gesichte, das durch eine Fluth lichtheller Haare, die unordentlich um Stirn und Nacken lagen, einen eigenthümlichen, fast wilden Ausdruck erhielt.

So kam es, daß kein Wort laut wurde, bis endlich der Schiffer wieder sagte: »Wenn ich die gütigen Herren nun noch bemühen dürfte, einen Augenblick dort drüben am Ufer anzulegen, ich bin dort daheim.«

»Hier auf dieser Seite, so nahe der Stadt wohnt Ihr?« erwiderte der Hauptmann, – »ich hätte das nicht geglaubt.«

»So nahe der Stadt?« – entgegnete der Schiffer, der nur diese Worte der Frage zu beachten schien, »es ist immer noch eine gemessene Stunde bis dahin.«

»Eine Stunde?« fiel Zschokke ein; »so sind das wohl nicht zur Stadt gehörige Lichter, die manchmal dort den See abwärts auftauchen?«

»Nein, Herr,« entgegnete der Fremde, indem er dem Schiffchen mit einem einzigen Ruderschlage eine scharfe Wendung dem Gestade zu gab, »das sind Zeichen, die dort kreuzende Wachtschiffe wechseln. Ohne Zweifel gelten sie auch den Burschen, die da droben hinter uns her waren.«

»Wenn Ihr mit diesen Dingen so genau vertraut seid,« bemerkte der Hauptmann mit etwas scharfer Betonung, »so müßt Ihr ohne Zweifel auch wissen, was sie zu bedeuten haben. Denn zu den Alltäglichkeiten wird eine solche Seewache schwerlich gehören.«

»Ach, meine Herren,« erwiderte der Schiffer, »es sind unglückliche Zeiten, in denen wir leben; kann ich doch meinem täglichen Beruf nicht mehr nachgehen ohne Lebensgefährde; und mich hat es auch gewundert, wie sich die Herren diesen Abend einzig so weit auf den See hinausgewagt haben. Zu einer Lustfahrt war die Zeit übel gewählt.«

»Ihr habt uns vorher schon gesehen?« riefen die beiden Freunde wohl vom nämlichen Gedanken geleitet; »und wo denn?«

»Nur von weitem, – aber hier sind wir am Gestade, und wenn ich den Herren für ihre Güte nun einen Rath geben darf, so ist's der, von hier an zu Fuß nach der Stadt zurückzukehren. Ich werde euch auf den rechten Weg führen, und um das Schifflein dürft ihr keine Sorge tragen – es soll rechtzeitig zur Stelle sein, von der ihr ausgefahren.« – Mit den letzten Worten hatte der Fremde den Vordertheil des Kahnes an's Gestade laufen lassen und war selbst mit einem raschen Satze an's Land gesprungen.

Die beiden Freunde sahen sich einen Augenblick betroffen an, bis der Hauptmann mit fester Stimme rief: »Hört, Mann, für unsere Güte, wie Ihr's nennt, werdet Ihr uns nun auch sagen, warum wir nicht ungefährdet nach der Stadt zurückrudern, oder aus welchem Grunde uns dabei Gefahren drohen sollten!«

»Vertraut dem Worte eines armen, aber ehrlichen Mannes,« erwiderte der Schiffer hastig; »ihr habt mir zur Rettung geholfen und ich bin euch Dank dafür schuldig; doch hier können wir nicht verweilen, – seht, dort fährt schon ein Signallicht auf.«

Diese Hindeutung war richtig und entscheidend. Nahe am Ufer und kaum etwas mehr als in Büchsenschußweite war ein rothes Lichtlein auf dem Wasser erglommen, das in raschem Farbenwechsel wieder in die Nacht verschwand, ohne daß das mindeste Geräusch vernehmbar wurde. »Am Ende hat er recht,« flüsterte der Hauptmann, nachdem er über den dunkeln See hinausgespäht; »zu unserer heutigen Geschichte am Landungsplatze haben wir keine neue Verfänglichkeit mehr nöthig. Komm' – aber vorsichtig!«

So stiegen die Beiden aus dem Kahne, den der Fremde augenblicklich am Vordertheile faßte, wie ein leichtes Schindelwerkzeug auf's Land herauszog und auf den Rücken wälzte. Dann sagte er leise: »Kommt ihr Herren – hier geht es durch.« –

Der angedeutete Pfad, bald durch niedriges Buschwerk, bald wieder über kleinere Lichtungen führend, war anfänglich so schmal, daß nur Einer hinter dem Andern gehen konnte; der Führer jedoch schritt mit der Sicherheit eines alten Soldaten, der auf seinem Paradeplatz grau geworden, voran, indem er jede Unebenheit sorgfältig rückwärts rapportirte. Nach ungefähr einer Viertelstunde, die schweigend zurückgelegt wurde, blieb er plötzlich stehen und sagte, auf eine Fahrstraße deutend, die kaum ein paar Schritte vor ihm in der Tiefe lag: »Hier, meine lieben Herren, geht's nach Luzern, – in einer kleinen Stunde seid ihr dort und könnt nicht mehr irre gehen.«

»Ich glaubte, Ihr werdet uns zu Eurer Wohnung führen,« erwiderte der Hauptmann.

»Die liegt weiter oben, und so hätten wir einen weiten Umweg machen müssen.«

»Gut denn; aber nach so seltsamer Reisegemeinschaft wünschten wir doch Euern Namen zu erfahren. Wer weiß, wie und wo es uns Allen nützlich werden kann.«

»Euch vorerst wohl nicht, liebe Herren,« erwiderte der Fremde in eigenthümlichem Tone, der zwischen Gutmüthigkeit und Drohung zu schwanken schien; »eure Namen begehr' ich nicht, mich aber nennt man den – › rothen Schiffer‹.«

»Den rothen Schiffer?« rief Zschokke halb lachend; »da seid Ihr ja wohl drinnen auf der Reußbrücke abgemalt?«

»Nein, Herr,« erwiderte der Mann rauh, »ich nicht – das war mein Vetter.« Dabei hatte er sich umgedreht und war im Gebüsche verschwunden.

»Das ist recht hübsch,« sagte der Hauptmann ärgerlich sich der Straße zuwendend – »wirklich hübsch, unter solchen Umständen den Fastnachtsnarren spielen zu müssen. Komm', laß uns gehen und von unserm Abenteuer schweigen.«

Schweigend ging es nun allerdings den Weg vorwärts, von dem aus die Lichter der Stadt bald bemerkt werden konnten; jedoch war jeder der zwei Wanderer innerlich nur um so mehr beschäftigt, sich den Vorfall zurechtzulegen. Als sie endlich eine kleine Anhöhe erreichten, an deren Fuß der Landungsplatz lag, blieben Beide überrascht stehen und betrachteten das von Lichtern und Fackeln beleuchtete Gedränge, das sich dort noch herumzutreiben schien. »Mir ist's, als wär' auch für uns der Tag noch nicht zu Ende,« sagte Zschokke; »gehen wir.«

Bei dem Gewühle angekommen, drängte sich augenblicklich ein Mann mit einer Laterne an sie heran, in dem Beide einen der Knechte ihres Wirthes erkannten. »Joseph und Maria, ihr seid es!« flüsterte der Bursche, seine Laterne hastig auslöschend; »kommt, kommt, – mein Herr und der gute Vater Pestalozzi sind schon den ganzen Abend in Todesängsten um euch.«

»Um uns – und warum denn?«

»Ja – seid ihr diesen Abend nicht auf den See hinausgefahren?«

»Wenn auch – was wäre sich's deshalb zu ängstigen und was geht denn hier noch vor?«

»Heilige Jungfrau, wie man so reden kann,« erwiderte der Knecht mit hörbar zitternder Stimme; »kommt, kommt nach Haus – gebenedeit sei die Gnadenreiche, daß ihr gesund und wohlbehalten wieder da seid.«

 

IV.

Auf dem Wege nach dem Gasthause bemühten sich die Ankömmlinge vergeblich, zu erfahren, warum man ihretwegen in so großer Besorgniß gewesen sein sollte; der Knecht erwiderte alle dahinzielenden Fragen mit einem bloßen Kopfschütteln und meinte endlich, stärker gedrängt, während er ängstlich nach allen Seiten umblickte: »Es ist nicht gut, von solchen Dingen zu reden bei Nacht und auf offener Straße, ihr Herren. Mein Meister wird's euch schon sagen und eine mächtige Freude haben, daß ihr wieder da seid; lag's ihm doch schwer genug auf dem Herzen, euch vor dem See nicht gewarnt zu haben.« –

Und eine herzliche Freude bezeugte Vater Reber allerdings bei'm Anblick der beiden Freunde, obgleich sich derselbe zu ihrer Verwunderung fast ebenso geheimnißvoll äußerte, wie dies bei dem Knechte der Fall gewesen. »Dem Himmel sei Dank,« rief der wackere Mann, ihnen beide Hände entgegenstreckend, »wir haben große Angst gehabt um euretwillen. Der gute Pestalozzi ist kaum vorhin noch zu seinem alten Bekannten, dem Rathsherrn Meyer, gegangen, um auch bei ihm Rath oder Trost zu suchen. Hurtig, Andres,« wendete er sich an den Knecht, »lauf' an's Baselthor hinaus, die beiden Herren sollen schnell herkommen. Heute wird zu guter Letzt noch ein Glas vom Bessern getrunken, wobei ihr uns wohl genug zu erzählen haben werdet.«

»Umgekehrt, mein werther Gastfreund,« rief Zschokke, »zu einem Glase von Eurem Besten sogar bin ich jetzt wie zu jeder Zeit von Herzen bereit; dabei werdet aber Ihr uns erzählen, was hier vorgegangen und warum Ihr für uns so sehr gefürchtet habt!«

Vater Reber schien über den heitern Ton dieser Interpellation betreten und mit zweifelnder Miene sagte er: »Ich dächte doch, ihr würdet uns im Vertrauen Mancherlei, und Seltsames dazu mitzutheilen haben.«

»Seltsames! – Ihr könnt doch unmöglich hier schon wissen, was uns kaum vor einer Stunde droben auf dem See begegnet ist?«

»Also ihr seid doch in der Nähe gewesen und habt ihn vielleicht gesehen sogar?«

»Aber wen denn um's Himmels willen?«

»Wen, fragt ihr?« erwiderte Vater Reber mit leiserer Stimme; »nun, wen anders sollt' ich denn meinen, als den rothen Schiffer oder wenigstens, was so genannt wird.«

Bei Nennung dieses Namens schauten sich die beiden Freunde betroffen an und unwillkürlich murmelte jeder von ihnen: »Sonderbar – sie wissen's.« Der Hauptmann jedoch begleitete diese Worte mit einem Blicke, der die deutliche Frage zu stellen schien: »Nun, erinnerst du dich, was ich dir auf dem See über Spionage gesagt habe?«

Zschokke verstand diese Frage; aber ehe er sich noch zu einer Antwort gesammelt hatte, eilte Vater Reber nach der Thüre mit dem Rufe: »Sie kommen – ich kenn' ihn am schnellen Schritte,« – und in der That trat im Augenblicke Pestalozzi herein, gefolgt von einem hohen, stattlichen Herrn, dessen ganze Erscheinung geeignet war, schon bei'm ersten Anblicke Achtung und Vertrauen einzuflößen.

Es war stets rührend anzusehen, wie eine tieffreudige Seelenbewegung sich bei dem zürcher'schen Philosophen und Menschenfreunde auszudrücken pflegte. Die Hände sanken leisgefaltet über die Brust herab, das Haupt neigte sich ein wenig zur Seite und die stillen Blauaugen leuchteten auf, während über das bleiche Antlitz ein röthlicher Schimmer glitt, der an einen Busch weißer Rosen erinnerte, die vom Golde der Morgensonne überhaucht werden. Auf diese Weise feierte er jetzt auch einen Augenblick das Wiedersehen seiner Freunde, dann rief er, die Arme gegen sie ausbreitend: »Hat mir's doch ein tröstender Genius zuflüstern wollen; die Vorsehung wacht über alle reinen Herzen, ob sie in der Brust von Kindern oder Männern schlagen. Drum laßt uns denn der guten Stunde froh werden; hier steht gleich noch Einer, der, mit den Traurigen traurig, sich auch mit den Fröhlichen zu freuen weiß.« Mit diesen Worten stellte Pestalozzi seinen Begleiter vor; »ein Rathsherr, dem sein Titel unter jedem Wechsel des Regimentes bleibt,« fügte er mit gutmüthigem Lächeln hinzu, »da er ihn von jeher dadurch verdient hat, daß er seinen besten Rath den Bedürftigen und Nothleidenden aufgespart.«

»Dem Namen nach seid ihr mir längst bekannt, meine Herren,« sagte der Rathsherr, die beiden Freunde mit herzlichem Handschlage begrüßend, »und besonders ist der Ihrige, Herr Hauptmann, in letzter Zeit oft genug genannt worden in meinem Hause.« –

So saß der kleine Kreis nach wenigen Augenblicken in rasch gewonnener Vertraulichkeit um den runden Tisch herum, und nun ließ sich auch die gegenseitig erregte Neugierde nicht länger zügeln. Die beiden Seefahrer erzählten, von manchem besorgten Blicke und manchem Ausrufe des Erstaunens begleitet, ihr Abenteuer; aber als sie geendigt, riefen die Zuhörer fast wie aus einem Munde: »Und von dem andern habt ihr gar nichts gewußt oder gesehen?«

»Meiner Treu,« erwiderte Zschokke ungeduldig, »jetzt ist's an euch zu erzählen, was ihr weiter wißt.«

»Nun denn,« nahm Pestalozzi das Wort, »als ich diesen Nachmittag, bald nach eurem Weggange, hieher zurückkehrte und hörte, welchen Weg ihr genommen, ging ich euch nach, der Brücke zu. Am Landungsplatze sah ich ein lautloses, aber geschäftiges Treiben, das mich dorthin lockte. Es wurden mehrere Barken zur Abfahrt gerüstet, in welche ländlich gekleidete Männer einstiegen; in einer einzigen saßen drei fränkische Grenadiere mit ihrem Schiffsmanne. Doch kam mir auch die übrige Mannschaft mit ihren trotzigen, braunen Gesichtern verdächtig vor, und ich mußte sie bald für verkleidete Gensdarmen halten, abgesehen davon, daß ein französischer Kommissär, wenn auch nur unmerklich, bei der Anordnung des Ganzen thätig war und zwei etwas rückwärts aufgestellte Posten die wenigen Müßigen, die herumstanden, aufmerksam zu beobachten schienen. Die Schiffchen fuhren eins nach dem andern hinaus, verschiedene Richtungen einschlagend, dasjenige mit den Soldaten der Mitte des Sees zustrebend, während die andern bald in ziemlichem Abstande zurückblieben. Da ich euch nirgends erblickte und Niemanden kannte, bei dem ich hätte Nachfrage halten können, kehrte ich langsam zurück und gedachte schon hier meinen alten Freund aufzusuchen, als mir unser wackerer Doktor Rengger begegnete, dessen menschenfreundliches Herz sich wohl auch nie hatte träumen lassen, daß er einst in die Lage kommen sollte, übermüthigen Franken Polizeidienste gegen seine Landsleute zu leisten. Mit besorgter Miene fragte er, ob ich euch nirgends gesehen habe und theilte mir dann mit, es sei ihm die Anzeige gemacht worden, daß ihr euch gegen fränkische Soldaten, die einen Gefangenen hergebracht, aufrührerischer Worte und Handlungen schuldig gemacht und dann sofort nach dem See hinausgefahren wäret. Das letzte hingegen sei es, was ihn ängstige, denn eben jene Soldaten hätten die Nachricht gebracht, daß sie auf der Herfahrt von Stansstad ein verdächtiges Schifflein bemerkt, in dem sie den rothen Schiffer vermuthet, und auf den werde jetzt eine scharfe Jagd veranstaltet, in die ihr auf die gefährlichste Weise verwickelt werden könntet.«

»Endlich!« rief Zschokke; »da wirst du doch von unserm Freunde auch erfahren haben, was dieses rothe Räthselungethüm eigentlich sein soll!«

»Das wohl,« fuhr Pestalozzi sein Gesicht tiefer senkend fort, wie es seine Gewohnheit war, wenn ihn ein schmerzlicher Gedanke erfaßte, »und ihr werdet es selbst bald hören; vorerst jedoch ging ich mit Rengger wieder hinaus an den Landungsplatz und weit hinauf dem Ufer entlang, um nach euch auszuspähen. Vergeblich, die jenseitigen Schatten der Rothfluh fielen schon weit über den See herüber und mußten euch den Blicken entziehen, auch wenn ihr nicht drüber hinaus den Alpnachersee erreicht hattet. Ich hätte augenblicklich selbst ein Schifflein genommen, um euch draußen aufzusuchen; aber die Wachen am Landungsplatze hatten strengen Befehl, nach der Abfahrt des kleinen Verfolgungsgeschwaders keinen Menschen mehr auf den See zu lassen. So begaben wir uns bekümmert hierher und dann nach der Hauptwache, um dort Nachrichten abzuwarten. Sie blieben nicht lange aus, denn kaum war die Dämmerung eingetreten, als die Meldung kam, der rothe Schiffer habe die Barke mit den drei Soldaten im Angesichte einiger der am Ufer nachrudernden Begleitschiffchen umgeworfen und sei ebenso unversehens wieder verschwunden gewesen, wie er erschienen war. Die drei Grenadiere seien im See versunken und einzig der Fährmann habe sich durch Schwimmen retten können. Die Verfolgung wurde begreiflich fortgesetzt,« schloß Pestalozzi, »aber allem Anschein nach seid ihr's gewesen, die den Verfolgten gerettet haben.«

Auf diese Bemerkung folgte eine Pause, in der sich die Beieinandersitzenden abwechselnd mit bedenklichen und zweifelhaften Blicken ansahen, bis endlich der Hauptmann wieder sagte: »So mag es sein und Vergangenes läßt sich nicht ändern, obwohl ich lieber einem weniger Schuldigen zur Rettung verholfen haben möchte; aber es muß hier noch Weiteres bekannt sein von dem gefährlichen Schiffsmanne.«

»Das können euch unsere Freunde erzählen,« erwiderte Pestalozzi traurig; »es ist zu schrecklich.«

»Ich hab' ihn nie für ein Wesen von Fleisch und Bein gehalten,« sagte Vater Reber vor sich hin, »und kann es jetzt noch nicht.«

»Die Sache ist freilich so dunkel und bleibt es selbst nach dem heutigen Vorgange,« nahm der Rathsherr das Wort, »daß wir uns noch immer mit Vermuthungen werden begnügen müssen. Thatsache bleibt nur, daß seit zwei Wochen mehrere Schiffchen, in denen sich Franzosen oder auch helvetische Gensdarmen befanden – das heutige wird bereits das siebente sein – bei ruhigem Wind und Wasser verunglückt sind. Das erste Mal, ungefähr acht Tage nach dem schrecklichen Kampfe der Nidwaldner, sollte ein Gefangener von Beckenried herübergebracht werden. Es war ein ehemals ziemlich wohlhabender Schiffer von Stansstad, der zur Waffenerhebung aufgereizt, im Streite selbst eine Schaar angeführt und sich mit verzweifelter Tapferkeit bis zum letzten Augenblicke gewehrt hatte. Er konnte sich in's Gebirge flüchten, kam aber nach einigen Tagen von Hunger getrieben oder aus einem andern Grunde wieder in's Thal herab und wurde gefangen genommen. Sechs Franzosen, von denen zwei selbst die Ruder führten, sollten den Mann, dessen Verwegenheit und riesige Kraft bekannt war, hieher bringen, von wo er nach Aarburg oder vielleicht nach einer französischen Festung transportirt werden sollte. Aber das Schifflein kam weder hier an, noch kehrte es zurück oder wurde anderswo bemerkt, und ist auch seither so wenig als irgend eine Spur seiner Mannschaft aufgefunden worden. Was ihm widerfahren, kann man blos aus dem Schicksal der andern vermuthen, die seither in rascher Folge zu Grunde gegangen. In mehrern der letztern haben sich hiesige oder nidwaldnische Fährleute befunden, von denen sich wenigstens einige retten konnten; auch wurden die Barken umgestürzt, den Bauch nach oben auf dem Wasser schwimmend wieder aufgefunden, während die übrige Mannschaft, wie gesagt, durchweg Franzosen, oder letzter Tage auch einmal helvetische Gensdarmen, spurlos versunken blieb.«

»Aber die geretteten Fährleute,« bemerkte Zschokke, »welche Auskunft haben denn die gegeben?«

»Ihre Aussagen waren, auch nachdem sie sich vom Schrecken erholt, so verworren und widersprechend,« fuhr der Rathsherr fort, »daß ihr Zeugniß bis jetzt nicht im Stande war, zuverlässige Anhaltspunkte zu geben. Der Eine behauptete, sein Schifflein sei aus der Tiefe des Wassers in die Höhe gehoben und umgestürzt worden, ohne daß er das Mindeste von der Gewalt, die dies vollbracht, habe sehen können. Ein Anderer erzählte, er habe, durch seine Neugierde angelockt, sich einem Schifflein genähert, das menschenleer und ohne Fährmann sich auf den Wellen dahergetrieben; aber unversehens habe sich eine Gestalt von übermenschlicher Größe, in demselben erhoben, ihren riesigen Fuß auf den Rand der in die Nähe gekommenen Barke gesetzt und sie umgeworfen. Der Dritte endlich meinte gesehen zu haben, wie ein fremdes Schifflein pfeilschnell gegen das seinige herangeschossen und dasselbe von der Seite her mit scharfem Schnabel und unter wildem Hohngelächter über den Haufen geworfen habe; aber von einem Fährmann sei nichts bemerkbar gewesen, als ein röthlicher Schatten, der, als der verunglückte Schiffer wieder aus dem Wasser emporgetaucht, sammt seinem Fahrzeuge verschwunden war.«

»Ob diese Fährleute nicht unter sich und mit Andern in geheimem Einverständnisse stehen,« sagte der Hauptmann nachdenklich, »und vielleicht solche Angaben absichtlich vorbringen?«

»Auch hiefür hat der gewiß scharflauernde Argwohn der Franken, wie der hiesigen Polizeibehörde, keinen hinlänglichen Annahmsgrund finden können,« erwiderte der Rathsherr, »obwohl weder gute Worte noch listige Ueberredung und Drohungen gespart wurden. Im Allgemeinen wird vielmehr den Aussagen dieser Schiffsleute voller Glaube geschenkt. Es herrscht nämlich seit uralten Zeiten an allen Gestaden unsers Sees eine Sage von einem geisterhaften Schiffer, die mir mit der Geschichte des ebenso hülfebereiten Fährmannes als Schützen, Tell, verwandt zu sein scheint oder sogar nach der Meinung einiger unserer Gelehrten ein Ausfluß derselben wäre. Wie nämlich Tell den verfolgten Allzeller Mann über den tobenden See flüchtet, oder sich selbst mit einem Sprunge auf die Felsplatte rettet, während er das Fahrzeug seiner Feinde mit einem Fußstoße in die Wellen zurückschleudert, gerade so tritt der Held unserer Sage, der rothe Schiffer, überall als Retter der Verfolgten oder als Rächer geschehenen Unrechts auf. So wenigstens war es früher; in den letzten Tagen, da ihm an dreißig Menschenleben zum Opfer gefallen, hat sein Name freilich einen dämonischen Klang bekommen. Denn kaum war die Kunde von den zwei ersten verunglückten Fahrzeugen ruchbar geworden, als auch schon gleichzeitig überall am See, in Nidwalden wie in Uri, in Schwyz wie hier, der rothe Schiffer als der Urheber ihres Unterganges bezeichnet wurde.«

»So erklärt sich das Bild droben auf der Brücke,« bemerkte Zschokke, »als diesem Sagenkreise angehörend.«

»Und legt zugleich Zeugniß für dessen Alter ab, ungerechnet, daß es zu den Ueberlieferungen meiner Familie zählt.«

»Richtig, ich entsinne mich, es ist noch deutlich der Name Conrad Meyer bemerkbar daran.«

»Es ist der Name eines meiner Vorfahren,« sagte der Rathsherr, »der in den wilden Parteiungen, welche die sogenannte Kronenfresserei im ersten Viertel des sechszehnten Jahrhunderts auch in unserer Stadt hervorrief, sich flüchten mußte. Es war eine stürmische Nacht und das Schiff seiner Verfolger ihm so nahe, daß er schon das Ruder sinken ließ, um sich in sein Schicksal zu ergeben. Aber wie er die Hände noch zu einem Gebete erhob, hörte er ein wildes Angstgeschrei hinter sich und sah seine Feinde neben dem umgestürzten Schiffe mit den Fluthen kämpfen, während ein anderer Kahn an ihm vorüberschoß, in dem ein riesiger Fährmann stand. Es war der rothe Schiffer, zu dessen Gedächtniß der Gerettete später eben jenes Gemälde in eine Kapelle stiftete, die bis vor Kurzem droben am See gestanden. Bei der Erweiterung des Landungsplatzes wurde sie abgebrochen und das noch wohlerhaltene Bild auf der Brücke eingefügt.«

»Grausame Belehrung über das, was die Freundschaft der Franzosen unserm Lande von jeher eingetragen,« sagte Pestalozzi langsam; »damals hat diese Freundschaft flimmerndes Gold und Silber gebracht, aber dafür unsern Vorfahren Ehre und innern Frieden genommen; heute bringt sie scheinbar Freiheit und nimmt dafür all' jenes Gold mit Wucherzinsen zurück. Und nicht dies allein – was läßt sie uns eigentlich bei'm Lichte betrachtet noch?«

Die nachdenkliche Stille, die diesen Worten folgte, mochte andeuten, daß Jeder die tiefgehende Frage bei sich selbst zu beantworten suchte, aber Keiner geneigt oder vorbereitet war, diese Antwort offen auszusprechen. Daher sagte der Hauptmann nach einer Weile mit jenem hörbaren Aufathmen, das oft unbewußt gleichsam als Nachklang schwerer Gedanken aus der Brust aufsteigt, sich an den Rathsherrn wendend: »Ihr habt, wie ich glaube, durch unsern Freund unterbrochen, noch keine eigene Meinung geäußert über diese geheimnißvollen Vorfälle; glaubt Ihr, der heute gerettete Fährmann möchte genauere Aufschlüsse geben können?«

»Ich zweifle daran,« erwiderte der Gefragte, »obwohl ich natürlich den Mann nicht kenne; immerhin aber ist die Einbildungskraft bei diesen Leuten im Allgemeinen bereits so sehr aufgeregt, daß sie das wirklich Wahrgenommene nur schwer mehr von einem vorher Gedachten oder Gehörten zu unterscheiden vermögen, zumal der Erscheinung, mag sie nun so oder so auftreten, plötzlicher Schrecken und die Angst der Todesgefahr folgen müssen. Jedenfalls können wir eure eigenen Begegnisse von diesem Abend als die unbefangensten Anhaltspunkte betrachten, und doch seid ihr selbst, meine werthen Herren und Freunde, nicht sicher, ob der Mann nicht blos ein zufällig Verfolgter gewesen, der sich schließlich einen, freilich sehr unzeitigen, Scherz erlaubt.«

»Mir scheint es fast, Ihr möchtet der allgemeinen Volksansicht das Wort reden,« bemerkte Zschokke mit einem lächelnden Blicke auf den Vater Reber, der bisher lautlos dagesessen, »und wer weiß –.«

»Ja, wer weiß oder wüßte,« entgegnete der Rathsherr diesen Blick bemerkend in gleichem Tone; »wenn die Sache nur nicht so grauenvoll wäre. Aber nein, meine Herren,« setzte er ernst hinzu, »was wir wissen, besteht jetzt einzig darin, daß sich eine blutige Rache geltend machen will für manches schmählich geschändete Recht unserer Landsleute; ob diese Rache, in ihrer Blindheit wohl auch den Schuldlosen mit in's Verderben reißend, von einem einzelnen Verzweifelten oder von Mehreren vollzogen werde, – genug, das niedergetretene Volk beginnt zu glauben, daß sich über den schlafenden Kirchenheiligen hinaus seiner Noth wieder jene Mächte annehmen wollen, die schon den Vätern geholfen, und wer weiß, welche Frucht aus diesem Glaubenssamen entsprießen mag.«

Mit diesen Worten erhob sich der alte Herr rasch, um Abschied zu nehmen; aber wie auf den herben, fast leidenschaftlichen Ton, in dem er zuletzt gesprochen, sich besinnend, sagte er in einer freundlichen, gewinnenden Weise: »Es ist spät geworden und um Mitternacht nehmen unsere Gedanken oft eine Richtung, der wir am hellen Tage nimmer folgen mögen; daher zähle ich mit Freuden darauf, daß die Herren meinem geringen Hause auf morgen einen kleinen Besuch abstatten werden. Ihr, Herr Hauptmann, seid wohl schon heute dort ersehnt gewesen, da meine Tochter mit Ungeduld auf Nachrichten von ihrer Jugendfreundin, dem Fräulein von Holligen, wartet, die sie bei Euch aus bester Quelle erfahren kann. Und auch für Euch, Herr Deputirter,« wendete er sich lächelnd an Zschokke, »findet sich dermalen bereits eine kleine Ungeduld in meinem Hause, oder ich müßte denn diesen Abend sehr übelhörig gewesen sein. Für meinen Sokratiker braucht's hoffentlich kein weiteres Lockmittel,« sagte er Pestalozzi's Hand schüttelnd. –

Die Gesellschaft begleitete ihn, den voranleuchtenden Vater Reber an der Spitze, die Treppe hinunter; aber eben als sie an der Thüre mit nochmaligem Händedruck Abschied nehmen wollten, trat mit bloßem Degen ein fränkischer Offizier vor dieselbe. »Ich muß die Herren ersuchen,« sagte er nicht unhöflich, aber in festem Tone, »bis auf Weiteres keinen Versuch zu machen, das Haus zu verlassen.«

»Was,« schrie Vater Reber, »meine Gäste sollten mein Haus nicht verlassen können, wie und wann es ihnen beliebt?«

»Ihr im Augenblicke ebenso wenig, wenn Ihr der Herr des Hauses seid,« erwiderte der Offizier. Damit hob er die Degenspitze in die Höhe und im Augenblicke stand, Gewehr im Arm, ein Trupp Grenadiere vor der Thüre. –

 

V.

Die Ueberraschung, mit der die Freunde einander ansahen, war zu groß und plötzlich, als daß sie sich sofort in Wort oder That hätten äußern können. Es mochte Jeder in Gedanken nach der Ursache des unerwarteten Begegnisses suchen, und deshalb sagte der Hauptmann nach einer Pause sich an den Offizier wendend: »In wessen Auftrag seid Ihr hier, mein Herr?«

»Auf Befehl meiner Vorgesetzten.«

»Und Ihr seid beordert, uns oder Jemand unter uns gefangen zu nehmen?«

»Das nicht; mein Befehl lautet blos, dieses Haus zu bewachen und Niemanden hinauszulassen.«

»Dann geht Ihr ohne Zweifel weiter als es in der Absicht Eurer Ordre liegt. Dieser Herr da,« fuhr der Hauptmann auf den Rathsherrn deutend fort, »ist nur als zufälliger Gast hier gewesen und eben im Begriffe, nach Hause zu gehen. Laßt ihn unbehindert gewähren und wir Uebrigen wollen uns die sonderbare Ehrenwache, die ihm nicht gelten kann, bis auf Weiteres gefallen lassen.«

»Mein Befehl gestattet keine solche Ausnahme!«

»Wir sind Bürger der Republik, die nur auf einen von ihren Behörden ausgestellten Befehl angehalten oder verhaftet werden dürfen; nehmt deshalb unsere Bürgschaft an für diesen Herrn.«

»Ich habe nicht die Ehre, den Einen oder Andern von euch zu kennen und weiß überhaupt nicht, wer sonst im Hause hier sich befinden mag.«

Der Hauptmann legte die Hand an die Stirne und fragte mit gepreßter Stimme: »Erlaubt Ihr, durch einen Eurer Grenadiere ein paar Zeilen auf das Direktorium zu senden?«

»Auch hiezu hab' ich keine Vollmacht,« erwiderte der Offizier achselzuckend.

»Nun denn,« rief der Hauptmann nach augenblicklichem Besinnen, »so werden wir uns selbst Recht verschaffen. Bei meiner Ehre, das ist nicht länger erträglich!« Mit diesen Worten war er mit der Rechten rasch unter das Oberkleid gefahren, und kaum hatte Zschokke diese Bewegung bemerkt, als auch in seiner Hand schon der Hahn einer Pistole knackte. Ohne Zweifel würde sich nun die Scene vom Landungsplatze in viel gefährlicherer Weise wiederholt haben, wenn Zschokke nicht den bereits nach dem Offizier erhobenen Arm mit dem überraschten Ausrufe: »Bei'm Himmel – der Bürger Commissär Olivier!« wieder hätte sinken lassen!

»Ganz recht,« sagte der neue Ankömmling mit leichter Verbeugung; »nur thut es mir leid, den Bürger Deputirten aus Bündten heute zum zweiten Male in einer Unannehmlichkeit zu sehen, wie die hier eben vorgefallene zu sein scheint.«

»Ja, gut, daß Ihr's zum zweiten Male trefft,« rief der Hauptmann zornig; »hier habt Ihr Gelegenheit zu sehen, welchen Insulten gute Bürger durch Eure Soldaten ausgesetzt werden.«

»Ruhig, Freunde,« fiel der Rathsherr, einen Schritt vortretend, ein, »nun wird das Mißverständniß ohne Zweifel leicht seine Lösung finden. Man will, Bürger Olivier, sonderbarer Weise mir und meinen Freunden nicht gestatten, dieses Haus zu verlassen.«

»Was seh' ich,« rief der Kommissär scheinbar voll Erstaunen, »auch Euch treff ich hier an, mein Werther! Wahrhaftig, das ist sehr seltsam. Aber was hat denn all' das zu bedeuten, was thut Ihr hier?«

»Ich habe auf Befehl meines Obersten dafür zu sorgen, daß Niemand aus diesem Hause gehe,« erwiderte der Offizier, an den die letzte Frage gerichtet war; »diese zwei Herren aber haben soeben gewaltsame Widersetzlichkeit versucht.«

»Das bedaure ich,« sagte der Kommissär, während ein ironisches Lächeln um seine schmalen Lippen spielte, »dagegen freut es mich außerordentlich, daß ich zufällig diesen Heimweg gewählt habe. Ihr vollzieht natürlich Eure Befehle, Bürger Kapitän, und habt, wie mich dünkt, Mannschaft genug zur Verfügung, um nöthigenfalls Gewalt mit Gewalt abzutreiben. Diesen Bürger jedoch könnt Ihr frei passiren lassen; es ist mein wackerer Hauswirth, für den ich selbst Garantie leiste, daß Eure Ordre ihn nicht betrifft.« Der Offizier hob gegen den Rathsherrn sogleich die Degenspitze ein wenig in die Höhe und sagte kurz: »Geht, mein Herr, Euer Weg ist frei!«

»Wie,« fragte der Hauptmann leise, »der Kommissär wohnt in Eurem Hause?«

»Seit mehreren Wochen,« erwiderte der Rathsherr in vergnügterem Tone, »und nun wird sich unser Handel auch leicht zur Zufriedenheit ausgleichen lassen. Unter andern Umständen würde es für mich zur Pflicht geworden sein, hier bei meinen Freunden auszuharren; jetzt dagegen bin ich überzeugt, wird Bürger Olivier mich gerne zum Platzkommandanten führen, um meine Beschwerden zu unterstützen über die Mißverständnisse, die hier obwalten.«

»Mit aller Bereitwilligkeit,« sagte Olivier, sich leicht verneigend, »wenn ich durch diesen Gang Euch eine Gefälligkeit erweisen kann.«

Den Hauptmann drängte es, als riefen ihm tausend verworrene Stimmen zu, dem Rathsherrn von seinem Vorhaben abzurathen und ihn zurückzuhalten; er hatte auch deutlich bemerkt, daß über Oliviers Gesicht ein verschmitztes Lächeln geglitten war, als der Wunsch um seine Begleitung ausgesprochen wurde. Aber was ließ sich im Grunde gegen einen solchen Versuch einwenden, mittelst dessen man wohl am schnellsten und einfachsten aus der unangenehmen Lage herauskommen konnte; bei der Einwilligung der übrigen Freunde mußte das dunkle und Schlimmes ahnende Gefühl schweigen und der Rathsherr trat, von Olivier begleitet, rasch durch die sich öffnende Grenadierreihe in die Nacht hinaus. Der Hauptmann schaute ihm mit zweifelhaften Blicken nach, bis Zschokke den Vorschlag machte, wieder in's Haus zurückzukehren. »Unter solchen Umständen glaub' ich auch, können wir es für einmal diesen Herren hier überlassen, sich gegenseitig den Schlaf zu vertreiben,« sagte Vater Reber, sich mit dem Lichte der Treppe zuwendend.

Ungeachtet des trotzig heitern Anlaufes, mit dem diese Worte gesprochen waren, wurde es bald wieder still, als die Männer den kleinen Saal erreicht hatten, und man hörte lange nichts, als die bald raschern, bald langsamern Schritte der gedankenvoll nebeneinander Auf- und Niedergehenden. Bei den zwei jüngern der Freunde mochte der Grund dieses stummen Schweigens zunächst in dem Gefühle der Demüthigung liegen, die ihr bürgerliches Selbstbewußtsein sich abermals hatte gefallen lassen müssen; die zwei ältern dagegen schwiegen mit den Befürchtungen beschäftigt, die sich nun unabweislich für die beiden Andern geltend machten. Denn zweifelhaft konnte es wohl nicht mehr sein – die unerwartete Wache vor dem Hause stand in Verbindung mit den Vorgängen, um deren willen der Hauptmann und der Bündner Abgeordnete selbst bei der helvetischen Polizei verklagt worden waren. Und dazu war nun noch ein neuer Grund oder wenigstens Vorwand zur Klage gekommen! – Aus diesen Gedanken heraus sagte denn auch endlich Pestalozzi besorglich: »Ja, ja, Vater Reber hat Recht, die Bursche drunten vor der Thüre könnten einander lange angaffen und schließlich wäre diese Burg hinlänglich verproviantirt, um eine kleine Belagerung darin auszuhalten, wenn nur ihr Zwei außerhalb der bedrohten Mauern wäret.«

»Wenn es sich blos darum handelt,« sagte Zschokke, der gerne aus der bedrückenden Stimmung herausgekommen wäre, »so brauchen wir ja nur eine romantische Belagerungsscene aufzuführen. Unser beranntes Schloß hat nicht allein Thore, sondern zum Glück auch Fenster, die auf geheime Rettungswege führen müssen. Ebenso ist die Nacht hübsch dunkel; darum schnell ein tüchtiges Seil herbei, oder besser noch, wir zerschneiden die feinen Tischtücher Vater Rebers und die Geschichte geht vorwärts, wie sie in so manchem schönen Ritterbuche geschrieben steht.«

Der junge Dichter öffnete leise und mit glücklich nachgeahmter Theaterhaltung das nächste Fenster, um hinauszuschauen; aber im Augenblicke zog er den Kopf wieder zurück und sagte in ernsterem Tone: »Nein, zum Gukuk – da drunten stehen ebenfalls ein paar Bärenmützen, von denen die eine sich schnell das Vergnügen machen wollte, mit ihrer Flinte nach meiner Nase zu zielen.«

Vater Reber öffnete ein anderes Fenster, ließ es aber gleichfalls rasch wieder zuklappen. »Bei'm heiligen Georg,« murmelte er, »wir sind umgarnt, als gält' es einer Mörderbande. Ich bin nur froh, daß Alles im Hause längst zur Ruhe gegangen ist.«

»Das eben ist es,« sagte der Hauptmann bitter; »um mich selbst bin ich unbekümmert, kommt es am Ende doch wenig darauf an, wo man sich in Vertheidigung seines Bischens freier Luft eine Kugel durch den Leib jagen läßt; aber daß der Schuldloseste jeden Augenblick wie ein Verbrecher behandelt werden darf, und das Alles noch unter dem heuchlerischen Rottengeschrei von Freiheit und Brüderlichkeit – das muß einen zum Wahnsinn bringen.«

»Geduld, meine Freunde,« entgegnete Pestalozzi mit dem eigenthümlich schmerzlichen Vorneigen seines Gesichtes, die edelsten Früchte verlangen die mühevollste Pflege zu ihrer Zeitigung; zudem getröste ich mich, daß unser trefflicher Rathsherr auch für uns bald guten Rath gefunden haben wird. Der Kommissär scheint ihm recht zugethan, und gebührende Genugthuung werden uns unsere Behörden sicherlich zu verschaffen wissen.«

»Schöne Träume soll man nicht stören,« sagte der Hauptmann finster; »seien wir indessen froh, wenn der Rathsherr selbst ungefährdet bleibt. Drüber hinaus werde ich meinestheils unsere Freunde in den Behörden mit persönlichen Anliegen nicht behelligen – haben sie doch sonst unerträgliche Lasten zu schleppen, die Bedauernswerthen!«

»Recht aber muß uns werden,« rief Zschokke; »ein Mehreres verlangt natürlich Keiner von uns!«

»Recht, meinst du?« entgegnete der Hauptmann, indem er sich, das Gesicht mit der Hand bedeckend, auf einen Stuhl niederließ, »ja, etwas, dem man diesen Namen anlügt, mag man uns geben, weil wir keine schutz- und hülfentblößten armen Teufel sind, wie Hunderttausende unserer Mitbürger. Aber wirkliches, volles Recht können wir im besten Falle nur erlangen, wenn wir dasselbe unter dem Titel ganz besonderer Gnade annehmen wollen. Zählt darauf, es wird uns nichts Anderes übrig bleiben.«

Auf diese bitter und zugleich traurig gesprochenen Worte trat abermals eine Pause ein, in die lange Zeit nur das gelegentliche Klirren eines Gewehres, das drunten auf das Pflaster gestellt wurde, oder der Tritt einer auf- und niedergehenden Schildwache hereintönte. Zschokke blickte, neben dem Fenster an die Wand gelehnt, über den nachtdunkeln See und die schlafende Stadt hinaus, während die drei Andern vor sich niederschauend am Tische saßen. Die noch immer gefüllten Gläser blieben unberührt stehen und selbst der sonst so aufmerksame Vater Reber schien nicht zu beachten, daß das tief herabbrennende Licht nur noch eine kümmerliche Helle verbreitete. Wie die leiswandelnden Gedanken Aller die gleichen Pfade eingeschlagen haben mochten, fuhren auch Alle mit gleich rascher Bewegung empor, als drunten ein »Halt – werda« ertönte, auf das ein unverständlich geführtes Gespräch folgte. Wenige Augenblicke und es wurde kräftig gepocht an der Hausthüre. »Was hab' ich gesagt,« rief Pestalozzi, »mein wackerer Rathsherr hat Recht gesucht und gefunden – das kann Niemand anders sein zu dieser Stunde.«

»Ich glaub' es selbst,« erwiderte Vater Reber, der schnell das Licht ergreifend der Thüre zueilte, »und solch späte Gäste darf man nicht zu lange warten lassen.« Pestalozzi eilte ihm nach, während der Hauptmann sich langsam wieder niedersetzte und zu Zschokke sagte: »Laß nur – mir ist's, wir können die Botschaft abwarten.«

Von unten ertönte das Geräusch des rasch zurückgeschobenen Riegels und das Knarren der schweren Hausthüre; aber zwei, drei lange Sekunden vergingen, ohne daß die Laute einer frohen Begrüßung folgen wollten. Eine fremde Stimme stellte eine kurze Anfrage und nach einiger Wechselrede begannen die eben noch so raschen Schritte wieder langsam und unsicher die Treppe heraufzusteigen. »Ihrer Drei sind es,« sagte Zschokke, sich zweifelnd der Saalthüre nähernd, »sei es nun, wer es wolle.« Doch unwillkürlich that er wieder einen Schritt zurück, als hinter dem vorleuchtenden Vater Reber ein großer Mann in der Uniform der helvetischen Gensdarmerie hereintrat und Pestalozzi fast nur wie ein wankender Schatten nachfolgte.

»Dort sitzt der Herr, den Ihr sucht,« sagte Vater Reber, sein Licht auf den Tisch stellend, hoffentlich wird Eure Botschaft keine schlimme sein, wenn Ihr vom Doktor Rengger geschickt seid.«

»In dessen Auftrage komm' ich,« erwiderte der Gensdarm auf den Hauptmann zutretend, »und muß Euch ersuchen, mich unverzüglich zu begleiten, mein Herr.«

»Er Euch begleiten und wohin?« rief Zschokke, »da werde ich wenigstens dabei sein dürfen!«

»Diesmal nicht,« entgegnete der Gensdarm; »doch habe ich noch einen weiteren Auftrag an den Herrn Capitain,« fügte er mit einem fragenden Blicke an diesen gewendet hinzu.

»Nur zu,« sagte der Hauptmann sich erhebend, »vor diesen Freunden hier braucht es keine Geheimnisse.«

Der Gensdarm steckte die Finger seiner rechten Hand zwischen den grünen Aermel und den blaßgelben Aufschlag seiner Linken und zog ein kleines Papier hervor, das er dem Hauptmanne entgegenreichte. Sogleich hefteten sich die Blicke der Andern auf das Gesicht ihres Freundes, der das Blättchen auseinanderfaltete; aber der Inhalt desselben schien ein wenig erfreulicher zu sein und je weiter der Lesende ihn entzifferte, um so finsterer zogen sich seine Brauen zusammen und um so dunkleres Roth begann sich ihm auf Wangen und Stirne zu legen. Endlich druckte er das Papier in zorniger Hand zusammen und sagte, nach seinem Hute greifend, mit gepreßter Stimme: »Ich bin bereit – gehen wir.«

»Aber nicht bevor ich weiß wohin, und ob dir keine Gefahr droht,« entgegnete Zschokke, entschlossen zwischen den Gensdarmen und seinen Freund tretend; »sonst will ich sehen, wer mich verhindert, mit dir zu gehen.«

»Nein, bleib' – sei ruhig,« rief der Hauptmann mit einer abwehrenden Bewegung, »laßt mich wenigstens sehen, woran wir sind – ich werde euch Bericht bringen.« Damit drückte er seinem Freunde das zerknitterte Papier in die Hand und schritt, von dem Gensdarmen gefolgt, der Thüre zu. »Auf Wiedersehn!« rief er schon unter derselben, »und – nehmt euer Latein zusammen,« fügte er bitter hinzu; »es war die Sprache der Brutusse und Grachen, aber auch der Nero's und Caligula's.«

Die Zurückbleibenden waren über den Vorgang so betroffen und verwirrt, daß Vater Reber zwar das Licht ergriff, aber vergaß, den Davoneilenden die Treppe hinabzuleuchten, und Zschokke selbst des Papiers in seiner Hand sich erst wieder zu erinnern schien, als drunten die Hausthüre mit einem langnachhallenden Schlage in ihre Angeln fiel.

 

VI.

»Wahrhaftig, ein seltsamer Anfang in der neuen Residenz der Republik,« sagte endlich Pestalozzi in bekümmertem Tone; »aber was ist's denn mit dem Papiere, das du in der Hand hältst, Heinrich?«

Zschokke faltete dasselbe schweigend auseinander. »Von Rengger ist es geschrieben – es sind seine Schriftzüge,« sagte er nach einigen Augenblicken, »und zwar lateinisch, ohne Zweifel aus irgend einem vorsichtigen Grunde. Und meiner Treu, der Inhalt ist ganz geeignet, diese Vorsicht begreiflich zu machen. Ich will wörtlich übersetzen: ›Folge dem Ueberbringer augenblicklich zu mir. Er hat an den Euch bewachenden Offizier nur eine untergeschobene Ordre, die durch ein Zaudern oder Widerstreben Deinerseits verrathen werden könnte. Daß Ihr Hausgefangene seid, weiß ich erst seit einer Viertelstunde, denn bis dahin war ich fast nicht minder bewacht, als Ihr selbst. Eile, um Deiner und Deiner Freunde willen und mir zu lieb. Wem die geworfenen Netze gelten, weiß ich noch nicht zu errathen.‹ Ein schlimmer Ariadnesfaden,« fügte Zschokke, das Blättchen um und um betrachtend, hinzu, als ob er in demselben selbst eine Falle ahnte; »aber Renggers feste Züge sind es, und wenn auch hastig hingeworfen, fehlt es nicht an all' ihren charakteristischen Merkmalen. Und richtig, da ist auch ein C. m. unterzeichnet, Cato minor, wie wir selbst ihn getauft haben.«

»Und der Polizeidirektor selbst sollte diese Nacht ein Gefangener gewesen sein?« rief Vater Reber; »nun dann, bei allen Heiligen, weiß ich auch nicht mehr, in welchen Geleisen wir fahren sollen.«

»Ich ebenso wenig,« sagte Pestalozzi mit seinem bekümmerten Neigen des Antlitzes, »und Wunder sollt' es mich nicht nehmen, wenn ich in Einem Augenblicke auf die nämliche Frage Ja und Nein zur Antwort gäbe; doch werden die Wirren sich wohl lösen müssen und gewiß ist Rengger zunächst durch die Schritte, welche unser wackerer Rathsherr bei dem Platzkommandanten gethan, seiner lästigen Hüter ledig geworden. Die Reihe wird nun auch bald an uns kommen.«

»So mög' es werden,« rief Zschokke, das Blättchen Papier an das brennende Licht haltend, daß es in hellen Flammen aufflackerte, »und sollt' es anders kommen – die da drunten dürfen nicht glauben, wir seien aus Furcht und Sorge stumm geworden. Her da, Vater Reber:

Noch ein Glas, noch ein Glas vom allerbesten Wein,
Zu Ehren freier Freunde soll's getrunken sein!«

Pestalozzi bückte sich zu einem kleinen Schranke nieder und zog aus demselben eine Zither hervor. »Ich habe ja schon heute bei der Ankunft unserm braven Vater Reber ein Lied von dir versprochen,« sagte er, das Instrument mit freundlichem Nicken dem jungen Dichter entgegenreichend; »nun aber spiel' uns wieder einmal den Bernermarsch, weißt du. Seine Klänge werden unsern Hauptmann, wenn er indessen zurückkehrt, gewiß mehr erfreuen, als besorgte Gesichter, die wir ihm entgegenbrächten.«

Der begünstigte Zögling der Musen fuhr präludirend durch die Saiten, und bald entlockte er ihnen jenes wunderbar ergreifende Gemisch von Melodien, die eine in Töne übertragene Geschichte der Berner Heldentage zu enthalten scheinen. Jetzt die fröhlichen Pfeifen, welche die muthige Jugend vom Tanze weg zum Kampfe geleiteten; dann das Krachen zerschmetterter Helme und Harnische, und wieder das dumpfe Rollen der Donnerbüchsen, welche die festen Burgmauern zu brechen suchen. Aber all' das beherrschend und verbindend die Taktschläge eines weit ausschreitenden Siegesganges, der kein Zurückweichen kennt. In einem leisen Nachspiele wiederholte der Zitherschläger die letzten Weisen, so daß sie fast wie die traumhaft verschwindende Erinnerung an eine stolze Vorzeit erschienen; doch seltsam, gerade diese letzten leisern Takte schienen mit der Wirklichkeit in Eins zu verfließen und immer deutlicher hörte man sich einen soldatischen Marschschritt nach denselben bewegen. »Was ist das?« rief Zschokke aufhorchend; »mir war's, ich höre marschiren vor dem Hause.«

»So ist's auch,« erwiderte Vater Reber an's Fenster tretend; »da marschirt eine ganze Abtheilung die Straße hinunter, vielleicht unsere Herren Wächter, die abgelöst worden.«

»Laßt doch einmal sehen,« sagte Zschokke behutsam einen Fensterflügel öffnend, »die Anmarschirenden hätten wir ja fast eher hören sollen, als die Abgehenden.« Erhielt den Kopf zuerst nur unmerklich, aber alsgemach weiter und weiter hinaus, bis er mit beiden Schultern über die Fensterbrüstung ragte. »He da, guter Freund!« rief er endlich hinunter; aber es kam keine Antwort, und halb verwundert sagte er, sich in's Zimmer zurückwendend: »Da drunten regt sich keine Ratte mehr, geschweige denn ein Wachtposten. Sollte der Bernermarsch oder der Berner Hauptmann den Abzug bewirkt haben? Sehen wir doch einmal vor der Thüre nach.« Alle Drei eilten erwartungsvoll die Treppe hinab; aber Vater Reber leuchtete vergeblich nach allen Seiten zur Hausthüre hinaus; es war kein Halt- und Werdarufer mehr zu entdecken; nur von Weitem tönte noch der schwache Nachhall eines Marschschrittes zurück.

Die drei Freunde sahen sich fast ebenso betroffen an, als vor zwei Stunden, da ihnen der freie Ausgang verweigert worden, nur löste sich diese Betroffenheit diesmal in eine heitrere Stimmung auf. Ueber Pestalozzi's Gesicht glitt das leichte freudige Erröthen weg und fröhlich rief er seinen Gefährten, ihnen beide Hände entgegenstreckend: »Was hab' ich gesagt? – Mißverständnisse der Nacht, die sogar noch vor dem ersten Morgenlichte wieder verschwinden mußten. Freuen wir uns dessen, meine Freunde.« – Vater Reber drückte die Befolgung dieses Rathes durch ein behagliches Händereiben aus und man sah ihn nun erst recht deutlich an, wie schwer der Belagerungszustand seines Hauses auf seinem Herzen gelegen haben mochte. Zschokke beglückwünschte ihn deshalb auch scherzend als den Ritter von Bärenburg, dessen Feinde durch einen freundlich gesinnten Zauberer über Nacht von den hartbedrängten Schloßmauern vertrieben worden. Nebenbei glaub' ich,« bemerkte er gegen Pestalozzi, »ist diesmal der Kriegsmann schneller zum Ziele gekommen, als der Rathsmann; ohne Zweifel wird der Hauptmann deutlich gesprochen haben mit den Anordnern unserer Bewachung.«

»Streiten wir nicht darüber,« erwiderte Pestalozzi das Licht ergreifend, das Vater Reber in seinem stillvergnügten Thun auf den Boden gestellt hatte; »Beides sind wackere Männer nach meinem Herzen und ich will gerne glauben, daß sie einander zu unserer Erlösung mit Rath und That unterstützt haben. Gehen wir nun getrost hinauf; hoffentlich werden Beide nicht lange auf sich warten lassen.«

»Und doch will es mich fast ärgern,« rief Zschokke, den Voranschreitenden folgend, »daß das so hübsch begonnene Abenteuer nun so blöde abklappen soll; es kömmt mir vor, als könnte es noch gar nicht zu Ende sein.«

»Der Poet will sein Recht behaupten, wie billig,« entgegnete Pestalozzi; »dafür wird er uns nun erst mit Lied und Musik erfreuen. Schlafen einmal kann ich nicht, bis unsere Freunde, oder wenigstens einer von ihnen zurück ist.« –

Die Gläser stießen fröhlicher zusammen und bald erklangen Gesang und Saitenspiel in so munterem Wechsel, daß mancher darob aufwachende Schläfer der Nachbarschaft sich verwundert fragen mochte, was das ungewohnte Thun in dem ehrbaren Hause zu Pfistern wohl zu bedeuten habe, und den Wachenden vergingen die Stunden selbst wie ein flüchtiges Traumbild. Endlich war Pestalozzi über den weichern Melodien, die der Sänger allmälig angestimmt, doch fest eingeschlafen, und auch Vater Reber nickte so bedeutsam mit dem Kopfe, daß er es nicht mehr zu beachten schien, als Zschokke die Zither aus den Händen legte. Ueber den See heran dämmerte bereits der bleiche Schein des Herbstmorgens und von der Straße machte sich das Geräusch vereinzelter Schritte bemerkbar, welche die nahende Geschäftigkeit des Tages ankündigten.

»Hier trinken, singen und jubiliren wir,« sagte Zschokke leise an's Fenster tretend, »um endlich mit der tröstlichen Erwartung eines frohen Erwachens einzuschlafen, gerade wie Kinder, die mit dem Entschlummern die Rechnung des Tages abgeschlossen haben, ohne daran zu denken, das Facit auf den folgenden Morgen zu übertragen. Wie der gute Pestalozzi dasitzt mit dem stillen Lächeln auf seinem Antlitze; gewiß führt der Traumgott den Gedanken eines menschenfreundlichen Engels als verwirklicht an seiner Seele vorüber. Und doch ist noch keiner unserer Freunde zurückgekehrt, wissen wir nicht einmal, ob wir unsern Weg für den anbrechenden Tag frei zu wählen haben, oder ob wir nicht in diesem Augenblicke bloß einer Scheinfreiheit uns erfreuen, die von Andern mit schweren Opfern erkauft werden mußte.« Dieser letzte Gedanke, daß nämlich den beiden Abwesenden irgend etwas Schlimmes begegnet sei, ja vielleicht all' die feindseligen Vorkehren nur ihnen oder wenigstens dem Hauptmann gegolten, stand plötzlich mit neuer Bangigkeit vor Zschokke's Seele. Er machte sich Vorwürfe, daß sie sich wie sorglose Kinder eines Ausganges gefreut, der noch Keinem von ihnen bekannt und sie dadurch möglicherweise eine kostbare Zeit vertändelt hätten. Schon war er im Begriff, die Hand auf Pestalozzis Schultern zu legen, um ihn aufzuwecken und ihm seine immer drückender werdenden Befürchtungen mitzutheilen; aber soeben schwebte ein Lächeln um die Lippen des Träumenden und er murmelte: »Weinet nicht mehr, meine Kinder – ich will wachen über euch und euer Vater sein.« – »Er ist wieder bei den armen Waisen der gefallenen Nidwaldner,« sagte Zschokke leise, während er mit Rührung auf das milde Angesicht des Schlummernden blickte; »man soll keinen Schlaf stören, der göttliche Traumbilder an der Menschenseele vorüberführt.« Er kehrte sich ab, ergriff ein Stück Kreide, das auf einem kleinen Wandgesimse lag und schrieb mit großen Zügen auf den Tisch, daß er einen Ausgang vorhabe, und die erwachenden Freunde sich über seine Abwesenheit keine Sorge machen sollen. Damit schritt er leise der Thüre zu und erreichte geräuschlos den stillen Hofraum.

Die herbstlich frische Morgenluft, die ihm entgegenwehte, verscheuchte die unklaren bangen Bilder, die im Hause drinnen unheimlich an seiner Einbildung vorübergeschwebt, und bald war der junge Dichter im Stande, sich auf seinem Gange dem ahnungsvoll erregenden Eindrucke des aufdämmernden Tages hinzugeben. Die Straßen waren noch still; nur hie und da wurde der Riegel einer Thüre zurückgeschoben und mit schlurfendem Schritte trat eine Gestalt in das graue Zwielicht heraus, um gleich wieder hinter einer nahen Hausecke oder am dunklen Gesteine eines Brunnengeländers niederzutauchen. Vom See und vom Flusse herauf kräuselten sich flüchtige Nebelstreifen durch die Gassen und Gäßchen und schienen bemüht, sich verborgene Winkel aufzusuchen, um dem hellern Lichte zu entfliehen, das oben an den höchsten Häusergiebeln zu spielen begann. Der einsame Wandler schaute diesem seltsam wechselnden Spiele mit der träumerischen Müdigkeit zu, die den Morgen einer durchwachten Nacht zu begleiten pflegt, und fast verwundert blieb er stehen, als er durch einen dunklen Bogen in's Freie gelangt war. Er hatte den Weg nach der Gensdarmeriehauptwache, wohin doch seine Absicht gegangen, verfehlt und stand nun vor dem Baselthore, durch das er vor kaum vierzehn Stunden eingeritten. Zschokke mußte unwillkürlich lächeln, als er seinen Irrthum bemerkte, und murmelte leise vor sich hin: »Mangel an Straßenkenntniß – wer wird mich zurechtweisen?« Die Richtung jedoch, welche seine Blicke während dieser kurzen Selbstrechtfertigung genommen, schien von etwas Anderem bestimmt worden zu sein, als dem Verlangen, sogleich einen Wegweiser zu finden, denn sie ging von der Tiefe der Straße aufwärts nach einem Balkone, der von mancherlei Laubwerk umdunkelt sich am Hause neben dem Thore erhob. Sie verließen diese Richtung auch nicht sobald, seine Blicke, sondern blieben wie mit einer immer neugieriger werdenden Frage an einem bleichen Lichtschimmer hängen, der aus den Fenstern über der Altane hervordrang. Was mochte das einsame Licht zu bedeuten haben in dieser ungewohnten Stunde mit seinem müden, unsichern Scheine? War es die ganze Nacht nicht gelöscht worden und hatte bei schlaflosen Augen gewacht oder half es frühem Fleiße den Tag erwarten? – »Schwerlich, in solchem Hause,« beantwortete Zschokke die letztere Frage bei sich selbst, und es begannen unklare Vorstellungen unabwehrbar auf ihn heranzurauschen, wie ein plötzlich aufgescheuchter Rabenflug. »Pah,« machte er mit der Hand über die Stirn fahrend, »du bist doch manchmal ein nichtswürdiger Träumer, Heinrich; was stehst du nun hier und vergissest über einer Spätlampe in fremdem Hause deines Freundes!« – Er zog die Hand von seinen Augen zurück und machte einen Schritt nach dem Thorbogen hin; aber er blieb wieder festgewurzelt stehen, als sein Blick noch einmal nach dem Fenster hinaufstreifen mußte. Die Gardine hatte sich ein wenig zurückgeschoben und durch die nun lichthellere Oeffnung schauten hart aneinandergedrängt zwei Gesichter auf den dämmergrauen Platz herab. »Sie sind es,« sagte Zschokke leicht erröthend in sich hinein, während er die Augen, wie auf unberechtigtem Lauschen ertappt, niederschlug; »und sie warten auf Jemand – ich wollte schwören darauf.« Er schaute rasch umher, als müßt' er mit erspähen helfen, ob sich sonst noch Jemand in der Nähe befinde oder von irgend einer Seite herankomme; aber hier draußen war es noch stiller, als drinnen in den Stadtstraßen, und nur der Nebel wälzte sich in dichteren Ballen vom See längs den Mauern herüber. Droben blickten die beiden Gesichter noch immer unbeweglich vom Fenster herab. »Wahrhaftig, eine seltsame Nachtwächterrolle, die ich da spiele,« sagte Zschokke halblaut, und mit wenigen Schritten hatte er die Wölbung des Thorbogens erreicht.

Mit wie augenblicklicher Schnelligkeit auch die Scene vorübergegangen war, so ließ sich doch der Eindruck, den sie auf die leicht erregbare Einbildungskraft des Dichters hervorgebracht, nicht mehr verwischen. Wie um die verlorne Zeit wieder einzuholen, begann er hastig die Straße hinabzugehen; aber seine Gedanken kehrten unablässig in verworrenen Gängen vor das Thor zurück und schwangen sich nach dem Balkone hinauf, um von dort einen Blick in das matterhellte Gemach zu werfen. Er mußte sich ordentlich zusammennehmen, als nicht weit von ihm sich eine Thüre öffnete und ein Mädchen mit einem Wassereimer unter dem Arme auf die Straße heraustrat. Es beantwortete die Frage nach dem Wege zur Gensdarmeriehauptwache mit einer Handbewegung, die auf ein schmales Seitengäßchen deutete, und wollte dann seinen Weg zum Brunnen fortsetzen. »Halt, gutes Kind,« fuhr aber Zschokke mit einigem Zögern fort, »kannst du mir nun auch noch sagen, wer in dem großen Hause mit der Altane da droben neben dem Baselthore wohnt?«

»I, warum nicht,« lautete die Antwort, »dort wohnt ja der Rathsherr Meyer.«

»Der Rathsherr Meyer, sagst du – und wohnt der einzig dort mit seinen Töchtern?«

»Ich höre schon gut, Ihr braucht deshalb nicht so laut zu schreien,« erwiderte das Mädchen in etwas schnippischem Tone, indem es seines Weges zu gehen anfing; »Meyers haben nur eine Tochter, aber seit zwei Wochen ist ein fremdes Fräulein auf Besuch bei der Franziska.«

»Dann ist der Rathsherr auch noch nicht nach Hause zurückgekommen,« sagte Zschokke nach einigem Besinnen laut vor sich hin, »und das Lichtlein hinter'm Balkone hat vergeblich die ganze Nacht auf seine Heimkehr gewartet.« Diese Vorstellung war mit so überzeugender Klarheit durch seine Gedanken geschossen, daß er, ohne noch einem Zweifel an einem übereilten Schlüsse Raum zu geben, in das Seitengäßchen lief, das ihm das Mädchen angedeutet. Bei der größern Dunkelheit, die noch in dem schmalen Raume herrschte, und wohl auch in seiner eilfertigen Hast, zu welcher ihn eine Reihe plötzlich aufsteigender verworrener Ahnungen antrieb, achtete er es kaum, daß sich eine ihm von der andern Seite entgegenkommende Gestalt bei seiner Annäherung zur Seite drückte, in der offenbaren Absicht, sich hinter einem vorstehenden Mauerpfeiler unsichtbar zu machen. Der Eilfertige war auch schon an der Stelle vorübergegangen, als er sich, ohne stehen zu bleiben, nur halb zurückwandte und fragte: »Nicht wahr, guter Freund, das ist doch der rechte Weg zur Gensdarmeriehauptwache?«

»Das wohl,« antwortete der Mann, der bereits wieder von dem Pfeiler weggetreten war, »aber Eure Eile wird wenig mehr helfen – Euer Kamerad ist schon längst abgereist.«

Ueber diese Worte verwundert, mehr noch aber von dem Klange der Stimme, die sie gesprochen, betroffen, blieb Zschokke stehen und rief: »Was sagt Ihr da! Ihr werdet wohl mich und meinen vermeintlichen Kameraden nicht mehr kennen, als ich Euch selbst.«

»Kann wohl sein,« entgegnete der Andere, während er schon anfing, seinen Weg wieder fortzusetzen; »doch werdet Ihr, mein' ich, noch nicht viel Salz gegessen haben, seit wir unsere Bekanntschaft gemacht.« Diesen Worten folgte ein eigenthümliches Gurgeln unverständlicher Töne nach, das wie ein unterdrücktes Gelächter klang, mit dem aber der Fremde auch schon ein beträchtliches Stück des Gäßchens aufwärts gegangen war. Zschokke schaute ihm verwirrt einen Augenblick nach und murmelte ärgerlich: »Der Kerl will mich foppen, glaub' ich;« aber alsbald schlug er sich mit der Hand an die Stirn und rief ein lautes »Halt, guter Freund!« während er sich anschickte, dem Angerufenen nachzueilen. Der jedoch war mit einem Male verschwunden, als hätt' er sich durch die dunkeln Mauern gedrückt oder in einen Streifen daherschleichenden Nebels aufgelöst. Zschokke lief in fast athemloser Hast an der Häuserreihe dahin bis an die Ausmündung des Seitengäßchens in die Hauptstraße und als er auch hier in der hellern Dämmerung nichts weiter bemerkte, als das Mädchen, das weiter abwärts am Brunnen stand, ging er wieder zurück, mit spähendem Blick und tastender Hand jede Thüre untersuchend. Aber von allen zusammen in der ganzen Reihe war noch keine einzige geöffnet, durch die der Fremde hätte in ein Haus treten können, und auf der andern Seite des Gäßchens zog sich nur eine alte hohe Mauer entlang, in der ebenfalls keine Oeffnung zu entdecken war. Verwirrt und bestürzt blieb der Verfolger an dem Pfeiler stehen, bei welchem er den Verschwundenen vorhin angetroffen hatte. »Daß ich ihn nicht gleich an der Stimme erkannt habe,« sagte er mit einem abermaligen, fast zornigen Schlage der Rechten an die Stirne vor sich hin; »denn bei meiner Seligkeit, es ist der rothe Schiffer gewesen.« –

 

VII.

Zschokke lehnte sich an den Pfeiler zurück, um der Aufregung, die durch diese unerwartete Begegnung über ihn gekommen, wieder Meister zu werden und den verworrenen Knäuel seiner Vorstellungen auseinanderzuwickeln. Sein erster Gedanke war, die Sicherheitsbehörden zu benachrichtigen, um sie auf die Spur des Unbekannten zu lenken; »aber nein,« sagte er nach einigem Besinnen wieder zu sich selbst, »am Ende ist der Bursche doch nur ein hiesiger Schiffer oder Fischer, der sich gestern Nacht einen Scherz gegen uns erlaubt, wohl in der Absicht, unsere Gesellschaft los zu werden, um, klüger als wir, nicht sogleich nach dem Treibjagen auf den Rothen in die Stadt zurückkehren zu müssen. Gewiß, so ist es, und da ihm der Streich einmal gelungen, so hat er jetzt mit seiner Nachricht von der Abreise des Hauptmannes, den er wohl etwa auf seinem Herwege gesehen haben mag, abermals versucht, mich in den April zu schicken. Ich wette darauf, daß er hier herum wohnt und vorhin in ein ihm bekanntes, wo nicht gar in sein eigenes Haus verschwunden ist und die Thüre hinter sich verriegelt hat. Das wäre recht hübsch, wenn ich mir zu all' den Geschichten noch den Spott einer verfehlten Polizeihatz aufbürden würde! – Heinrich, Heinrich, wie lange soll es noch dauern, bis du die Zügel kühler Ueberlegung mit sicherer Hand zu lenken verstehst?«

Mit dieser Selbstermahnung begann er seinen Weg wieder fortzusetzen. Aus dem Dunkelgäßchen in die hellere Straße gelangt, auf der nun schon Leute hin und wieder gingen, die ihm den Weiterweg weisen konnten, gewann der beruhigende Gedanke, daß er sich abermals unnöthigen Befürchtungen hingegeben, immer fester die Oberhand. Es geht uns mit nachtgebornen Vorstellungen wie der Menge mit ihren Gespenstern, dachte er, sie schwinden vor dem lebendigen Tageslichte in ihr dunkles Nichts zurück; jetzt wundert's mich nur, ob es unserm Cato mit seinem besorgten Briefchen an den Hauptmann nicht ebenso ergangen sein wird. Pestalozzi hatte wohl recht; das ganze Nachtabenteuer mag sich am hellen Morgen in ein anderes Gewand hüllen und uns den Tag hinüber als lächerliches Mißverständniß ergötzen.

Aus dieser zuversichtlichen Stimmung wurde er indessen plötzlich aufgeschreckt, als er um eine Ecke gegen die Gensdarmeriehauptwache biegend, mit hastigen Schritten Pestalozzi herankommen sah. Die ganze Erscheinung des Freundes mußte bei'm ersten Anblick seine heftige Aufregung verrathen. Er kam mit vorgebeugtem Haupte, die langen Haare unordentlich um Stirn und Schläfen hängend, wie ein vor nahen Verfolgern Fliehender eilfertig dahergelaufen, den Hut trotz der feuchtkühlen Morgenluft in der Hand tragend und den Ueberrock weit über die Schultern zurückgeschlagen, als ob er ihm an seinem raschen Gange hinderlich wäre, während er mit der Linken in eckigen Bewegungen auf und nieder fuhr wie ein Schwimmender, der den Widerstand einer Strömung überwinden will. »Was gibt es,« rief Zschokke betroffen stehen bleibend, »was treibt dich denn schon auf die Straße, da ich dich noch im besten Morgenschlafe glaubte, mein Freund!«

»Ah, du bist's,« entgegnete Pestalozzi wie aus schwerer Sorge aufseufzend; »gottlob, daß ich wenigstens dich wieder habe. Gib mir die Hand, daß ich dich nimmer verlieren kann.«

»Aber du wirst dir doch meinetwegen keine Sorge gemacht haben – wo kommst du denn so eilfertig hergelaufen?«

»Sorge, meinst du?« entgegnete der Andere, indem er die Hand des Freundes mit spürbarem Zittern in die seinige preßte; »doch, ich habe große Sorge gehabt – es ist auch Sorgenszeit jetzt. Komm nur mit, Heinrich, komm nur mit mir – du hast den Hauptmann doch nicht gesehen?«

»Nein, aber eben darum will ich jetzt zu Rengger, um ihn zu suchen.«

»Er ist nicht dort,« flüsterte Pestalozzi mit unsichern Blicken hin und her spähend: »er ist nicht dort und Rengger auch nicht.«

»Und er ist auch nicht in den Gasthof zurückgekommen?«

»Nein, nein; aber sprich nicht so laut; er ist fort mit Rengger, schon vor zwei oder drei Stunden, sobald er von uns weggegangen war. Doch da droben weiß keine Seele wohin – ich habe ja eben nachgefragt.«

»Fort mit Rengger,« rief Zschokke mit gedämpfter Stimme, »zur Stadt hinaus, meinst du?«

»Vielleicht – wahrscheinlich; doch komm jetzt mit,« drängte Pestalozzi, »wir müssen auch noch nach einem Andern sehen und ich will dir's ja erzählen unterwegs – Alles.«

»Nach einem Andern?« entgegnete Zschokke, ob der Angst und bangen Eilfertigkeit seines Freundes beklommen; »wer ist dieser Andere und was hast du mir zu erzählen?«

»Hu,« machte der menschenfreundliche Philosoph, sich wie von einem Froste ergriffen schüttelnd; »wo soll ich anfangen und aufhören; in meinem alten Kopfe wirbelt's durcheinander wie eine Windsbraut im hohen Aehrenfelde. Wart – ja richtig. Als ich erwachte und deine auf den Tisch geschriebenen Worte sah, dacht' ich mir gleich, du möchtest zu Rengger gegangen sein, um nach dem Hauptmanne zu fragen, und so habe ich mich denn auch sogleich dahin auf den Weg gemacht. Aber, wie gesagt, die Beiden waren schon lange fort – der Direktor werde mir wohl selbst mittheilen wohin, wenn er zurückkomme, sagten mir die Leute auf der Wache, die selbst nicht mehr wissen, wo ihnen der Kopf steht.«

»Ist denn dort etwas Besonderes vorgefallen?« rief Zschokke, da sein Begleiter inne hielt; – »es wird sich doch nicht um den Hauptmann handeln!«

»Nicht gerade, nein, das ist's nicht,« erwiderte Pestalozzi leise und wieder ängstlich um sich blickend; »aber draußen auf der Schifflände sei vor kaum einer Stunde ein französischer Posten in den See gestürzt und erst todt wieder herausgezogen worden. Es könne das kein Anderer gethan haben, als der rothe Schiffer, der durch die letztnächtige Jagd vielleicht vom See verdrängt sich nun bis zur Stadt hereingewagt haben müsse.«

»Hat man Spuren davon,« fragte Zschokke nun ebenfalls mit leiserer Stimme, indem er stehen blieb; »oder warum soll's gerade der rothe Schiffer sein, der's gethan haben mag?«

»Ja,« erwiderte Pestalozzi bekümmert, »man will ihn gesehen haben, sich über die Reußbrücke hereinflüchten, und jetzt heißt es schon allgemein da auf der Wache droben, er finde bei den Aristokraten in der Stadt Unterschlauf oder sei sogar unterstützt und besoldet von ihnen. Du wirst sehen, es ist wieder einmal auf eine Aristokratenjagd angelegt, es sollen wieder ein paar schuldlose Familien in's Unglück gestürzt und um Hab und Gut gebracht werden.«

»Du glaubst also nicht an den ausgesprochenen Verdacht,« sagte Zschokke zögernd, »oder hältst sogar dafür, der Vorfall mit der verunglückten Schildwache am See sei planmäßig angezettelt worden?«

»Das will ich gerade nicht sagen,« erwiderte Pestalozzi traurig, »und was ich auf diesem von Leidenschaft, Irrthum, falscher Lüge und all' ihrem Unheil unterwühlten Boden glauben oder denken soll, weiß ich endlich selbst nicht mehr; aber eine große Angst ist über mich gekommen um unsern Freund, den Alt-Rathsherrn, dessen Familie, wie du gehört hast, mit dem Namen des schrecklichen Schiffers auf so seltsame Weise in Verbindung steht. Es läßt mir keine Ruhe, ich muß sogleich zu ihm gehen und du wirst mich begleiten, Heinrich.«

Diese aus tiefem Erbangen gesprochenen Worte konnten ihre Wirkung nicht verfehlen. Die besorgnißvolle Gedankenverbindung seines Freundes kam Zschokke so unerwartet und packte ihn mit einem solchen Sturme sich kreuzender Vorstellungen, daß er kaum noch einen Versuch wagen mochte, sich dieselben zu entwirren und deutlicher zu machen. Ebenso wenig getraute er sich, seinem Begleiter von der Begegnung mit dem Unbekannten zu sprechen oder dessen Angst durch die Mittheilung der Besorgnisse zu vermehren, welche das einsame Lichtlein neben dem Baselthor in ihm selbst erregt hatte. Er folgte ihm schweigend, fast willenlos durch die nun hellern Straßen, die er vorhin im Dunkeln gegangen, kaum beachtend, wie sich in denselben schon ein lebendiges Treiben zu entfalten begann. Der Gedanke, daß gerade das Räthselhafte und Entsetzliche, das er in den letzten zwölf Stunden erlebt und gehört, ihn mit jenen Verhältnissen in Berührung bringen sollte, die bei seinem Eintritte in die Stadt gleich einem ahnungsvollen Morgenwölklein am Horizonte seiner Zukunft emporgeblüht, erfüllte seine Seele so ganz und gar, daß er wie aus einem Traume aufschrak, als Pestalozzi den metallenen Klopfhammer auf die Thür des Rathsherrenhauses fallen ließ. »Noch nicht,« sagte Zschokke leise mit einer abwehrenden Handbewegung; »warte noch einen Augenblick.« Aber es war schon zu spät und von innen wurde das Geräusch leichter, flüchtiger Tritte hörbar, die sich über die Treppe gegen die Thüre herannahten. Die Beiden horchten mit verhaltenem Athem bis eine halb ängstliche, halb freudige Stimme rief: »Bist du es Väterchen? – Denke nur, Nanny und ich haben die ganze lange Nacht gewartet auf dich.« Zschokke wagte seine Augen nicht aufzuschlagen bei dieser Anfrage. Ohne es gesehen zu haben, fühlte er, mit welchem Erschrecken die Blicke seines Freundes auf ihn gerichtet waren, bis dieser endlich mit mühsamer Fassung die Antwort hervorbrachte: »Macht nur auf, Fräulein Franziska; wir, die Freunde Eures Vaters können Euch Nachrichten bringen von ihm.« – »Heilige Jungfrau! ich hab' es wohl gedacht,« ertönte es von Innen, und dem bangen Ausrufe folgte ein Geräusch, als würde Jemand widerstrebend und sich noch an einer Stütze haltend langsam zu Boden sinken. »Es ist Herr Pestalozzi,« flüsterte eine andere Stimme; »gewiß, du ängstigst dich umsonst – sei stark, Franziska, wir müssen aufschließen.« Der Riegel wurde zurückgeschoben und den beiden Freunden stellte sich ein Bild vor Augen, wie es noch nie einem Maler in seinen Visionen ergreifender und zugleich anmuthigerer Schönheit voll erschienen ist.

Auf der untersten Treppenstufe saß mit dem Oberkörper halb gegen das massive Eisengeländer zurückgelehnt die Tochter des Rathsherrn, deren sonst muthige Besonnenheit in diesem Augenblicke der Angst des kindlichen Herzens erlegen war. Das von dunkler Lockenfülle umrahmte Antlitz mit den feinen Zügen war blaß geworden, als hätte der Tod versucht, mit seiner kalten Hand darüber wegzustreifen, während die leichtgeöffneten Lippen, nicht im Stande, dem Worte ihre Dienste zu leihen, den unstäten Blicken der braunen Augen eine bange Frage schienen anvertraut zu haben. Neben ihr stand ein Wesen, das an jene Lichtgebilde gemahnte, welche die fromme Künstlerhand als tröstende Genien dem schmerzerfüllten Menschenkinde beizugesellen pflegt. Es war die jugendliche Freundin Franziska's mit dem kindlich jungfräulichen Unschuldsgesicht. Vornübergebeugt hielt sie ihre Rechte um den Nacken ihrer Gefährtin geschlungen und in der Linken trug sie die nur noch schwach brennende Lampe, deren Flämmchen in dem dunkeln Corridore mit beweglichen Lichtstreifen an dem lieblichen Kinde auf- und niederspielte, bald die halbaufgelösten, blonden Haarwellen wie ein Goldnetz schimmern lassend, bald die Stirn und blaßangehauchten Wangen mit bräunlichen Schatten übergießend. Als sie aber hinter dem eintretenden Pestalozzi den schlanken Reiter vom gestrigen Festzuge erkannte, begann die Lampe so heftig zu zittern in ihrer Hand, daß sie dieselbe auf die Treppenstufe niederstellen mußte und dann beide Arme um Franziska schlang, als wäre ihr nun selbst eine Stütze nöthig geworden. Zschokke wollte mit einer raschen Bewegung nach der Lampe fassen, aber wie festgebannt von dem ergreifenden Anblicke blieb er mit der ausgestreckten Hand unbeweglich stehen, der bangen Pause vergessend, in der Keines das erste Wort zu ergreifen wagte. Endlich näherte sich Pestalozzi dem Fräulein und sagte ihre Hand ergreifend mit weicher Stimme: »Wir haben Euch erschreckt, Franziska – wir hätten nicht so frühe kommen sollen.« – »Nein, Herr,« erwiderte sie langsam, indem sie sich auf die dargereichte Rechte stützend zu erheben suchte, »es ist nun schon vorüber; ich weiß ja, der Vater ist bei Euch gewesen.« Pestalozzi neigte sein bleiches Gesicht vorwärts und hob die Lampe auf. »Wir haben ihn gesehen, Ihr dürft Euch nicht ängstigen,« sagte er; »aber kommt, wir wollen lieber hinaufgehen.« – »Ja, gehen wir,« antwortete das Fräulein die Hand einen Augenblick auf die Stirn legend; »wir müssen allein sein, meine Freunde.«

Zschokke folgte der Voranschreitenden lautlos und erst als er in ein Gemach getreten und Franziskas Freundin die Gardinen zurückschlug, um das Tageslicht hereinzulassen, war er im Stande, Sammlung und Fassung wiederzugewinnen. Sein Gemüth war von einer dumpfen Beklommenheit umfangen und er mußte sich fast Gewalt anthun, der nächsten Minute mit offenem Auge entgegenzuschauen; aber jetzt, als Nanny sich wieder von dem Fenster abwenden wollte, glitt der erste Sonnenstrahl über die Nebel herein und schien die ganze Gestalt in ein wallendes Feuergewand einzuhüllen. »Der Engel des Lichts, der durch die Wirrnisse der Nacht führt,« sprach Zschokke unwillkürlich zu sich selbst bei diesem Anblick, und mit einem Male war es ihm, als sei plötzlich jeder beengende Druck von seiner Seele gewichen. »Unverzagt,« rief es in ihm, »hier gilt es mit frischer, freier That das Leben anzufassen.«

Mit diesem Entschlusse trat er an Franziska heran und sagte, ihre Hand an seine Lippen führend: »Erlaubt auch mir, Fräulein, dem Fremden, mich in Euern Rath einzudrängen und verzeiht mir, wenn ich ohne Umschweife mich auszusprechen wage. Der Vater hat uns bald nach Mitternacht verlassen, und Ihr habt ihn seither nicht gesehen?«

»Nein,« sagte die Tochter leise.

»Ihr könnt Euch auch nicht denken, wohin er gegangen sein möchte?«

»Er ist schon Monate lang nach eingebrochener Nacht nie mehr aus dem Hause gekommen bis gestern Abend.«

»Er verließ uns in Begleit des französischen Kommissärs, der, wie ich gehört, in Eurem Hause wohnt; – ist der auch nicht heimgekommen?«

»In Begleit Oliviers,« rief Franziska auf's Neue erbleichend; »heilige Jungfrau! – nun siehst du, Nanny, daß meine Befürchtungen nur zu begründet waren!«

Zschokke warf bei diesem Ausruf einen Blick nach Pestalozzi hinüber und fragte dann nachdenklich: »Wie, Fräulein, Ihr traut dem Manne Böses zu gegen Euern Vater?«

»Gütiger Gott,« erwiderte sie, das Gesicht mit beiden Händen bedeckend, »mein Herz sagte mir's vom ersten Augenblick an, daß mit ihm das Unglück in unser Haus eingezogen sei, obwohl mir's der arme Vater stets auszureden versuchte.«

»Habt Ihr Gründe für Euern Verdacht? Ich bitt' Euch, schenkt mir offenes Vertrauen – die Zeit drängt, und es soll an keinen Undankbaren verschwendet sein.«

»O nein, edler Freund in der Noth,« erwiderte Franziska, Zschokkes Hand ergreifend, »es rufen mir tausend Stimmen meines Innern zu, daß Ihr auf dem rechten Wege seid, der Gefahr zu begegnen, und drum laßt Euch nicht beirren, wenn ich keine Gründe zu sagen weiß, die dem ruhigen Verstande genügen könnten; wollte mir doch der Vater selbst nie glauben und hat mich meiner Angst wegen oft genug ein thörichtes Kind genannt. Aber ich fühlte es mehr, als ich's so mit leiblichen Augen sah, wie er ihn auf Schritt und Tritt umlauerte, wie sein spürender Blick unter der Maske artigster Höflichkeit auch auf mir lag, ohne daß ich die Ursache zu ergründen vermochte; es half mir auch nichts, daß ich selbst eine Maske vorzulegen versuchte – ich wußte nur, es war auf unser Verderben abgesehen.«

»Seltsam,« sagte Zschokke nach stillem Besinnen mehr für sich als zu seiner Umgebung, »daß der Hauptmann uns gerade in diesem Augenblicke fehlen muß! – Ist es darauf abgesehen, daß er uns fehle, oder gilt es Beiden zugleich?« – Er schwieg eine Weile, die Hand über die Augen gelegt, in Gedanken verloren; dann sagte er, sich rasch erhebend: »Folgen wir einmal den Spuren, die ein liebevolles Herz in seiner Besorgniß aufgefunden; seine Ahnung ist ja doch immer die Lichtquelle, an welcher der Verstand sein dürftiges Lämplein anzündet. Du, mein Guter,« richtete er sich an Pestalozzi, »bleibe mit deinem Troste hier, bis ich zurückkomme.«

Mit einer stummen Verbeugung gegen die Damen schritt er der Thüre zu. Nanny folgte dem Manne, auf dessen Antlitz der Wiederschein eines hingebenden Eifers aufgeblüht war, mit glänzenden Blicken, bis er das Gemach verlassen hatte; dann schmiegte sie sich an die Freundin und sagte mit tröstlicher Zuversicht: »Nun sei nur still, auch mir spricht es jetzt im Herzen, daß dem Bösen ein starker Widersacher gekommen ist.«

 

VIII.

Es gibt Tage, deren eigentliche Bestimmung es zu sein scheint, dem Menschen die Unzulänglichkeit seiner Kräfte im Kampfe gegen das Schicksal zum Bewußtsein zu bringen und ihn im Gefühle seiner Ohnmacht der Verzweiflung Preis zu geben, oder ihn zum demüthigen Vertrauen auf eine höhere Lenkung der Dinge hinzuweisen. Ein solcher Tag war heute für den Abgeordneten der Bündner Patrioten angebrochen. Trotz all' der frischen Energie, mit der er in der Morgenfrühe begonnen, das dunkle Gewebe des Unheils, das seine Freunde und ihn selbst so plötzlich umgarnt, aufzulösen, stand er nun am Abend nach bereits eingebrochener Dunkelheit in dumpfer Muthlosigkeit vor dem Baselthore und schaute wieder nach dem Lichtschimmer empor, der aus den Fenstern über dem Balkone des stattlichen Rathsherrenhauses brach. Er wußte, daß er dort droben mit banger Sehnsucht erwartet wurde; aber wie oft er auch seine Schritte langsam der Thüre zulenkte, er kehrte jedesmal wieder zurück, um nochmals zu überlegen, in welcher Weise er den verzweifelnden Bewohnern die Botschaft von der Erfolglosigkeit seiner letzten Anstrengungen überbringen solle. Den Tag hinüber hatte er, mehrmals von seinen rastlosen Gängen zurückkehrend, sich immer noch bemüht, Hoffnungen aufrecht zu erhalten, auf die er vielleicht selbst kein allzugroßes Vertrauen setzte; aber jetzt – was half es, das Unvermeidliche länger zu verschieben, mochte dieses auch noch so erschrecklich sein!

Der Hauptmann war noch in der Nacht nach der Waadt verreist mit dem Auftrage des Direktoriums zur unverzüglichen Organisation einiger neuer Bataillone der helvetischen Legionen. Es war dies der einzige Ausweg gewesen, mittelst dessen Rengger und selbst einige Direktoren geglaubt hatten, den Freund einer drohenden Gefahr entziehen zu können. Der französische Kommissär Olivier nämlich hatte die Anklage gegen ihn erhoben, er sei mit geheimen Aufträgen der Berner Aristokraten an den Alt-Rathsherrn Meyer versehen, und dieser selbst das Haupt einer längst vorbereiteten und weit verzweigten Verschwörung gegen die helvetischen Einrichtungen, von welcher der blutige Aufstand in Nidwalden nur ein vereinzelter Ausbruch und Vorläufer künftiger Schilderhebungen gewesen sei. Von englischen Geldern unterstützt, und auch noch die von ihnen verheimlichten, frühern Staatsschätze aufzehrend, suchen diese Verschwörer den Fanatismus des Volkes gegenwärtig durch eine organisirte Mörderbande auf dem Waldstättersee wach zu erhalten, und um ihre Plane zu decken, haben sie ihren blutdürstigen Söldlingen den sagenhaften Namen des rothen Schiffers beigelegt. Ein Beweis, wie wohlvorbereitet diese Plane worden seien, liege unter Anderm darin, daß der Rathsherr Meyer schon vor Monaten jenes Bild des Schiffers, das früher in einer Kapelle verborgen gewesen, auf die öffentliche Brücke habe bringen lassen, natürlich in der bloßen Absicht, die Erinnerung an den alten Aberglauben dadurch wieder aufzufrischen, um denselben alsdann zu meuterischen Zwecken ausbeuten zu können. Die Bekanntschaft Franziska's mit der Braut des Hauptmannes wurde zum schweren Argwohn eines politischen Einverständnisses erhoben, und nun hatte das Benehmen des Berners gegen die fränkischen Soldaten, sowie manche offen von ihm gethane Aeußerung über die herrschende Willkür und den schnöden Druck der Fremden plötzlich einen festen Grund gefunden. Der biedere Rathsherr also, der in den neuen Landesbehörden keine vertrauten und vorsorglichen Freunde besaß, lag draußen am See als Gefangener im wohlverwahrten Thurme und sollte mit dem nächsten Morgen vor ein französisches Kriegsgericht gestellt werden. Sein Loos konnte in diesen Zeiten nicht zweifelhaft sein; entging er dem Tode, so war ihm wenigstens die Deportation nach einer französischen Festung und die Confiscation seines Vermögens gewiß. Zschokke, den vielleicht nur sein Charakter und seine Stellung als Abgeordneter der Bündner vor einer Mitanklage geschützt, hatte sich vergebliche Mühe gegeben, dem Unglücklichen wenigstens ein einheimisches Gericht zu erwirken. Wie sehr er auch von der vollständigen Unschuld seines neuen Bekannten, dessen einzige Schuld wohl in seinem großen Vermögen bestand, in tiefster Seele überzeugt war – es gelang ihm nicht einmal, die entschlossene Theilnahme seiner Freunde in den Behörden anzuregen. »Wir haben es immerhin mit einem Aristokraten zu thun,« lautete die achselzuckende Antwort, und mit schmerzlicher Bitterkeit konnte nun Zschokke zum ersten Male erfahren, wie tief der Parteiargwohn alle Bande einheimischer Zusammengehörigkeit zerfressen hatte. War ja doch der harmlose Pestalozzi in ein scharfes Verhör genommen worden über seine Beziehungen zu dem Alt-Rathsherrn! »Unser heutiges Geschlecht ist zu schlecht, die Idee eines freien und einig verbundenen Vaterlandes auszuführen,« hatte der Zürcher Philosoph dem Direktor Laharpe geantwortet, als dieser sich mißfällig über die Freundschaft für den Aristokraten geäußert, »wir sind allesammt zu tief von dem Roste einer unseligen Vergangenheit angefressen; es ist drum an der Zeit, daß wir ein neues Volk erziehen – das Einzige, was uns als Rettung bleibt.« Ein Glück für Zschokke und den Gefangenen war es, daß das gestrige Abenteuer auf dem See und seine nachherige Besprechung noch ein Geheimniß geblieben, sonst würde dasselbe den letzten Eckstein geliefert haben zu dem Gebäude, das die Bosheit und Leidenschaft aus den zerstreut herumliegenden Bausteinen zufälliger Vorkommenheiten aufgerichtet.

In trübem Sinnen diese Dinge überdenkend und in unruhiger Hast vor dem Baselthore auf- und niedergehend, rief Zschokke vom tiefsten Mitleide ergriffen: »Armer Vater – arme Tochter!« – Ohne daran zu denken, hatte er diese Worte so laut ausgesprochen, daß er sich unwillkürlich umschaute, ob ihn Niemand behorcht haben könnte; aber heftig erschrak er, als er im nämlichen Augenblicke hart neben sich eine dunkle Gestalt erblickte und sich ihm eine schwere Hand auf die Schulter legte. »Etwas mehr Vorsicht dürfte nicht schaden diesmal,« sagte eine tiefe Stimme. Der so unerwartet Angeredete war im Begriffe, in einen lauten Ruf der Ueberraschung auszubrechen; aber der Andere mußte dies erwartet haben und hielt ihm die Hand vor den Mund, während er in fast drohendem Tone flüsterte: »Still, Herr, wenn Euch Euer Leben lieb ist.« Zschokke faßte den Arm des Fremden und entgegnete all' seine Besonnenheit zusammenraffend: »Ich will aber reden, Mann, und gebe Euch die Drohung zurück; die geringste Bewegung und Ihr seid ein Kind des Todes.« Hiemit hatte er eine Pistole unter dem Oberkleide hervorgezogen und sie seinem Gegenüber mit gespanntem Hahn auf die Brust gesetzt. Dieser jedoch erwiderte kaltblütig: »Laßt das Spielzeug da, guter Herr, mir ist's schon recht, daß Ihr mich trotz der Dunkelheit sogleich erkannt habt – ein gutes Zeugniß für Eure Augen, mein' ich; kommet nur ein wenig bei Seit' – da an der Mauer hinauf, hier können wir nicht ungestört sprechen miteinander.«

»Ihr bleibt stehen, bis ich Auskunft habe,« entgegnete Zschokke in festem Tone; »seid Ihr Derjenige, für den Ihr Euch gestern Abend ausgegeben, so ist Euer Leben der Gerechtigkeit verfallen; doch soll Euer Zeugniß vorher noch ein anderes schuldloses Leben vor dem Untergange retten.« Der Fremde schwieg einen Augenblick auf diese Apostrophe, als müsse er sich betroffen auf einen Ausweg besinnen; aber plötzlich packte er dann Zschokke's Hand mit solch eisernem Griffe, daß sie die Pistole machtlos zu Boden fallen lassen mußte. »Hört, junger Mann,« tönte die tiefe Stimme dabei, »wir haben jetzt keine Zeit zu eitlem Geschwätze. Sei ich, wer ich wolle, so bin ich hier, um Euch meine Hülfe zur Rettung eines Biedermannes anzubieten; aber nicht durch mein Zeugniß, wie Ihr denkt, sondern durch die That. Mein Leben ist auch einem ganz andern Richter anheimgegeben, als diejenigen sind, denen Ihr thörichter Weise diesen Namen beilegt.«

Es lag in dem Tone dieser Worte eine so imponirende Kraft und zugleich fühlte sich Zschokke von solch unwiderstehlicher Kraft angepackt, daß er dem Fremden wohl oder übel eine Strecke der dunklen Mauer entlang folgen mußte. Endlich blieb der Führer stehen und sagte leise: »Hier werden wir sicher sein, mein Herr.« – »Hört,« entgegnete Zschokke, nur mit Mühe ein beklommenes Aufathmen unterdrückend, »bevor ich ein weiteres Wort mit Euch verliere, habt Ihr mir meine vorige Frage zu beantworten. Seid Ihr der Mann, dessen Name gegenwärtig von vielen Tausenden nur mit Grauen genannt werden kann?«

»Wenn ich meinen Feinden Grauen einflöße,« erwiderte der Andere nach einer kleinen Pause, »so geschieht es nur einer geringen Vergeltung wegen für das Elend, das sie über mich gebracht haben.«

»Ihr gesteht also, die schrecklichen Thaten, die dieser Tage auf dem See geschehen, begangen zu haben!«

»Ihr seid weder mein Richter, noch mein Beichtiger; wäret Ihr aber das Eine oder Andere in gerechtem Sinne, so müßtet Ihr auch von Thaten sprechen, die nicht auf dem See begangen worden. Oder habt Ihr nichts gehört von dem Morde schuldloser Frauen und Kinder und nichts gesehen von den Flammen, die das letzte Obdach armer verlassener Waisen verzehrt haben?«

»Ihr seid also doch ein geächteter Nidwaldner,« entgegnete Zschokke, ergriffen von dem zwischen Schmerz und Wildheit schwebenden Tone der Stimme des Fremden, »und habt Euch nun eine Rache zum Ziele gesetzt, die Euch selbst in zeitliches und ewiges Verderben stürzen muß.«

»Zu wissen, wer ich bin, kann Euch nichts nützen, und mein Schicksal ist dem Himmel anheimgestellt. Genug, wenn ich meine Feinde bekämpfe, so soll doch ohne Noth kein Unschuldiger meinetwegen in's Unglück kommen. Drum bin ich auch hier, um Euch meine Hülfe zur Befreiung des Rathsherrn da drüben anzubieten.«

»Ihr?« erwiderte Zschokke zögernd, »kennt Ihr denn den Rathsherrn?«

»Ich kenne ihn nur, wie ihn von jeher Jedermann gekannt hat,« lautete die Antwort, »als einen wahren, gerechten Ehrenmann, der nun vielleicht auch um meinetwillen in's Elend gebracht werden soll. Gebt mir also runden Bescheid: »Habt Ihr Muth und Willen, ihn diese Nacht über den See zu bringen? – Bekannte wird er wohl haben in den Ländern drinnen, in Uri oder Schwyz, die ihm alsdann weiter helfen mögen.«

Zschokke konnte sich eines Fröstelns nicht erwehren bei dem Gedanken, sich mit dem Unheimlichen zu gemeinsamer That verbinden zu sollen. Er sagte daher nachdenklich: »Wenn das auch der Fall sein möchte, wie könnten wir den Gefangenen aus dem scharfbewachten Thurme bringen? Habt Ihr Helfer, die uns beistünden?«

»Dafür laßt mir die Sorge,« entgegnete der Fremde, »und sagt mir blos, ob Ihr nach Mitternacht, sobald die zweite Wache aufgezogen sein wird, Euch draußen oberhalb des Thurmes einfinden wollt. Dort werdet Ihr an der Mauer, die bis an den See hinabgeht, ein Schiffchen antreffen und das Weitere dem Schutze der Heiligen anheimstellen.«

»Aber wie soll ich Euern Worten trauen,« fragte Zschokke, dessen kecke Unternehmungslust an der entschlossenen Zuversichtlichkeit des Mannes schon in neue Hoffnung ausgeschlagen hatte, »und wer bürgt mir dafür, daß Ihr nicht selbst Schlimmes im Schilde führt?«

»Ein Mann, auf den der Tod mit tausend Augen lauert, hat nichts mit der Lüge zu schaffen,« entgegnete der Andere; »von Euch selbst hab' ich auch kein Versprechen begehrt, daß Ihr mich weder verrathen, noch einem Menschen unser Vorhaben anvertrauen wollt.«

»Das Letztere könnt' ich auch nicht versprechen,« antwortete Zschokke bestimmt.

Die Blicke des Fremden erglänzten bei diesen Worten wie ein falber Wetterschein durch die Nacht und mit einem raschen Schritte nähertretend, fragte er mit dumpfer Stimme: »Was soll das heißen, Herr?«

»Ich muß der Tochter des Gefangenen von unserm Plane sprechen und einem Freunde, der sich heute, wie ich, vergeblich zu dessen Gunsten verwendet hat.«

»Nun ja,« sagte der Andere nach einigem Besinnen, »da mögt Ihr selbst zusehen. Sonst kann ich mich auf Euch verlassen – Ihr werdet zur Stelle sein?«

»Hier meine Hand.«

Der Fremde faßte die dargereichte Rechte mit einem Drucke, als wäre sie zwischen die Klammern eines Schraubstockes gerathen. »Also auf Wiedersehen nach Mitternacht,« murmelte er und schritt dann rasch aber geräuschlos wie ein Schatten der Mauer entlang aufwärts. –

Einige Stunden später glitten ebenso geräuschlos drei dunkle Gestalten in der nämlichen Richtung durch die schweigende Nacht dahin. Die Tochter des Rathsherrn hatte mit aller Entschiedenheit erklärt, ihr Loos nicht von demjenigen des Vaters trennen zu lassen und mit gleicher Entschlossenheit beharrte auch Nanny dabei, ihre Freundin begleiten zu wollen. Zschokke freute sich trotz aller Einwürfe des Verstandes innerlich dieses Geleites, es kam ihm vor, als müsse es geheimen Schutz und Segen gewähren, während der jammervolle Pestalozzi sich fügte, in dem Hause des Freundes zurückzubleiben und allzufrühe, gefahrdrohende Nachfragen wo möglich auf Irrwege zu leiten.

Zur bezeichneten Stelle gelangt, fanden die Drei das Schiffchen halb an's Ufer gezogen. Drunten vom Thurme her ertönte eben der Anruf des ablösenden Postens, dem der rasch verhallende Schritt des abgehenden folgte. Sonst herrschte lautlose Stille, die nur von dem am flachen Gestade ermattenden Wellenschläge und von dem fast hörbaren Herzschlage der drei in banger Erwartung Harrenden unterbrochen wurde. Es mochten jedoch wenige Minuten vergangen sein, als weiter unten die Wasser rasch nacheinander zweimal aufplätscherten, als wäre ein schwerer Stein in dieselben geworfen worden, und ein paar Augenblicke darauf kamen flüchtige Schritte gegen die Mauer heran. »Er ist es,« rief Franziska mit erstickender Stimme – »gnadenreiche Jungfrau – ich kenne ihn am Gange.« Zschokke wollte der um die Mauerecke Hervorstürzenden den Weg vertreten, da in der Finsterniß ebensowohl der Verrath als die Liebe nahen konnte; aber er kam zu spät und einen Augenblick darauf hatte Franziska schon in lautes Schluchzen ausbrechend die Arme um eine dunkle Gestalt geschlungen.

»Meine Kinder, mein Freund,« sagte der Vater erschüttert, »ist es ein Traum, der mich höhnen will!«

»Um Gottes willen zu Schiffe,« rief Zschokke, indem er Franziskas Freundin, die sich zitternd an ihn geschmiegt, in das Boot trug und die beiden Andern nach sich zog; »eilt, sonst sind wir verloren.« Die Mahnung schien in der That nicht überflüssig zu sein, denn vom Thurme her wurde plötzlich eine laute Stimme gehört, die wie eine zischende Schlange in Zschokke's Ohren drang. Es war deutlich erkennbar die Stimme Oliviers, die zwei rasch folgende Rufe ausgestoßen und dann wieder verstummte. –

Die Ruder tauchten in's Wasser und das Schiffchen flog auf die dunkle Fläche hinaus. Noch einmal ertönte am Ufer die Stimme, aber leiser als zuvor und mühsam, als hätte sie nur mit Gewalt aus der Brust zu dringen vermocht. In dem Schiffchen selbst war es stille, wie im Kahne Charons, des Todtenführers, bis endlich Zschokke flüsterte: »Nun mögen wir wenigstens soweit sicher sein, daß vom Gestade aus uns keine Kugel mehr erreichen kann.«

»Mir ist's jetzt noch, als ob ich im Traume läge,« erwiderte der Rathsherr; »sagt mir um des Himmels willen, wie all' das gekommen, was man von mir gewollt, und wer mich aus dem Thurme geführt, daß ich mich von der Wirklichkeit überzeugen kann!«

»Habt Ihr Euern Führer nicht erkannt?«

»Nein; er sagte mir blos, er handle im Auftrage mächtiger Freunde, von denen ich Einen drüben am Ende der Mauer antreffen werde.«

»Und die fränkischen Wachtposten?«

»Ich habe sie kaum einige Minuten bevor mein Gemach sich öffnete, wechseln gehört; aber gesehen hab' ich keinen.«

»Dann will ich den Namen des Retters auch nicht nennen, bevor es Tag geworden,« sagte Zschokke leise; »weiß ich doch selbst nicht, wer und was er ist, Engel oder Dämon.« –

Die Fahrt ging wieder rasch und schweigsam weiter, ohne daß die Flüchtigen irgend ein Begegniß beunruhigt hätte. Nur schien sich hin und wieder ein Geräusch vernehmen zu lassen, als ob ihnen ein Schifflein bald nachfolge, bald zur Seite an ihnen vorbeifahre. Erst als sie im Morgengrauen bei Gersau an's Land zu steigen im Begriffe waren, glitt ein Kahn an ihnen vorüber, dessen Fährmann ein kleines Bündelchen in's Schiffchen warf. »Nehmt das zum Andenken an den rothen Schiffer,« rief er, »es ist das letzte von ihm.«

Zschokke hob das Geschenk in die Höhe. Es war ein kleines Päcklein, um welches eine zerknitterte Schärpe gewickelt war, wie sie die Kommissäre zu tragen pflegten. –

Schon am folgenden Vormittage liefen in Luzern allerlei seltsame und verworrene Gerüchte um. Die Wache, welche gegen Morgen zur Ablösung nach dem Thurme am See marschirt war, hatte den Posten leer gefunden, und bald zeigte sich's auch, daß der Gefangene verschwunden war. Aber nach Hause war dieser nicht zurückgekehrt; vielmehr hieß es dort, daß auch das Fräulein sammt seiner Freundin heimlicherweise verschwunden sei, und ebenso wenig hatte sich der Kommissär Olivier mehr im Hause gezeigt. Wie dies zusammenhängen mochte, deutete der geöffnete Schrank, in welchem der Rathsherr sonst seine Werthpapiere verwahrte. Diese waren nicht mehr zu finden, und nun hieß es bald, Franziska werde den Kommissär bestochen haben, daß er dem Vater das Gefängniß geöffnet und dann mit den Flüchtigen selbst entflohen sei.

Lange konnten sich solche Vermuthungen und Combinationen freilich nicht halten; denn noch vor Abend wurde nicht nur die Leiche der verschwundenen Schildwache, sondern auch diejenige des Kommissärs unweit des Thurmes aus dem Wasser gezogen. Ein dunkler Streifen am Halse Oliviers zeigte deutlich, daß er erdrosselt worden war, und nun wurde auch von jedem Munde wieder schreckenvoll der rothe Schiffer genannt. Aber in welcher Verbindung stand der Furchtbare mit dem entflohenen Rathsherrn? Waren die Anklagen des verunglückten Kommissärs über ein geheimes Einverständniß doch nicht unbegründet gewesen? – Diese Fragen beschäftigten selbst die helvetischen Behörden aufs Lebhafteste, bis ein Brieflein Zschokke's an Pestalozzi einigen Aufschluß gab. Dieses war von Schwyz aus datirt und meldete, daß der Rathsherr sammt seiner Tochter sich bereits in Lindau bei dem Bräutigam der letztern in Sicherheit befinde. »Ueber die Absichten des Kommissärs Olivier,« hieß es weiter, »haben einige Notizen seines Taschenbuches, das uns in die Hände fiel, theilweisen Aufschluß gegeben. Die abgebrochene Kapelle, in welcher sich das Bild des rothen Schiffers ursprünglich befunden, besaß ein bedeutendes Stiftungsgut, das aber im Laufe der Zeit ausschließlich von der Meyerschen Familie ausgegangen war. Dieser beabsichtigte der Rathsherr dasselbe auch zu erhalten, und wußte deshalb sämmtliche bezügliche Urkunden in seine Verwahrung zu bringen. Der aus Erpressungen jeder Art erpichte Franzose mußte davon Wind bekommen haben, und das war der Grund, warum er sich unter dem Scheine besondern Wohlwollens im Hause des Rathsherrn einquartirte. Hatte er Alles genau ausgekundschaftet, so war dann durch eine Anklage gegen den getäuschten Gastfreund ein goldener Fang zu thun. Nicht unwahrscheinlich ist es, daß die Ankunft des unbequemen Berner Hauptmannes den Ausführungsversuch des schurkischen Planes beschleunigen half; wer jedoch derjenige ist, der diesen Plan auf immer vereitelt – ich weiß nur soviel, daß uns die Schärpe des Kommissärs, in welche sein Taschenbuch eingewickelt war, als ein Andenken an den rothen Schiffer übermacht wurde. Daß aber von diesem auch dem Rathsherrn nicht mehr bekannt ist, als mir und euch in Luzern, dafür kann ich mit meinem Gewissen einstehen.« –


Dieser Vorgang war der letzte, mit dem der Name des geheimnißvollen und furchtbaren Rächers eines zur Verzweiflung getriebenen Volkes in Verbindung gebracht wurde. In dem vielbewegten Wellenschlage der Zeitereignisse wurde selbst die Erinnerung an den rothen Schiffer in den Hintergrund gedrängt, und auch der Berner Hauptmann mochte schon lange nicht mehr an denselben gedacht haben, als ihn nach Jahren ein Brieflein Zschokke's nach dem stillen Schlosse Biberstein im Aargau einlud: »Erinnerst Du Dich noch, alter Freund,« hieß es unter Anderm, »wie Du einst das zweite Gesicht belächelt, von dem ich Dir am verhängnißvollen Tage unserer Ankunft in Luzern erzählt habe? Beeile Dich, daß Du übermorgen hier bist und Du wirst den Anfang der Erfüllung desselben mitfeiern, indem Du mich mit dem blonden Engel vom Balkone des Luzerner Rathsherrnhauses zum Altare führen sollst. Mit Ausnahme des rothen Schiffers werden hoffentlich alle Bekannten, die in jenen Tagen mit uns waren, in der schönsten Stunde meines Lebens um mich versammelt sein. Behaglich ist's, im sichern Hafen der durchlebten Stürme zu gedenken.« –


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