Sigmund Freud
Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Sigmund Freud

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Dritter Teil

Allgemeine Neurosenlehre

(1917)

 

245 16. Vorlesung

Psychoanalyse und Psychiatrie

Meine Damen und Herren! Ich freue mich, Sie nach Jahresfrist zur Fortsetzung unserer Besprechungen wiederzusehen. Ich habe Ihnen im Vorjahre die psychoanalytische Behandlung der Fehlleistungen und des Traumes vorgetragen; ich möchte Sie heuer in das Verständnis der neurotischen Erscheinungen einführen, die, wie Sie bald entdecken werden, mit beiden vielerlei Gemeinsames haben. Aber ich sage es Ihnen vorher, ich kann Ihnen diesmal nicht dieselbe Stellung mir gegenüber einräumen wie im Vorjahre. Damals lag mir daran, keinen Schritt zu tun, ohne mit Ihrem Urteil im Einvernehmen zu bleiben; ich diskutierte viel mit Ihnen, unterwarf mich Ihren Einwendungen, anerkannte eigentlich Sie und Ihren »gesunden Menschenverstand« als entscheidende Instanz. Das geht jetzt nicht länger, und zwar wegen eines einfachen Sachverhaltes. Fehlleistungen und Träume waren Ihnen als Phänomene nicht fremd; man konnte sagen, Sie besaßen ebensoviel Erfahrung wie ich oder hatten es leicht, sich ebensoviel Erfahrung zu verschaffen. Das Erscheinungsgebiet der Neurosen ist Ihnen aber fremd; insofern Sie nicht selbst Ärzte sind, haben Sie keinen anderen Zugang dahin als eben meine Mitteilungen, und was hilft das beste Urteil, wenn die Vertrautheit mit dem zu beurteilenden Material nicht mit dabei ist.

Fassen Sie aber meine Ankündigung nicht in der Weise auf, als ob ich dogmatische Vorträge halten und Ihren unbedingten Glauben heischen würde. Das Mißverständnis täte mir grob Unrecht. Ich will keine Überzeugungen erwecken – ich will Anregungen geben und Vorurteile erschüttern. Wenn Sie infolge materieller Unkenntnis nicht in der Lage sind zu urteilen, so sollen Sie weder glauben noch verwerfen. Sie sollen anhören und auf sich wirken lassen, was ich Ihnen erzähle. Überzeugungen erwirbt man sich nicht so leicht, oder wenn man so mühelos zu ihnen gekommen ist, erweisen sie sich bald als wertlos und widerstandsunfähig. Ein Anrecht auf Überzeugung hat erst derjenige, der ähnlich wie ich viele Jahre lang an demselben Material gearbeitet und dabei dieselben neuen und überraschenden Erfahrungen selbst erlebt hat. Wozu denn überhaupt auf intellektuellem Gebiet diese raschen Überzeugungen, blitzähnlichen Bekehrungen, momentanen Abstoßungen? Merken 246 Sie nicht, daß der »coup de foudre«, die Liebe auf den ersten Blick, von einem ganz verschiedenen, affektiven Gebiet hergenommen sind? Wir verlangen nicht einmal von unseren Patienten, daß sie eine Überzeugung oder Anhängerschaft an die Psychoanalyse mitbringen. Das macht sie uns oft verdächtig. Eine wohlwollende Skepsis ist uns die erwünschteste Einstellung bei ihnen. Versuchen Sie also auch, die psychoanalytische Auffassung neben der populären oder der psychiatrischen ruhig in sich aufwachsen zu lassen, bis sich die Gelegenheiten ergeben, bei denen die beiden sich beeinflussen, sich messen und sich zu einer Entscheidung vereinigen können.

Anderseits sollen Sie aber auch keinen Augenblick meinen, daß das, was ich Ihnen als psychoanalytische Auffassung vortrage, ein spekulatives System ist. Es ist vielmehr Erfahrung, entweder direkter Ausdruck der Beobachtung oder Ergebnis einer Verarbeitung derselben. Ob diese Verarbeitung auf zureichende und auf berechtigte Weise erfolgt ist, das wird sich im weiteren Fortschritt der Wissenschaft herausstellen, und zwar darf ich, nach Ablauf von fast zweieinhalb Dezennien und im Leben ziemlich weit vorgerückt; ohne Ruhmredigkeit behaupten, daß es besonders schwere, intensive und vertiefte Arbeit war, welche diese Beobachtungen geliefert hat. Ich habe oft den Eindruck empfangen, als ob unsere Gegner diese Herkunft unserer Behauptungen gar nicht in Rücksicht ziehen wollten, als meinten sie, es handle sich um nur subjektiv bestimmte Einfälle, denen ein anderer sein eigenes Belieben entgegensetzen kann. Ganz verständlich ist mir dieses gegnerische Benehmen nicht. Vielleicht kommt es daher, daß man sich als Arzt sonst so wenig mit den Nervösen einläßt, so unaufmerksam zuhört, was sie zu sagen haben, daß man sich der Möglichkeit entfremdet hat, aus ihren Mitteilungen etwas Wertvolles zu entnehmen, also an ihnen eingehende Beobachtungen zu machen. Ich verspreche Ihnen bei dieser Gelegenheit, daß ich im Verlaufe meiner Vorträge wenig polemisieren werde, am wenigsten mit einzelnen Personen. Ich habe mich von der Wahrheit des Satzes, daß der Streit der Vater aller Dinge sei, nicht überzeugen können. Ich glaube, er stammt von der griechischen Sophistik her und fehlt, wie diese, durch Überschätzung der Dialektik. Mir schien es im Gegenteil, als ob die sogenannte wissenschaftliche Polemik im ganzen recht unfruchtbar sei, abgesehen davon, daß sie fast immer höchst persönlich betrieben wird. Bis vor einigen Jahren konnte ich 247 auch von mir rühmen, daß ich nur mit einem einzigen Forscher (Löwenfeld in München) einmal einen regelrechten wissenschaftlichen Streit eingegangen bin. Das Ende war, daß wir Freunde geworden und bis auf den heutigen Tag so geblieben sind. Aber ich habe den Versuch lange nicht wiederholt, weil ich des gleichen Ausganges nicht sicher war.

Sie werden nun gewiß urteilen, daß eine solche Ablehnung literarischer Diskussion einen besonders hohen Grad von Unzugänglichkeit gegen Einwürfe, von Eigensinn, oder wie man es in der liebenswürdigen wissenschaftlichen Umgangssprache ausdrückt, von »Verranntheit« bezeugt. Ich möchte Ihnen antworten, wenn Sie einmal eine Überzeugung mit so schwerer Arbeit erworben haben werden, wird Ihnen auch ein gewisses Recht zufallen, mit einiger Zähigkeit an dieser Überzeugung festzuhalten. Ich kann ferner geltend machen, daß ich im Laufe meiner Arbeiten meine Ansichten über einige wichtige Punkte modifiziert, geändert, durch neue ersetzt habe, wovon ich natürlich jedesmal öffentlich Mitteilung machte. Und der Erfolg dieser Aufrichtigkeit? Die einen haben von meinen Selbstkorrekturen überhaupt nicht Kenntnis genommen und kritisieren mich noch heute wegen Aufstellungen, die mir längst nicht mehr dasselbe bedeuten. Die anderen halten mir gerade diese Wandlungen vor und erklären mich darum für unzuverlässig. Nicht wahr, wer einige Male seine Ansichten geändert hat, der verdient überhaupt keinen Glauben, denn er legt es zu nahe, daß er sich auch mit seinen letzten Behauptungen geirrt haben kann? Wer aber an dem einmal Geäußerten unbeirrt festhält oder sich nicht rasch genug davon abbringen läßt, der heißt eigensinnig und verrannt. Was kann man angesichts dieser einander entgegengesetzten Einwirkungen der Kritik anderes tun als bleiben, wie man ist, und sich benehmen, wie das eigene Urteil es billigt? Dazu bin ich auch entschlossen, und ich lasse mich nicht abhalten, an all meinen Lehren zu modeln und zurechtzurücken, wie es meine fortschreitende Erfahrung erfordert. An den grundlegenden Einsichten habe ich bisher nichts zu ändern gefunden und hoffe, es wird auch weiterhin so bleiben.

248 Ich soll Ihnen also die psychoanalytische Auffassung der neurotischen Erscheinungen vorführen. Es liegt mir dabei nahe, an die bereits behandelten Phänomene anzuknüpfen, sowohl der Analogie als auch des Kontrastes wegen. Ich greife eine Symptomhandlung auf, die ich viele Personen in meiner Sprechstunde begehen sehe. Mit den Leuten, die uns in der ärztlichen Ordination besuchen, um in einer Viertelstunde den Jammer ihres langen Lebens vor uns auszubreiten, weiß ja der Analytiker nicht viel anzufangen. Sein tieferes Wissen macht es ihm schwer, wie ein anderer Arzt das Gutachten von sich zu geben: Es fehlt ihnen nichts – und den Rat zu erteilen: Gebrauchen Sie eine leichte Wasserkur. Einer unserer Kollegen hat denn auch auf die Frage, was er mit seinen Ordinationspatienten anstelle, achselzuckend geantwortet: Er lege ihnen eine Mutwillensstrafe von soundsoviel Kronen auf. Es wird Sie also nicht verwundern zu hören, daß selbst bei beschäftigten Psychoanalytikern die Sprechstunde nicht sehr belebt zu sein pflegt. Ich habe die einfache Tür zwischen meinem Warte- und meinem Behandlungs- und Ordinationszimmer verdoppeln und durch einen Filzüberzug verstärken lassen. Die Absicht dieser kleinen Vorrichtung leidet ja keinen Zweifel. Nun geschieht es immer wieder, daß Personen, die ich aus dem Wartezimmer einlasse, es versäumen, die Türe hinter sich zu schließen, und zwar lassen sie fast immer beide Türen offen stehen. Sowie ich das bemerke, bestehe ich in ziemlich unfreundlichem Ton darauf, daß der oder die Eintretende zurückgehe, um das Versäumte nachzuholen, mag es auch ein eleganter Herr oder eine sehr geputzte Dame sein. Das macht den Eindruck von unangebrachter Pedanterie. Ich habe mich auch gelegentlich mit solcher Forderung blamiert, da es sich um Personen handelte, die selbst keine Türklinke anfassen können und es gern sehen, wenn ihre Begleitung ihnen diese Berührung erspart. Aber in der Überzahl der Fälle hatte ich recht, denn wer sich so benimmt, wer die Türe vom Wartezimmer zum Sprechzimmer des Arztes offen stehen läßt, der gehört zum Pöbel und verdient, unfreundlich empfangen zu werden. Nehmen Sie jetzt nicht Partei, ehe Sie auch das Weitere angehört haben. Diese Nachlässigkeit des Patienten ereignet sich nämlich nur dann, wenn er sich allein im Wartezimmer befunden hat und also ein leeres Zimmer hinter 249 sich zurückläßt, niemals wenn andere, Fremde, mit ihm gewartet haben. In diesem letzteren Falle versteht er sehr wohl, daß es in seinem Interesse liegt, nicht belauscht zu werden, während er mit dem Arzt spricht, und versäumt es nie, beide Türen sorgfältig zu schließen.

So determiniert, ist das Versäumnis des Patienten weder zufällig noch sinnlos, ja nicht einmal unwichtig, denn wir werden sehen, es beleuchtet das Verhältnis des Eintretenden zum Arzt. Der Patient ist von der großen Menge jener, die weltliche Autorität verlangen, die geblendet, eingeschüchtert werden wollen. Er hat vielleicht durchs Telephon anfragen lassen, um welche Zeit er am leichtesten vorkommen kann, er hat sich auf ein Gedränge von Hilfesuchenden gefaßt gemacht, etwa wie vor einer Filiale von Julius Meinl. Nun tritt er in einen leeren, überdies höchst bescheiden ausgestatteten Warteraum und ist erschüttert. Er muß es den Arzt entgelten lassen, daß er ihm einen so überflüssigen Aufwand von Respekt entgegenbringen wollte, und da – unterläßt er es, die Türe zwischen Warte- und Ordinationszimmer zu schließen. Er will dem Arzt damit sagen: Ach, hier ist ja niemand und wahrscheinlich wird auch, so lange ich hier bin, niemand kommen. Er würde sich auch während der Besprechung ganz unmanierlich und respektlos benehmen, wenn man seine Überhebung nicht gleich anfangs durch eine scharfe Zurechtweisung eindämmen würde.

Sie finden an der Analyse dieser kleinen Symptomhandlung nichts, was Ihnen nicht bereits bekannt wäre: Die Behauptung, daß sie nicht zufällig ist, sondern ein Motiv hat, einen Sinn und eine Absicht, daß sie in einen angebbaren seelischen Zusammenhang gehört und daß sie als ein kleines Anzeichen von einem wichtigeren seelischen Vorgang Kunde gibt. Vor allem anderen aber, daß dieser so angezeigte Vorgang dem Bewußtsein dessen, der ihn vollzieht, unbekannt ist, denn keiner der Patienten, welche die beiden Türen offen gelassen haben, würde zugeben können, daß er mir durch dieses Versäumnis seine Geringschätzung bezeugen wollte. Auf eine Regung von Enttäuschung beim Betreten des leeren Wartezimmers würde sich wahrscheinlich mancher besinnen, aber der Zusammenhang zwischen diesem Eindruck und der darauffolgenden Symptomhandlung ist seinem Bewußtsein sicherlich unerkannt geblieben.

Nun wollen wir dieser kleinen Analyse einer Symptomhandlung eine Beobachtung an einer Kranken an die Seite stellen. Ich wähle eine 250 solche, die mir in frischer Erinnerung ist, auch darum, weil sie sich verhältnismäßig kurz darstellen läßt. Ein gewisses Maß von Ausführlichkeit ist bei jeder solchen Mitteilung unerläßlich.

 

Ein auf kurzen Urlaub heimgekehrter junger Offizier bittet mich, seine Schwiegermutter in Behandlung zu nehmen, die in den glücklichsten Verhältnissen sich und den Ihrigen das Leben durch eine unsinnige Idee vergällt. Ich lerne eine 53jährige, wohlerhaltene Dame von freundlichem, einfachem Wesen kennen, die ohne Widerstreben folgenden Bericht gibt. Sie lebt in glücklichster Ehe auf dem Lande mit ihrem Manne, der eine große Fabrik leitet. Sie weiß die liebenswürdige Sorgfalt ihres Mannes nicht genug zu loben. Liebesheirat vor 30 Jahren, seither nie eine Trübung, Zwist oder Anlaß zur Eifersucht. Ihre beiden Kinder gut verheiratet, der Mann und Vater will sich aus Pflichtgefühl noch nicht zur Ruhe setzen. Vor einem Jahre ereignete sich das Unglaubliche, ihr selbst Unverständliche, daß sie einem anonymen Briefe, welcher ihren ausgezeichneten Mann des Liebesverhältnisses mit einem jungen Mädchen bezichtigte, sofortigen Glauben schenkte, und seither ist ihr Glück zerstört. Der nähere Hergang war etwa der folgende: sie hatte ein Stubenmädchen, mit dem sie vielleicht zu oft Intimes besprach. Dieses Mädchen verfolgte ein anderes mit einer geradezu gehässigen Feindschaft, weil diese es im Leben soviel weiter gebracht hatte, obwohl sie von nicht besserer Herkunft war. Anstatt Dienst anzunehmen, hatte das Mädchen sich eine kommerzielle Ausbildung verschafft, war in die Fabrik eingetreten und infolge des Personalmangels durch die Einberufungen von Beamten zu einer guten Stellung vorgerückt. Sie wohnte jetzt in der Fabrik selbst, verkehrte mit allen Herren und hieß sogar Fräulein. Die im Leben Zurückgebliebene war natürlich bereit, der ehemaligen Schulkameradin alles mögliche Böse nachzusagen. Eines Tages unterhielt sich unsere Dame mit dem Stubenmädchen über einen alten Herrn, der zu Gast gewesen war, von dem man wußte, daß er nicht mit seiner Frau lebte, sondern ein Verhältnis mit einer anderen unterhielt. Sie weiß nicht, wie es kam, daß sie plötzlich äußerte: Für mich wäre es das Schrecklichste, wenn ich erfahren würde, daß mein guter Mann auch ein Verhältnis hat. Am nächsten Tage erhielt sie von der Post einen anonymen Brief, der ihr in verstellter Schrift diese gleichsam heraufbeschworene Mitteilung machte. Sie schloß – wahrscheinlich mit Recht –, daß der Brief das Werk ihres bösen Stubenmädchens sei, denn als Geliebte des Mannes war eben jenes Fräulein bezeichnet, das die Dienerin 251 mit ihrem Haß verfolgte. Aber obwohl sie die Intrige sofort durchschaute und an ihrem Wohnorte Beispiele genug erlebt hatte, wie wenig Glauben solche feige Denunziationen verdienten, geschah es, daß jener Brief sie augenblicklich niederwarf. Sie geriet in eine schreckliche Aufregung und schickte sofort um ihren Mann, um ihm die heftigsten Vorwürfe zu machen. Der Mann wies die Beschuldigung lachend ab und tat das Beste, was zu tun war. Er ließ den Haus- und Fabrikarzt kommen, der sein Bemühen dazutat, um die unglückliche Frau zu beruhigen. Auch das weitere Vorgehen der beiden war durchaus verständig. Das Stubenmädchen wurde entlassen, die angebliche Nebenbuhlerin aber nicht. Seither will sich die Kranke wiederholt soweit beruhigt haben, daß sie an den Inhalt des anonymen Briefes nicht mehr glaubte, aber nie gründlich und nie für lange Zeit. Es reichte hin, den Namen des Fräuleins aussprechen zu hören oder ihr auf der Straße zu begegnen, um einen neuen Anfall von Mißtrauen, Schmerz und Vorwürfen bei ihr auszulösen.

Das ist nun die Krankengeschichte dieser braven Frau. Es gehörte nicht viel psychiatrische Erfahrung dazu, um zu verstehen, daß sie im Gegensatz zu anderen Nervösen ihren Fall eher zu milde darstellte, also wie wir sagen: dissimulierte, und daß sie den Glauben an die Beschuldigung des anonymen Briefes eigentlich niemals überwunden hatte.

Welche Stellung nimmt nun der Psychiater zu einem solchen Krankheitsfalle ein? Wie er sich gegen die Symptomhandlung des Patienten benehmen würde, der die Türen zum Wartezimmer nicht schließt, das wissen wir bereits. Er erklärt sie für eine Zufälligkeit ohne psychologisches Interesse, die ihn weiter nichts angeht. Aber dies Verhalten läßt sich auf den Krankheitsfall der eifersüchtigen Frau nicht fortsetzen. Die Symptomhandlung scheint etwas Gleichgültiges zu sein, das Symptom aber drängt sich als etwas Bedeutsames auf. Es ist mit intensivem subjektiven Leiden verbunden, es bedroht objektiv das Zusammenleben einer Familie; es ist also ein unabweisbarer Gegenstand des psychiatrischen Interesses. Der Psychiater versucht zunächst das Symptom durch eine wesentliche Eigenschaft zu charakterisieren. Die Idee, mit welcher diese Frau sich quält, ist nicht an sich unsinnig zu nennen; es kommt ja vor, daß ältere Ehemänner Liebesbeziehungen zu jungen Mädchen unterhalten. Aber etwas anderes daran ist unsinnig und unbegreiflich. Die Patientin hat gar keinen anderen Grund daran zu glauben, daß ihr 252 zärtlicher und treuer Gatte zu dieser sonst nicht so seltenen Kategorie von Ehemännern gehört, als die Behauptung des anonymen Briefes. Sie weiß, daß diesem Schriftstück keine Beweiskraft zukommt, sie kann sich dessen Herkunft befriedigend aufklären; sie sollte sich also sagen können, daß sie gar keinen Grund für ihre Eifersucht hat, sie sagt es sich auch, aber sie leidet trotzdem ebenso, als ob sie diese Eifersucht als vollberechtigt anerkennen würde. Ideen dieser Art, die logischen und aus der Realität geschöpften Argumenten unzugänglich sind, ist man übereingekommen, Wahnideen zu heißen. Die gute Dame leidet also an Eifersuchtswahn. Das ist wohl die wesentliche Charakteristik dieses Krankheitsfalles.

Nach dieser ersten Feststellung wird unser psychiatrisches Interesse sich noch lebhafter regen wollen. Wenn eine Wahnidee durch den Bezug auf die Realität nicht abzutun ist, so wird sie wohl auch nicht aus der Realität stammen. Woher stammt sie sonst? Es gibt Wahnideen des verschiedenartigsten Inhaltes; warum ist der Inhalt des Wahnes in unserem Falle gerade Eifersucht? Bei welchen Personen bilden sich Wahnideen oder besonders Wahnideen der Eifersucht? Hier möchten wir nun dem Psychiater lauschen, aber hier läßt er uns im Stiche. Er geht überhaupt nur auf eine einzige unserer Fragestellungen ein. Er wird in der Familiengeschichte dieser Frau nachforschen und uns vielleicht die Antwort bringen: Wahnideen kommen bei solchen Personen vor, in deren Familien ähnliche und andere psychische Störungen wiederholt vorgekommen sind. Mit anderen Worten, wenn diese Frau eine Wahnidee entwickelt hat, so war sie durch erbliche Übertragung dazu disponiert. Das ist gewiß etwas, aber ist das alles, was wir wissen wollen? Alles, was zur Verursachung dieses Krankheitsfalles mitgewirkt hat? Sollen wir uns damit begnügen anzunehmen, daß es gleichgültig, willkürlich oder unerklärlich ist, wenn sich ein Eifersuchtswahn entwickelt hat an Stelle irgendeines anderen? Und dürfen wir den Satz, der die Vorherrschaft des erblichen Einflusses verkündet, auch im negativen Sinne dahin verstehen, es sei gleichgültig, welche Erlebnisse an diese Seele herangetreten sind, sie war dazu bestimmt, irgendeinmal einen Wahn zu produzieren? Sie werden wissen wollen, warum uns die wissenschaftliche Psychiatrie keine weiteren Aufschlüsse geben will. Aber ich antworte Ihnen: Ein Schelm, wer mehr gibt, als er hat. Der Psychiater kennt eben keinen Weg, der in der Aufklärung eines solchen Falles weiterführt. Er muß sich mit der Diagnose und einer trotz reichlicher Erfahrung unsicheren Prognose des weiteren Verlaufes begnügen.

253 Kann aber die Psychoanalyse hier mehr leisten? Ja doch; ich hoffe Ihnen zu zeigen, daß sie selbst in einem so schwer zugänglichen Falle etwas aufzudecken vermag, was das nächste Verständnis ermöglicht. Zunächst bitte ich Sie, das unscheinbare Detail zu beachten, daß die Patientin den anonymen Brief, der nun ihre Wahnidee stützt, geradezu provoziert hat, indem sie tags zuvor gegen das intrigante Mädchen die Äußerung tat, es wäre ihr größtes Unglück, wenn ihr Mann ein Liebesverhältnis mit einem jungen Mädchen hätte. Dadurch brachte sie das Dienstmädchen erst auf die Idee, ihr den anonymen Brief zu schicken. Die Wahnidee gewinnt so eine gewisse Unabhängigkeit von dem Briefe; sie ist schon vorher als Befürchtung – oder als Wunsch? – in der Kranken vorhanden gewesen. Nehmen Sie nun weiter hinzu, was nur zwei Stunden Analyse an weiteren kleinen Anzeichen ergeben haben. Die Patientin verhielt sich zwar sehr ablehnend, als sie aufgefordert wurde, nach der Erzählung ihrer Geschichte ihre weiteren Gedanken, Einfälle und Erinnerungen mitzuteilen. Sie behauptete, es fiele ihr nichts ein, sie habe schon alles gesagt, und nach zwei Stunden mußte der Versuch mit ihr wirklich abgebrochen werden, weil sie verkündet hatte, sie fühle sich bereits gesund und sei sicher, daß die krankhafte Idee nicht wiederkommen werde. Das sagte sie natürlich nur aus Widerstand und aus Angst vor der Fortsetzung der Analyse. Aber in diesen zwei Stunden hatte sie doch einige Bemerkungen fallenlassen, die eine bestimmte Deutung gestatteten, ja unabweisbar machten, und diese Deutung wirft ein helles Licht auf die Genese ihres Eifersuchtswahnes. Es bestand bei ihr selbst eine intensive Verliebtheit in einen jungen Mann, in denselben Schwiegersohn, auf dessen Drängen sie mich als Patientin aufgesucht hatte. Von dieser Verliebtheit wußte sie nichts oder vielleicht nur sehr wenig; bei dem bestehenden Verwandtschaftsverhältnis hatte diese verliebte Neigung es leicht, sich als harmlose Zärtlichkeit zu maskieren. Nach all unseren sonstigen Erfahrungen wird es uns nicht schwer, uns in das Seelenleben dieser anständigen Frau und braven Mutter von 53 Jahren einzufühlen. Eine solche Verliebtheit konnte als etwas Ungeheuerliches, Unmögliches nicht bewußt werden; sie blieb aber bestehen und übte als unbewußte einen schweren Druck aus. Irgend etwas mußte mit ihr geschehen, irgendeine Abhilfe gesucht werden, und die nächste Linderung bot wohl der Verschiebungsmechanismus, der an der Entstehung der wahnhaften Eifersucht so regelmäßig Anteil hat. Wenn nicht nur sie alte Frau in einen jungen Mann verliebt war, sondern auch ihr alter Mann ein Liebesverhältnis mit einem jungen Mädchen unterhielt, dann war sie ja 254 vom Gewissensdruck der Untreue entlastet. Die Phantasie von der Untreue des Mannes war also ein kühlendes Pflaster auf ihre brennende Wunde. Ihre eigene Liebe war ihr nicht bewußt geworden, aber die Spiegelung derselben, die ihr solche Vorteile brachte, wurde nun zwangsartig, wahnhaft, bewußt. Alle Argumente dagegen konnten natürlich nichts fruchten, denn sie richteten sich nur gegen das Spiegel-, nicht gegen das Urbild, dem jenes seine Stärke verdankte und das unantastbar im Unbewußten geborgen lag.

Stellen wir nun zusammen, was eine kurze und erschwerte psychoanalytische Bemühung zum Verständnis dieses Krankheitsfalles gebracht hat. Vorausgesetzt natürlich, daß unsere Ermittlungen korrekt zustande gekommen sind, was ich hier Ihrem Urteil nicht unterwerfen kann. Fürs erste: Die Wahnidee ist nichts Unsinniges oder Unverständliches mehr, sie ist sinnreich, gut motiviert, gehört in den Zusammenhang eines affektvollen Erlebnisses der Kranken. Zweitens: Sie ist notwendig als Reaktion auf einen aus anderen Anzeichen erratenen unbewußten seelischen Vorgang und verdankt gerade dieser Beziehung ihren wahnhaften Charakter, ihre Resistenz gegen logische und reale Angriffe. Sie ist selbst etwas Erwünschtes, eine Art von Tröstung. Drittens: Es ist durch das Erlebnis hinter der Erkrankung unzweideutig bestimmt, daß es gerade eine eifersüchtige Wahnidee wurde und keine andere. Sie erinnern sich doch, daß sie tags zuvor gegen das intrigante Mädchen die Äußerung tat, es wäre ihr das Schrecklichste, wenn ihr Mann ihr untreu würde. Sie übersehen auch nicht die beiden wichtigen Analogien mit der von uns analysierten Symptomhandlung in der Aufklärung des Sinnes oder der Absicht und in der Beziehung auf ein in der Situation gegebenes Unbewußtes.

Natürlich sind damit nicht alle Fragen beantwortet, die wir aus Anlaß dieses Falles stellen durften. Der Krankheitsfall starrt vielmehr von weiteren Problemen, solchen, die überhaupt noch nicht lösbar geworden sind, und anderen, die sich wegen der Ungunst der besonderen Verhältnisse nicht lösen ließen. Z. B. warum erliegt diese in glücklicher Ehe lebende Frau einer Verliebtheit in ihren Schwiegersohn, und warum erfolgt die Erleichterung, die auch auf andere Weise möglich wäre, in der Form einer solchen Spiegelung, einer Projektion ihres eigenen Zustandes auf ihren Mann? Glauben Sie nicht, daß es müßig und mutwillig ist, solche Fragen aufzuwerfen. Es steht uns bereits manches Material für eine mögliche Beantwortung derselben zu Gebote. Die Frau befindet sich in dem kritischen Alter, das dem weiblichen Sexualbedürfnis eine 255 unerwünschte plötzliche Steigerung bringt; das mag für sich allein hinreichen. Oder es mag hinzukommen, daß ihr guter und treuer Ehemann seit manchen Jahren nicht mehr im Besitze jener sexuellen Leistungsfähigkeit ist, deren die wohlerhaltene Frau zu ihrer Befriedigung bedürfte. Die Erfahrung hat uns darauf aufmerksam gemacht, daß gerade solche Männer, deren Treue dann selbstverständlich ist, sich durch besondere Zartheit in der Behandlung ihrer Frauen und durch ungewöhnliche Nachsicht mit deren nervösen Beschwerden auszeichnen. Oder es ist weiters nicht gleichgültig, daß es gerade der junge Ehemann einer Tochter ist, welcher zum Objekt dieser pathogenen Verliebtheit wurde. Eine starke erotische Bindung an die Tochter, die im letzten Grunde auf die Sexualkonstitution der Mutter zurückführt, findet oft den Weg dazu, sich in solcher Umwandlung fortzusetzen. Ich darf Sie vielleicht in diesem Zusammenhange daran erinnern, daß das Verhältnis zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn den Menschen von jeher als ein besonders heikles gegolten und bei den Primitiven Anlaß zu sehr mächtigen Tabuvorschriften und »Vermeidungen« gegeben hatVgl. Totem und Tabu.. Es geht häufig nach der positiven wie nach der negativen Seite über das kulturell erwünschte Maß hinaus. Welches dieser drei Momente nun in unserem Falle zur Wirkung gekommen ist, ob zwei davon, ob sie alle zusammengetroffen sind, das kann ich Ihnen freilich nicht sagen, aber nur darum nicht, weil es mir nicht gestattet war, die Analyse des Falles über die zweite Stunde hinaus fortzusetzen.

 

Ich merke jetzt, meine Herren, daß ich von lauter Dingen gesprochen habe, für die Ihr Verständnis noch nicht vorbereitet ist. Ich tat es, um die Vergleichung der Psychiatrie mit der Psychoanalyse durchzuführen. Aber eines darf ich Sie jetzt fragen: Haben Sie irgend etwas von einem Widerspruch zwischen den beiden bemerkt? Die Psychiatrie wendet die technischen Methoden der Psychoanalyse nicht an, sie unterläßt es, etwas an den Inhalt der Wahnidee anzuknüpfen, und sie gibt uns im Hinweis auf die Heredität eine sehr allgemeine und entfernte Ätiologie, anstatt zuerst die speziellere und näherliegende Verursachung aufzuzeigen. Aber liegt darin ein Widerspruch, ein Gegensatz? Ist's nicht vielmehr eine Vervollständigung? Widerspricht denn das hereditäre Moment der Bedeutung des Erlebnisses, setzen sich nicht vielmehr beide in der wirksamsten Weise zusammen? Sie werden mir zugeben, daß im Wesen 256 der psychiatrischen Arbeit nichts liegt, was sich gegen die psychoanalytische Forschung sträuben könnte. Die Psychiater sind's also, die sich der Psychoanalyse widersetzen, nicht die Psychiatrie. Die Psychoanalyse verhält sich zur Psychiatrie etwa wie die Histologie zur Anatomie; die eine studiert die äußeren Formen der Organe, die andere den Aufbau derselben aus den Geweben und Elementarteilchen. Ein Widerspruch zwischen diesen beiden Arten des Studiums, von denen das eine das andere fortsetzt, ist nicht gut denkbar. Sie wissen, die Anatomie gilt uns heute als die Grundlage einer wissenschaftlichen Medizin, aber es gab eine Zeit, in der es ebenso verboten war, menschliche Leichen zu zerlegen, um den inneren Bau des Körpers kennenzulernen, wie es heute verpönt erscheint, Psychoanalyse zu üben, um das innere Getriebe des Seelenlebens zu erkunden. Und voraussichtlich bringt uns eine nicht zu ferne Zeit die Einsicht, daß eine wissenschaftlich vertiefte Psychiatrie nicht möglich ist ohne eine gute Kenntnis der tieferliegenden, der unbewußten Vorgänge im Seelenleben.

Vielleicht hat nun die viel befehdete Psychoanalyse auch Freunde unter Ihnen, welche es gern sehen, wenn sie sich auch von anderer, von der therapeutischen Seite her rechtfertigen ließe. Sie wissen, daß unsere bisherige psychiatrische Therapie Wahnideen nicht zu beeinflussen vermag. Kann es vielleicht die Psychoanalyse dank ihrer Einsicht in den Mechanismus dieser Symptome? Nein, meine Herren, sie kann es nicht; sie ist gegen diese Leiden – vorläufig wenigstens – ebenso ohnmächtig wie jede andere Therapie. Wir können zwar verstehen, was in dem Kranken vor sich gegangen ist, aber wir haben kein Mittel, um es den Kranken selbst verstehen zu machen. Sie haben ja gehört, daß ich die Analyse dieser Wahnidee nicht über die ersten Ansätze hinaus fördern konnte. Werden Sie darum behaupten wollen, daß die Analyse solcher Fälle verwerflich ist, weil sie unfruchtbar bleibt? Ich glaube doch nicht. Wir haben das Recht, ja die Pflicht, die Forschung ohne Rücksicht auf einen unmittelbaren Nutzeffekt zu betreiben. Am Ende – wir wissen nicht, wo und wann – wird sich jedes Stückchen Wissen in Können umsetzen, auch in therapeutisches Können. Zeigte sich die Psychoanalyse bei allen anderen Formen nervöser und psychischer Erkrankung ebenso erfolglos wie bei den Wahnideen, so bliebe sie doch als unersetzliches Mittel der wissenschaftlichen Forschung voll gerechtfertigt. Wir würden dann allerdings nicht in die Lage kommen, sie auszuüben; das Menschenmaterial, an dem wir lernen wollen, das lebt, seinen eigenen Willen hat und seiner Motive bedarf, um bei der Arbeit mitzutun, würde sich uns 257 verweigern. Lassen Sie mich darum für heute mit der Mitteilung schließen, daß es umfassende Gruppen von nervösen Störungen gibt, bei denen sich die Umsetzung unseres besseren Verstehens in therapeutisches Können tatsächlich erwiesen hat, und daß wir bei diesen sonst schwer zugänglichen Erkrankungen unter gewissen Bedingungen Erfolge erzielen, die hinter keinen anderen auf dem Gebiete der internen Therapie zurückstehen.


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