Sigmund Freud
Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides)
Sigmund Freud

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

201 Nachtrag

(1912)

In der Behandlung der Krankengeschichte des Senatspräsidenten Schreber habe ich mich mit Absicht auf ein Mindestmaß von Deutung eingeschränkt und darf darauf vertrauen, daß jeder psychoanalytisch geschulte Leser aus dem mitgeteilten Material mehr entnommen haben wird, als ich ausdrücklich ausspreche, daß es ihm nicht schwergefallen ist, die Fäden des Zusammenhanges enger anzuziehen und Schlußfolgerungen zu erreichen, die ich bloß andeute. Ein freundlicher Zufall, der die Aufmerksamkeit anderer Autoren des gleichen Bandes auf die Schrebersche Selbstbiographie gelenkt hat, läßt auch erraten, wieviel noch aus dem symbolischen Gehalt der Phantasien und Wahnideen des geistreichen Paranoikers zu schöpfen istVgl. Jung (1911, 164 und 207); Spielrein (1911, 350)..

Eine zufällige Bereicherung meiner Kenntnisse seit der Veröffentlichung meiner Arbeit über Schreber hat mich nun in den Stand gesetzt, eine seiner wahnhaften Behauptungen besser zu würdigen und als mythologisch beziehungsreich zu erkennen. Auf Seite 178 erwähne ich das besondere Verhältnis des Kranken zur Sonne, die ich für ein sublimiertes »Vatersymbol« erklären mußte. Die Sonne spricht mit ihm in menschlichen Worten und gibt sich ihm so als ein belebtes Wesen zu erkennen. Er pflegt sie zu beschimpfen, mit Drohworten anzuschreien; er versichert auch, daß ihre Strahlen vor ihm erbleichen, wenn er gegen sie gewendet laut spricht. Nach seiner »Genesung« rühmt er sich, daß er ruhig in die Sonne sehen kann und davon nur in sehr bescheidenem Maße geblendet wird, was natürlich früher nicht möglich gewesen wäre (Anmerkung auf S. 139 des Schreberschen Buches).

An dieses wahnhafte Vorrecht, ungeblendet in die Sonne schauen zu können, knüpft nun das mythologische Interesse an. Man liest bei S. Reinach(1905–12), Bd. 3 (1908), 80. (Nach Keller, 1887.), daß die alten Naturforscher dieses Vermögen allein den Adlern zugestanden, die als Bewohner der höchsten Luftschichten zum Himmel, zur Sonne und zum Blitze in besonders innige Beziehung 202 gebracht wurdenAn den höchsten Stellen der Tempel waren Bilder von Adlern angebracht, um als »magische« Blitzableiter zu wirken. (S. Reinach, loc. cit.). Dieselben Quellen berichten aber auch, daß der Adler seine Jungen einer Probe unterzieht, ehe er sie als legitim anerkennt. Wenn sie es nicht zustande bringen, in die Sonne zu schauen, ohne zu blinzeln, werden sie aus dem Nest geworfen.

Über die Bedeutung dieses Tiermythus kann kein Zweifel sein. Gewiß wird hier den Tieren nur zugeschrieben, was bei den Menschen geheiligter Gebrauch ist. Was der Adler mit seinen Jungen anstellt, ist ein Ordal, eine Abkunftsprobe, wie sie von den verschiedensten Völkern aus alten Zeiten berichtet wird. So vertrauten die am Rhein wohnenden Kelten ihre Neugeborenen den Fluten des Stromes an, um sich zu überzeugen, ob sie wirklich ihres Blutes wären. Der Stamm der Psyllen im heutigen Tripolis, der sich der Abkunft von Schlangen rühmte, setzte seine Kinder der Berührung solcher Schlangen aus; die rechtmäßig Geborenen wurden entweder nicht gebissen oder erholten sich rasch von den Folgen des BissesSiehe Literaturnachweise bei Reinach, loc. cit. und ibid., Bd. 1, 74.. Die Voraussetzung dieser Erprobungen führt tief in die totemistische Denkweise primitiver Völker hinein. Der Totem – das Tier oder die animistisch gedachte Naturmacht, von der der Stamm seine Abkunft herleitet – verschont die Angehörigen dieses Stammes als seine Kinder, wie er selbst von ihnen als Stammvater verehrt und eventuell verschont wird. Wir sind hier bei Dingen angelangt, die mir berufen erscheinen, ein psychoanalytisches Verständnis für die Ursprünge der Religion zu ermöglichen.

Der Adler, der seine Jungen in die Sonne schauen läßt und verlangt, daß sie von ihrem Lichte nicht geblendet werden, benimmt sich also wie ein Abkömmling der Sonne, der seine Kinder der Ahnenprobe unterwirft. Und wenn Schreber sich rühmt, daß er ungestraft und ungeblendet in die Sonne schauen kann, hat er den mythologischen Ausdruck für seine Kindesbeziehung zur Sonne wiedergefunden, hat uns von neuem bestätigt, wenn wir seine Sonne als ein Symbol des Vaters auffassen. Erinnern wir uns daran, daß Schreber in seiner Krankheit seinen Familienstolz frei äußert (»Die Schrebers gehören dem höchsten himmlischen Adel an«)Denkwürdigkeiten (24). – »Adel« gehört zu »Adler«., daß wir ein menschliches Motiv für seine Erkrankung an einer femininen Wunschphantasie in seiner Kinderlosigkeit gefunden 203 haben, so wird uns der Zusammenhang seines wahnhaften Vorrechtes mit den Grundlagen seines Krankseins deutlich genug.

Dieser kleine Nachtrag zur Analyse eines Paranoiden mag dartun, wie wohlbegründet die Behauptung Jungs ist, daß die mythenbildenden Kräfte der Menschheit nicht erloschen sind, sondern heute noch in den Neurosen dieselben psychischen Produkte erzeugen wie in den ältesten Zeiten. Ich möchte eine früher gemachte Andeutung›Zwangshandlungen und Religionsübungen‹ (1907 b). wiederaufnehmen, indem ich ausspreche, daß für die religionsbildenden Kräfte dasselbe gilt. Und ich meine, es wird bald an der Zeit sein, einen Satz, den wir Psychoanalytiker schon vor langem ausgesprochen haben, zu erweitern, zu seinem individuellen, ontogenetisch verstandenen Inhalt die anthropologische, phylogenetisch zu fassende Ergänzung hinzuzufügen. Wir haben gesagt: Im Traume und in der Neurose finden wir das Kind wieder mit den Eigentümlichkeiten seiner Denkweisen und seines Affektlebens. Wir werden ergänzen: auch den wilden, den primitiven Menschen, wie er sich uns im Lichte der Altertumswissenschaft und der Völkerforschung zeigt.


 << zurück weiter >>