Sigmund Freud
Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides)
Sigmund Freud

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162 II
Deutungsversuche

Von zwei Seiten her könnte man den Versuch machen, zum Verständnis dieser paranoischen Krankengeschichte vorzudringen, die bekannten Komplexe und Triebkräfte des Seelenlebens in ihr aufzudecken. Von den wahnhaften Äußerungen des Kranken selbst und von den Anlässen seiner Erkrankung.

Der erste Weg erschiene verlockend, seitdem C. G. Jung uns das glänzende Beispiel der Deutung eines ungleich schwereren Falles von Dementia praecox, mit vom Normalen ungleich weiter abliegenden Symptomäußerungen gegeben hatC. G. Jung (1907).. Auch die hohe Intelligenz und Mitteilsamkeit des Kranken scheint uns die Lösung der Aufgabe auf diesem Wege zu erleichtern. Gar nicht so selten drückt er uns den Schlüssel selbst in die Hand, indem er zu einem wahnhaften Satz eine Erläuterung, ein Zitat oder Beispiel, wie beiläufig, hinzufügt oder eine ihm selbst auftauchende Ähnlichkeit ausdrücklich bestreitet. Man braucht dann nur im letzten Falle die negative Einkleidung wegzulassen, wie man es in der psychoanalytischen Technik zu tun gewohnt ist, das Beispiel für das Eigentliche, das Zitat oder die Bestätigung für die Quelle zu nehmen, und befindet sich im Besitze der gesuchten Übersetzung aus der paranoischen Ausdrucksweise ins Normale. Ein Beleg für diese Technik verdient vielleicht eine ausführlichere Darstellung. Schreber beklagt sich über die Belästigung durch die sogenannten »gewunderten Vögel« oder »sprechenden Vögel«, denen er eine Reihe recht auffälliger Eigenschaften zuschreibt (208–14). Sie sind nach seiner Überzeugung aus Resten ehemaliger »Vorhöfe des Himmels«, also selig gewesener Menschenseelen, gebildet und mit Leichengift beladen auf ihn gehetzt worden. Sie sind in den Stand versetzt, »sinnlos auswendig gelernte Redensarten« herzusagen, die ihnen »eingebleut« worden sind. Jedesmal, wenn sie das ihnen aufgepackte Leichengift bei ihm abgelagert, d. h. »die ihnen gewissermaßen eingebleuten Phrasen abgeleiert haben«, gehen sie mit den Worten »verfluchter Kerl« oder »ei verflucht« einigermaßen in seiner Seele auf, den einzigen Worten, deren sie im Ausdruck einer echten 163 Empfindung überhaupt noch fähig sind. Den Sinn der von ihnen gesprochenen Worte verstehen sie nicht, haben aber eine natürliche Empfänglichkeit für den Gleichklang der Laute, der kein vollständiger zu sein braucht. Es verschlägt daher für sie wenig, ob man sagt:

Santiago oder Karthago,
Chinesentum oder Jesum Christum,
Abendrot oder Atemnot,
Ariman oder Ackermann usw. (210.)

Während man diese Schilderung liest, kann man sich des Einfalles nicht erwehren, daß mit ihr junge Mädchen gemeint sein müssen, die man in kritischer Stimmung gerne mit Gänsen vergleicht, denen man ungalanterweise ein »Vogelgehirn« zuschreibt, von denen man behauptet, daß sie nichts zu reden wissen als eingelernte Phrasen, und die ihre Unbildung durch die Verwechslung ähnlich klingender Fremdwörter verraten. Das »verfluchter Kerl«, mit dem es ihnen allein Ernst ist, wäre dann der Triumph des jungen Mannes, der ihnen zu imponieren verstanden hat. Und siehe da, einige Seiten später (214) stößt man auf die Sätze Schrebers, welche eine solche Deutung sicherstellen. »Einer großen Anzahl der übrigen Vogelseelen habe ich scherzweise zur Unterscheidung Mädchennamen beigelegt, da sie sich sämtlich nach ihrer Neugier, ihrem Hang zur Wollust usw. am ersten mit kleinen Mädchen vergleichen lassen. Diese Mädchennamen sind dann zum Teil auch von den Gottesstrahlen aufgegriffen und zur Bezeichnung der betreffenden Vogelseelen beibehalten worden.« Aus dieser mühelosen Deutung der »gewunderten Vögel« entnimmt man dann einen Wink fürs Verständnis der rätselhaften »Vorhöfe des Himmels«.

Ich verkenne nicht, daß es jedesmal eines guten Stückes Takt und Zurückhaltung bedarf, wenn man die typischen Fälle der Deutung in der psychoanalytischen Arbeit verläßt, und daß der Hörer oder Leser nur so weit mitgeht, als die von ihm gewonnene Vertrautheit mit der analytischen Technik ihm gestattet. Man hat also allen Grund vorzusorgen, daß nicht dem gesteigerten Aufwand von Scharfsinn ein gemindertes Maß von Sicherheit und Glaubwürdigkeit parallel gehe. Es liegt dann in der Natur der Sache, daß der eine Arbeiter die Vorsicht, der andere die Kühnheit übertreiben wird. Die richtigen Grenzen der Berechtigung zur Deutung wird man erst nach vielerlei Versuchen und besserer Bekanntschaft mit dem Gegenstand abstecken können. Bei der Bearbeitung des Falles Schreber wird mir die Zurückhaltung durch den Umstand 164 vorgeschrieben, daß die Widerstände gegen die Publikation der Denkwürdigkeiten doch den Erfolg gehabt haben, einen beträchtlichen Anteil des Materials und wahrscheinlich den für das Verständnis bedeutsamsten unserer Kenntnis zu entziehenGutachten des Dr. Weber: »Überblickt man den Inhalt seiner Schrift, berücksichtigt man die Fülle der Indiskretionen, die in bezug auf ihn und andere in ihr enthalten sind, die ungenierte Ausmalung der bedenklichsten und ästhetisch geradezu unmöglichen Situationen und Vorgänge, die Verwendung der anstößigsten Kraftausdrücke usw., so würde man es ganz unverständlich finden, daß ein Mann, der sich sonst durch Takt und Feingefühl ausgezeichnet hat, eine ihn vor der Öffentlichkeit so schwer kompromittierende Handlung beabsichtigen könne, wenn eben nicht . . .« usw. (402.) – Von einer Krankengeschichte, die die gestörte Menschlichkeit und deren Ringen nach »Wiederherstellung schildern soll, wird man eben nicht fordern dürfen, daß sie »diskret« und »ästhetisch« ansprechend sei.. So z. B. schließt das Kapitel III des Buches, das mit der vielversprechenden Ankündigung begonnen hat: »Ich behandle nun zunächst einige Vorkommnisse an anderen Mitgliedern meiner Familie, die denkbarerweise in Beziehung zu dem vorausgesetzten Seelenmord stehen könnten und die jedenfalls alle ein mehr oder weniger rätselhaftes, nach sonstigen menschlichen Erfahrungen schwer zu erklärendes Gepräge an sich tragen« (33), unmittelbar darauf mit dem Satze: »Der weitere Inhalt des Kapitels kommt als zur Veröffentlichung ungeeignet für den Druck in Wegfall.« Ich werde also zufrieden sein müssen, wenn es mir gelingt, gerade den Kern der Wahnbildung mit einiger Sicherheit auf seine Herkunft aus bekannten menschlichen Motiven zurückzuführen.

Ich werde in dieser Absicht ein Stückchen der Krankengeschichte nachtragen, welches in den Gutachten nicht entsprechend gewürdigt wird, obwohl der Kranke selbst alles dazu getan hat, es in den Vordergrund zu drängen. Ich meine das Verhältnis Schrebers zu seinem ersten Arzte, dem Geheimrate Prof. Flechsig in Leipzig.

Wir wissen bereits, daß der Fall Schrebers zu Anfang das Gepräge des Verfolgungswahnes an sich trug, welches erst von dem Wendepunkte der Krankheit an (der »Versöhnung«) verwischt wurde. Die Verfolgungen werden dann immer erträglicher, der weltordnungsmäßige Zweck der angedrohten Entmannung drängt das Schmachvolle derselben zurück. Der Urheber aller Verfolgungen aber ist Flechsig, und er bleibt ihr Anstifter über den ganzen Verlauf der KrankheitVorrede, VIII: »Noch jetzt wird mir an jedem Tage Ihr Name von den mit mir redenden Stimmen in stets wiederkehrenden Zusammenhängen insbesondere als Urheber jener Schädigungen zu Hunderten von Malen zugerufen, obwohl die persönlichen Beziehungen, die eine Zeitlang zwischen uns bestanden haben, für mich längst in den Hintergrund getreten sind und ich selbst daher schwerlich irgendwelchen Anlaß hätte, mich Ihrer immer von neuem, insbesondere mit irgendwelcher grollenden Empfindung zu erinnern.«.

165 Was nun eigentlich die Untat Flechsigs und welches seine Motive dabei waren, das wird von dem Kranken mit jener charakteristischen Unbestimmtheit und Unfaßbarkeit erzählt, welche als Kennzeichen einer besonders intensiven Wahnbildungsarbeit angesehen werden dürfen, wenn es gestattet ist, die Paranoia nach dem Vorbilde des um so viel besser bekannten Traumes zu beurteilen. Flechsig hat an dem Kranken einen »Seelenmord« begangen oder versucht, ein Akt, der etwa den Bemühungen des Teufels und der Dämonen, sich einer Seele zu bemächtigen, gleichzustellen ist und der vielleicht in Vorgängen zwischen längst verstorbenen Mitgliedern der Familien Flechsig und Schreber vorgebildet war. (22 ff.) Gerne möchte man über den Sinn dieses Seelenmordes mehr erfahren, aber hier versagen wiederum in tendenziöser Weise die Quellen: »Worin das eigentliche Wesen des Seelenmords und sozusagen die Technik desselben besteht, vermag ich außer dem im obigen Angedeuteten nicht zu sagen. Hinzuzufügen wäre nur noch etwa (folgt eine Stelle, die sich zur Veröffentlichung nicht eignet).« (28.) Infolge dieser Auslassung bleibt es für uns undurchsichtig, was unter dem »Seelenmord« gemeint ist. Den einzigen Hinweis, welcher der Zensur entgangen ist, werden wir an anderer Stelle erwähnen.

Wie dem immer sei, es erfolgte bald eine weitere Entwicklung des Wahnes, welche das Verhältnis des Kranken zu Gott betraf, ohne das zu Flechsig zu ändern. Hatte er bisher seinen eigentlichen Feind nur in Flechsig (oder vielmehr in dessen Seele) erblickt und Gottes Allmacht als seine Bundesgenossin betrachtet, so konnte er dann den Gedanken nicht abweisen, daß Gott selbst der Mitwisser, wenn nicht gar Anstifter des gegen ihn gerichteten Planes sei. (59.) Flechsig aber blieb der erste Verführer, dessen Einfluß Gott unterlegen war (60). Er hatte es verstanden, sich mit seiner ganzen Seele oder einem Teile derselben zum Himmel aufzuschwingen und sich damit selbst – ohne Tod und vorgängige Reinigung – zum »Strahlenführer« zu machen (56)Nach einer anderen bedeutungsvollen, aber bald abgewiesenen Version hatte sich Prof. Flechsig entweder zu Weißenburg im Elsaß oder im Polizeigefängnis zu Leipzig erschossen. Patient sah seinen Leichenzug, der sich aber nicht in der Richtung bewegte, die man nach der Lage der Universitätsklinik zum Friedhof erwarten sollte. Andere Male erschien ihm Flechsig in Begleitung eines Schutzmannes oder in der Unterhaltung mit seiner Frau, deren Zeuge er im Wege des Nervenanhanges wurde, und wobei sich Prof. Flechsig seiner Frau gegenüber »Gott Flechsig« nannte, so daß diese geneigt war, ihn für verrückt zu halten. (82.). Diese 166 Rolle behielt die Flechsigsche Seele bei, auch nachdem der Kranke die Leipziger Klinik mit der Piersonschen Anstalt vertauscht hatte. Der Einfluß der neuen Umgebung zeigte sich dann darin, daß zu ihr die Seele des Oberwärters, in dem der Kranke einen ehemaligen Hausgenossen erkannte, als v. W.sche Seele hinzutratVon diesem v. W. sagten ihm die Stimmen, er habe bei einer Enquête vorsätzlich oder fahrlässigerweise unwahre Dinge über ihn ausgesagt, namentlich ihn der Onanie beschuldigt; zur Strafe sei ihm jetzt die Bedienung des Patienten auferlegt worden. (108.). Die Flechsigsche Seele führte dann die »Seelenteilung« ein, die große Dimensionen annahm. Zu einer gewissen Zeit gab es 40 bis 60 solcher Abspaltungen der Flechsigschen Seele; zwei größere Seelenteile wurden der »obere Flechsig« und der »mittlere Flechsig« genannt. Ebenso verhielt sich die v. W.sche Seele (die des Oberwärters) (111). Dabei wirkte es zuweilen sehr drollig, wie die beiden Seelen sich trotz ihrer Bundesgenossenschaft befehdeten, der Adelsstolz der einen und der Professorendünkel der anderen sich gegenseitig abstießen (113). In den ersten Wochen seines endgültigen Aufenthaltes auf dem Sonnenstein (Sommer 1894) trat die Seele des neuen Arztes Dr. Weber in Aktion, und bald darauf kam jener Umschwung in der Entwicklung des Wahnes, den wir als die »Versöhnung« kennengelernt haben.

Während des späteren Aufenthaltes auf dem Sonnenstein, als Gott den Kranken besser zu würdigen begann, kam eine Razzia unter den lästigerweise vervielfältigten Seelen zustande, infolge deren die Flechsigsche Seele nur in ein oder zwei Gestalten, die v. W.sche in einziger Gestalt übrigblieb. Die letztere verschwand bald völlig; die Flechsigschen Seelenteile, die langsam ihre Intelligenz wie ihre Macht einbüßten, wurden dann als der »hintere Flechsig« und als die »Je-nun-Partei« bezeichnet. Daß die Flechsigsche Seele ihre Bedeutung bis zum Ende beibehielt, wissen wir aus der Vorrede, dem ›Offenen Brief an Herrn Geh. Rath Prof. Dr. Flechsig‹.

Dieses merkwürdige Schriftstück drückt die sichere Überzeugung aus, daß der ihn beeinflussende Arzt auch selbst die gleichen Visionen gehabt und dieselben Aufschlüsse über übersinnliche Dinge erhalten habe wie der Kranke, und stellt die Verwahrung voran, daß dem Autor der Denkwürdigkeiten die Absicht eines Angriffes auf die Ehre des Arztes ferneliege. Dasselbe wird in den Eingaben des Kranken (343 und 445) mit Ernst und Nachdruck wiederholt; man sieht, er bemüht sich, die 167 »Seele Flechsig« von dem Lebenden dieses Namens, den wahnhaften von dem leibhaften Flechsig zu trennen»Ich habe demnach auch als möglich anzuerkennen, daß alles, was in den ersten Abschnitten meiner Denkwürdigkeiten über Vorgänge berichtet worden ist, die mit dem Namen Flechsig in Verbindung stehen, nur auf die von dem lebenden Menschen zu unterscheidende Seele Flechsig sich bezieht, deren besondere Existenz zwar gewiß, auf natürlichem Wege aber nicht zu erklären ist.« (342–3.).

 

Aus dem Studium einer Reihe von Fällen des Verfolgungswahnes habe ich und haben andere den Eindruck empfangen, die Relation des Kranken zu seinem Verfolger sei durch eine einfache Formel aufzulösenVgl. K. Abraham (1908). – In dieser Arbeit räumt mir der gewissenhafte Autor einen aus unserem Briefverkehr stammenden Einfluß auf die Entwicklung seiner Ansichten ein.. Die Person, welcher der Wahn so große Macht und Einfluß zuschreibt, in deren Hand alle Fäden des Komplotts zusammenlaufen, sei, wenn sie bestimmt genannt wird, die nämliche, der vor der Erkrankung eine ähnlich große Bedeutung für das Gefühlsleben der Patienten zukam, oder eine leicht kenntliche Ersatzperson derselben. Die Gefühlsbedeutung wird als äußerliche Macht projiziert, der Gefühlston ins Gegenteil verkehrt; der jetzt wegen seiner Verfolgung Gehaßte und Gefürchtete sei ein einstiger Geliebter und Verehrter. Die vom Wahne statuierte Verfolgung diene vor allem dazu, die Gefühlsverwandlung im Kranken zu rechtfertigen.

Wenden wir uns mit diesem Gesichtspunkte zu den Beziehungen, die zwischen dem Patienten und seinem Arzte und Verfolger Flechsig früher bestanden hatten. Wir wissen bereits, daß Schreber in den Jahren 1884 und 1885 eine erste nervöse Erkrankung durchmachte, »die ohne jede an das Gebiet des Übersinnlichen anstreifenden Zwischenfälle« (35) verlief. Während dieses als »Hypochondrie« bezeichneten Zustandes, der anscheinend die Grenzen einer Neurose einhielt, war Flechsig der Arzt des Kranken. Schreber brachte damals 6 Monate in der Leipziger Universitätsklinik zu. Man erfährt, daß der Wiederhergestellte seinen Arzt in guter Erinnerung behielt. »Die Hauptsache war, daß ich schließlich (nach einer längeren Rekonvaleszenzreise) geheilt wurde, und ich konnte daher damals nur von Gefühlen lebhaften Dankes gegen Prof. Flechsig erfüllt sein, denen ich auch durch einen späteren Besuch und ein nach meinem Dafürhalten angemessenes Honorar noch besonderen Ausdruck gegeben habe.« Es ist richtig, daß Schreber in den Denkwürdigkeiten die Lobpreisung der ersten 168 Behandlung Flechsigs nicht ohne einige Verklausulierungen vorbringt, aber dies mag sich leicht aus der nun zum Gegensatze veränderten Einstellung verstehen lassen. Auf die ursprüngliche Wärme der Empfindung für den erfolgreichen Arzt läßt die Bemerkung schließen, welche die angeführte Äußerung Schrebers fortsetzt. »Fast noch inniger wurde der Dank von meiner Frau empfunden, die in Prof. Flechsig geradezu denjenigen verehrte, der ihr ihren Mann wiedergeschenkt habe, und aus diesem Grunde sein Bildnis jahrelang auf ihrem Arbeitstische stehen hatte.« (36.)

Da uns der Einblick in die Verursachung der ersten Erkrankung verwehrt ist, deren Verständnis für die Aufklärung der schweren zweiten Krankheit gewiß unentbehrlich wäre, müssen wir jetzt aufs Geratewohl in einen uns unbekannten Zusammenhang hineingreifen. Wir wissen, in der Inkubationszeit der Krankheit (zwischen seiner Ernennung und seinem Amtsantritt, Juni bis Oktober 1893) fielen wiederholt Träume des Inhalts vor, daß die frühere Nervenkrankheit wiedergekehrt sei. Ferner trat einmal in einem Zustande von Halbschlaf die Empfindung auf, es müsse doch schön sein, ein Weib zu sein, das dem Beischlaf unterliege. Bringen wir diese Träume und diese Phantasievorstellung, die bei Schreber in nächster Kontiguität mitgeteilt werden, auch in inhaltlichen Zusammenhang, so dürfen wir schließen, mit der Erinnerung an die Krankheit wurde auch die an den Arzt geweckt, und die feminine Einstellung der Phantasie galt von Anfang an dem Arzte. Oder vielleicht hatte der Traum, die Krankheit sei wiedergekehrt, überhaupt den Sinn einer Sehnsucht: Ich möchte Flechsig wieder einmal sehen. Unsere Unwissenheit über den psychischen Gehalt der ersten Krankheit läßt uns da nicht weiterkommen. Vielleicht war von diesem Zustande eine zärtliche Anhänglichkeit an den Arzt übriggeblieben, die jetzt – aus unbekannten Gründen – eine Verstärkung zur Höhe einer erotischen Zuneigung gewann. Es stellte sich sofort eine entrüstete Abweisung der noch unpersönlich gehaltenen femininen Phantasie – ein richtiger »männlicher Protest« nach dem Ausdrucke, aber nicht im Sinne Alf. AdlersAdler (1910). – Nach Adler ist der männliche Protest an der Entstehung des Symptoms beteiligt, im hier besprochenen Falle protestiert die Person gegen das fertige Symptom. – ein; aber in der nun bald ausbrechenden schweren Psychose setzte sich die feminine Phantasie unaufhaltsam durch, und man 169 braucht die paranoische Unbestimmtheit der Schreberschen Ausdrucksweise nur um weniges zu korrigieren, um zu erraten, daß der Kranke einen sexuellen Mißbrauch von Seiten des Arztes selbst befürchtete. Ein Vorstoß homosexueller Libido war also die Veranlassung dieser Erkrankung, das Objekt derselben war wahrscheinlich von Anfang an der Arzt Flechsig, und das Sträuben gegen diese libidinöse Regung erzeugte den Konflikt, aus dem die Krankheitserscheinungen entsprangen.

Ich mache vor einer Flut von Anwürfen und Einwendungen einen Augenblick halt. Wer die heutige Psychiatrie kennt, darf sich auf Arges gefaßt machen.

Ist es nicht eine unverantwortliche Leichtfertigkeit, Indiskretion und Verleumdung, einen ethisch so hochstehenden Mann wie den Senatspräsidenten a. D. Schreber der Homosexualität zu bezichtigen? Nein, der Kranke hat seine Phantasie der Verwandlung in ein Weib selbst der Mitwelt kundgegeben und sich aus Interessen höherer Einsicht über persönliche Empfindlichkeiten hinweggesetzt. Er hat uns also selbst das Recht gegeben, uns mit dieser Phantasie zu beschäftigen, und unsere Übersetzung in die medizinischen Kunstworte hat dem Inhalte derselben nicht das mindeste hinzugefügt. – Ja, aber das tat er als Kranker; sein Wahn, in ein Weib verwandelt zu werden, war eine krankhafte Idee. – Das haben wir nicht vergessen. Wir haben es auch nur mit der Bedeutung und der Herkunft dieser krankhaften Idee zu tun. Wir berufen uns auf seine eigene Unterscheidung zwischen dem Menschen Flechsig und der »Flechsig-Seele«. Wir werfen ihm überhaupt nichts vor, weder daß er homosexuelle Regungen hatte, noch daß er sich bestrebte, sie zu verdrängen. Die Psychiater sollten endlich von diesem Kranken lernen, wenn er sich in all seinem Wahn bemüht, die Welt des Unbewußten nicht mit der Welt der Realität zu verwechseln.

Aber es wird an keiner Stelle ausdrücklich gesagt, daß die gefürchtete Verwandlung in ein Weib zum Vorteile Flechsigs erfolgen solle? – Das ist richtig, und es ist nicht schwer zu verstehen, daß in den für die Öffentlichkeit bestimmten Denkwürdigkeiten, die den Menschen »Flechsig« nicht beleidigen wollten, eine so grelle Beschuldigung vermieden wird. Die durch solche Rücksicht hervorgerufene Milderung des Ausdrucks reicht aber nicht so weit, daß sie den eigentlichen Sinn der Anklage verdecken könnte. Man darf behaupten, es ist doch auch ausdrücklich gesagt, z. B. in folgender Stelle: »Auf diese Weise wurde ein gegen mich gerichtetes Komplott fertig (etwa im März oder April 1894), welches 170 dahin ging, nach einmal erkannter oder angenommener Unheilbarkeit meiner Nervenkrankheit mich einem Menschen in der Weise auszuliefern, daß meine Seele demselben überlassen, mein Körper aber, . . . in einen weiblichen Körper verwandelt, als solcher dem betreffenden Menschen zum geschlechtlichen Mißbrauch überlassen . . . werden sollte.« (56.)Diese Hervorhebungen habe ich angebracht. Es ist überflüssig zu bemerken, daß keine andere Einzelperson je genannt wird, die man an die Stelle Flechsigs treten lassen könnte. Zu Ende des Aufenthaltes in der Leipziger Klinik taucht die Befürchtung auf, daß er zum Zwecke geschlechtlichen Mißbrauches »den Wärtern vorgeworfen werden sollte« (98). Die in der weiteren Entwicklung des Wahnes ohne Scheu bekannte feminine Einstellung gegen Gott löscht dann wohl den letzten Zweifel an der ursprünglich dem Arzte zugedachten Rolle aus. Der andere der gegen Flechsig erhobenen Vorwürfe hallt überlaut durch das Buch. Er habe Seelenmord an ihm versucht. Wir wissen bereits, daß der Tatbestand dieses Verbrechens dem Kranken selbst unklar ist, daß er aber mit diskreten Dingen in Beziehung steht, die man von der Veröffentlichung ausschließen muß (Kapitel III). Ein einziger Faden führt hier weiter. Der Seelenmord wird durch die Anlehnung an den Sageninhalt von Goethes Faust, Lord Byrons Manfred, Webers Freischütz usw. erläutert (22), und unter diesen Beispielen wird eines auch an anderer Stelle hervorgehoben. Bei der Besprechung der Spaltung Gottes in zwei Personen werden der »niedere« und der »obere« Gott von Schreber mit Ariman und Ormuzd identifiziert (19), und etwas später steht die beiläufige Bemerkung: »Der Name Ariman kommt übrigens auch z. B. in Lord Byrons Manfred in Zusammenhang mit einem Seelenmord vor« (20). In der so ausgezeichneten Dichtung findet sich kaum etwas, was man dem Seelenpakt im Faust an die Seite stellen könnte, auch den Ausdruck »Seelenmord« suchte ich dort vergeblich, wohl aber ist der Kern und das Geheimnis des Gedichtes ein – Geschwisterinzest. Hier reißt der kurze Faden wieder abZur Erhärtung der obenstehenden Behauptung: Manfred sagt dem Dämon, der ihn aus dem Leben holen will (Schlußszene):

                                        » . . . my past power
was purchased by no compact with thy crew.
«

Es wird also dem Seelenpakte direkt widersprochen. Dieser Irrtum Schrebers ist wahrscheinlich nicht tendenzlos. – Es lag übrigens nahe, diesen Inhalt des Manfred mit der wiederholt behaupteten inzestuösen Beziehung des Dichters zu seiner Halbschwester in Zusammenhang zu bringen, und es bleibt auffällig, daß das andere Drama Byrons, der großartige Cain, in der Urfamilie spielt, in welcher der Inzest unter Geschwistern vorwurfsfrei bleiben muß. – Auch wollen wir das Thema des Seelenmordes nicht verlassen, ohne noch folgender Stelle zu gedenken: »wobei in früherer Zeit Flechsig als Urheber des Seelenmords genannt wurde, während man jetzt schon seit längerer Zeit in beabsichtigter Umkehr des Verhältnisses mich selbst als denjenigen, der Seelenmord getrieben habe, ›darstellen‹ will, . . .« (23.)

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171 Indem wir uns vorbehalten, auf weitere Einwendungen im Verlaufe dieser Arbeit zurückzukommen, wollen wir uns nun für berechtigt erklären, an einem Ausbruch einer homosexuellen Regung als Grundlage der Erkrankung Schrebers festzuhalten. Zu dieser Annahme stimmt ein beachtenswertes, sonst nicht zu erklärendes Detail der Krankengeschichte. Ein weiterer und für den Verlauf entscheidender »Nervensturz« trat bei dem Kranken ein, während seine Frau einen kurzen Urlaub zu ihrer eigenen Erholung nahm. Sie hatte bis dahin täglich mehrere Stunden bei ihm verbracht und die Mittagsmahlzeiten mit ihm eingenommen. Als sie nach viertägiger Abwesenheit zurückkam, traf sie ihn aufs traurigste verändert, so daß er selbst sie nicht mehr zu sehen wünschte. »Entscheidend für meinen geistigen Zusammenbruch war namentlich eine Nacht, in welcher ich eine ganz ungewöhnliche Anzahl von Pollutionen (wohl ein halbes Dutzend) in dieser einen Nacht hatte.« (44.) Wir verstehen es wohl, daß bloß von der Anwesenheit der Frau schützende Einflüsse gegen die Anziehung der ihn umgebenden Männer ausgingen, und wenn wir zugeben, daß ein Pollutionsvorgang bei einem Erwachsenen nicht ohne seelische Mitbeteiligung erfolgen kann, werden wir zu den Pollutionen jener Nacht unbewußt gebliebene homosexuelle Phantasien ergänzen.

Warum dieser Ausbruch homosexueller Libido den Patienten gerade zu jener Zeit, in der Situation zwischen der Ernennung und der Übersiedlung traf, das können wir ohne genauere Kenntnis seiner Lebensgeschichte nicht erraten. Im allgemeinen schwankt der Mensch sein Leben lang zwischen heterosexuellem und homosexuellem Fühlen, und Versagung oder Enttäuschung von der einen Seite pflegt ihn zur andern hinüberzudrängen. Von diesen Momenten ist uns bei Schreber nichts bekannt; wir wollen aber nicht versäumen, auf einen somatischen Faktor aufmerksam zu machen, der sehr wohl in Betracht kommen könnte. Dr. Schreber war zur Zeit dieser Erkrankung 51 Jahre alt, er befand sich in jener für das Sexualleben kritischen Lebenszeit, in welcher nach vorheriger Steigerung die sexuelle Funktion des Weibes eine eingreifende Rückbildung erfährt, von deren Bedeutsamkeit aber auch der Mann nicht 172 ausgenommen zu sein scheint; es gibt auch für den Mann ein »Klimakterium« mit den abfolgenden KrankheitsdispositionenIch verdanke die Kenntnis des Alters Schrebers bei seiner Erkrankung einer freundlichen Mitteilung von Seiten seiner Verwandten, die Herr Dr. Stegmann in Dresden für mich eingeholt hat. In dieser Abhandlung ist aber sonst nichts anderes verwertet, als was aus dem Text der Denkwürdigkeiten selbst hervorgeht..

Ich kann es mir denken, wie mißlich die Annahme erscheinen muß, daß eine Empfindung von Sympathie für einen Arzt bei einem Manne acht Jahre späterDas Intervall zwischen der ersten und der zweiten Erkrankung Schrebers. plötzlich verstärkt hervorbrechen und zum Anlaß einer so schweren Seelenstörung werden kann. Ich meine aber, wir haben nicht das Recht, eine solche Annahme, wenn sie uns sonst empfohlen wird, ihrer inneren Unwahrscheinlichkeit wegen fallenzulassen, anstatt zu versuchen, wieweit man mit ihrer Durchführung kommt. Diese Unwahrscheinlichkeit mag eine vorläufige sein und daher rühren, daß die fragliche Annahme noch in keinen Zusammenhang eingereiht ist, daß sie die erste Annahme ist, mit welcher wir an das Problem herantreten. Wer sein Urteil nicht in der Schwebe zu halten versteht und unsere Annahme durchaus unerträglich findet, dem können wir leicht eine Möglichkeit zeigen, durch welche dieselbe ihren befremdenden Charakter verliert. Die Sympathieempfindung für den Arzt kann leicht einem »Übertragungsvorgang« entstammen, durch welchen eine Gefühlsbesetzung beim Kranken von einer für ihn bedeutsamen Person auf die eigentlich indifferente des Arztes verlegt wird, so daß der Arzt zum Ersatzmann, zum Surrogat, für einen dem Kranken weit näher Stehenden erwählt erscheint. Konkreter gesprochen, der Kranke ist durch den Arzt an das Wesen seines Bruders oder seines Vaters erinnert worden, hat seinen Bruder oder Vater in ihm wiedergefunden, und dann hat es unter gewissen Bedingungen nichts Befremdendes mehr, wenn die Sehnsucht nach dieser Ersatzperson bei ihm wieder auftritt und mit einer Heftigkeit wirkt, die sich nur aus ihrer Herkunft und ursprünglichen Bedeutung verstehen läßt.

Im Interesse dieses Erklärungsversuches mußte es mir wissenswert erscheinen, ob der Vater des Patienten zur Zeit seiner Erkrankung noch am Leben war, ob er einen Bruder gehabt und ob dieser zur gleichen Zeit ein Lebender oder ein »Seliger« war. Ich war also befriedigt, als 173 ich nach langem Suchen in den Denkwürdigkeiten endlich auf eine Stelle stieß, in welcher der Kranke diese Unsicherheit durch die Worte behebt: »Das Andenken meines Vaters und meines Bruders . . . ist mir so heilig wie« usw. (442.) Beide waren also zur Zeit der zweiten Erkrankung (vielleicht auch der ersten?) schon verstorben.

Ich denke, wir sträuben uns nicht weiter gegen die Annahme, daß der Anlaß der Erkrankung das Auftreten einer femininen (passiv homosexuellen) Wunschphantasie war, welche die Person des Arztes zu ihrem Objekte genommen hatte. Gegen dieselbe erhob sich von seiten der Persönlichkeit Schrebers ein intensiver Widerstand, und der Abwehrkampf, der vielleicht ebensowohl in anderen Formen sich hätte vollziehen können, wählte aus uns unbekannten Gründen die Form des Verfolgungswahnes. Der Ersehnte wurde jetzt zum Verfolger, der Inhalt der Wunschphantasie zum Inhalte der Verfolgung. Wir vermuten, daß diese schematische Auffassung sich auch bei anderen Fällen von Verfolgungswahn als durchführbar erweisen wird. Was aber den Fall Schreber vor anderen auszeichnet, das ist die Entwicklung, die er nimmt, und die Verwandlung, der er im Laufe dieser Entwicklung unterliegt.

Die eine dieser Wandlungen besteht in der Ersetzung Flechsigs durch die höhere Person Gottes; sie scheint zunächst eine Verschärfung des Konfliktes, eine Steigerung der unerträglichen Verfolgung zu bedeuten, aber es zeigt sich bald, daß sie die zweite Wandlung und mit ihr die Lösung des Konflikts vorbereitet. Wenn es unmöglich war, sich mit der Rolle der weiblichen Dirne gegen den Arzt zu befreunden, so stößt die Aufgabe, Gott selbst die Wollust zu bieten, die er sucht, nicht auf den gleichen Widerstand des Ichs. Die Entmannung ist kein Schimpf mehr, sie wird »weltordnungsgemäß«, tritt in einen großen kosmischen Zusammenhang ein, dient den Zwecken einer Neuschöpfung der untergegangenen Menschenwelt. »Neue Menschen aus Schreberschem Geist« werden in dem sich verfolgt Wähnenden ihren Ahnen verehren. Somit ist ein Ausweg gefunden, der beide streitenden Teile befriedigt. Das Ich ist durch den Größenwahn entschädigt, die feminine Wunschphantasie aber ist durchgedrungen, akzeptabel geworden. Kampf und Krankheit können aufhören. Nur daß die unterdes erstarkte Rücksicht auf die Wirklichkeit dazu nötigt, die Lösung aus der Gegenwart in die ferne Zukunft zu verschieben, sich mit einer sozusagen asymptotischen 174 Wunscherfüllung zu begnügen»Nur als Möglichkeiten, die hierbei in Betracht kämen, erwähne ich eine doch noch etwa zu vollziehende Entmannung mit der Wirkung, daß im Wege göttlicher Befruchtung eine Nachkommenschaft aus meinem Schoße hervorginge«, heißt es gegen Ende des Buches.. Die Verwandlung in ein Weib wird voraussichtlich irgend einmal eintreten; bis dahin wird die Person des Dr. Schreber unzerstörbar bleiben.

In den Lehrbüchern der Psychiatrie ist häufig die Rede von einer Entwicklung des Größenwahns aus dem Verfolgungswahn, die auf folgende Art vor sich gehen soll: Der Kranke, der primär vom Wahne befallen worden ist, Gegenstand der Verfolgung von Seiten der stärksten Mächte zu sein, fühlt das Bedürfnis, sich diese Verfolgung zu erklären, und gerät so auf die Annahme, er sei selbst eine großartige Persönlichkeit, einer solchen Verfolgung würdig. Die Auslösung des Größenwahnes wird somit einem Vorgange zugeschrieben, den wir nach einem guten Wort von E. Jones »Rationalisierung« heißen. Wir halten es aber für ein ganz und gar unpsychologisches Vorgehen, einer Rationalisierung so stark affektive Konsequenzen zuzutrauen, und wollen unsere Meinung daher scharf sondern von der aus den Lehrbüchern zitierten. Wir behaupten zunächst nicht, die Quelle des Größenwahnes zu kennen.

Wenn wir nun zum Falle Schreber zurückkehren, müssen wir gestehen, daß die Durchleuchtung der Wandlung in seinem Wahn ganz außerordentliche Schwierigkeiten bietet. Auf welchen Wegen und mit welchen Mitteln vollzieht sich der Aufstieg von Flechsig zu Gott? Woher bezieht er den Größenwahn, der in so glücklicherweise eine Versöhnung mit der Verfolgung ermöglicht, analytisch ausgedrückt, die Annahme der zu verdrängenden Wunschphantasie gestattet? Die Denkwürdigkeiten geben uns hier zunächst einen Anhaltspunkt, indem sie uns zeigen, daß für den Kranken »Flechsig« und »Gott« in einer Reihe liegen. Eine Phantasie läßt ihn ein Gespräch Flechsigs mit seiner Frau belauschen, in dem dieser sich als »Gott Flechsig« vorstellt und darob von ihr für verrückt gehalten wird (82), ferner aber werden wir auf folgenden Zug der Schreberschen Wahnbildung aufmerksam. Wie der Verfolger sich, wenn wir das Ganze des Wahnes überblicken, in Flechsig und Gott zerlegt, so spaltet sich Flechsig selbst später in zwei Persönlichkeiten, in den »oberen« und den »mittleren« Flechsig und Gott in den »niederen« und den »oberen« Gott. Bei Flechsig geht die Zerlegung in späten Stadien der Krankheit noch weiter (193). Eine solche Zerlegung ist für 175 die Paranoia recht charakteristisch. Die Paranoia zerlegt, so wie die Hysterie verdichtet. Oder vielmehr, die Paranoia bringt die in der unbewußten Phantasie vorgenommenen Verdichtungen und Identifizierungen wieder zur Auflösung. Daß diese Zerlegung bei Schreber mehrmals wiederholt wird, ist nach C. G. JungC. G. Jung (1910). Es ist wahrscheinlich richtig, wenn Jung fortfährt, daß diese Zerlegung, der allgemeinen Tendenz der Schizophrenie entsprechend, eine analytisch depotenzierende ist, welche das Zustandekommen zu starker Eindrücke verhindern soll. Die Rede einer seiner Patientinnen: »Ah, sind Sie auch ein Dr. J., heute morgen war schon einer bei mir, der sich für Dr. J. ausgab«, ist aber zu übersetzen durch ein Geständnis: »Jetzt erinnern Sie mich wieder an einen andern aus der Reihe meiner Übertragungen als bei Ihrem vorigen Besuch.« Ausdruck der Bedeutsamkeit der betreffenden Person. Alle diese Spaltungen Flechsigs und Gottes in mehrere Personen bedeuten also das nämliche wie die Zerteilung des Verfolgers in Flechsig und Gott. Es sind Doublierungen desselben bedeutsamen Verhältnisses, wie sie O. Rank (1909) in den Mythenbildungen erkannt hat. Für die Deutung all dieser Einzelzüge erübrigt uns aber der Hinweis auf die Zerlegung des Verfolgers in Flechsig und Gott und die Auffassung dieser Zerlegung als paranoide Reaktion auf eine vorhanden gewesene Identifizierung der beiden oder ihre Zugehörigkeit zur nämlichen Reihe. Wenn der Verfolger Flechsig einstmals eine geliebte Person war, so ist Gott auch nur die Wiederkehr einer anderen ähnlich geliebten, aber wahrscheinlich bedeutsameren.

Setzen wir diesen berechtigt scheinenden Gedankengang fort, so müssen wir uns sagen, diese andere Person kann niemand anderer als der Vater sein, womit ja Flechsig um so deutlicher in die Rolle des (hoffentlich älterenEs ist hierüber aus den Denkwürdigkeiten kein Aufschluß zu gewinnen.) Bruders gedrängt wird. Die Wurzel jener femininen Phantasie, die soviel Widerstreben beim Kranken entfesselte, wäre also die zu erotischer Verstärkung gelangte Sehnsucht nach Vater und Bruder gewesen, von denen die letztere durch Übertragung auf den Arzt Flechsig überging, während mit ihrer Zurückführung auf die erstere ein Ausgleich des Kampfes erzielt wurde.

Soll uns die Einführung des Vaters in den Schreberschen Wahn gerechtfertigt erscheinen, so muß sie unserem Verständnis Nutzen bringen und uns unbegreifliche Einzelheiten des Wahnes aufklären helfen. Wir erinnern uns ja, welche sonderbaren Züge wir an dem Schreberschen Gott und an Schrebers Verhältnis zu seinem Gott fanden. Es war die 176 merkwürdigste Vermengung von blasphemischer Kritik und rebellischer Auflehnung mit verehrungsvoller Ergebenheit. Gott, der dem verführenden Einfluß Flechsigs unterlag, war nicht fähig, etwas aus der Erfahrung zu lernen, kannte den lebenden Menschen nicht, weil er nur mit Leichen umzugehen verstand, und äußerte seine Macht in einer Reihe von Wundern, die auffällig genug, dabei aber insipid und läppisch waren.

Nun war der Vater des Senatspräsidenten Dr. Schreber kein unbedeutender Mensch gewesen. Es war der Dr. Daniel Gottlob Moritz Schreber, dessen Andenken heute noch von den besonders in Sachsen zahlreichen Schreber-Vereinen festgehalten wird, ein – Arzt, dessen Bemühungen um die harmonische Ausbildung der Jugend, um das Zusammenwirken von Familien- und Schülererziehung, um die Verwendung der Körperpflege und Körperarbeit zur Hebung der Gesundheit nachhaltige Wirkung auf die Zeitgenossen geübt habenIch verdanke der gütigen Zusendung meines Kollegen Dr. Stegmann in Dresden die Einsicht in eine Nummer einer Zeitschrift, die sich Der Freund der Schreber-Vereine betitelt. Es sind in ihr (II. Jahrgang, Heft X) zur einhundertjährigen Wiederkehr des Geburtstages Dr. Schrebers biographische Daten über das Leben des gefeierten Mannes gegeben. Dr. Schreber sen. wurde 1808 geboren und starb 1861, nur 53 Jahre alt. Ich weiß aus der früher erwähnten Quelle, daß unser Patient damals 19 Jahre alt war.. Von seinem Ruf als Begründer der Heilgymnastik in Deutschland zeugen noch die zahlreichen Auflagen, in denen seine Ärztliche Zimmergymnastik in unseren Kreisen verbreitet ist.

Ein solcher Vater war gewiß nicht ungeeignet dazu, in der zärtlichen Erinnerung des Sohnes, dem er so früh durch den Tod entzogen wurde, zum Gotte verklärt zu werden. Für unser Gefühl besteht zwar eine unausfüllbare Kluft zwischen der Persönlichkeit Gottes und der irgendeines, auch des hervorragendsten Menschen. Aber wir müssen daran denken, daß dies nicht immer so war. Den alten Völkern standen ihre Götter menschlich näher. Bei den Römern wurde der verstorbene Imperator regelrecht deifiziert. Der nüchterne und tüchtige Vespasianus sagte bei seinem ersten Krankheitsanfall: »Weh' mir, ich glaube, ich werde ein Gott.«Suetonius' Kaiserbiographien, Kapitel 23. Diese Vergottung nahm mit C. Julius Caesar ihren Anfang. Augustus nannte sich in seinen Inschriften »Divi filius«.

177 Die infantile Einstellung des Knaben zu seinem Vater ist uns genau bekannt; sie enthält die nämliche Vereinigung von verehrungsvoller Unterwerfung und rebellischer Auflehnung, die wir im Verhältnisse Schrebers zu seinem Gott gefunden haben, sie ist das unverkennbare, getreulich kopierte Vorbild dieses letzteren. Daß aber der Vater Schrebers ein Arzt, und zwar ein hochangesehener und gewiß von seinen Patienten verehrter Arzt war, erklärt uns die auffälligsten Charakterzüge, die Schreber an seinem Gotte kritisch hervorhebt. Kann es einen stärkeren Ausdruck des Hohnes auf einen solchen Arzt geben, als wenn man von ihm behauptet, daß er vom lebenden Menschen nichts versteht und nur mit Leichen umzugehen weiß? Es gehört gewiß zum Wesen Gottes, daß er Wunder tut, aber auch ein Arzt tut Wunder, wie ihm seine enthusiastischen Klienten nachsagen, er vollbringt wunderbare Heilungen. Wenn dann gerade diese Wunder, zu denen die Hypochondrie des Kranken das Material geliefert hat, so unglaubwürdig, absurd und teilweise läppisch ausfallen, so werden wir an die Behauptung der Traumdeutung gemahnt, daß die Absurdität im Traume Spott und Hohn ausdrückeTraumdeutung (1900 a, S. 428 ff.).. Sie dient also denselben Darstellungszwecken bei der Paranoia. Für andere Vorwürfe, z. B. den, daß Gott aus Erfahrung nichts lerne, liegt die Auffassung nahe, daß wir es mit dem Mechanismus der infantilen »Retourkutsche« zu tun habenEiner solchen Revanche sieht es außerordentlich ähnlich, wenn der Kranke sich eines Tages den Satz aufzeichnet: »Jeder Versuch einer erzieherischen Wirkung nach außen muß als aussichtslos aufgegeben werden.« (188.) Der Unerziehbare ist Gott., der einen empfangenen Vorwurf unverändert auf den Absender zurückwendet, ähnlich wie die (23) erwähnten Stimmen vermuten lassen, daß die gegen Flechsig erhobene Anschuldigung des »Seelenmordes« ursprünglich eine Selbstanklage war»Während man jetzt schon seit längerer Zeit in beabsichtigter Umkehr des Verhältnisses mich selbst als denjenigen, der Seelenmord getrieben habe, ›darstellen‹ will«, usw..

Durch diese Brauchbarkeit des väterlichen Berufes zur Aufklärung der besonderen Eigenschaften des Schreberschen Gottes kühn gemacht, können wir es nun wagen, die merkwürdige Gliederung des göttlichen Wesens durch eine Deutung zu erläutern. Die Gotteswelt besteht bekanntlich aus den »vorderen Gottesreichen«, die auch »Vorhöfe des Himmels« genannt werden und die abgeschiedenen Menschenseelen enthalten, und aus dem »niederen« und »oberen« Gott, die zusammen 178 »hintere Gottesreiche« heißen (19). Wenn wir auch darauf gefaßt sind, eine hier vorliegende Verdichtung nicht auflösen zu können, so wollen wir doch den früher gewonnenen Fingerzeig, daß die »gewunderten«, als Mädchen entlarvten Vögel von den Vorhöfen des Himmels abgeleitet werden, dazu verwenden, um die vorderen Gottesreiche und Vorhöfe des Himmels als Symbolik für die Weiblichkeit, die hinteren Gottesreiche als eine solche für die Männlichkeit in Anspruch zu nehmen. Wüßte man sicher, daß der verstorbene Bruder Schrebers ein älterer war, so dürfte man die Zerlegung Gottes in den niederen und oberen Gott als den Ausdruck der Erinnerung ansehen, daß nach dem frühen Tode des Vaters der ältere Bruder die Stellung des Vaters übernahm.

Endlich will ich in diesem Zusammenhange der Sonne gedenken, die ja durch ihre »Strahlen« zu so großer Bedeutung für den Ausdruck des Wahnes geworden ist. Schreber hat zur Sonne ein ganz besonderes Verhältnis. Sie spricht mit ihm in menschlichen Worten und gibt sich ihm damit als belebtes Wesen oder als Organ eines noch hinter ihr stehenden höheren Wesens zu erkennen (9). Aus einem ärztlichen Gutachten erfahren wir, daß er sie »geradezu brüllend mit Droh- und Schimpfworten anschreit« (382)»Die Sonne ist eine Hure« (384)., daß er ihr zuruft, sie müsse sich vor ihm verkriechen. Er teilt selbst mit, daß die Sonne vor ihm erbleicht»Übrigens gewährt mir auch jetzt noch die Sonne zum Teil ein anderes Bild, als ich in den Zeiten vor meiner Krankheit von ihr hatte. Ihre Strahlen erbleichen vor mir, wenn ich gegen dieselbe gewendet laut spreche. Ich kann ruhig in die Sonne sehen und werde davon nur in sehr bescheidenem Maße geblendet, während in gesunden Tagen bei mir, wie wohl bei anderen Menschen, ein minutenlanges Hineinsehen in die Sonne gar nicht möglich gewesen wäre.« (139, Anm.). Der Anteil, den sie an seinem Schicksale hat, gibt sich dadurch kund, daß sie wichtige Veränderungen ihres Aussehens zeigt, sobald bei ihm Änderungen im Gange sind, z. B. in den ersten Wochen seines Aufenthaltes auf dem Sonnenstein (135). Die Deutung dieses Sonnenmythus macht uns Schreber leicht. Er identifiziert die Sonne geradezu mit Gott, bald mit dem niederen Gott (Ariman)»Dieser wird jetzt (seit Juli 1894) von den zu mir redenden Stimmen mit der Sonne geradezu identifiziert.« (88.), bald mit dem oberen: »An dem 179 darauffolgenden Tage . . . sah ich den oberen Gott (Ormuzd), diesmal nicht mit meinem geistigen Auge, sondern mit meinem leiblichen Auge. Es war die Sonne, aber nicht die Sonne in ihrer gewöhnlichen, allen Menschen bekannten Erscheinung, sondern« usw. (137–8.) Es ist also nur folgerichtig, wenn er sie nicht anders als Gott selbst behandelt.

Ich bin für die Eintönigkeit der psychoanalytischen Lösungen nicht verantwortlich, wenn ich geltend mache, daß die Sonne nichts anderes ist als wiederum ein sublimiertes Symbol des Vaters. Die Symbolik setzt sich hier über das grammatikalische Geschlecht hinaus; wenigstens im Deutschen, denn in den meisten anderen Sprachen ist die Sonne ein Maskulinum. Ihr Widerpart in dieser Spiegelung des Elternpaares ist die allgemein so bezeichnete »Mutter Erde«. In der psychoanalytischen Auflösung pathogener Phantasien bei Neurotikern findet man oft genug die Bestätigung für diesen Satz. Auf die Beziehung zu kosmischen Mythen will ich nur mit diesem einen Wort verweisen. Einer meiner Patienten, der seinen Vater früh verloren hatte und in allem Großen und Erhabenen der Natur wiederzufinden suchte, machte es mir wahrscheinlich, daß der Hymnus Nietzsches ›Vor Sonnenaufgang‹ der gleichen Sehnsucht Ausdruck gebeAlso sprach Zarathustra, Dritter Teil. – Auch Nietzsche hatte seinen Vater nur als Kind gekannt.. Ein anderer, der in seiner Neurose nach dem Tode des Vaters den ersten Angst- und Schwindelanfall bekam, als ihn die Sonne während der Gartenarbeit mit dem Spaten beschien, vertrat selbständig die Deutung, er habe sich geängstigt, weil ihm der Vater zugeschaut, wie er mit einem scharfen Instrument die Mutter bearbeitete. Als ich nüchternen Einspruch wagte, machte er seine Auffassung durch die Mitteilung plausibler, er habe den Vater schon bei Lebzeiten mit der Sonne verglichen, allerdings damals in parodierender Absicht. Sooft er gefragt worden sei, wohin sein Vater in diesem Sommer gehe, habe er die Antwort mit den tönenden Worten des ›Prologs im Himmel‹ gegeben:

»Und seine vorgeschriebne Reise
Vollendet er mit Donnergang.«

Der Vater pflegte jedes Jahr auf ärztlichen Rat den Kurort Marienbad zu besuchen. Bei diesem Kranken hatte sich die infantile Einstellung gegen den Vater zweizeitig durchgesetzt. Solange der Vater lebte, volle Auflehnung und offenes Zerwürfnis; unmittelbar nach seinem Tode 180 eine Neurose, die sich auf sklavische Unterwerfung und nachträglichen Gehorsam gegen den Vater gründete.

Wir befinden uns also auch im Falle Schreber auf dem wohlvertrauten Boden des VaterkomplexesWie auch die »feminine Wunschphantasie« Schrebers nur eine der typischen Gestaltungen des infantilen Kernkomplexes ist.. Wenn sich dem Kranken der Kampf mit Flechsig als ein Konflikt mit Gott enthüllt, so müssen wir diesen in einen infantilen Konflikt mit dem geliebten Vater übersetzen, dessen uns unbekannte Einzelheiten den Inhalt des Wahns bestimmt haben. Es fehlt nichts von dem Material, das sonst durch die Analyse in solchen Fällen aufgedeckt wird, alles ist durch irgendwelche Andeutungen vertreten. Der Vater erscheint in diesen Kindererlebnissen als der Störer der vom Kinde gesuchten, meist autoerotischen Befriedigung, die in der Phantasie später oft durch eine minder ruhmlose ersetzt wirdVgl. die Bemerkungen zur Analyse des »Rattenmannes« (1909 d).. Im Ausgang des Schreberschen Wahnes feiert die infantile Sexualstrebung einen großartigen Triumph; die Wollust wird gottesfürchtig, Gott selbst (der Vater) läßt nicht ab, sie von dem Kranken zu fordern. Die gefürchtetste Drohung des Vaters, die der Kastration, hat der zuerst bekämpften und dann akzeptierten Wunschphantasie der Verwandlung in ein Weib geradezu den Stoff geliehen. Der Hinweis auf eine Verschuldung, die durch die Ersatzbildung »Seelenmord« gedeckt wird, ist überdeutlich. Der Oberwärter wird mit jenem Hausgenossen v. W. identisch gefunden, der ihn nach Angabe der Stimmen fälschlich der Onanie beschuldigt hat (108). Die Stimmen sagen, gleichsam in der Begründung der Kastrationsdrohung: »Sie sollen nämlich als wollüstigen Ausschweifungen ergeben dargestellt werden.« (127–8.)Die Systeme des »Darstellens und Aufschreibens« (126–7) deuten in Verbindung mit den »geprüften Seelen« auf Schulerlebnisse hin. Endlich ist der Denkzwang (47), dem sich der Kranke unterwirft, weil er annimmt, Gott werde glauben, er sei blödsinnig geworden, und sich von ihm zurückziehen, wenn er einen Moment zu denken aussetze, die uns 181 auch anderswoher bekannte Reaktion gegen die Drohung oder Befürchtung, man werde durch sexuelle Betätigung, speziell durch Onanie, den Verstand verlieren»Daß dies das erstrebte Ziel sei, wurde früher ganz offen in der vom oberen Gotte ausgehenden, unzählige Male von mir gehörten Phrase ›Wir wollen Ihnen den Verstand zerstören‹ eingestanden.« (206, Anm.). Bei der Unsumme hypochondrischer WahnideenIch will es nicht unterlassen, hier zu bemerken, daß ich eine Theorie der Paranoia erst dann für vertrauenswert halten werde, wenn es ihr gelungen ist, die fast regelmäßigen hypochondrischen Begleitsymptome in ihren Zusammenhang einzufügen. Es scheint mir, daß der Hypochondrie dieselbe Stellung zur Paranoia zukommt wie der Angstneurose zur Hysterie., die der Kranke entwickelt, ist vielleicht kein großer Wert darauf zu legen, daß sich einige derselben mit den hypochondrischen Befürchtungen der Onanisten wörtlich decken»Man versuchte mir daher das Rückenmark auszupumpen, was durch sogenannte ›kleine Männer‹, die man mir in die Füße setzte, geschah. Über diese ›kleinen Männer‹, die mit der bereits in Kapitel VI besprochenen gleichnamigen Erscheinung einige Verwandtschaft zeigten, werde ich später noch Weiteres mitteilen; in der Regel waren es je zwei, ein ›kleiner Flechsig‹ und ein ›kleiner v. W.‹, deren Stimme ich auch in meinen Füßen vernahm.« (154.) – v. W. ist der nämliche, von dem die Onaniebeschuldigung ausging. Die »kleinen Männer« bezeichnet Schreber selbst als eine der merkwürdigsten und in gewisser Beziehung rätselhaftesten Erscheinungen (157). Es scheint, daß sie einer Verdichtung von Kindern und – Spermatozoen entsprungen sind..

Wer in der Deutung dreister wäre als ich oder durch Beziehungen zur Familie Schrebers mehr von Personen, Milieu und kleinen Vorfällen wüßte, dem müßte es ein leichtes sein, ungezählte Einzelheiten des Schreberschen Wahnes auf ihre Quellen zurückzuführen und somit in ihrer Bedeutung zu erkennen, und dies trotz der Zensur, der die Denkwürdigkeiten unterlegen sind. Wir müssen uns notgedrungen mit einer so schattenhaften Skizzierung des infantilen Materials begnügen, in welchem die paranoische Erkrankung den aktuellen Konflikt dargestellt hat.

Zur Begründung jenes um die feminine Wunschphantasie ausgebrochenen Konflikts darf ich vielleicht noch ein Wort hinzufügen. Wir wissen, daß wir die Aufgabe haben, das Hervortreten einer Wunschphantasie mit einer Versagung, einer Entbehrung im realen Leben in Zusammenhang zu bringen. Nun gesteht uns Schreber eine solche Entbehrung ein. Seine sonst als glücklich geschilderte Ehe brachte ihm nicht den Kindersegen, vor allem nicht den Sohn, der ihn für den Verlust von Vater und Bruder getröstet hätte, auf den die unbefriedigte homosexuelle 182 Zärtlichkeit hätte abströmen können»Nach der Genesung von meiner ersten Krankheit habe ich acht, im ganzen recht glückliche, auch an äußeren Ehren reiche und nur durch die mehrmalige Vereitelung der Hoffnung auf Kindersegen zeitweilig getrübte Jahre mit meiner Frau verlebt.« (36.). Sein Geschlecht drohte auszusterben, und es scheint, daß er stolz genug war auf seine Abstammung und Familie. »Die Flechsigs und die Schrebers gehörten nämlich beide, wie der Ausdruck lautete, ›dem höchsten himmlischen Adel‹ an; die Schrebers führten insbesondere den Titel »Markgrafen von Tuscien und Tasmaniens entsprechend einer Gewohnheit der Seelen, sich, einer Art persönlicher Eitelkeit folgend, mit etwas hochtrabenden irdischen Titeln zu schmücken.« (24.)Im Anschluß an diese Äußerung, die den liebenswürdigen Spott gesunder Tage im Wahne bewahrt hat, verfolgt er die Beziehungen zwischen den Familien Flechsig und Schreber in frühere Jahrhunderte zurück, wie ein Bräutigam, der nicht begreifen kann, wie er so lange Jahre ohne Beziehung zur Geliebten leben konnte, ihre Bekanntschaft durchaus schon in früheren Zeiten gemacht haben will. Der große Napoleon ließ sich, wiewohl erst nach schweren inneren Kämpfen, von seiner Josefine scheiden, weil sie die Dynastie nicht fortsetzen konnteIn dieser Hinsicht ist eine Verwahrung des Patienten gegen Angabe des ärztlichen Gutachtens erwähnenswert: »Ich habe niemals mit dem Gedanken einer Scheidung gespielt oder Gleichgültigkeit gegen das Fortbestehen des ehelichen Bandes zu erkennen gegeben, wie man nach der Ausdrucksweise des Gutachtens, ›ich sei alsbald mit der Andeutung bei der Hand, daß meine Frau sich scheiden lassen könne‹, annehmen möchte.« (436.); Dr. Schreber mochte die Phantasie gebildet haben, wenn er ein Weib wäre, würde er das Kinderbekommen besser treffen, und fand so den Weg, sich in die feminine Einstellung zum Vater in den ersten Kinderjahren zurückzuversetzen. Der später immer weiter in die Zukunft geschobene Wahn, daß die Welt durch seine Entmannung mit »neuen Menschen aus Schreberschem Geist« (288) bevölkert würde, war also auch zur Abhilfe seiner Kinderlosigkeit bestimmt. Wenn die »kleinen Männer«, die Schreber selbst so rätselhaft findet, Kinder sind, so finden wir es durchaus verständlich, daß sie auf seinem Kopfe in großer Anzahl versammelt stehen (158); es sind ja wirklich die »Kinder seines Geistes«. (Vgl. die Bemerkung über die Darstellung der Abstammung vom Vater und über die Geburt der Athene in der Krankengeschichte des »Rattenmannes«)


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