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Der lateinische Kanonier

Es sind lange, lange Jahre seitdem vergangen, aber wär' ich ein Maler, ich könnte doch alles aufzeichnen, so überaus deutlich steht es vor meinen Augen. Sogar an das graue Röckchen weiß ich mich zu erinnern, das mein Nachbar zur Linken trug, der Moses Salzmann, und an die Stiefelhosen des Theodor Bohusiewicz. Aber ich bin leider nur ein Zeichner in Worten geworden und muß es daher so versuchen. Denkt euch also einen düsteren, regnerischen Februartag und in seinem Licht ein düsteres, verregnetes Städtlein und in einer der koterfüllten Straßen ein graues, unheimliches Haus und in diesem Hause eine graue, unheimliche Stube. Freilich zittert für mich, während ich dies niederschreibe, hellgoldiger Sonnenschein der Erinnerung an die eigene Jugend. Denn ich sehe ja auch mich unter den vielen fünfzehn-, sechzehnjährigen Jungen, die da auf niedrigen Schulbänken beisammensitzen. Bang und klopfenden Herzens sitzen wir da und blinzeln nur zuweilen scheu nach dem Katheder hin, als stände dort ein Tiger oder ein Gespenst oder gar der Herr Direktor.

Es steht aber nichts Ähnliches dort, sondern im Gegenteil ein hübscher junger Mann, der eben lächelnd den Knoten einer Schnur löst, die einen Haufen von Heften zusammenhält. Das ist der Professor des Latein, Herr Wilhelm Lang, und diese Hefte sind unsere Hauspensa. Er lächelte, weh uns, wir kennen dieses Lächeln. Wer die Aufgabe schleuderhaft gearbeitet hat, erbleicht, und wer sie gar von anderen abgeschrieben hat, knickt zusammen wie ein Taschenmesser. Aber selbst durch die Reihen der »Vorzugisten« geht leises Beben. Denn wer kann sich rühmen: »Ich bestehe vor Professor Lang«, und wer darf von sich sagen: »Ich bin ein Gerechter in seinen Augen«?!

Er lächelt, ach, er lächelt immer stärker. Und nun hält er eines der Hefte hoch empor. »Raten Sie«, fragt er, »wer hat die Aufgabe am besten gearbeitet?« Tiefste Stille. Nur einige Seufzer werden hörbar. »Nun, niemand, Also, die beste Arbeit ist die unseres weisen Aristides, Aristides Lewczuk.«

Das ist ein Witz. Und darum wird in den ersten Bänken, wo die braven Schüler sitzen, pflichtschuldig gelacht und in den mittleren Bänken, wo die minder braven Schüler sitzen, minder pflichtgemäß gekichert. In den letzten Bänken aber, wo die Trotzigen und die Faulen hocken, die verkannten Genies und die Spezies, der immer »Unrecht geschieht«, dort lacht man nicht, wenn ein Professor einen Witz macht. Dort bleibt's grabesstill ...

Aber warum ist das mit dem weisen Aristides ein Witz? Und wer ist Aristides Lewczuk?

Quintaner des Gymnasiums zu Czernowitz. Aber noch manches dazu. Seht ihn euch nur einmal an, den großen, plumpen, sechsundzwanzigjährigen Menschen – dort, nahe an der Wand, auf der hintersten Bank. Er hat den Spitznamen »das Faultier«, und wer ihn so in seiner Bank, in der er Alleinherrscher ist, lümmeln sieht, das gelblich aufgedunsene Antlitz mit den schwarzen, glotzigen Äuglein auf beide Arme gestützt, wird die Bezeichnung nicht so ganz unpassend finden. Er ist soeben durch einen Nasenstüber seines Vordermanns aus sanftem Dusel aufgewacht und blickt nun nicht sonderlich geistreich um sich. Geistreich sein ist überhaupt nicht seine Sache. Der arme Junge! Bis zu seinem vierzehnten Jahre hat er zufrieden in Mamornitza gelebt, dem schmutzigen Rumänendörfchen an der Grenze, wo sein Vater Ortsrichter ist, und kein Drang nach dem Höheren hat ihn gequält. Aber das war leider bei seinem Vater der Fall: Aristides mußte studieren und Priester werden. Und so ist der arme dumme Junge zur Stadt gekommen, in die Schule, ach, nur Gott hat die Tränen und Schläge gezählt! Darauf freilich hat Aristides dem Vater erklärt, ihm scheine, er habe »keinen Kopf für das Lateinische«. Aber der Herr Ortsrichter waren anderer Ansicht, und so hat sich Aristides in sein Schicksal gefügt, eine Leuchte der griechisch-nichtunierten Christenheit zu werden. Freilich scheint sich gleichzeitig die Überzeugung bei ihm ausgebildet zu haben, besagte Christenheit habe es nicht so eilig. Denn er hat sich nicht überstürzt und genau acht Jahre für das Untergymnasium gebraucht. Und nun sitzt er in Quinta, in der letzten Bank, der arme, tölpelhafte, vielgehänselte » ultimus ultimorum« ...

»Lewczuk!« sagt der Professor; Aristides erhebt sich zögernd und kratzt sich hinter dem Ohr. »Daß ein anderer die Aufgabe verfaßt hat, ist klar. Denn sie ist nicht bloß fehlerlos, sondern in elegantem Latein geschrieben. Und darum begnüge ich mich nicht damit, Ihnen eine ›Dritte‹ einzuzeichnen und dazu die Note ›Hat zu betrügen versucht‹«, Aristides kratzt sich stärker, »sondern ich frage Sie auch: Wer ist der Autor? Ein Gymnasiast ist's nicht!« Aristides schweigt. »Nun – wird's bald?«

»Ich kann nicht sagen, wer ist«, stammelte Aristides endlich weinerlich in seinem schwerfälligen Deutsch.

»Warum nicht?«

»Weil er kriegt sonst gleich fünfundzwanzig.«

Wir brechen in stürmisches Lachen aus, auch der Professor lächelt.

Nur Aristides bleibt todesernst. »Herr Hauptmann laßt ihm gewiß geben«, fügt er hinzu.

»Kommen Sie her, Lewczuk«, ruft Lang ungeduldig. Aristides avanciert langsam, bis er endlich von dem Katheder steht. »Ist denn Ihr bißchen Verstand rebellisch geworden? Wer hat die Aufgabe gemacht?«

»Der lateinische Kanonier hat gemacht. Ich weiß nicht, wie heißt. Andere Soldaten sagen immer ›Lateiner‹. Herr Hauptmann ruft auch ›Lateiner‹. Sag' ich auch ›Lateiner‹.«

»Und wo haben Sie diese merkwürdige Bekanntschaft gemacht?«

»Bei uns, im Hof, bei der Frau Terlecka. Da wohnt auch Herr Hauptmann mit Pferde. ›Lateiner‹ ist Privatdiener vom Herrn Hauptmann, bedient Pferde.«

Die Klasse windet sich in Lachkrämpfen. »Und dieser Pferdeknecht hat die Aufgabe gemacht?« ruft der Professor. »Wer ist denn dieser Mensch?«

»Sehr guter Mensch!« versichert Aristides. »Brave Seele. Aber ist immer traurig, immer traurig, krank, so auf der Brust. Kommt er neulich zu mir, sagt: ›Sie sind Student?‹ Sag' ich: ›Ja.‹ Sagt er: ›Ich bitte, leihen Sie mir Bücher.‹ Sag' ich: ›Ich hab' nur Schulbücher.‹ Sagt er: ›Leihen Sie mir Schulbücher.‹ Geb' ich Mathematik. Fragt er: ›Vielleicht Klassiker?‹ Frag' ich: ›Können Sie Lateinisch, Griechisch?‹ Sagt er: ›Ja!‹ Geb' ich ihm Ovid, liest er Ovid. Geb' ich ihm Xenophon, liest er Xenophon. Geb' ich ihm Homer, liest er Homer. Ohne Wörterbuch, kann sehr gut. Frag' ich: ›Warum sind Sie gemeiner Soldat?‹ Sagt er: ›Schon fünfzehn Jahre‹, erzählt mir, wegen Paket, wegen Spitzel, wegen schlechte Menschen ...«

»Wie?« unterbricht ihn der Professor erstaunt.

»Wegen Paket«, wiederholt Aristides unerschütterlich, »wegen Spitzel, wegen schlechte Menschen. Wissen Sie, Prager Revolution. Hör' ich zu, Herz tut mir weh, sag' ich: ›Ist traurig!‹ Frag' ich: ›Aber können's vielleicht diese Aufgabe machen?‹ Sagt er: ›Ja!‹ Sag' ich: ›Also machen's!‹ Macht er. Schreib' ich ab.«

Der Professor war ernst geworden. »Wohnt jemand von Ihnen in der Nähe des Lewczuk?« fragte er dann. Ich melde mich. »Bitte, lassen Sie sich von Lewczuk hinführen. Sprechen Sie mit dem Mann und berichten Sie mir dann. Vielleicht läßt sich etwas für ihn tun.« –

Die drei Schulstunden des Vormittags waren vorüber. Ich ging mit Lewczuk durch die kotigen Gäßchen, auf denen der dicke Nebel lag, seiner entlegenen Wohnung zu, in der Russischen Gasse. Mein Mitschüler war so aufgeregt, als das überhaupt bei so glücklicher Naturanlage möglich war. »Verflucht, wann aufkommt«, meinte er. »Hauptmann bekommt Wind, wird bös, laßt fünfundzwanzig geben, Mensch ist krank, wird hin, wer ist schuld? Ich!« Dann aber: »Was ich? Nicht ich! Er selbst! Sag' ich ihm gleich: ›Ich bin kein Primus, ich bin kein Vorzugist, ich bin schlechter Schüler. Machen's also Fehler hinein; vier Fehler: »genügend«, oder fünf: »hinreichend«, oder sechs: »zur Not ausreichend«.‹ Aber so, er verspricht, macht doch ohne Fehler, natürlich! Lang riecht Braten!« Ich erlaubte mir zu fragen, warum mein Herr Kollege nicht bestrebt sei, aus eigener Kraft nur sechs Fehler in einer Aufgabe zu machen. »Nutzt nichts«, meinte er in fatalistischer Ergebung, »bin ja erstes Jahr in Quinta, muß ja ohnehin repetieren. Kein Kopf, zu dumm. Aber schadet nichts! Will ich denn ein Doktor werden? Nein! Oder Advokat? Nein! Oder Professor? Nein! Also, nur Pfarrer, Dorf, Bauern, Kopf gut genug!« Dieses Bekenntnis legte er mir an der Pforte seiner Wohnung ab. Wir wateten durch den Kot des Hofes. »Dort Stallung«, sagte Aristides und wies auf einen kleinen, halbverfallenen Bau, »dort wirst finden. Ich geh' Schlaf machen, bis Mittag. Servus!«

Ich trat in die Stalltüre. Zwei glänzend gestriegelte Pferde wieherten mir entgegen, an den Wänden hingen Waffen und Monturstücke. Schon wollte ich mich zurückziehen, da klang mir aus dem Hintergrund, wo ein Lager sein mochte, heftiges Husten entgegen und dann die Frage: »Was wünschen Sie?«

Ich blickte hin, vermochte aber im düsteren Licht dieses Tages nichts wahrzunehmen. So rührte ich denn an den Hut und sagte in die Dämmerung hinein: »Ich wünsche den Herrn lateinischen Kanonier zu sprechen.« Der Mann erhob sich und trat mir entgegen. Er war ziemlich hoch gebaut, aber die Haltung war schlaff, die Gestalt verfallen. Er mußte sehr krank sein. Man sah es auch an dem Gesicht; es war kahl, düster, entsetzlich düster. Und noch etwas anderes las man aus diesem Gesicht: daß Reithose und Stalljacke nicht die rechte Bekleidung für diesen Menschen waren. Ich weiß nicht, wie es kam, aber ich zog den Hut.

»Ich bin der Kanonier, den Sie suchen.« Ein leises Lächeln spielte dabei um seine Mundwinkel. Dadurch wurde ich erst inne, daß ich, der Wildfremde, ihn eigentlich bei seinem Spitznamen genannt hatte. Dies machte mich so verlegen, daß ich die Erzählung von dem Hauspensum unseres Aristides und dem Auftrag Langs nur sehr verwirrt hervorbrachte.

Er sah mich dankbar an mit seinen traurigen blauen Augen. »Ich danke dem Herrn Professor für seine Freundlichkeit und Ihnen für die Mühe, ich danke Ihnen herzlich. Es tut mir leid, daß der arme Lewczuk Verdruß gehabt hat, aber die ›sechs Fehler‹ habe ich wirklich vergessen. Ich hab's überhaupt nicht gerne getan, aber ich war ihm auch Revanche schuldig für die Bücher, die er mir geliehen hatte. Und der Aufsatz war richtig?«

»Und wie! Der Professor hat gleich gesagt: ›Das hat kein Gymnasiast geschrieben!‹«

»Ja«, sagte er, »wenn man einmal sein Leben an etwas gewendet hat, so vergißt man's nicht so leicht wieder.« Er hustete krampfhaft, und ich sah entsetzt, wie ihm einen Augenblick lang blutiger Schaum auf die Lippen trat. Dann ließ der Anfall nach, und er fuhr fort: »Seit fünfzehn Jahren habe ich kein lateinisches Buch in der Hand gehabt. Nur den Homer hatte ich.« Er ging nach seinem Lager und brachte mir das kleine, dicke, abgegriffene Büchlein. »Das habe ich in jener Nacht vom neunten auf den zehnten Mai achtzehnhundertneunundvierzig, da sie mich zu Prag aus dem Bett rissen, zu mir gesteckt und seitdem, wie durch ein Wunder, überall durchgeschmuggelt. Ich sollte dem Buch eigentlich zürnen«, fuhr er mit entsetzlichem Lächeln fort, »es hat mich am Leben erhalten.«

»Oh, ich weiß«, rief ich, »Sie waren bei der Prager Revolution!«

Er schüttelte den Kopf. »Nein! Ich war ein fleißiger Student, der nur seinen Studien lebte. Mein Verbrechen war: Ich habe einmal einen gekannt, der sich um Politik kümmerte.«

»Wie?!« rief ich entsetzt. »Und darum –«

»Ja, darum!« Dann aber meinte er ablenkend: »Sagen Sie also dem Herrn Professor, daß ich ihm herzlich danke. Aber ich wüßte kaum, was sich noch etwa für mich tun ließe.«

»Aber Sie sind ja so krank! Sie können nicht länger hier bleiben, in dem feuchten Stall!«

»Es wird ja bald Frühling!« erwiderte er mit einem Lächeln, das mir durchs Herz schnitt. »In der schönen Zeit wird mir immer besser. Und wenn nicht alle Zeichen trügen, mein junger Freund, so werde ich sogar in diesem Frühling ganz gesund!«

Mir schossen die Tränen in die Augen. »Sprechen Sie nicht so!« bat ich. »Es kann ja noch alles gut werden. Wir haben ja jetzt den Schmerling!« Ich erinnerte mich, wie drei Jahre vorher, Ende Februar 1861, die ganze Stadt und insbesondere das Gymnasium zu Ehren der Februarverfassung beleuchtet gewesen und wie wir Schüler auf Anweisung unseres Klassenlehrers damals ein Transparent angefertigt hatten: » Liberias et justitia Austriae fundamenta.« Und darum fuhr ich fort: »Wir haben ja jetzt eine Konstitution. Jetzt darf niemandem länger Unrecht geschehen. Jetzt ist ja Österreich auf Freiheit und Gerechtigkeit erbaut ...« Er lächelte, lächelte so sonderbar, daß ich stockte. Ich habe mich oft dieses Lächelns erinnern müssen – am 30. Juli 1865 – am 6. Februar 1871 ... und seither noch oft, sehr oft ...

»Vielleicht können wir«, schloß ich, »Ihnen einstweilen Ihr Los erträglicher machen. Sie wünschen Bücher?«

»Oh«, rief er erfreut, »das wäre freilich sehr schön! Wenn Sie diese Güte haben wollten! Sie wissen gar nicht, wieviel Sie da an mir täten!« Er war wie elektrisiert, seine Augen glänzten. »Wenn mir der Herr Professor einen tüchtigen Kommentar zum Homer leihen könnte! Dann vielleicht einen Horaz. Sehen Sie, wie ich gleich unersättlich bin! Und dann – Schillers Gedichte möchte ich auch noch einmal gerne lesen, bevor ich – bevor es Frühling wird!«

»Alles will ich besorgen«, versprach ich. »Die Klassiker hole ich nachmittags vom Herrn Professor. Aber den Schiller habe ich selbst, den bringe ich gleich.«

Ich lief heim und brachte ihm das Buch. Die Art, wie er zitternd danach griff und halblaut zu lesen begann, werde ich niemals vergessen.

Darauf ging ich zu Lang und erzählte ihm alles. Er war tief erschüttert und zeigte die lebendigste Teilnahme. Gerne hätte er mir gleich seine ganze Bibliothek mitgegeben; beladen wie ein Maulesel trabte ich in die Russische Gasse. Gleichzeitig überbrachte ich eine Einladung des Professors, ihn doch ja bald zu besuchen. Der arme Kanonier war bis zu Tränen gerührt. Alle Bücher schlug er auf, las die Titel und rief ein Mal über das andere: »Oh, daß ich das noch erlebe!« Dann brachten wir alles in Lewczuks Stube; hier, im ärarischen Stall, waren die Bücher nicht vor Konfiskation sicher. Der wackere Aristides begriff zwar die Freude des armen Lateiners nicht recht, aber er teilte sie. »Freut sich über Bücher!« sagte er erstaunt zu mir. »Ich freu' mich nie über Bücher. Aber wann sich nur freut armer, kranker Mann, freu' ich mich auch!« Auch die Einladung nahm der Kanonier dankbar an. »Am nächsten Sonntag«, sagte er, »wenn mein Hauptmann auf der Jagd in Zuczka ist.«

Ich führte ihn an diesem Tage in das Haus des Professors und durfte auch dableiben. Es war rührend zu sehen, wie der Todkranke gleichsam neu auflebte im Verkehr mit einem gebildeten Mann, der lebhaftesten Anteil an ihm nahm und überdies dieselben gelehrten Studien betrieb wie einst er selbst. Und an jenem Tage erzählte er uns die Geschichte seines Lebens, eine schlichte, nüchterne Geschichte und doch voll zermalmender Tragik.

»Ich heiße Franz Bauer und bin im südlichen Böhmen, bei Budweis, geboren. Meine Eltern waren arme Leute, und ich mußte mich ganz durch eigene Kraft emporringen. Schon während der Schülerzeit erhielt ich mich durch Privatlektionen und half mir dann auch auf der Universität auf gleiche Weise fort. Ich bezog die Prager Hochschule 1847 und studierte Philologie. An der Bewegung von 1848 nahm ich keinen Anteil; den Prager Junitagen stand ich fern. Nicht etwa, als ob ich stumpf gewesen wäre für die Ideale, die man damals verfocht, es waren die Ideale der Nationalität und der Freiheit, und die hatten mir auch meine Alten gepredigt, wenn auch in ihrer Weise. Aber ich war keine Natur, die für lautes Treiben paßte, ein stiller, scheuer Mensch, und kannte mich eigentlich nur in meinen Büchern aus. Damals begann ich auch die Vorarbeiten für eine Abhandlung: ›Über die Entstehung der homerischen Epen.‹ Der Winter verging mir in rastloser Arbeit, der Frühling von achtzehnhundertneunundvierzig kam. Da entlud sich das Unglück über mir.

Ich verkehrte damals ab und zu mit einem Landsmann und Studiengenossen, der Mitglied der Burschenschaft ›Markomannia‹ war. Er war ein braver, fleißiger Mensch, dabei schwärmerisch und den revolutionären Ideen ergeben. Der kam nun eines Tages im März zu mir und erzählte mir, es habe sich ein großer Geheimbund gegen die ›schwarzgelbe Tyrannei‹ gebildet, dem auch er angehöre; der Bund bestehe aus jungen Leuten aller Stände, Deutschen und Tschechen, habe Fühlung mit dem Landvolk und durch einige Offiziere böhmischer Regimenter auch mit dem Militär. Zweck des Bundes sei, sich des Prager Hradschins und sämtlicher Festungswerke zu bemächtigen; auf dieses Signal hin werde sich das ganze Land erheben. Er lud mich ein, dem Bund beizutreten, was ich rundweg abschlug; auch warnte ich ihn, sich nicht in so gefährliche Dinge einzulassen. Er aber meinte, erstens sei es Pflicht, das Vaterland zu befreien, zweitens könne die Sache gar nicht fehlschlagen, denn der Prager Bund stehe nicht allein, er habe durch den russischen Agitator Bakunin Fühlung mit einer großen revolutionären Liga in Dresden und unterhalte Beziehungen zu Görgey, der ja die k. k. Truppen ununterbrochen schlage und sehr bald in Pest, bald auch in Wien sein werde. Überdies stehe der Bund unter der Leitung bewährter und erfahrener Patrioten. Natürlich blieb ich trotzdem bei meiner Weigerung, und er brach verstimmt ab. Wir sprachen auch in der Folge nicht wieder über die Sache, und ich vergaß daran. Sonderlich interessiert hatte sie mich nicht: Sie war mir nur eben als eine törichte, knabenhafte Schwärmerei erschienen. Da sollte ich fürchterlich daran erinnert werden ... Mein Freund hatte mich auch während des Aprils mehrere Male besucht. Er holte mich gewöhnlich am späten Nachmittag ab, worauf wir bis in die Nacht hinein einen größeren Spaziergang machten. So kam er auch in der Abenddämmerung des neunten Mai zu mir, ein großes versiegeltes Paket unter dem Arm. ›Da bin ich‹, sagte er. ›Aber nun mußt du mich auf meine Stube begleiten, dort will ich das Paket in Sicherheit bringen. Dann stehe ich zu deiner Verfügung.‹ Da er aber in einem Gäßchen der Kleinseite wohnte und wir einen Spaziergang in entgegengesetzter Richtung geplant hatten, so meinte ich lachend: ›Laß doch deinen Schatz bis morgen hier! Was ist denn drin?‹ – ›Allerlei Papiere‹, erwiderte er, und ich legte es in meine Tischlade. Wir gingen fort und verbrachten einige recht angenehme Stunden. Gegen zehn Uhr kehrte ich heim, las noch einige griechische Verse und schlief dann ein. Es mochte gegen drei Uhr morgens sein, da weckte mich Gepolter an meiner Tür. Erschreckt fuhr ich auf; ich hörte draußen den Jammerruf meiner alten Hausfrau, die barsche Frage: ›Wo schläft er?‹ und dazu das Geklirre von Waffen. ›Die Soldaten!‹ rief ich entsetzt und sprang auf. Mein erster Gedanke war das verhängnisvolle Paket; das mußte ich beiseite bringen. Aber es war zu spät, da war schon die Patrouille im Zimmer. Ich wurde verhaftet, meine Bücher flüchtig durchstöbert, meine Papiere, darunter das Paket, das ich noch immer in der Hand hielt, zusammengerafft und fortgeschleppt. Dann zerrte man mich die Treppe hinab und führte mich auf einem Wägelchen durch die dämmerigen Gassen zum Hradschin. An den Straßenecken der Stadt, die noch im tiefen Schlaf lag, war eine Proklamation angeschlagen, welche die Einführung des Belagerungszustandes verkündete. Auch sah ich, wie eben aus einem Hause eine Eskorte heraustrat, in ihrer Mitte ein junger Mensch, ein Student. Er war totenblaß, aber er hielt das Haupt aufrecht, und seine Augen leuchteten. ›Hoch die heilige Sache!‹ rief er mir begeistert zu. Ich erwiderte nichts, ich war wie betäubt. Oben waren die Kanonen auf die Stadt gerichtet, der Hradschin glich einem Feldlager ... Ich wurde in ein Gefängnis geworfen. Hier erst kam ich allmählich zum Bewußtsein meiner Lage. Kein Zweifel, jene Verschwörung, von der mein Freund gesprochen hatte, war entdeckt, ich als Mitschuldiger verhaftet. Man hatte die Papiere bei mir gefunden, ich wußte nicht, wie man darauf gekommen war, aber ich war verloren! Dann aber richtete ich mich wieder auf; ich war ja unschuldig, und wenn ein Gott im Himmel lebte, so konnte er nicht dulden, daß ich ein Verbrechen büßte, das ich nicht begangen hatte.«

Der Erzähler hielt inne. »Und ich habe es doch gebüßt«, rief er verzweiflungsvoll, »gebüßt mit meinem ganzen Leben.« Dann beruhigte er sich wieder und setzte hinzu: »Die näheren Umstände haben für Sie wohl wenig Interesse. Ich war durch meinen Freund ins Unglück gekommen, aber nicht mit seinem Willen. Er war kurz nach Mitternacht verhaftet worden. Er war noch wach gewesen, hatte die Tür verriegelt und in fliegender Hast einen Zettel an mich geschrieben: ›Vernichte die Papiere!‹ Den hatte er seinem gleichfalls aus dem Schlaf gestörten Hausherrn zur Besorgung übergeben. Und dieser Biedermann hatte nichts Eiligeres zu tun, als ihn samt meiner Adresse dem Führer der Patrouille zu übergeben. Es ging sehr rasch.

Nicht so rasch ging es mit dem Verfahren gegen mich. Die Verhandlung rückte langsam vor, und ich erfuhr eigentlich erst während der unzähligen Verhöre vom Auditor, was für ein gefährlicher Mensch ich war. Meine Unschuld kam nicht an den Tag; die Herren vom Kriegsgericht sprachen mich schuldig. Ich wurde zum Tode verurteilt und die Strafe dann im Gnadenweg zu zwanzigjährigem Dienste im Fuhrwesenkorps gemildert. Was so die Menschen Milde und Gnade nennen! Fünf Jahre später lernte mich mein Hauptmann kennen. Er war Vorsitzender eines Militärgerichts, das mich wegen Aufhetzung meiner Kameraden – ich hatte ihnen meine Geschichte erzählt – zur Versetzung in eine Strafkompanie verurteilte. Mein Schicksal rührte ihn, er nahm mich als Privatdiener zu sich und behandelt mich ziemlich menschlich, das heißt, wenn er nüchtern ist ...« Und leise, sehr leise fügte er noch hinzu: »Ach, wenn es nur schon Frühling wäre!«

Ich will nicht beschreiben, was wir beiden Zuhörer bei dieser Erzählung empfanden. Der Professor suchte das Los des Mannes zu mildern, wo er nur konnte, und ich trug ihm wenigstens Bücher zu, da ich doch nichts anderes für ihn zu tun vermochte.

Seine Ahnung, seine Hoffnung, er werde im Frühling genesen, hat ihn nicht getäuscht.

An einem schönen Sonntag im Mai ging ich mit mehreren Mitschülern die Russische Gasse hinab. Wir wollten nach dem Wäldchen von Horecza. Da kam uns Aristides entgegen; er schlenderte der Stadt zu. »Hei«, riefen wir, »komm mit, Lewczuk«; er war uns als Sündenbock immer willkommen. Aber Aristides schüttelte ernst das Haupt. »Ich geh' auf Begräbnis«, sagte er, und zu mir gewendet fuhr er fort: »Komm mit, ›Lateiner‹ ist tot, armer, kranker Mann, tut nichts mehr weh. Donnerstag bekommt Blutsturz, Hauptmann laßt ihn in Spital schleppen, Freitag früh gestorben. Heute vier Uhr ist Begräbnis, ich hab' Sanitätssoldat Schnaps gezahlt, hat mir erzählt.« Wir gingen zum Militärspital. Punkt vier Uhr kam der traurige Zug geschritten, der Leichenzug eines gemeinen Soldaten. Nur ich und Aristides mochten Leid empfinden. Die Zeremonie auf dem Friedhof war sehr kurz. Der Seelsorger sprach ein kurzes Gebet, dann wurde der Sarg ins Grab gesenkt, und zwei tschechische Sanitätssoldaten schaufelten es lustig zu.

Ich kann nicht sagen, was ich dabei empfand. Auch Aristides war sehr bewegt. »Wegen Paket«, murmelte er. »Warum hat Gott zugelassen?« Warum?! Ich weiß keine Antwort darauf. Aber der liebe Gott wohl auch nicht und ebensowenig die – österreichische Regierung.


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