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Gouvernanten und Gespielen

Wer den Titel dieser Zeilen liest, erwartet vielleicht eine Schilderung der segensreichen Tätigkeit, welche die »Kulturträgerinnen« aus dem Westen in Rußland und Rumänien, in Galizien und Ungarn entwickeln, erwartet ein liebliches Genrebild, wie das fremde Mädchen im wilden Karpatental zur Beglückerin der ganzen Gegend wird und dafür wärmste Verehrung genießt. Das wäre ein Irrtum; denn nicht einen Hymnus will ich hier anstimmen, sondern einen Warnruf, von dem ich wünsche, daß er allen, die es angeht, erschütternd durchs Ohr ins Herz hineinklinge.

Es gehen jährlich Tausende von Bonnen, Gouvernanten und Gesellschafterinnen aus dem Westen nach Halb-Asien. Eine verläßliche Statistik darüber gibt es nicht; nach flüchtiger Schätzung handelt es sich um jährlich drei- bis sechstausend Seelen. Einzelne Fachleute geben weit höhere Zahlen an; so viel ist gewiß, daß der Export wohl ein beständiger, aber gleichwohl von verschiedener Stärke ist. Die oben gegebenen Ziffern sind also dahin zu verstehen, daß in Jahren geringer Nachfrage mindestens dreitausend, in denen stärkeren Bedarfs mindestens sechstausend alleinstehende Mädchen und Frauen als Bildnerinnen nach dem Osten gehen. Am stärksten sind Bonnen begehrt, nächst diesen Gouvernanten, »Gesellschafterinnen« am wenigsten. Noch geringer ist die Zahl der »Gespielen«: Knaben, die gleichsam als lebendige Grammatiken der französischen Sprache nach dem Osten exportiert werden. Von ihnen soll hier zunächst nicht weiter die Rede sein; sprechen wir zunächst nur von den Damen. Faßt man ihre Heimatländer ins Auge und gruppiert diese nach den Zahlen, mit denen sie an dieser Auswanderung beteiligt sind, so ergibt sich folgende Reihe: die Schweiz, Frankreich, Belgien, England, Deutschland, Österreich, Italien. Spanierinnen, Holländerinnen und Däninnen trifft man fast nirgendwo, und dann gewiß nur in Häusern ihrer eigenen Landsleute.

Diese Länderskala ist schon deshalb von Wichtigkeit, weil sie auf die Richtung der Kulturbestrebungen im Osten Licht wirft. Die Gebildeten und Halbgebildeten dieser interessanten Nationalitäten blicken nach Paris als dem Mekka der Zivilisation, halten die Kenntnis der französischen Sprache für das Haupterfordernis, oft genug für das einzige Erfordernis der Bildung und wählen daher die Erzieherinnen hauptsächlich unter dem Gesichtspunkte, daß sie ihren Kindern vor allem das Französische beibringen. Darum stehen die drei Länder mit französischer Verkehrssprache obenan. Denn auch die Schweiz ist ihnen beizuzählen, weil nur ihre westlichen Kantone an diesem Export beteiligt sind; daß sie sogar die erste Stelle einnimmt, erklärt sich teils aus den sozialen Verhältnissen dieses Landes, teils daraus, daß die Französin und nun gar die Pariserin nur ungern ihre Heimat verläßt, endlich auch daraus, daß die Schulbildung in der Schweiz eine bessere und gründlichere ist als in Frankreich. So kommt's, daß dieser große Staat erst an zweiter Stelle steht und auch diese gegen das kleine Belgien nur mühsam behauptet. Die beiden germanischen Staaten, die nun folgen, sind mit wesentlich geringeren Zahlen beteiligt. Seit etwa 1870 sind diese übrigens in stetem Wachsen begriffen, insbesondere liefert Deutschland bereits ein stattliches Kontingent, das jenes Englands bald überflügeln dürfte. Nur sehr wenig sind hingegen Österreich und Italien bei diesem Export beteiligt.

Beantworten wir nun die nächstliegende Frage, wie sich das Geschick dieser Frauen an den Stätten ihrer Wirksamkeit gestaltet, so kann die Antwort nur eine traurige sein. Von all den Schmerzen, die nur sentimentale Herzen empfinden könnten, sehen wir natürlich ab. Wer einen Posten annimmt, der dreihundert Meilen weit von der Heimat liegt, und dann darüber jammert, daß dies gar zu weit sei, mit dem können wir nicht klagen. Das will eben früher überlegt sein. Aber ist der Schmerz über die Vergeblichkeit der eigenen, ebenso ernstgemeinten wie geübten Tätigkeit etwa auch nur eine Sentimentalität? Muß ihn nicht vielmehr jedes warme Gemüt empfinden, und zwar desto stärker, je ehrlicher es ist?! Nun wird es aber wohl nur wenige Erzieherinnen geben, denen während ihrer Wirksamkeit im Osten dieses peinliche Gefühl erspart geblieben wäre. Der Grund liegt in der geistigen Atmosphäre, in die sie geraten, dieser konsequent betriebenen Kulturheuchelei, die den Schein für das Sein nimmt, die Form will und sich um den Inhalt nicht kümmert. Die Gouvernante, die in ein russisches, rumänisches, polnisches, magyarisches Haus berufen worden ist, wird in den meisten Fällen binnen kurzer Frist erkennen, daß man von ihr gar nicht fordert, sie möge ihren Zöglingen gründliches Wissen beibringen. Die jungen Fräulein sollen das Französische famos parlieren können, mit der Lektüre der französischen Klassiker darf man sie nicht langweilen oder gar mit den trockenen Daten der Geographie und Geschichte. Sie sollen einige Sensationsstückchen auf dem Klavier pauken können, aber daß ihnen der Sinn für Adel und Schönheit der Tonkunst aufgehe, wäre überflüssige Quälerei. Entweder fügt sich nun die Gouvernante in diese Bildungsmaximen, und dann muß sie wohl Unbehagen über die Art empfinden, in der sie ihren Beruf erfüllt; oder sie fügt sich nicht, und dann kann sie eben in ihre Heimat zurückkehren, wo man so pedantische Erzieherinnen nicht bloß duldet, sondern sogar schätzt. Wenn nur die Rückkehr nicht gar so schwer wäre! Man wende mir nicht ein, daß ich dabei nur solche Frauen im Auge habe, die ihren Beruf ideal auffassen, und daß ihre Zahl gering ist. Ich denke, so viel Idealismus hat doch fast jede Erzieherin, um es schmerzlich zu empfinden, wenn sie ihre Aufgabe nicht gründlich, sondern oberflächlich, nicht gewissenhaft, sondern gewissenlos lösen muß!

Freilich ist dieser Übelstand noch der geringere; weitaus schwerer wiegt die unwürdige soziale Stellung der Gouverante in jenen Familien, die, nach europäischen Begriffen, schmähliche Behandlung, die sie dort erduldet. Es gibt auch erquickliche Ausnahmen, das gebe ich zu und darf es getrost, weil ich sie selbst beobachtet habe, aber anderseits könnte ich, gleichfalls auf Autopsie gestützt, Geschichten über die Mißhandlung solcher unglücklichen Damen berichten, die den gleichgültigsten Leser zur Entrüstung hinreißen müßten. Ich unterlasse es, weil es doch wieder Ausnahmen nach der entgegengesetzten Seite sind und ich hier nur die Regel zu schildern habe. Die Regel ist, daß die Gouvernante im Hause des rumänischen Bojaren, des magyarischen Magnaten, des moskowitischen oder polnischen Edelmanns so gehalten und behandelt wird, wie sich die deutsche Hausfrau gegen ihr »Mädchen für alles« benimmt. Vor körperlicher Mißhandlung ist sie bewahrt, aber man erteilt ihr jeden Befehl kurz und barsch, man betrachtet sie als ein Wesen, dem man keine Rücksicht der Höflichkeit schuldig ist, als eine Dienerin, die man bezahlt und füttert, damit sie ihre Schuldigkeit leiste, die aber in sozialer oder rein menschlicher Beziehung der Herrschaft so wenig ebenbürtig ist wie etwa eine Kuhmagd. Doch darf man zur Erklärung nicht annehmen, als ob Bosheit etwa ein allgemeiner Zug im Charakter jener Völker wäre; die Behandlung der Gouvernante in Halb-Asien ist eben »ländlich sittlich«, oder richtiger »ländlich schändlich«. Was sollte auch die adeligen Herrschaften jener Länder dazu bestimmen, der Gouvernante in ihrem Hause menschenwürdige Behandlung zu gönnen? Daß dieses brave Mädchen sich durch Arbeit ihr Brot verdient, während sie in ererbtem Besitz prassen? Aber Arbeit ist ja in ihren Augen nichts Achtenswertes, jede Tätigkeit um des Erwerbes willen scheint ihnen erniedrigend. Daß die Fremde gebildeter ist als sie? Aber Respekt vor der Bildung hat nur entweder der Gebildete oder ein naives Gemüt, diese Adeligen gehören wahrlich in keine der beiden Kategorien. Daß sie die Erzieherin ihrer Kinder ist und keine Kuhmagd? Aber dafür wird sie ja bezahlt. Auch kann sie ja gehen, wenn es ihr nicht mehr gefällt. Wenn nur die Rückkehr nicht gar so schwer wäre! Und hier dürfte mir niemand mehr, wenigstens kein Europäer, mit der Einwendung ins Wort fallen, daß ich diese Klage nur im Namen besonders zimperlicher Frauenzimmer anstimmte.

Aber auch dies ist noch nicht das Schlimmste, sondern die furchtbare Tatsache ist's, daß unzählige dieser Geschöpfe, junge, makellose Mädchen, Opfer der brutalen Sinnenlust jener Halbbarbaren geworden sind und werden. Man wende nicht beschönigend ein, daß sich Ähnliches wohl auch in verderbten Aristokratenfamilien des Westens an schutzlosen Geschöpfen begibt. Der Fall liegt anders. Denn in Europa haben diese armen Mädchen, so schutzlos sie auch sonst sein mögen, doch mindestens einen Schutz, der das Schlimmste von ihnen abwehrt oder an dem Täter rächt, in Europa ist die Themis nicht, wie in jenen Ländern, eine freche Dirne, die dem reichen Einheimischen vertraulich zublinzelt und die verlassene Fremde höhnisch fortweist. Ferner kommt bei uns derlei nur eben vereinzelt vor; anders in Halb-Asien. Dort kann man – ich wiederhole diesen Ausdruck mit Absicht und kann ihn vertreten – unzählige Fälle dieser Art nachweisen; dort fügt sich auch die Schändlichkeit nicht zufällig, sondern sie ist zum Teil im vorhinein geplant. Ja, im vorhinein! Unter jenen drei- bis sechstausend Mädchen, die jährlich in den Osten ziehen, befinden sich auch jährlich vielleicht hundert, die man nur deshalb dorthin kommen läßt, um sie zugrunde zu richten. Und diese hundert sind nicht minder brav und rein als die übrigen und ziehen nicht minder ahnungslos dahin als die übrigen; auch sie sind berufen, ein ehrliches Brot und eine nützliche Tätigkeit zu finden, und man bereitet ihnen die Schande und den Tod! Alljährlich wird eine Anzahl Opfer nach Ungarn, Rußland und Rumänien verhandelt und bevölkert dort zuerst die Häuser reicher Wüstlinge und dann – die Glücklicheren unter ihnen die Friedhöfe, die Unglücklicheren die Freudenhäuser. Aber wen kümmert's? Sie gehen ja als »Gouvernanten« dahin! Und der Strom der Bildung flutet nun einmal von West nach Ost, und man muß dem edlen Bildungsstreben der Herren Russen und Rumänen, Polen und Magyaren hilfreich entgegenkommen ...

»Das ist entsetzlich!« höre ich rufen, jedoch in demselben Atemzuge auch die Frage: »Ist es auch wahr?« Ja, und ich habe es bereits vor langen Jahren bewiesen. Als ich 1874 den Entschluß faßte, die Kulturzustände Halb-Asiens zu schildern, da sagte ich mir sofort, daß es mir eine der ersten Pflichten sein müsse, auf diesen »Gouvernantenhandel« hinzuweisen. Zwar wußte ich, daß kein einzelnes Menschenwort stark genug wäre, um eine so tief eingewurzelte Schändlichkeit zu beseitigen, und nun gar das Wort eines jungen Autors, dem kein größeres Blatt zu Gebote stand. Aber diese Erwägung konnte mich der Erfüllung meiner Pflicht nicht entheben. Ich schrieb einen Artikel für ein österreichisches Blatt, in dem ich das Unwesen im allgemeinen schilderte. Er erschien, und der praktische Erfolg, soweit ich ihn erkennen konnte, waren – drei Briefe aus dem Publikum. Zwei dieser Zuschriften machten sich über mich lustig, weil ich unter dem Deckmantel moralischer Entrüstung pikante Lektüre einschmuggelte, denn wahr könne die Sache nicht sein, weil man ja sonst auch anderweitig davon gehört haben müßte. Der dritte Brief kam von einer besorgten »Mutter in Graz«, worin sich diese erkundigte, ob einer der ehrenwertesten Kavaliere Galiziens »auch so ein Mensch« sei, denn ihre Tochter Nanni diene in seinem Hause, zwar nicht als Gouvernante, aber als »Küchengehilfin«. Das war alles. Ich dachte, daß Österreich zuwenig bei jenem Export beteiligt sei, ein Artikel in einem norddeutschen Blatte müsse bessere Wirkung tun. Ein Berliner Blatt brachte ihn, und diesmal kam nur ein Brief: »Lügen Sie andere an, wir Berliner sind zu gescheit dazu!« Ich schrieb einen dritten Artikel für ein deutsches Blatt der Schweiz in der Voraussetzung, dort müsse er doch die meiste Wirkung tun. Aber auch dieser dritte Versuch hatte ein sehr bescheidenes Resultat, die Redaktion druckte zwar meine Arbeit ab, schrieb mir jedoch, im allgemeinen sei man dort natürlich bereits über das Unwesen unterrichtet und mehr als Allgemeines biete ja auch mein Aufsatz nicht.

So geht es nicht, dachte ich, die einen glauben mir nicht, was ich sage, und die anderen wissen es bereits. Ich muß bewirken, daß die einen mir glauben und daß sich die anderen nicht bloß damit begnügen, um die Sache zu wissen, sondern auch dazu gedrängt werden, etwas dagegen zu tun. Ich will nicht mehr ins Blaue hinein klagen, sondern einzelne Fälle veröffentlichen. Diesem Zwecke dienten die Aufzeichnungen, die ich 1875 zunächst in einem vielgelesenen Wiener Blatte, dann in der ersten Auflage dieses Buches erscheinen ließ. Ich berichtete von jenen unglücklichen »Gouvernanten«, von deren Los ich zufällig während meines Jugendaufenthaltes, dann während meiner späteren Wanderungen im Osten genauere Kunde erhalten hatte, setzte nichts hinzu, aber ich beschönigte auch nichts. Da diese Darstellung auch heute noch nicht gegenstandslos geworden ist, so lasse ich sie hier folgen.

... Es war im Jahre 1858, und ich damals ein zehnjähriger Bube. Aber ich erinnere mich noch genau an alles. Es war ein Frühlingstag; ich war mit meinem Vater, der Bezirksarzt zu Czortkow, einem Städtlein in Ostgalizien, war, über Land gefahren, nach dem Dorfe K. Mein Vater hatte im Dorfe zu tun, mich setzte er im Edelhof ab. Dort hauste Herr Ludwig v. T., der nächst seinem Bruder Henrik, der im benachbarten Dorfe Sz. wohnte, wohl der reichste Edelmann des Kreises war. Beide hatten früh geheiratet, beiden war aus der Ehe je ein Söhnchen entsprossen, das sie nach ihrem Namen nannten. Der kleine Ludwig in K. war schon früher mein Spielkamerad gewesen, und auch an jenem Frühlingstag tollten wir Buben laut und wild genug umher; es war noch ein dritter Knabe dabei, ein blasser, schüchterner Junge: der Cousin Ludwigs, der kleine Henrik v. T. aus Sz. Seine Mutter war früh gestorben, der Vater viel auswärts, gleichwohl kam der arme Junge nur selten zu seinen Verwandten; die beiden Brüder harmonierten wohl nicht sonderlich.

Aber diesmal war Henrik schon zwei Wochen auf des Onkels Gute. »Hier ist's lustig«, jauchzte er, als wir uns endlich müde gelaufen hatten und nun auf der Heide nächst der Landstraße eine Burg aus Feldsteinen bauten, »ich habe es mir gar nicht so schön gedacht und wollte nicht von zu Hause fort. Aber ich mußte, denn es ist gerade wieder eine neue Französin angekommen, die mich unterrichten soll.«

»Du dummer Henrik«, lachte sein Cousin, »darum hättest du ja gerade zu Hause bleiben müssen!«

Aber der blasse Junge schüttelte den Kopf. »Nein«, erwiderte er, »ich weiß, was ich sage: Eben darum mußte ich fort. Es war im vorigen Jahre nicht anders und vor zwei Jahren auch nicht; sooft ich eine neue Lehrerin bekomme, muß ich fort und darf erst nach einem Monat wiederkommen. Der Papa will es so. Als ich acht Jahre alt war, ist er aus Paris zurückgekommen, hat den Pater weggeschickt und gesagt: ›Morgen kommt deine Lehrerin.‹ Und am nächsten Tage ist sie gekommen, sie war schlank und blond und blaß. Und sehr ernst war sie, obwohl unsere alte Fruzia gesagt: ›Die ist ja selbst fast noch ein Kind, wie soll sie andere Kinder erziehen?‹', und immer hat sie schwarze Kleider getragen. Deshalb habe ich mich auch anfangs vor ihr gefürchtet. Aber sie war so gut wie ein Engel, und ich habe sie sehr liebgehabt, und der Papa auch, er hat immer sehr freundlich mit ihr gesprochen. Aber nach vierzehn Tagen ist er plötzlich furchtbar böse auf sie geworden. Das war an einem Abend, die Amelie hatte mich schon zu Bett gebracht, und ich war eingeschlafen, da wachte ich plötzlich auf, weil der Papa im Nebenzimmer die Amelie furchtbar auszankte und schrie. Sie aber hat nur still geschluchzt. Aber plötzlich reißt sie die Tür auf und kommt auf mein Bett gestürzt und reißt mich heraus. Und mein Papa hinter ihr her, und in der Tür steht sein Diener, der Janko. Da kauert sie in eine Ecke hin und preßt mich fest an sich und schreit meinem Papa etwas entgegen. Da wird er ganz blaß und sagt zum Janko: ›Reiß ihr das Kind weg.‹ Aber dann besinnt er sich und sagt heiser: ›Gute Nacht‹ und lacht und geht weg. Sie aber hat mich fest auf dem Schoß gehalten und sehr geweint, und dann bin ich eingeschlafen. Und seitdem habe ich die Amelie nicht wiedergesehen, denn am nächsten Morgen bin ich spät in meinem Bett aufgewacht, und die alte Fruzia hat mich angezogen, und der Janko hat mich auf den Wagen genommen und ins Kloster geführt, zum Onkel Prior. Dort bin ich einen Monat geblieben. Und wie ich zurückkomme, ist die Amelie nicht mehr da. ›Wo ist sie denn?‹ frage ich. Und da sagt die Fruzia: ›Dein Vater hat sie nach Wien zurückgeschickt, zu der Frau, wo er sie abgeholt hat. Er hat ihr Weinen nicht vertragen können. Ich fürchte aber, sie wird sich am Weg ein Leid antun, ich fürchte, dein Vater wird nicht vor Gott verantworten können, was er an der Amelie verbrochen hat. Dein Vater ist ein schlechter Mensch.‹ Das habe ich meinem Papa erzählt, und er hat die Fruzia dafür prügeln lassen.«

»Aber wahr ist es doch«, sagte der kleine Ludwig, »meine Mutter sagt das auch.« Henrik aber erzählte weiter, und was mir etwa von seinem Knabengeplauder entfallen sein mag, ist mir weit später durch Erzählungen aus anderem Munde wieder aufgefrischt worden: »Dann ist im Winter eine zweite Französin gekommen, die hat Josephine geheißen. Aber am Tage, wo sie kommen sollte, hat mich mein Papa durch den Janko wieder zum Onkel Prior führen lassen; ›ich will nicht wieder ähnliche Scherereien haben‹, hat er gesagt. Also war ich wieder einen Monat im Kloster, und wie ich zurück war, hat der Unterricht begonnen. Aber ich habe bei der Josephine wenig gelernt. Sie war ganz anders als die Amelie: recht launisch und klein und schwarz und ist immer herumgesprungen und hat immer gelacht. Aber die Fruzia hat mir erzählt, daß sie anfangs auch sehr geweint hat. Auch später noch hat sie geweint, wenn sie allein war; da habe ich sie oft stundenlang schluchzen gehört: › O ma mere!‹ Aber das war nur, wenn Papa nicht zu Hause war; vor ihm ist sie immer ganz lustig herumgesprungen. Aber deshalb hat sie sich doch vor ihm gefürchtet, noch mehr als ich. Übrigens war er gut gegen sie, aber im Frühjahr ist er bös geworden und hat sie geschlagen, und sie hat sehr geweint. Und darauf hat sie der Janko nach Lemberg geführt. Und dann ist Papa ein Jahr auf Reisen gewesen, und bei mir war der Pater Ignatius als Hofmeister, ein sehr schlechter Kerl. Nun ist vor drei Wochen der Papa heimgekommen und hat den Pater weggeschickt, und zu mir hat er gesagt: ›Du bekommst wieder eine Französin. Die schaut auch ganz so aus wie die Amelie.‹ Da war ich schon ganz froh, denn die Amelie war ja so gut wie ein Engel. Aber an dem Tage, wo sie kommen sollte, habe ich hierher fort müssen. Nun, hier ist es ja auch sehr lustig ...«

Und wir bauten weiter an unserer Burg auf der blühenden Heide, bis wir hungrig wurden. Auch sank schon die Sonne. Aber just als wir heimlaufen wollten, kam ein Wagen die Straße entlanggesprengt. »Das sind unsere Rappen«, rief Henrik und lief auf den Wagen zu, »das ist der Janko. Der kommt gewiß um mich. Nicht wahr, Janko?« Aber der Bediente schüttelte den Kopf. »Wir fahren nach Czortkow, um den Doktor.« – »Mein Papa ist ja hier im Dorfe«, rief ich, und wir Buben kletterten jubelnd auf den Wagen. Am Tore des Edelhofs stand mein Vater im Gespräch mit Herrn Ludwig v. T. »Herr Doktor«, rief Janko, »Sie möchten augenblicklich nach Sz. kommen. Es ist ein Unglück geschehen!« – »Mein Bruder?« rief Herr v. T. erblassend. – »Nein«, erwiderte Janko, »die Französin hat sich vergiftet; ich fürchte, wir finden sie nicht mehr am Leben.«

Rasch sprang mein Vater in den Wagen, Herr Ludwig folgte ihm. »Erlauben Sie, daß ich Sie begleite«, sagte er. »Ihr Knabe kann ja hier bleiben.« Aber mein Vater hob mich hinein. »Der Bub kann im Wagen schlafen.« Und dann fuhren wir davon, und die beiden Männer sprachen kein Wort mehr. Nur Herr v. T., der sehr blaß war, sagte einmal dumpf: »Ich wußte, daß es so kommen würde.«

Dann brach die Nacht herein, ich schlief ein und erwachte erst, als wir im Schloßhof zu Sz. hielten. Das Gebäude lag dunkel, nur im ersten Stockwerk waren einige Fenster erleuchtet. Die beiden Männer eilten ins Schloß. Ich blinzelte nach den lichten Fenstern hin, dann hüllte ich mich in des Vaters Bunda und schlief abermals ein. Ich weiß nicht, wie lange ich so gelegen war, noch auch, wovon ich erwachte. Als ich die Augen aufschlug, war alles um mich wie früher. Aber die Pferde waren ausgespannt, ich war allein im dunklen Schloßhof. Da begann ich mich zu fürchten, kletterte vom Wagen und ging in das Schloß, meinen Vater zu suchen. Auf der Treppe und im Korridor des ersten Stockwerks war keine Menschenseele. Immer zaghafter schlich ich durch den matt erleuchteten Flur. Endlich sah ich eine halbgeöffnete Tür, da stahl ich mich hinein.

Es war ein großes, gleichfalls matt erleuchtetes Zimmer. In der Fensternische saß eine alte Dienerin und weinte bitterlich. Sie beachtete mich nicht. Ich schlich auf den Zehen an eine zweite offene Tür, aus der ein heller Lichtschein drang, steckte mich hinter den Türvorhang und guckte hinein. Es war ein Schlafgemach; auf einem Lager ruhte regungslos eine Frauengestalt. Ich sah wenig von dem Gesicht, ich konnte es kaum von den Kissen unterscheiden, so bleich war es. Aber um so deutlicher sah ich die Flut blonden Haares; es lag wie eine lichte Wolke um das Antlitz. Mein Vater stand an dem Lager; sein Antlitz sah ich deutlich und erschrak fast, so düster hatte ich es nie gesehen. Auch waren die beiden Brüder im Zimmer. Ludwig lehnte in einer Fensternische; Henrik, ein schöner, stattlicher Mann in den Dreißigern, saß in einem Fauteuil und schaute starr nach dem Lager hin. So blieb alles regungslos, nur wenige Sekunden lang. Ich glaube, wäre ich ein Maler geworden, ich könnte noch heute das Bild wiedergeben. Zug um Zug; so tief haften ungewöhnliche Eindrücke im Kindergemüt. Und ebenso weiß ich, was nun folgte. Mein Vater beugte sich noch einmal über das Lager. »Sie ist tot«, sagte er dann, »sie muß ein großes Quantum Arsenik eingenommen haben.« – »Also Arsenik!« knirschte Henrik und schnellte empor. »Nun weiß ich, woher sie das Gift bekam. Die Fruzia hält immer einen Vorrat davon gegen die Ratten. Oh, ich lasse die alte Vettel peitschen, bis ...« Aber Ludwig legte die Hand schwer auf die Schulter des Bruders, so schwer, daß dieser zusammenknickte. »Das wirst du nicht tun«, sagte er dumpf, »denn deshalb hat doch nicht das alte Weib das Mädchen ermordet, sondern – du.« Henrik schwieg. Da fiel der Blick meines Vaters auf den Türvorhang und entdeckte mich da. »Fort mit dir!« rief er heftig und schritt auf mich zu. »Ich habe dich suchen wollen«, stammelte ich. Da ergriff er meine Hand. »Ich kann gehen«, sagte er zu Herrn Henrik. »Es ist ja nichts mehr zu retten.« – »Ich danke Ihnen«, erwiderte der und kam verlegen, die Rechte weit vorgestreckt, auf meinen Vater zu. »Trauriger Zufall ... hm! Bitte um Diskretion!« Aber meines Vaters Rechte ließ meine Hand nicht fahren. »Ich muß meine Pflicht tun«, sagte er. Wir gingen.

Hier endet meine persönliche Erinnerung an jenen Fall, die unauslöschlich in meinem Gedächtnis haftet. Ich füge nur noch hinzu: Mein Vater hat seine Pflicht getan und das Gericht von jenem Selbstmord in Kenntnis gesetzt. Darauf wurden er und ein Adjunkt nach Sz. entsendet und die Obduktion vorgenommen. Der Adjunkt stellte fest, daß Charlotte G. das Gift aus dem Vorrat der Haushälterin entwendet habe. Von den Gründen des Selbstmords behaupteten Henrik und seine Dienerschaft keine Ahnung zu haben. Nur die alte Fruzia erklärte kurz und bündig: Das Fräulein habe sich vergiftet, weil der Herr sie die Nacht vorher durch ein Schlafmittel betäubt und in diesem Zustand entehrt habe. Aber schon nach der zweiten Vernehmung der Alten mußte die Untersuchung eingestellt werden. Fruzia widerrief ihre erste Aussage; sie habe gelogen, um sich dafür zu rächen, weil der Herr sie oft habe prügeln lassen.

Wie viele Gouvernanten aus Genf Herr v. T. noch in der Folge für seinen Sohn bezogen hat, weiß ich nicht zu sagen. Ich weiß nur, daß er noch lange in tausend Freuden lebte und in seinen Kreisen sehr angesehen war.

... Ich kam im Jahre 1872, mit Empfehlungsbriefen reich versehen, in eine Mittelstadt der Moldau. Einer dieser Briefe lautete an einen jungen deutschen Kaufmann, der sich erst vor wenigen Jahren dort etabliert hatte. Herr Friedrich K. empfing mich warm und herzlich und führte mich dann in seine Privatwohnung. Dort stellte er mich seiner Gattin vor, und hatte mich schon der Mann bezaubert, so tat es nun noch mehr seine Frau; eine Gretchenerscheinung, schlank, blauäugig und in jedem Zug, jeder Bewegung der Zauber keuscher Mädchenhaftigkeit. Kaum mochte man glauben, daß dies holde Wesen schon Gattin und Mutter, noch minder, daß es eine Französin sei. Und das war die Dame nach Erziehung und Abstammung von Vaters Seite; ihr »Mütterli« freilich war, wie sie mir in gebrochenem »Schwyzer-Dütsch« sagte, aus Bern gewesen. »Bübeli« nannte sie auch ihren prächtigen zweijährigen Krauskopf, der laut lachend in meine Hand patschte. Ich kann kaum sagen, welch günstigen Eindruck das kleine blühende Hauswesen auf mich machte, und ich wäre auch gerne gleich zum Mittagessen dageblieben, wie die lieben Leute wollten. Aber ich hatte ja noch ein Dutzend Besuche zu machen. Ich sagte also für den nächsten Tag zu und setzte seufzend meine Rundfahrt fort: zu Beamten und Bankiers. Und sie waren leider alle zu Hause.

So fand ich denn, als ich am späten Nachmittag im Stadtpark erschien – was man so in der Moldau einen Stadtpark nennt –, um die Weisen der Militärkapelle anzuhören – was man so in Rumänien eine Militärkapelle nennt –, sehr viele neue Bekannte. Aber ich suchte und suchte, bis ich Friedrich und seine Gattin fand. Zu denen setzte ich mich und plauderte, während ihr Büblein auf meinem Schoß mit meinem Schnurrbart ein grausames Spiel trieb. Dazu spielte die Musik ohrenzerreißend, und die stattlichen Honoratioren, denen ich meine ergebenste Aufwartung gemacht hatte, defilierten langsam vorbei. Natürlich grüßte ich respektvoll. Aber man – dankte mir nicht. Hie und da lüftete wohl ein Herr verlegen den Hut, die Damen aber blickten um sich, als wäre ich blaue Luft. Ich lachte anfangs darüber, dann ärgerte ich mich doch und meinte schließlich zu Friedrich: »Aber Ihre Mitbürger sind ja überaus – höflich.« Er wurde blaß, seine Frau errötete. »Die Unhöflichkeit gilt nicht Ihnen«, sagte er endlich gedrückt, »sondern uns. Ich bin ein Verfemter, nicht in geschäftlicher, aber in sozialer Beziehung.« Ich schwieg; nach dieser Eröffnung mußte er ja ein erklärendes Wort beifügen. Er tat es dennoch nicht, und seine Frau blickte, nun todbleich geworden, starr zu Boden. Ich begann darauf rasch von anderen Dingen zu sprechen. Aber das Ehepaar blieb gedrückt und einsilbig. Da wurde mir die Sache schließlich unheimlich, und ich verabschiedete mich. »Wir erwarten Sie morgen«, sagte Friedrich mit mühsamem Lächeln. »Und ich kann Ihnen kaum sagen, wie sehr es uns freuen wird, wenn Sie trotzdem kommen.«

Trotzdem?! Ich fuhr in seltsamer Stimmung in mein Hotel zurück. Warum lastete auf diesem lieben jungen Paar ein Bann, so furchtbar, daß es selbst nicht einmal davon zu sprechen wagte?! Aber wen fragen?! Da fand ich auf meinem Tisch eine Einladung für den Abend, von Herrn V. Zwar hatten Frau V. und die beiden schönen Fräulein V. mir heute nachmittag nicht die Gnade erwiesen, mich zu bemerken, aber ich wußte ja nicht, ob ich ihnen das übelnehmen durfte. Ich fuhr hin. Das Ehepaar empfing mich sehr freundlich. Madame begann gleich nach den ersten Worten von jener Begegnung im Stadtpark zu sprechen. Wie sehr es ihr leid getan habe und so weiter, wie man als Fremder solchen Unannehmlichkeiten ausgesetzt sei und so weiter, bis ich endlich fragte: »Ja, was ist's denn mit den Leuten?« Madame schlug verschämt die Augen zu Boden. Herr V. aber flüsterte mir zu: »Herr Friedrich K. ist ein reeller, braver junger Kaufmann. Aber seine Frau war früher eine Dirne. Und direkt aus dem Freudenhause hat er sie zum Traualtar geführt!« – »Unmöglich«, rief ich heftig, »diese Frau –«, da rauschten aber schon die beiden Fräulein V. in den Salon.

Ich glaube, ich habe der Familie V. entschieden nicht den Eindruck eines geistreichen Gesellschafters gemacht. Auch noch am nächsten Vormittag war ich sehr zerstreut. Meine Gedanken kehrten immer wieder zu dem jungen Paar zurück. Wie hatte der Mann, der die verkörperte Ehrbarkeit schien, sich zu solchem Schritt entschließen können?! Aber hatte dieses mädchenhafte Weib in der Tat eine solche Vergangenheit?! Zur Mittagszeit aber trat ich den Weg ins Haus des jungen Kaufmanns an. Denn, sagt' ich zu mir, erstens bist du kein Backfisch, zweitens ein Fremder, der sich um das Urteil dieser guten Stadt den Henker zu scheren braucht, drittens darfst du nicht eine dir zugedachte Freundlichkeit durch eine Grobheit vergelten. Und damit trat ich in Friedrich K.s Kontor. Er drückte mir die Hand, als hätte ich ihm durch mein Erscheinen den größten Dienst erwiesen. »Meine Frau wird sich sehr freuen«, sagte er. »Auch das Bübeli hat schon mehrere Male etwas vom deutschen Onkel gestammelt.« Wir gingen hinauf. Frau Marie sah heute womöglich noch lieblicher aus als gestern. Aber befangen war und blieb sie doch, auch während des Mahls. Als es zu Ende war, erhob sie sich rasch. Wir Herren traten ins Rauchzimmer.

»Ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig«, begann Herr K., kaum daß wir Platz genommen hatten. »Ich hätte sie Ihnen schon gestern gerne gegeben, aber meine Frau war ja dabei. So mußte ich es darauf ankommen lassen, daß Ihnen aus fremdem Mund eine Aufklärung zukomme. Wahrscheinlich ist dies auch geschehen, von wem und in welcher Form, ist gleichgültig. Ich selbst sage Ihnen, daß ich das brave Mädchen, das mich heute als Weib glücklicher macht, als ich verdiene, allerdings erst aus dem Haus einer Kupplerin loskaufen mußte, ehe ich es heiraten konnte. Aber wie Marie in dieses Land und in dieses Haus gekommen ist, wird man Ihnen nicht erzählt haben. Hören Sie!

Hier« – er zog einen Papierbogen aus der Brusttasche und reichte ihn mir entfaltet hin – »haben Sie einen Dienstvertrag vom März achtzehnhunderteinundsiebzig, abgeschlossen durch die Vermittlung eines Wiener und eines Genfer Placierungsinstituts, zwischen Fräulein Marie Ch. einerseits und der Gutsbesitzerswitwe Frau Sophia K. anderseits. Marie Ch. verpflichtet sich darin, gegen freie Station und ein jährliches Gehalt von tausendachthundert Franken als Gesellschafterin bei Frau K. einzutreten. Insbesondere wird sie verpflichtet, der Dame vorzulesen und sie in Krankheitsfällen zu pflegen. Wie Sie sehen, ein streng juristisch stilisiertes, rechtsverbindliches Instrument und dennoch – die infamste Farce, die je in legalen Formen abgefaßt worden ist. Sophia K. ist allerdings Witwe, aber nicht die eines Gutsbesitzers, sondern eines Lakaien, sie ist sehr gesund, braucht keine Pflege, noch minder aber eine Vorleserin französischer Lektüre, da sie keine Silbe davon versteht. Sie ist die ehemalige Geliebte und gegenwärtige Wirtschafterin des Gutsbesitzers Doxaki P. in S. bei Roman. Der Mann ist vielleicht der infamste Wüstling, der sich in Rumänien findet, und das will etwas sagen. Der Edle lebte regelmäßig den Winter über in Paris und brachte den Sommer auf seinem Gute zu. Um sich auch während dieser Zeit entsprechend zu amüsieren und dabei im Französischen nicht außer Übung zu kommen, bezieht oder vielmehr bezog er bis vor drei Jahren – denn seitdem habe ich ihm das Handwerk gelegt – in jedem Frühling eine Gesellschafterin für seine Wirtschafterin. Er wandte sich dabei im Namen der Sophia K. immer an ganz reelle Vermittlungsinstitute, betonte als erstes Erfordernis die strenge Solidität der Bewerberin und war so sicher, in der Tat immer ein bisher unverdorbenes Opfer seiner Lüste zu erhalten. Dann brachte er im Herbst regelmäßig vor seiner Abreise nach Paris einen Teil seiner Kosten wieder herein. Da verhandelte er nämlich die unglückliche ›Gesellschafterin‹ an die Kupplerin Sara P. in hiesiger Stadt...

Sie fühlen sich«, fuhr der junge Kaufmann fort, »von der bloßen Erzählung grauenhaft berührt. Erwägen Sie nun, wie erst der armen Marie ihre Lage erscheinen mußte, als sie, eine elternlose Waise, aber bisher in der Obhut sorglicher Verwandter, sich nun plötzlich im wildfremden Lande, allein und hilflos, der Gewalt dieser Bestie preisgegeben sah. Denn der wackere Doxaki sorgte dafür, daß selbst sie, die Arglose, innerhalb sehr kurzer Zeit zum Bewußtsein ihrer Lage kam. In ihrer Verzweiflung, ihrer Todesangst verrammelte sie sich, da sie kein anderes Mittel fand, sich den Angriffen des Elenden zu entziehen, in ihrem Zimmer und beschloß, sich zu Tode zu hungern. Wie ich ihren Charakter später kennengelernt hatte, bin ich auch überzeugt, daß sie diesen Entschluß ausgeführt hätte. Da wußte sie Herr Doxaki durch eine List davon abzubringen. Er schrieb ihr einen langen, sentimentalen Brief, worin er sie versicherte, er sei von ihrem Heldenmut so gerührt, daß er jeden sträflichen Gedanken aufgebe, auch gerne bereit sei, ihr zur Heimkehr behilflich zu sein. Zu diesem Zwecke lege er ein Bankbillett von fünfhundert Franken bei; sein Wagen stehe dem Fräulein jederzeit zur Verfügung, um es zur nächsten Bahnstation zu bringen. Die Arglose ging in die Falle und ließ Doxaki sogar ihren gerührten Dank sagen. In der nächsten Stunde stand denn auch der Wagen vor der Tür, die Koffer wurden aufgepackt, das Mädchen schritt die Treppe hinab. Da trat ihr Doxaki entgegen und bat nun auch mündlich um ihre Vergebung. Er dankte ihr, daß sie ihm einen Glauben wiedergegeben habe, der ihm in den Stürmen des Lebens längst verlorengegangen sei, den Glauben an Frauenehre. Und zum Schluß erbat er als Zeichen der Versöhnung, daß Marie doch nicht so – halbverhungert aus seinem Hause gehe. Wer hätte solchem reuigen Flehen widerstehen können, besonders da die Tafel schon bereit stand und das arme Kind wirklich entsetzlich hungrig war. Marie aß und trank, und – der Elende hatte seinen Zweck erreicht. In die Speisen war in großer Menge ein Mittel gemischt, das die Sinne des Mädchens betäubte und es zum Opfer des Wüstlings werden ließ ...

Als das Mädchen wieder zur Besinnung kam, da war die Wucht seines Jammers zu groß, als daß ihm diese erschütterten Nerven hätten widerstehen können. Marie verfiel in ein hitziges Fieber und schwebte zwischen Leben und Sterben. Das paßte aber Herrn Doxaki schlecht in den Kram; starb das Mädchen, so hatte er doch vielleicht einige Unannehmlichkeiten zu befürchten. Darum machte er seiner würdigen Freundin Sara P. den Vorschlag, das Mädchen, so wie es jetzt sei, gratis in ihr Haus zu liefern. Frau Sara ging das riskante Geschäft ein; die Kranke wurde hierhergebracht; Herr Dr. R., ein Deutscher, behandelte sie. Durch ihn erfuhr ich von dem Fall. Er interessierte mich sehr, aus Gründen, die Ihnen gleichgültig sein können ...« Ein Schatten überflog das Antlitz des Erzählers, dann setzte er doch hinzu: »Ich hatte eine Cousine, die vor langen Jahren gleichfalls in der Fremde verkam. Und diese Cousine hatte ich sehr ... genau gekannt ... Nun, ich lernte also die Genesende kennen und achten. Ich bemitleidete und liebte sie. Und darum machte ich sie zu meinem Weib und bin sehr, sehr glücklich durch sie geworden. Ich bin mir deshalb doch bewußt, ein Mann von Ehre zu sein.«

... Vor langen Jahren war's und zu Lipkany, einem schmutzigen Nest in Bessarabien. Im besten Wirtshaus des Ortes, einer niederträchtigen Spelunke, hielt ich am Abend einige Stunden Rast. Ich war am Morgen von Mohilew ausgefahren und von der langen Tagereise in dem elenden Mietwagen sehr ermüdet. Gleichwohl wollte ich noch in der Nacht weiter, um am nächsten Tage rechtzeitig die österreichische Grenze bei Nowosielica zu gewinnen. Da trat, nachdem ich die Zeche berichtigt hatte, die alte jüdische Wirtin noch einmal an meinen Tisch heran. Sie habe eine Bitte, begann sie verlegen, aber nicht für sich. Das heißt: eigentlich auch für sich, denn das arme Mädchen liege nun da, und hinauswerfen könne man es nicht, und an Bezahlung sei auch nicht zu denken. Das Mädchen wolle nach Hause, aber das sei sehr weit. Ob ich es nicht wenigstens über die Grenze mitnehmen wolle?

»Was ist's denn für ein Mädchen?« fragte ich.

So eine Art Lehrerin, war die Antwort. Deutsch spreche sie nicht, aber etwas Russisch, und Französisch »wie Wasser«. Der Armen sei ein furchtbares Unrecht geschehen, aber das solle sie mir selbst erzählen. Damit schob sich das gutmütige Weib zur Tür hinaus und kam bald mit ihrem Schützling wieder.

Ich bin auf meinen Fahrten in aller Herren Ländern vielem Elend begegnet. Aber ich habe nie einen Menschen gesehen, dessen Anblick erschütternder zum Herzen sprach als der jenes siechen Geschöpfs, das nun zögernd, wankend auf mich zugeschlichen kam. Es war ein sehr dürftig gekleidetes Mädchen von vielleicht siebzehn Jahren. Schön war dieses Gesicht sicherlich nie gewesen, aber nun war es entstellt durch die Spuren unsäglichen Grams. Etwas wie Todesangst lag darauf festgebannt; die Augen waren entzündet von tagelangem Weinen, und unaufhaltsam quollen die Tränen über die Wangen. Um den Jammer voll zu machen, stand das arme Ding offenbar dicht vor dem Zeitpunkt, wo es Mutter werden sollte.

Meine Augen wurden feucht, als ich in dies Antlitz blickte. Ich sprach zu ihr und beteuerte, daß ich ihr hilfreich sein wolle. Die Arme war nicht ganz bei Besinnung; »nach Genf«, stammelte sie nur und hielt die Hände gefaltet. Ich ließ ihr im Wagen ein Lager bereiten und setzte mich zum Kutscher. Wir fuhren die Nacht über. Durch das Rasseln des Wagens hindurch hörte ich unablässig das Wimmern der Kranken.

Gegen Mittag kamen wir in den russischen Grenzort Nowosielica. Da zwang ich sie durch vieles Zureden, eine Suppe zu nehmen. Dann fragte ich sie, ob sie einen Paß hätte. Sie brauchte ihn, den russischen Grenzkordon zu überschreiten. »Bei der Generalin«, stammelte sie, »mit den anderen Sachen.« Dann begann sie wieder heftig zu weinen und berichtete mir zwischendurch, stammelnd, schluchzend, wirr, den ungeheuren Frevel, den man an ihr verübt hatte.

Das Mädchen war die Tochter eines Genfer Schusters. Sie hatte keine Erziehung genossen, konnte daher nie hoffen, Gouvernante zu werden. Da kam zum Herbstaufenthalt eine russische Generalin nach Vevey, die für ihr fünfjähriges Töchterchen eine Bonne suchte. Die Schusterstochter bekam den Posten und war ganz glücklich darüber; sie wurde gut behandelt, gewann das Kind lieb und ging darum gerne mit der Generalin auch nach Sizilien und dann auf das Gut bei Lipkany. Dann reiste die Generalin nach Baden-Baden; die Bonne blieb mit dem Kind allein auf dem Gut zurück. Da bekam sie im Spätherbst unerwartet glänzende Gesellschaft. Der Sohn der Generalin, ein junger Gardeoffizier, fand es für anzeigt, den Winter über Petersburg zu meiden; wahrscheinlich hatte er seine guten Gründe. Da er sich auf dem öden Edelhof langweilte, so verführte er, die Zeit totzuschlagen, die arme Bonne. Im Frühling durfte er nach Petersburg zurückkehren; einen Monat darauf kam die Generalin heim. Das französische Mädchen hatte kein rechtes Bewußtsein seines Zustands, bis das Gesinde zu sticheln begann. Die Generalin erhielt davon Kunde und ließ das Mädchen rufen. Sie gestand unter Tränen alles. Da geriet die Russin in Raserei, nannte das arme Ding eine Metze und übte Justiz an ihr. Sie ließ sie im Hof entkleiden und mit Ruten streichen. Dem armen Opfer verging vor Scham und Schmerz die Besinnung. Als es wieder zum Bewußtsein kam, fand es sich auf der Landstraße liegen. Barmherzige Tschumaken (kleinrussische Salzfuhrleute) erbarmten sich der Unglücklichen und brachten sie nach Lipkany.

Ich war im tiefsten Herzen erschüttert, aber helfen konnte ich junger Bursche dem Mädchen wenig. Ich schmuggelte es mit Hilfe einiger polnischer Gulden, die beim russischen Naczalnik den fehlenden Paß ersetzten, durch den Kordon nach Österreich. Dann nahm sich ein Engländer in Czernowitz werktätig der Unglücklichen an und schaffte ihr Freikarten und Reisekosten nach Wien. Von da wollte sie mit Hilfe ihrer Landsleute nach Genf heimkehren. Ob sie ihre Heimat erreicht hat, weiß ich nicht.

... Ich lebte im Winter von 1872 auf 1873 in Pest und verkehrte dort viel mit einem jungen Arzt, der sich trotz seiner Jugend bereits einer ansehnlichen Praxis erfreute. Als ich an einem Märztag um vier Uhr, wo seine Sprechstunde zu Ende ging, die Treppe seiner Wohnung emporstieg, um ihn zu einem Spaziergang abzuholen, kam ich an einer schwarzgekleideten Dame vorüber, die regungslos, die Hand auf das Geländer gestützt, auf dem Treppenabsatz stand. Ich blickte sie an, während ich vorüberging, und erschrak heftig. Dieses Antlitz war jung und von edlem Schnitt, aber entsetzlich blaß, selbst die Lippen farblos, und verzerrt von dem Ausdruck höchster Verzweiflung, der darauf wie festgebannt lag. Die Mundwinkel herabgezogen, die Lippen halb geöffnet, als wäre ihnen eben ein Schrei des Entsetzens entflohen, die Augenbrauen hoch emporgezogen und die Augen starr, glanzlos und weit aus ihren Höhlen gequollen, als hätten sie eben das Furchtbarste geschaut. Das Weib durchlitt offenbar einen ungeheuren körperlichen oder seelischen Schmerz. Mich faßte Mitleid und Grauen. »Sie sind unwohl?« Ich wollte es nicht fragen, meine Lippen fragten es selbst. Die Dame zuckte beim Klange meiner Stimme zusammen, griff sich an die Stirn und schüttelte leise den Kopf. Dann wankte sie die Treppe hinab.

»War das eine Patientin?« fragte ich oben den jungen Arzt und beschrieb ihm die Dame. – »Ja!« sagte er. »Ein überaus unglückliches Geschöpf. Sie ist Erzieherin und stammt aus Belgien, wie sie behauptet aus sehr ehrenwerter Familie. Sie kam im vorigen Herbst in das Haus eines hiesigen ältlichen, verwitweten Magnaten als Erzieherin seiner beiden kleinen Mädchen. Der Mann verführte sie, und zwar, wie sie schwört, unter der Vorspiegelung, sie zu heiraten. Natürlich droht er ihr nun bei der bloßen Erwähnung dieses Versprechens mit Entlassung. Aber damit nicht genug, er hat sie auch mit einer abscheulichen Krankheit behaftet. Das Mädchen hatte keine Ahnung von dem Charakter dieser Krankheit und hat erst heute, nach langen Monaten, ärztlichen Rat gesucht. Natürlich mußte ich ihr die ganze Wahrheit sagen und auch eröffnen, daß nur sehr wenig Hoffnung auf gänzliche Herstellung sei. Armes Ding!«

Damit schloß er die Tür seiner Wohnung, und wir gingen hinab und den menschengefüllten Donaukai auf und nieder, bis die Abendnebel aus dem Fluß aufstiegen. Da schieden wir. Der junge Arzt ahnte nicht, daß sich zur selben Stunde am gegenüberliegenden Ufer seine unglückliche Patientin in den Fluß gestürzt hatte. Sie ertrank, weil der Nebel die Rettung verhinderte.

Und das sei die letzte Geschichte – zwar nicht die letzte, die zu meiner Kenntnis gelangt ist, aber die letzte, die ich erzählen will.

Nur von den »Gespielen« erübrigt mir noch zu reden, von jenen Knaben, die nach dem Osten gebracht werden, angeblich, um dort in den Häusern der Reichen als lebendige Grammatiken zu dienen; in Wahrheit aber – mindestens zum nicht geringen Teil – um in eigenen Häusern als Gegenstand unnatürlicher Lüste mißbraucht zu werden. In Kiew und Odessa, Bukarest und Galatz, Konstantinopel und Athen bestehen solche Häuser. Mehr darüber zu sagen, ist an dieser Stelle unmöglich und wohl auch überflüssig.

Mögen diese Zeilen ihren Zweck erfüllen, aufmerksam zu machen und zu warnen. –

So weit meine Darstellung von 1876. Aufmerksam zu machen, zu warnen, war tatsächlich mein einziger Zweck. Daß mit der Erweckung moralischer Entrüstung wenig getan sei, war mir klar – in der Tat ist es ein schöner Wahn, zu glauben, daß je ein Schurke vor ihr die Waffen gestreckt hätte. Und wäre die Sprache dieser Tatsachen, sagte ich mir, laut genug, jeden gesitteten Europäer mit tiefstem Abscheu zu erfüllen, deshalb werden die Herren Bojaren in Halb-Asien doch fortfahren, zu tun, was ihnen beliebt. Aber jenen Mädchen, welche die Reise nach dem Osten wagen, ihren Eltern und Vormündern wollte ich die Augen öffnen, damit sie auf der Hut seien. » Exempla trahunt«, heißt es sonst, vielleicht dachte ich, erreiche ich hier im entgegengesetzten Sinne meine Absicht: » Vestigia terrent

In der Tat erreichte ich diesen Zweck, und zwar – nur allzusehr! Ich konnte dies aus dem Hagel von Zeitungsartikeln und Briefen schließen, der auf meinen Schreibtisch niederging. Daß ich da in allen Zungen des Ostens zu lesen bekam, ich sei ein Verleumder meiner Heimat und was der Höflichkeiten mehr waren, wunderte und kränkte mich nicht; auch der Vorwurf, daß ich ein »Kulturfeind« sei, der den Osten der fremden Bildungselemente berauben wolle, ließ mich gleichgültig; nachdenklich aber machte mich der Vorwurf, daß ich durch derlei Dinge den armen Mädchen das Herz schwer machte, denn daran war wirklich etwas; auch die Briefe, die mir zukamen, bestätigten es. Es war viel Törichtes darunter, aber aus vielen Briefen klang die erschütternde Klage: »Gut, nun sind wir gewarnt, aber was soll uns dies fruchten?! Wir müssen nach dem Osten gehen, unser Brot zu verdienen, weil wir es in der Heimat nicht finden können. Wir wollen die Gewähr haben, daß wir in ein anständiges Haus kommen, aber wer kann uns diese Gewähr geben?«

Die Frage war berechtigt, aber wo die Antwort finden? Anscheinend war sie ja leicht gegeben: »Die Gewähr hat euch jene Agentur zu geben, durch deren Vermittlung ihr engagiert werdet. Vermeidet also die schlechten und bedient euch der gewissenhaften Agenturen.« Aber auch damit ist wenig getan. Es gab und gibt keine Agentur, der sich irgendwie nachweisen ließe, daß sie sich berufsmäßig mit der Vermittlung solcher Schändlichkeiten befasse. Wenn eine Gouvernante, der sie eine Stelle vermittelt, dadurch in schlechte Hände gerät, so trifft den Agenten in Genf, Brüssel, Berlin oder Wien höchstens der Vorwurf des Leichtsinns, aber auch dieser nicht immer. Bestünden solche Agenturen in Europa und bedürfte ihrer das Schandwesen zu seiner Existenz, so wäre es bald vernichtet. Aber es bedarf ihrer nicht, ja noch mehr, es bedarf nicht einmal der Mithilfe der Agentur im eigenen Lande. Bestünden solche Agenturen in Rumänien, Rußland und so weiter, so wären sie gleichfalls bald entlarvt, und man könnte sie durch öffentliche Brandmarkung unschädlich machen. Aber der Fall liegt zumeist ähnlich wie der folgende: Der Gutsbesitzer, Herr L. v. P. in Wolhynien, Witwer und Vater zweier kleiner Mädchen, hat für diese eine Gouvernante bezogen. Er hat von vornherein keine schlimme Absicht; er will in der Tat nur eine Erzieherin für seine Kinder. Aber der Zufall bringt ihm ein junges, reizendes Mädchen ins Haus, und dieser Versuchung vermag seine Brutalität nicht zu widerstehen. Dann schickt er die Ärmste fort: Er weiß, daß sich in seinem Gouvernement kein Ohr ihrer Klage oder Anklage öffnen wird. Diese Erfahrung ermuntert ihn zu weiteren Versuchen; er bestellt bei der Agentur in Warschau abermals eine Gouvernante; Jugend und »freundliches Äußere« macht er vorsichtshalber diesmal bereits zur Bedingung. Aber diese Anforderung wird so oft und von so ehrenwerten Leuten gestellt, daß der Agent daraus wahrlich noch nicht Verdacht schöpfen kann. Woraus sonst? Weitläufige Erkundigungen einzuziehen fällt ihm nicht bei. Er schreibt also an seinen Brüsseler oder Berliner Geschäftsfreund, und dieser wieder ist vollends außerstande, eine Nachforschung zu pflegen, selbst wenn er's wollte. Er schließt mit einer Dame, die den gestellten Bedingungen entspricht, einen Vorvertrag ab, sie erhält einen Reisevorschuß und geht nach Wolhynien. Das weitere – siehe oben! Und was hindert Herrn L. v. P., die Schandtat beliebig oft zu wiederholen? Aber so schauerlich schon dieses Beispiel ist, der Leser weiß bereits, daß es noch schlimmere Fälle gibt; ich erinnere an die Geschichte der Marie Ch. Sowohl das Wiener wie das Genfer Placierungsinstitut, die bei Schließung dieses Vertrages mitwirkten, waren achtbare Firmen. Der Agent kann sich nicht immer erkundigen, und angenommen, daß er es könnte – durch welche Mittel wäre ihm die Verpflichtung dazu so bindend aufzuerlegen, daß er ihr nachkommen müßte?

Wo die Kraft der einzelnen nicht hinreicht, ein gemeinschädliches Übel auszurotten, da darf man mit Recht die Macht des Staates anrufen, auch wenn man im übrigen noch so entschieden der Ansicht sein mag, daß der »Racker von Staat« heutzutage nur allzuviel bemüht wird. Von den Staaten Halb-Asiens war freilich keine Abhilfe zu erwarten, wohl aber von denen Europas. Und so gab ich meinen Vorschlägen endlich die praktische Spitze: Es ist die Pflicht des Staates, seine Angehörigen auch in der Ferne vor Unbill zu schützen. Natürlich können die Schweiz oder das Deutsche Reich nicht jeder Genfer oder Berliner Bonne einen Wächter ihrer Ehre beigeben noch ihren Gesandten auftragen, jede einzelne im Auge zu behalten und sich um ihr Wohlergehen zu kümmern. Was sie aber leicht vermögen, ist, ihnen die Sicherheit zu bieten, daß sie nicht in verruchte Hände fallen. Mit anderen Worten: Den Konsulaten ist zur Pflicht zu machen, auf derartige Anfragen von Amts wegen sofort und mit aller Gewissenhaftigkeit Auskunft zu erteilen. Dann sind wenigstens die grellsten Fälle, wie jener der Marie Ch., vermieden.

Es ist mir eine hohe Freude, berichten zu dürfen, daß diese Anregung nicht fruchtlos blieb. Im Gegenteil, die praktische Wirkung war größer, als ich sie je zu erhoffen wagte. Ich darf dies betonen, weil das Resultat nicht mir zu danken ist, sondern der Wucht der Tatsachen, weil ich nichts getan habe als meine Pflicht.

Die Schweiz steht in jener Skala obenan, und sie war es auch, die zuerst die Frage praktisch löste. Die Bundesregierung in Bern legte, wie mir der Gesandte der Schweiz, Herr Dr. v. Tschudi in Wien, seinerzeit mitteilte, meine Aufsätze einer Enquete vor. Diese schlug eine höchst zweckdienliche Maßregel vor, die auch sofort durchgeführt wurde. Unter dem Patronat der Regierung entstand nämlich eine Gesellschaft, die sich den Schutz der jungen Schweizer Bürgerinnen im Osten zur Aufgabe macht. Dies wird dadurch erreicht, daß die Gesellschaft nicht bloß die Schweizer Konsulate des Ostens zu Hilfe nimmt, sondern auch private auswärtige Mitglieder in jenen Ländern ernennt und die Auswanderer an sie empfiehlt. Noch größeres Gewicht wird aber darauf gelegt, die Schutzlosen von vornherein nicht in schlechte Hände kommen zu lassen. Will zum Beispiel ein junges Mädchen in Lausanne als Gouvernante in ein rumänisches Haus treten, so erhält sie ihren Schweizer Paß nicht eher ausgefolgt, als bis sie in einer Filiale der Gesellschaft den Namen ihrer künftigen Herrschaft angegeben und die Erkundigung, die dann sofort auf telegraphischem Wege eingeholt wird, ein befriedigendes Resultat über den guten Ruf jener Familie ergeben hat. Ich halte dies für den einzig richtigen Weg. So ist für die Schweizerin in Halb-Asien das Schlimmste verhütet.

Wer aber schützt die Deutsche?

Es ist nicht Zweck dieser Zeilen, selbstgefällig das eine Resultat zu vermelden, sondern diese Frage zu stellen an alle, die es angeht. Der Export von deutschen Gouvernanten, Bonnen und Gesellschafterinnen nach jenen Ländern wächst von Jahr zu Jahr. Hält es der deutsche Bundesrat nicht für seine Pflicht, für die deutschen Mädchen denselben Schutz aufzurichten, dessen sich die Schweizerinnen bereits erfreuen?


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