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Paulinzelle

Keine Regel ohne Ausnahme. Nach Paulinzelle wollte ich, und da bin ich nun wirklich.

Der Weg von Schwarzburg nach Paulinzelle über die Berge soll sehr hübsch sein, und ich hätte gewiß gestern nur meinen Koffer auf die Bahn gesetzt und nicht auch mich selber, wenn nicht die Wolken so niedrig herabgehangen hätten. Aber kaum, daß das Züglein abgedampft war, brach draußen die Sonne durch, während im Coupé ein Platzregen über mich niederging. Mir gegenüber saß nämlich ein Ehepaar, das sichtlich erregt war. »Das gehört in die Zeitung«, sagte er, und sie: »Ein Roman, Max!« Zeitungsromane sind ja sehr einträglich, dennoch widerstand ich der Versuchung, da billig einen Stoff einzuheimsen, und schwieg. Sie aber begannen mir trotzdem ihre Schwarzburger Erlebnisse mitzuteilen. Sie waren dort in einer Pension, wo es nach ihrer Darstellung »herrliche Bilder, sogar Landschaften«, aber sehr schlechtes Essen gab – »ist das nicht ein Roman?« Man muß auch mündlich immer zur Klärung über die wichtigsten Lehren der Poetik beitragen, und so erwiderte ich bescheiden, mir persönlich wären in einer Pension schlechte Bilder und gutes Essen lieber, aber ein Roman sei das eigentlich nicht. »So?« rief die Dame. »Und was mir dort mit dem Zimmermädchen passiert ist? Das ist ein Roman, das müssen Sie hören!« Sie hatte sich nämlich mit dem Mädchen gezankt, weil die Museumsassistentin die Gemälderahmen sauberer hielt als anderes, was allerdings nicht mit der Kunst zusammenhängt. Nun, anhören mußte ich diesen thüringischen Pensionsroman allerdings, denn das Bahnchen hat keine Durchgangscoupés, und so behaglich sein Tempo ist, so muß man sich doch das Aussteigen während der Fahrt überlegen. Als die beiden jedoch in Oberrottenbach – das letzte Kapitel der Dichtung war noch lange nicht in Sicht – gleichfalls ausstiegen und mir zu meiner freudigen Überraschung mitteilten, daß sie auch nach Paulinzelle wollten, da ließ ich sie in den neuen Zug klettern und stieg dann im letzten Augenblick in ein anderes Coupé.

Nun war ich allein, und während vor meinem Aug die sanften Hänge des Rottenbachtals und die Hütten von Milbitz vorbeiglitten, aus deren gedrücktem Häuflein die Kirche mit der seltsamen Schweifkuppel hoch emporragt, konnte ich mich endlich darüber freuen, daß ich eine Stätte betreten sollte, deren Anblick ich mir schon so lange gewünscht hatte. Nicht deshalb, weil sie in allen Reisebüchern den Stern hat und »eine der schönsten Kirchenruinen Deutschlands« genannt wird; ich gehe diesen Sternen, wenn ich mich sachte zu meinem Vergnügen durch die Welt schiebe, weder aus dem Weg, noch jage ich ihnen nach, und »eine der ...«, das weckt keine Sehnsucht. Aber da hatte mir vor Jahrzehnten einer gesagt: »Paulinzelle, das müssen Sie sehen.« Der bröckelnde Wunderbau im einsamen Waldtal – mir war ehrfürchtig zumut; es ist wie ein steingewordenes Gebet aus dem alten deutschen Volksgemüt. Ich bin kein Kunstmensch; Italien hat wenig auf mich gewirkt, die großen Dome schon gar nicht; ich hatte nur immer die Empfindung der kalten, dumpfen Luft und den Gedanken: die dies gebaut haben und nun drin Messe lesen, sind gegebene Männer, fremdem Willen so knechtisch untertan, daß sie nicht einmal aus der eigenen Seele heraus richtig fromm sein können. Paulinzelle aber – nächst der wackeren Hroswitha von Gandersheim, deren Dramen ich in meiner Doktordissertation so fürtrefflich traktiert habe, hat mir keine andere Nonne der Welt so imponiert wie die Beata Paulina de Schraplau, obwohl sie ihrem wackeren und geduldigen Eheherrn das Leben schwer genug gemacht hat.« Es war Gustav Freytag, der mir das sagte. Dann ein Eindruck, den ich selbst empfangen hatte. Ich war zu Hirsau in Schwaben und sah mir die Ruinen des Klosters an, aus denen die Ulme wächst, die Uhland besungen hat; der Mordbrenner Mélac hat hier noch viel gründlichere Arbeit getan als im Heidelberger Schloß – aber wie schön sind diese romanischen Säulenbogen! »Wenn Sie sich dafür interessieren«, hatte mir der Pfarrer gesagt, »müssen Sie nach Paulinzelle gehen; das Hirsauer war sein Mutterkloster, auch für den Stil maßgebend, aber die Tochter hat die Mutter an Schönheit weit übertroffen ...« Gespannt lugte ich aus dem Coupéfenster; eine Biegung der Bahn, nun ein tiefgrünes Waldtal und mitten drin, wie Riesen über den höchsten Wipfeln aufragend, ein herrliches Portal und ragende Mauern, aber nur eine Sekunde lang; die Bahn tritt dicht an den Wald, biegt wieder, dann geht der Zug langsamer: die Station.

Außer meinem Dichterpaar stieg noch ein großer Haufe Menschen aus, denn wer durch Thüringen kommt, hält hier an und bleibt von einem Zug zum andern; dagewesen sind sie dann, und gesehen haben sie's in ihrer Art, und die meisten von ihnen würden nicht mehr sehen, wenn sie drei Wochen dort blieben; die Leute haben also recht. Aber auch ich schien mir nicht töricht, wenn ich den Troß den Dauerlauf auf der staubigen Straße antreten ließ und gemächlich hinterdrein ging. Ein Kirchhöflein liegt am Wege, klein und armselig; seit Jahrhunderten begraben die Dörfler dort ihre Toten, und es ist noch sehr viel Platz, denn Paulinzelle »Ort: Paulinzella, Bezirk: Stadtilm, Fürstentum: Schwarzburg-Rudolstadt«, hat nur »24 Häuser, 117 Seelen un etliches Viechzeug«, wie mir ein stattlicher Bauer sagte, der desselben Weges ging. »Vom Viechzeug«, fügte er bei, »wäre no mehr zu gebrauchen, aber Menschen sind grad genug« – es war eine individuell nicht unrichtige Meinung, denn er hatte »bis heut elf lebige Kinder, aber morgen sind's zwölfe«. Ehrfürchtig besah ich mir den Mann, der ein Zehntel der gesamten Bevölkerung des Dorfs geleistet hatte, und fragte dann, wovon die Leute in Paulinzelle lebten. »Dieses«, erwiderte er mit jener halb ernsten, halb schalkhaften Lehrhaftigkeit, die man unter den Bauern dieses Gaus so häufig findet, »is verschieden. Der Herr Friedrich Schulze« – er deutete auf ein stattliches Haus abseit vom Wege – »lebt von dene Orgeln, die er bauet, das hochfürstliche Oberforstamt aus unserem Steuersäcklein, und wir andern, nor der Herr Menger nech, wir müssen so in Nödhen vom bißchen Acker und bißchen Viechzeug und einigem Torfstechen leben dhun. Früher«, fuhr er fort, »hat's o (auch) no etwas Weinbau gegeben, aber das hat die Pol'zei verboten, denn die armen Essighändler, die wollen o leben.« Ja, sagte ich, schon Luther habe in ähnlichen Worten den Wein von Paulinzelle gerühmt. Worauf er: »Mit Verlaub, aber wenn Se solches wissen, denn sollten Se ›la‹ sagen, un nech ›le‹, Paulinzella. So steht's im Kirchenbuch un o an der Statschon un is so richtig. Nämlich: erstens Paulina un zweitens Zella. Die Paulina, das war nu also so 'ne Gadohl'sche, da ist nichts weiter zu sagen. Aber Zella, das heißt Se in einer alten Sprache – ob's nu lateinisch is oder römisch oder gar Klostersprache – 'ne Kirche. Paulinzella.« Ich dankte und fragte dann, wovon der Herr Menger lebe. »Von der Ruine«, war die Antwort. »Denn er is der Gastwirt hier, der hat was von der Sach, wir nech!« Nun, meinte ich, den Stolz und Ruhm hätten sie doch alle. Er lächelte. »Mech machet's nech stolz, mech machet's demütiglich. Wenn ech so seh, wie se laufen un schwitzen, un wenn se dort sind, sagen se ›Ah!‹ un schaun auf d'Uhr und jagen redhur, beim Menger ä Würstchen un wieder schwups in 'n Zug, da denk ech immerzu: Herre Gott, du bist gerecht! Uns hast du d'Arbeit zugedheilet un dene die Narrheit!« Ob denn nicht welche, fragte ich, über Nacht blieben. »Ja«, erwiderte er, »Geschäftsreisende«, worunter er aber Leute verstand, die einen verständigen Zweck verfolgten, zum Beispiel Künstler, die Wald und Ruine malten, und Sommerfrischler, die hier »billech rodhe Backen« kriegen. »Ohne Geschäft«, fügte er bei, »wär's do gar zu närr'sch«, und holte mich dann aus, was ich hier wollte, denn hinter mir her brachte der Stationsbote mein Kofferchen. Ich war aber dunkel wie ein Diplomat, der nach etwas gefragt wird, was er selber nicht weiß, denn ob ich »zu närr'sch« war oder aus »Gschäft« die Ruine in Worten abmalte, stand noch nicht fest, das hing davon ab, wie sie auf mich wirkte. Diese Zurückhaltung machte den Mehrer von Paulinzelle sehr nachdenklich, und er musterte mich nun scharf, bis wir vor dem Gasthof Abschied nahmen.

Ich ließ mir ein Zimmer anweisen, dann im Garten vorm Haus ein Frühstück rüsten und sah nun zu, welche Schatten der bevorstehende Rückmarsch der Fremdenarmee vorauswarf. Der Karle, der Kellnerbursch, zog über seine sauberen Hemdärmel einen schmierigen Frack, auch Minchens Erscheinung – sie trägt aber diesen niedlichen Namen schon recht lange – gewann durch eine vorgebundene Schürze nicht sonderlich, dann brachten sie Bier, Kaffee, Schinkenbrote und warme Würstchen herbei; es ist die Sorte, die man in ganz Mitteldeutschland Wiener, in ganz Österreich aber Frankfurter nennt, denn so ist der Mensch: selbst die Würste müssen einen Namen von weither haben, sonst schmecken sie nicht. Alles wie auf einem Bahnhof; auch Photographien und Ansichtskarten werden ja jetzt ins Coupé gereicht. »Wir haben zwanzig Arten Grüße aus Paulinzelle«, sagte der Karle stolz; die Ruine ist auf allen, nur ist sie hier gelb, dort blau und hier wieder rot bemalt; auf einer bildet sie sogar einen grünen Klecks, weil das Mondschein ist. Auch die Sprüche sind verschieden, einige blitzen nur so von Witz, eignen sich aber eigentlich mehr zur Versendung in geschlossenem Kuvert, denn es ist kaum zu sagen, wieviel Zartgefühl und keuscher Humor bereits im Dienste dieser noch jungen Industrie stehen. Nun aber kam das Heer gezogen. Als Vorhut ein alter, nervöser Herr, der seine Frau und drei Töchter vor sich hertrieb: »Der Zug! ... der Zug!« Aber Ansichtskarten kauften die Fräulein doch in fliegender Hast und zogen dann im Laufen den Bleistift. Nun das Hauptkorps; drei Minuten sah und hörte man nichts als kauende hochrote Menschen, die über die Hitze klagten; nur eine Gruppe schwelgte im Nachgenuß der Ruine: ein dicker, ältlicher Herr mit seiner jungen Frau und einem gleichfalls jüngeren Herrn mit roter Krawatte und geöltem Haar. Der Alte schwelgte eigentlich nur in Würstchen, sie aber sagte: »Herr Meyer, war das nu nich einfach göttlich?« – worauf der geölte Meyer: »Gnädige Frau! es war doppelt göttlich! Aber was sagten Sie nur, als wir zwischen den Säulen standen, es war reizend, ich möchte es mir aufschreiben.« Er zog sein Notizbuch hervor. »Ich sagte«, erwiderte sie mit gespitztem Munde, »es sei alles im edelsten romantischen Stil!« – »Herrlich!« rief Meyer notierend, und auch der glückliche Besitzer von so viel Bildung meinte bewundernd: »Trudchen, wo hast du denn das wieder her?« Ich hätte es ihm sagen können, aus dem Baedeker hatte sie's, nur steht dort: »im edelsten roman. Stil«, und das ist die Abkürzung für »romanisch« ... Meine Reisegenossen aber? Ganz bang spähte ich umher: sollten sie in der Ruine zurückgeblieben sein, wohin ich nun wollte? Gottlob, da standen sie kauend im Gewühl. Aber nun hatten sie auch mich erspäht und traten auf mich zu: »Wo waren Sie denn? Nun haben Sie den Schluß nicht gehört! Aber Sie kommen wohl mit?« Ich bedauerte, ich bliebe hier. Die Frau starrte mich verblüfft an, mußte nun aber fortstürzen. »Der Mensch bleibt in Paulinzelle«, hörte ich sie ihrem Gatten sagen, »Max, das ist ein Roman!« Glückliche Frau, der aus den bescheidensten Keimen auf Schritt und Tritt Dichtungen ersprießen!

Als alles stille war, ging ich zu der Ruine. Rechts vom Gasthof führt der Weg ins Waldtal hinein. Zunächst trifft man auf eine niedrige, zerfallene Mauer, die Grenzmauer des Klosters. Dann geht es, sacht ansteigend, am Amtshaus vorbei, und wie man um seine vorspringende Ecke biegt, da steht's vor einem wie aus der Erde gewachsen: das herrliche, säulengetragene Westportal in einer reich gegliederten Giebelwand und ein gewaltiger Turm. Tritt man durchs Portal ins Mittelschiff mit den ragenden, hohe Mauern tragenden Säulen, so steigert sich nur der Eindruck, aber das schönste Bild bietet sich erst dem entzückten Auge, wenn man von der Ostseite her das Ganze überschaut. Hier erst vermag man die edlen Verhältnisse der Säulen wie der ganzen Anlage recht zu erkennen. Es ist alles so licht und schön, stolz und schön, ernst und schön; ich wiederhole immer dasselbe Wort; ich weiß hier kein anderes. Die klare Schönheit ist's, die einen vor allem fesselt, doch nein, in noch stärkeren Bann zwingt die Stimmung, die der Raum atmet, das Gemüt: der feierliche und doch lichte Ernst, die weihevolle Anmut. Und was diese Stimmung noch mehrt: rings tiefste Stille und kein Laut des Lebens, kein Haus, nur überall Wald, der ernste, ernste Tannenwald. Es ist wie im Märchen: da stehst du allein im tiefen Forst, und was du hörst, ist nur das leise, klingende Rauschen seiner Nadeln, aber was du siehst, ist ein Wunderbau an Wucht und Schönheit. Freilich, bröckelnde Wucht, versehrte Schönheit, aber weil du selbst nur ein armer schwacher Mensch bist, so greift dir vielleicht gerade dies am tiefsten ins Gemüt. Ehrfürchtig ward auch mir zumut, als säh ich einen Herrlichen, der sich aus der Welt geflüchtet hat, in der Stille zu verbluten ... Ich werde den Eindruck dieser ersten Stunden nie vergessen; nur eine Ruine auf deutscher Erde hat so tief auf mich gewirkt; sie ist reicher, schöner, interessanter; sie beschwört ganz andere Erinnerungen herauf, gewiß; aber so einheitlich, so das Herz aufwühlend ist die Wirkung nicht – dort ist's eben eine Symphonie und hier ein Choral ... Die Sonne rückte höher, zuweilen klang der Hall eines Uhrglöckchens durch die große Stille, zaghaft und leise, als wüßte es, daß man hier die Zeit nicht nach Stunden mißt; ich achtete nicht darauf ... Erst als von fern ein leises Donnern an mein Ohr schlug und dumpf anwuchs, horchte ich auf; nun ein langgezogener, gellender Pfiff; seufzend erhob ich mich – der zweite Zug, diesmal von Arnstadt her, bald waren sie da. Ich bin kein Menschenfeind, kein Menschenverächter – hier hätte ich das fröhliche Schwatzen nicht ertragen. Ich ging heim; nah dem Gasthof begegneten sie mir, diesmal ein noch größerer Haufe, wohl Amerikaner unter Cookscher Führung; »make haste, if you please«, mahnte der Leithammel, und dabei lief die arme Herde ohnehin schon im Trab.

So habe ich es in diesen beiden Tagen gehalten; ich kam, wenn die andern gingen, und ging, wenn sie kamen. Viele Stunden, aber sie waren mir reich ausgefüllt. Nun, wo das Gesamtbild feststand, suchte ich die Einzelheiten zu erfassen, nun, wo ich die Stimmung unvertilgbar im Gemüt trug, zu erkunden, woher sie rührte. Das ist nur bei Falschem und Kleinem gefährlich, bei Großem und Echtem erhöht es die Freude.

Nie ist – gottlob! – der Gedanke aufgetaucht, die Ruine wieder auszubauen, nie hat meines Wissens auch nur ein Maler dies mit dem Pinsel versucht, aber das erste wäre mögliche, wenn auch törichte, das letzte unschwere Arbeit, so viel ist erhalten, so bewunderungswürdig klar ist die Anlage des Ganzen. Eine dreischiffige Säulenbasilika mit Querhaus, also in Kreuzesform; das Chor mit dem Hauptaltar gegen Osten gestellt, also das Hauptportal gegen Westen; hier schloß sich eine Vorkirche an. Einiges nun liegt in Trümmern, vieles ist spurlos verschwunden, aber es steht mehr aufrecht als an den anderen Kirchenruinen Deutschlands und jedenfalls so viel, um der Phantasie die reizvolle Arbeit des Ergänzens und Aufbauens zu ermöglichen. Die Vorkirche war von zwei wuchtigen Türmen, Wehr- und Glockentürmen zugleich, flankiert und durch zwei auf Pfeilern ruhende Rundbogenreihen ebenfalls in drei Schiffe geteilt wie das Langhaus der Kirche. Hiervon ist genau die Hälfte erhalten: ein Turm, eine Pfeilerreihe und die südliche Hauptwand; der Maler oder der Architekt – aber nein! mit diesen Gedanken sollte man in Tagen wie den unsrigen, da man die schönsten Ruinen durch Ausbau verschimpfieren will, nicht einmal spielen – der Maler also brauchte auf der Nordseite nur zu kopieren, was er auf der Südseite nach der Natur malen kann. Noch besser steht es um das Hauptportal; es ist ganz erhalten; die Giebelwand, die sich darüber erhebt, mußte vor etwa zwanzig Jahren abgetragen werden, ist aber dann sorglich wieder aufgemauert worden. Das Wichtigste und Erfreulichste aber ist, daß das Langhaus fast unversehrt dasteht; wer im Südschiff steht, darf sich, was den Bau an sich betrifft, genau desselben herrlichen Bildes freuen wie der Pilger vor achthundert Jahren; noch ragt die Doppelreihe schöner stolzer Säulen, die das Mittelschiff von den Seitenschiffen trennen und über kühnen Rundbogen die Scheidewände tragen, noch die nördliche Außenmauer; nur die südliche, die der Pilger im Rücken hatte, ist verschwunden. Das Bild des Baus, sagt ich, ist dasselbe, nur liegt es heut im vollen Licht, während der Dom einst trotz der zahlreichen Fenster etwas dämmrig gewesen sein muß, denn über den gewaltigen Mauern, die in voller Höhe erhalten sind, blinkt nun das Blau des Himmels; einst spannte sich eine flache Decke darüber wie über allen Bauten streng romanischen Stils jener frühen Zeit. Völlig erhalten ist ferner der Querbalken des Kreuzes; dies Querhaus hat auch noch beide Außenmauern mit ihren Giebeln. Nur das Chor ist bis auf Mauerreste, die seine Anlage zeigen, verschwunden; ein unersetzlicher Verlust für das Auge des Genießenden wie für unsere Kenntnis alter deutscher Baukunst, denn gerade die Ostfassade mit ihren fünf mächtig ausladenden Apsiden, die im Innern Altäre bargen, war offenbar die schönste des Doms. Immerhin hat die Phantasie auch hier Stützpunkte genug, um nachzuschaffen, und gewiß liegt auch darin eine Erklärung für den Zauber, den die Ruine übt. Rätselhafte, scheinbar regellose Trümmerstätten atmen auch schwächere Stimmung; die Wehmut, die uns Ruinen einflößen, ist um so stärker, je klarer wir erkennen, was wir verloren haben.

Der stärkste Zauber freilich, den Paulinzelle übt, liegt nicht in der Wehmut über das Verlorene, sondern in der Freude an dem Erhaltenen. Der Dom gehört wie zu den ältesten so zu den schönsten und größten Werken romanischen Stils auf deutscher Erde und verbildlicht die reinste Zeit dieses Stils, den Hochromanismus. Schon die Maße imponieren an sich, wie sie durch ihr Verhältnis zueinander das Auge laben: an so kühnen, schlanken Formen darf es sich selten erfreuen. Der Hirsauer Mönch, der den Bauriß entwarf – keine Urkunde nennt seinen Namen – war ein ebenso trefflicher wie wagemutiger Künstler: das Langhaus ist fast doppelt so hoch, als es breit ist, selbst das Querhaus (Kreuzschiff) noch immer etwas höher als breit, der ganze Bau vom Hochaltar bis zur Eingangspforte der Vorkirche etwa viermal so lang als breit und nur wenig über das Doppelte länger, als er hoch ist. Zur Vergleichung ziehe ich einen gleichfalls herrlichen allbekannten Dom an, St. Stefan zu Wien, und zwar eben deshalb, weil schon er im Innern den Eindruck kühn und leicht aufstrebender Maße macht. Das Innere von St. Stefan ist um etwa 2 Meter niedriger als das von Paulinzelle, hingegen um 28 Meter länger; die Breite des Kreuzschiffs übertrifft die Höhe um nahezu das Dreifache. Bei dieser ungemeinen Neigung des Paulinzeller Künstlers zum Schlanken und Hohen wäre der Eindruck seines Werks ein minder feierlicher, wenn nicht der Säulenbau ein so wuchtiger wäre; das stellt die Harmonie wieder her.

Diese Sandsteinsäulen – sie mußten wie in ihrer Höhe so im Querschnitt gewaltig sein, weil sie die ungeheure Last der über ihnen aufsteigenden Quadermauern der Scheidewände tragen – sind der schönste Schmuck der Ruine. Wie sie so aufragen, über ihnen, von Säule zu Säule gespannt, die hohen, stolzen Rundbogen der mächtigen Mauern, fallen sie selbst dem stumpfen Blick durch das feine Ebenmaß der Dimensionen auf – ein Bauer, der, einen Sack Kartoffeln auf dem Rücken, durch die Ruine ging und mich zu den Säulen emporblicken sah, blieb stehen und teilte meine Freude: »Nech zu dicke, nech zu dinne, 's is doch gar zu scheene!« Aber schön ist auch der Schmuck jeder einzelnen Säule; durchweg in demselben streng romanischen Stil gehalten, zeigen doch Basen und Kapitelle innerhalb dieser Grenze große Abwechselung: Löwen-, Drachen- und Menschenköpfe in Relief, namentlich jene Fratzen, die vielleicht nur Kinder der Künstlerlaune sind, während man sie als absichtsvolle Verbildlichungen der Laster aufzufassen pflegt; dazu Eckblätter und eingemeißelte Ornamente von reicher Erfindung; nur das Schachbrett wiederholt sich oft. Selbst die plumperen Pfeiler, an denen es auch hier nicht ganz fehlt, während sie bekanntlich an Bauten derselben Zeit ausschließlich angewendet wurden, sind mit solcher Zierde reich bedacht. Wer sie nachzeichnen wollte, bekäme die schönste Mustersammlung der Kleinkunst dieses edlen herben Stils zusammen. Wie vor mancher Fassade der Renaissance beschäftigte mich auch hier der Gedanke: Wie kommt's, daß unsere Monumentalbauten, auch die reichsten, keinen solchen individualisierten Kleinschmuck aufweisen? War damals die Welt an Talenten reicher, oder hatten diese Talente mehr Zeit, oder mußten sich damals Talente mit so bescheidenen Aufgaben begnügen, die sich heute an Größerem betätigen können? Es kommt einem Wunder gleich, wenn man erwägt: das haben in einer rohen, armen, dunklen Zeit Steinmetzen in einem abgelegenen Winkel der Erde vollbracht, wo es so gut wie völlig an Vorbildern fehlte!

Der größte Schmuck der Kirche aber, zugleich nächst dem Triangel am Erfurter Dom das stolzeste Werk deutscher Baukunst in Thüringen, ist das Hauptportal. Es ist in der Anlage einfach und klar wie der ganze Bau: vier nach innen sich verjüngende Rundbogen, die zur Rechten und Linken auf je vier Säulen aufstehen: das ist alles. Aber wie schön sind auch hier die Maße, wie feierlich und anmutig zugleich der Gesamteindruck; wahrlich, durch eine solche Pforte mochte man gern treten. Statuen, wie sie schon eine etwas spätere Zeit gern an den Eingang der Gotteshäuser stellte, fehlen hier noch; doch sind die Säulen (hier attische, im Langhaus ionische) an Schaft und Fuß besonders reich geschmückt; ein kräftiges Gesims über den Säulen bindet sie untereinander und mit den Bogen schön zusammen. Im Giebelfeld über dem Eingang, also vom innersten Bogenrund umschlossen, sind Spuren eines Wandgemäldes zu sehen; andere haben hier noch vier Figuren unterschieden, ich trotz eines vortrefflichen Glases nur eine Maria mit dem Jesuskind.

Auch sie werden wohl bald verschwunden sein. Alles andere aber bleibt sicherlich für viele Geschlechter aufrecht – das Wort »ewig« sollte sich ja der Mensch überhaupt abgewöhnen, und in Ruinen kann es einem vollends nicht über die Lippen treten: für ewige Zeiten war ja hier einst alles erbaut ... Das Ländchen ist arm, das Fürstenhaus gewiß nicht reich – was sind in heutiger Zeit hunderttausend Taler Zivilliste für einen regierenden Herrn! –, aber für die Ruine geschieht das irgend mögliche. Immer wieder werden eiserne Tragpfeiler eingezogen, Drahtseile gespannt, wankende Mauern abgetragen und mit demselben Material neu aufgeführt. Diese Sorgfalt entfernt auch alles Gesträuch von den Mauern; hier gibt's keinen uralten Efeu, selbst die Bäume werden in respektvoller Entfernung gehalten. Mit Recht, man weiß, welche Schädlinge Efeu und Wurzelwerk für bröckelnde Mauern sind. Stimmungsvoll bleibt die Ruine trotzdem, sogar – die Angebetete des geölten Meyer soll recht behalten – romantisch.

Ein Wunderbau im einsamen Waldtal – das war mein erster Eindruck. Aber auch er vertiefte sich mir nur, je näher ich den Bau kennenlernte, je genauer ich Zeit, Ort und Menschen erwog. Noch heute ist das Rottenbachtal ein rauhes, abgelegenes, spärlich bewohntes Tal mitten zwischen unabsehbaren Forsten; die wenigen Bewohner, die das Dörfchen einst hatte, dankte es nur dem Kloster, wie es heute die Bahnstation nur der Ruine verdankt. Und nun erwäge man vollends, was Thüringen um 1100 war: eine schwach besiedelte, nicht allzulange vorher den Slawen entrissene Mark, um die von Erfurt aus Mainz, von Meißen aus Sachsen mit den einheimischen Grafen blutig stritten, gerade in jenen Tagen die Stätte schlimmster Rechtlosigkeit in Deutschland und gewiß auch mit der geringsten Kultur. Und in einem bergigen, waldigen Winkel dieser Landschaft, die kurz vorher aufgehört hatte, Grenzmark zu sein, erstand ein Dom, dessengleichen es damals wenige gab; Monreale in Sizilien, Cluny in Frankreich sind wie seine Vorbilder so seine Rivalen; die Hirsauer Kirche konnte sich mit ihm nicht messen. Und sagt man sich: der Plan sei aus Hirsau gekommen und hier eben nur viel prächtiger ausgeführt worden, so ist's doch zwischen Hirsau in Schwaben, damals dem reichsten und kultiviertesten deutschen Lande, und Paulinzelle in Thüringen, damals dem ärmsten und rohesten ein Abstand und eine Kluft, die zu überbrücken scheinbar wieder ein Wunder gehört.

Es war aber nur der eherne Wille einer brünstig frommen Frau von verzehrendem Ehrgeiz. Nur achtzehn Jahre nach ihrem Tode hat ein Mönch ihres Klosters, Sigeboto, ihre »Vita« geschrieben; die Zeit war für eine richtige Legendenbildung noch zu kurz; so sind es erst wenige Wunder und Visionen, die der Wackere berichten kann; durch dies Gerank der Phantasie vermögen wir die Gestalt zu erkennen, wie sie wirklich war, und das ist hier gut, denn diese Wirklichkeit ist, recht besehen, interessanter, als es alle Dichtung wäre. Die Tochter reicher und vornehmer Eltern – ihr Vater Moricho, vermutlich aus dem Geschlecht der Schwarzburger, war Truchseß an Kaiser Heinrich IV. Hofe –, fühlt sich das begabte, freilich, wie es scheint, unschöne Mädchen früh von aller Weltlust angewidert und will in ein Kloster gehen. Der Wille der Eltern zwingt die Sechzehnjährige zur Ehe mit einem weitaus älteren Gatten, dem sie nur eine kalte, freudlose Genossin wird; all ihre Sehnsucht ist die Nonnenzelle. Zu fromm, seinen Tod zu erflehen, fühlt sie doch wohl ihre innigsten Wünsche erfüllt, als er nach kurzer Ehe bei einer Feuersbrunst verunglückt. Wieder gelingt es nicht dem Zuspruch, aber dem Zwang der Eltern, die neunzehnjährige, noch unmündige Witwe zu einem neuen Ehebunde zu bestimmen; ihr zweiter Gatte ist gleichfalls ein Vornehmer, Ulrich von Schraplau. Weltlichen Sinns, minder schwach als sein Vorgänger, zwingt er die jungfräuliche Witwe zur Erfüllung ihrer Pflichten; sie gebärt ihm in sechs Jahren zwei Söhne und drei Töchter. An ihrer Denkweise ändert auch die Mutterschaft nichts; in ihren Augen ist sie sündhaft, und sie tut dafür Buße, indem sie all ihren Schmuck an Kruzifixe und Reliquienkästchen wendet, nur von Aschenbrot und Wasser lebt und sich unmäßig geißelt.

Was nun in und zwischen den Zeilen der »Vita« zu lesen steht, ist psychologisch höchst merkwürdig. Die fanatische Asketin, durch die Geißelungen und die schlechte Ernährung in ihren Nerven zerrüttet, in ihren häufigen hysterischen Anfällen ihrer Sinne nicht mächtig, ist andererseits eine überaus lebenskluge Frau von seltener Menschenkenntnis, die jedermann ihrem Willen zu beugen weiß. Aus dem tapferen, fröhlichen Gatten macht sie allmählich einen zerknirschten Büßer, obwohl der Biedere nichts zu bereuen hat als seine bescheidenen legitimen Ehefreuden; zwar ihrem Drängen, sie ins Kloster zu entlassen, bleibt er auch nun taub, weil er den fünf Kindlein die Mutter erhalten will, lebt aber nun neben ihr wie ein Bruder, steuert willig für Mönche und Nonnen und begleitet Paulina auf ihrer Wallfahrt nach Rom. Noch mehr, auch ihren einst durchaus weltlich gesinnten, zudem makellosen Eltern bringt sie die Erkenntnis der Sündhaftigkeit ihres einstigen ehelichen Verkehrs bei, obwohl die Kirche ohne diesen um eine Wohltäterin ärmer wäre, die einst sicherlich eine Beata, vielleicht gar eine Sancta sein wird.

Dies Ziel ihres leidenschaftlichen Ehrgeizes tritt immer klarer hervor; sie sucht sich in Rom beim Papste durch Stiftungen, die das Erbe ihrer Kinder arg schmälern, in Gunst zu setzen; von dort dürfen die Eltern heimkehren, der Gatte muß sie zur Wallfahrt nach San Jago in Spanien begleiten. Nun völlig ihr Sklave, setzt er gleichwohl ihrem Wunsche, Nonne zu werden, auch jetzt noch Widerstand entgegen, stirbt aber bald. Damit ist das letzte Hindernis ihrer ehrgeizigen Pläne hinweggeräumt. Sie wendet sich zum zweiten Mal nach Rom, weiht den Papst in ihren Plan, ein großes Kloster in Thüringen zu begründen, ein und erhält von ihm Empfehlungsbriefe an die schwäbischen Äbte. Heimgekehrt, findet sie die Mutter tot und bestimmt den Vater, als Mönch im Hirsauer Kloster seine Tage zu beschließen, offenkundig in der Absicht, dadurch an diesem Kloster einen Rückhalt zu gewinnen. Dann geht sie ans Werk und begründet in einem wilden, gänzlich unbewohnten Waldtal, von dem die Sage geht, daß dort der Teufel hause, an der Stelle, wo sich heute der Dom erhebt, eine der heiligen Maria Magdalena geweihte Kapelle; ringsum werden Zellen für Klausnerinnen, aber auch für Klausner errichtet. Natürlich will der Teufel aus seinem Stammsitz nicht gutwillig weichen; zwei Male deckt er das Dach der Kapelle ab – noch heut braust der Nordoststurm im Tal gewaltig –, als aber Hirsauer Mönche, die ihr der dortige Abt zur Hilfe gesendet, das Dach kunstgerecht festigen und der Bischof von Merseburg den Bau weiht, kann der Teufel nicht mehr ans Dach. Mit Vorliebe zieht Paulina bußfertige Adelige heran; vielleicht, weil sie glaubt, daß ihr Seelenheil am meisten bedroht sei, wahrscheinlicher, weil sie nun alles daran setzt, die nötigen Mittel für den geplanten Prachtbau zusammenzuscharren; wer hier Aufnahme finden will, muß sein irdisch Gut dem Kloster vermachen. Dem gleichen Zweck dient es, wenn sie ihre Kinder, denen Ulrichs Güter zufallen – sie selbst hat ihren stattlichen Besitz ungeteilt dem Kloster verschrieben –, nach Paulinzelle zu ziehen sucht. Anfangs ohne Erfolg, aber allmählich gelingt ihr auch dies. Von ihren Töchtern wird zuerst die älteste, Engelsind, Nonne, die jüngste, Gisela, weigert sich hartnäckig und will heiraten, stirbt aber früh; die dritte, Bertrad, heiratet trotz der Abmahnungen der Mutter, aber nun wühlt diese so lange, bis sie den Gatten verläßt und nach seinem Tode gleichfalls Profeß ablegt. Von ihren Söhnen wird der ältere, Friedrich, ermordet, der jüngere, Werner, ein Liebling des Kaisers, ist von heftiger Abneigung, ja von Grauen vor der Mutter erfüllt und weist sie von sich; da verfällt er in eine tiefe Erschütterung des Gemüts – er hat an den Mördern seines Bruders grausame Blutrache genommen –, und als Paulina diese benutzt, folgt er ihr als Mönch ins Waldtal. So ist nun Ulrichs ganzes Erbe im Besitz der Siedelei, aber noch mehr: bald auch das ganze reiche Gut Morichos, des Vaters der Paulina; sie weiß ihre drei Geschwister zur Weltflucht und Enterbung ihrer Kinder zu bestimmen. Schwerer als mit ihren Kindern und Geschwistern hat es die unheimliche Frau mit den zugezogenen Fremden; sie trägt ihnen harte Arbeit auf; die Männer müssen unter Leitung der aus Hirsau zugewanderten Benediktiner den Wald roden, den Acker bestellen, die Frauen aber kostbare Gewänder sticken, die Paulina dann, auf einem Eselchen durchs Land ziehend, selbst verkauft, »also daß man sie«, berichtet Sigeboto, »für eine ärmliche Händlerin hielt«. Schon diese harte Fronde paßt nicht allen, zudem verweist Paulina in der Erkenntnis, »daß den Männern, die Gott wahrhaft suchen, das Zusammenleben mit Frauen sehr viel schadet«, die Klausner in sehr entlegene Wohnstätten, was weder diesen noch den Klausnerinnen gefällt, viele ziehen davon. Aber ihre Verschreibungen können sie nicht zurücknehmen, und so ist ihr Ausscheiden nur eine Förderung des frommen Werkes. Nach zehn Jahren ist endlich das Vermögen beisammen, das für eine Stiftung im geplanten Umfang nötig ist.

Nun tut Paulina die letzten Schritte. Zum dritten Mal pilgert sie nach Rom und erkauft vom Papst große Privilegien für das künftige Kloster. Eine Siegerin, die alles erreicht hat, was sie angestrebt, kehrt sie heim, die Stiftung in alle Form zu errichten und unter den Schutz der Grafen von Kävernberg zu stellen. Aber dies letzte vollbringt sie bereits als Schwerkranke; sie ist beim Ritt über die Alpen vom Pferd gestürzt und hat einen Beinbruch erlitten, der nimmer heilen will. Gleichwohl zieht sie noch einmal in die Welt, nach Hirsau, dort aus den Brüdern den Abt und den Baumeister selbst zu erwählen. Auf halbem Wege, in Franken, erkrankt sie so schwer, daß sie im Kloster Münsterschwarzach bleiben muß; ihr Sohn Werner aber eilt nach Hirsau, wählt dort an ihrer Stelle die künftigen Leiter und Erbauer des Klosters, nimmt sie mit sich und eilt zu der Todkranken zurück. Auf ihrem Sterbelager trifft Paulina die letzten Bestimmungen und stirbt (14. März 1112) im stolzen Gefühl, ihr Lebensziel erreicht zu haben. Paulinzelle wird erstehen, nach der Regel und dem Bauplan von Hirsau, aber viel schöner und gewaltiger als das Vorbild. Und sie selbst wird sicherlich eine Beata, eine Selige der Kirche sein, vielleicht eine Sancta, eine Heilige.

Dies ist die Geschichte der Gründung von Paulinzelle. Wem sie die Freude an dem herrlichen Bau verdürbe, der wäre kaum irgendwo vor Enttäuschung sicher. Alles Gewaltige wird nur durch Macht geschaffen, und Macht ist immer rauh ... Noch ein anderes aber will nicht vergessen sein: wir können die Paulina von Schraplau nicht mit den Augen ihrer Zeit ansehen, auch wenn wir wollten, aber außer acht lassen dürfen wir nicht, daß sie die Tochter eines rohen Jahrhunderts war, dessen herbe Askese den natürlichen Gegenschlag gegen wüsten Sinnentaumel bedeutete. Freilich, bei allem Aufgebot unseres historischen Sinns werden wir vor der Gestalt an sich nicht jenen Respekt empfinden wie der Verfasser der »Bilder aus der deutschen Vergangenheit«. Aber gerade sein Urteil hätte ja sicherlich anders gelautet, wenn damals – 1886 – die Aufzeichnung des Sigeboto bereits bekannt gewesen wäre; sie ist erst drei Jahre später ans Licht getreten.

Unruhvoll war das Leben der seltsamen Frau und selbst ihren Gebeinen keine Rast beschieden. Auf den Schultern trugen die Mönche den Sarg wochenlang durchs Waldgebirg aus Franken bis Paulinzelle und begruben ihn hier. Aber die einsame, rauhe Waldwildnis schreckte die Hirsauer; sie übersiedelten in die Nähe von Querfurt und wollten den Bau dort aufrichten; den Sarg gruben sie aus, trugen ihn wieder viele Tagereisen nordwärts und bestatteten ihn an der neuen Wohnstelle. Da erschien, wie Sigeboto erzählt, Paulina ihrem treuesten Diener im Traume und klagte, daß man ihren Willen nicht geachtet, ihre Grabesruhe verletzt habe; dies bewog, sagt er, die frommen Mönche zur Rückkehr. Die Historiker aber verweisen auf eine Urkunde, den Drohbrief des Vogts des Klosters, Sizzo von Kävernberg, an die Mönche, das gesamte Klostergut einzuziehen, wenn sie den Bestimmungen des Stiftsbriefs nicht entsprächen. So kehrten sie zurück; abermals wurde der Sarg gehoben, nach Paulinzelle befördert und dort (1128) bestattet. Aber da begann 1130 der Bau, und da die fromme Sitte erheischte, die Gebeine der Stifterin unter dem Hochaltar zu bestatten, so wurde der Sarg unter großem Pomp 1132 wieder dorthin übertragen. Und wie die früheren Male erklang es auch nun über ihrem Grabe: »Requiem aeternam dona ei!« Etwa sieben Jahrhunderte blieb nun auch ihre Ruhe ungestört, da fand man 1804 bei Nachgrabungen in der Ruine den Sarkophag und öffnete ihn. Aus dem Befund wissen wir, daß die starke Seele in einem kleinen, dürftigen, dünnknochigen Körper gewohnt hat. Der damals regierende Fürst ließ den Sarg an derselben Stelle wieder eingraben, aber viel tiefer, um ihr nun die Ruhe für immer zu sichern. Für immer? Mehrere Grabsteine, die man im Trümmerwerk fand, sind nun im Nordschiff der Kirche aufgestellt; der verwitterte Sandstein zeigt neben stolzen Epitaphien Wappen und Gestalten: Äbte mit dem Krummstab in der Rechten, der Bibel in der Linken; Schutzvögte in reisigem Gewand, die Rechte am Dolch, die Linke aufs Schwert gestützt; dann opferfreudige Donatoren, er im Wams, die Hände über dem lang herabwallenden Vollbart auf der Brust gefaltet, sie mit faltig bauschendem Gewand und Kopftuch. Sie haben vielleicht all ihr Gut geopfert, an dieser begnadeten Stelle schlummern zu dürfen, bis die Posaune klingt – und wo modert nun ihr Gebein? Der Bauer mit dem Kartoffelsack führte mich zu einem solchen Stein. »Mei Weib«, sagte er »meinet immer, wenn die von oben hinunderschaun, so halden sie sech für bedrogen, und 's dhut ihne wehe.« – »Und Sie?« fragte ich. »Mei Bruder«, erwiderte er ausweichend »meinet wieder: drüben is nix, gar nix.« Dann aber, nach einem langen Blick auf mich, ganz zaghaft: »Ich aber dhu meinen: drüben is was, aber ganz was anners als hier, drüben is kein Leid; Leid un Grab – das is irdische Sach.« Wie gesagt, es war nur ein Bauer mit einem Kartoffelsack.

Hat er unrecht, empfindet drüben die abgeschiedene Seele Sorge und Leid um ihr irdisch Werk, so hat die Stifterin dieses Klosters sie reichlich hegen müssen. Dank den gewaltigen Reichtümern, mit denen sie ihre Stiftung ausgestattet hatte – es waren neunzehn Dörfer, dann Zinsen und Zehnte aus über hundert Ortschaften, endlich eine Fülle einzelner Höfe, Wälder, Wiesen, Äcker, Gärten, Teiche usw. –, dank der gesunden Einsicht, die sie Hirsau als Muster wählen ließ, aber auch dank dem glücklichen Zufall, der ihr in dem ungenannten Hirsauer Mönch einen großen Künstler zuführte, wurde die Kirche so schön und prächtig, als sie es irgend geträumt hatte, auch das Kloster stattlicher als irgendeines jener Tage; dies beweisen die bewundernden Berichte der Zeitgenossen, dies die Nachgrabungen, welche die Grundlagen eines gewaltigen Baus freilegten. Auch wurde Paulinzelle ihrer Bestimmung gemäß ein Doppelkloster, Mönche und Nonnen unter getrennten Dächern, aber unter dem Krummstab desselben Abts, nach der Regel des heiligen Benedikt, eines der wenigen Doppelklöster dieses Ordens. Aber was nun Paulina ferner anordnete: eine strenge Zucht, welche die von Hirsau an Askese noch überbot, und rege geistige Tätigkeit blieb unerfüllt. Die drei ersten Äbte, sämtlich Hirsauer Schwaben, hielten zum mindesten leidliche Zucht, ließen auch ab und zu einen Psalter mit kunstvollen Initialen fertigen; seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts war von beidem nicht mehr die Rede. Der Grund ist offenkundig der allzugroße Reichtum; der thüringische Adel versorgte dauernd hier seine jüngeren Söhne und seine unhübschen Töchter; die Äbte wurden den edelsten Geschlechtern des Landes entnommen (Kävernberg, Schwarzburg, Hettstedt u. a.). Während das nächste Kloster derselben Regel, das auf dem Petersberg zu Erfurt, ein Mittelpunkt der geistigen Kultur Thüringens wurde, dem Lande seine ersten Geschichtsschreiber und Dichter gab und durch die treffliche Schule weithin wirkte, begnügten sich die Äbte von Paulinzelle mit dem Glanz, den ihnen ihr Reichtum gab, und der Auszeichnung, die Mitra, die Bischofsmütze, zu tragen; die Zucht wurde lässig gehandhabt, dem braven Sigeboto erstand kein Nachfolger in der Schriftstellerei; der Posten des Schulmeisters war eine Sinekure. Man wollte gar keine Schüler, wie man nicht zuviel Mönche und Nonnen wollte: für beide war sechzehn der »numerus clausus«, der möglichst herabgedrückt wurde. So rächte sich die unheimliche, selbst in jenen Tagen fast beispiellose Gier Paulinas nach Schätzen für ihre Stiftung, indem diese gerade darum nie zu rechter Bedeutung kam. Noch mehr, war es, wie nach den Quellen nicht zu bezweifeln, die stärkste Triebfeder Paulinas, einst die Heiligsprechung zu erringen, so erreichte sie das Ziel eben deshalb nicht, weil sie zu viel dazu tat. Ärmere Klöster boten alles auf, ihre Stifterin zur Sancta erhoben zu sehen; es regnete nur so Mirakel und Bittschriften an den Papst, bis das Ziel erreicht war, denn die Erhöhung der Patronin füllte die Kassen; die Paulinzeller Äbte rührten keinen Finger für sie, und die arme Paulina blieb nur eben eine Beata! Um 1400 begann auch hier, wie in so vielen Klöstern, der Verfall; Bedrückungen des Mainzer Bistums, üppiges Leben, schlechte Verwaltung, wohl auch allzu große Bautätigkeit brachten die einst so blühenden Finanzen arg herab, und da das Klosterleben nicht mehr wie früher als fashionable galt, so zog sich der Adel zurück. Im 15. Jahrhundert gab es nur noch bürgerliche Äbte; zuerst wohlhabende Bürgerssöhne aus den Nachbarflecken, so aus Königssee, dann gar nur Bauernsöhne aus Siegen, Milbitz und andern Dörfern. Das gleiche galt von den Nonnen; in den Aufnahmeregistern befindet sich kein vornehmer Name mehr. Das schlimmste aber war, daß die Klosterzucht immer mehr verfiel; war schon einst die Beziehung zwischen den adeligen Mönchen und Nonnen eine so freundnachbarliche, daß der Mainzer Erzbischof und der Petersberger Abt Anstoß daran nahmen, so trugen nun vollends die Bürger- und Bauernsprossen im Mönchs- und Nonnenhause die hereinbrechende Not in so treuer Gemeinschaft, daß sie um alle Achtung kamen und das herrliche Kloster derbe, in unseren zahmen Tagen nicht druckfähige Beinamen erhielt. Zwar die »dreihundert und drei« Kindesgerippe, die sich, wie mir das ältliche, aber unschuldige Minchen mit Grauen erzählte, beim Nachgraben im Nonnenhause gefunden haben sollen, sind eine Sage, aber wüste Dinge allerdings beglaubigte Tatsachen. Der reinigende Sturmwind der Reformation fegte das Unwesen hinweg. Während des Bauernaufstands von 1525 zog ein Haufe von Königssee auch nach Paulinzelle und trieb es hier arg wie anderwärts: Mönche und Nonnen wurden »zum Beichten gebracht«, Vieh und Pferde weggetrieben, der Hausrat geplündert oder zerstört, aus der Kirche die Monstranzen, Kelche und Reliquienkästchen mitgenommen und verteilt. Bezeugt ist ferner, daß auch einzelne Altäre zertrümmert wurden, aber ebenso, daß die Stürmenden an den Bau nicht rührten, auch niemand ums Leben brachten. Das gleiche gilt vom ganzen Thüringer Wald; schlimmer war's gegen den Kyffhäuser zu, wo der finstere Thomas Münzer hauste. Als seine Scharen bei Frankenhausen niedergemetzelt waren, brach auch über die Bauern dieser Waldtäler ein furchtbares Strafgericht herein, und die Mönche wurden auch in Paulinzelle wieder eingesetzt. Doch kamen nicht alle wieder, und die Nonnen trauten sich vollends nicht heim. Schon 1534 wagte es Graf Heinrich XXXIV. von Schwarzburg, das Kloster zu säkularisieren; zwar stellte es ein Machtgebot Karl V. 1541 wieder her, aber die Urkunde war das Pergament nicht wert, auf dem sie geschrieben war – was sollte das entweihte, entwürdigte Kloster im evangelisch gewordenen Lande? Nachdem der letzte Abt, ein Milbitzer Bauernsohn, gestorben war, stand der Bau verödet.

Paulinzelle verfiel, als es nicht mehr erhalten wurde; dann beschleunigte Habsucht das Zerstörungswerk. Ein Blitz traf das Nonnenhaus; der Dachstuhl ging in Flammen auf, das Gemäuer barst; da freuten sich die Dörfler auf mehrere Meilen im Umkreis des billigen Steinbruchs, der ihnen hier durch Gottes Gnade beschieden war, und machten sich auch sachte ans Mönchshaus. Die Schwarzburger Fürsten taten's ihnen nach; noch im 16. Jahrhundert erstand auf dem Unterbau des Abtbaus das Amtshaus, im wesentlichen so, wie es noch heute dasteht: im Erdgeschoß wurde der alte Steinbau möglichst beibehalten, darüber zwei Fachwerkgeschosse gesetzt. Ich bin drin gewesen; deutlicher als anderwärts – denn man sah auf Billigkeit der Herstellung und änderte nur was man mußte – kann man hier die Bautätigkeit von sieben Jahrhunderten unterscheiden: dicke Mauern mit romanischen Fenstern aus dem 13., dünnere mit gotischen Spitzbogen aus dem 16., ganz dünne mit nüchternen Lichtöffnungen aus dem 18. Jahrhundert. Auch die Türen, Schlösser und Öfen sind aus derselben armseligen Zeit, nur ein Ofen aus dem 16. Jahrhundert ist erhalten, aber er ist sehr schön und lohnt allein den Besuch. Der Untersatz ist schmucklos, aber der Aufsatz zeigt eine Reihe stehender weltlicher Heiligen, darüber Engelgestalten von großer Schönheit, Renaissanceöfen sind ja heut wieder so modern; wer was besonders Schönes haben will, lasse sich diesen Aufsatz aus dem Nonnenstübchen nachbilden, aber Nonnen haben hier nie gehaust, nur Amtsvorsteher und Oberförster. Ähnlich entstand etwas später das schmucklose Schloß. Hier in der Waldeinsamkeit verbrachten die Schwarzburger Grafen ihre Flitterwochen, aber es muß, obgleich es dem Menschenfreunde schmerzlich ist, hinzugefügt werden, daß sie sich dann auch nach einigen Jahren mit Damen einfanden, die nicht ihre Gemahlinnen waren; das Paulinzeller Schloß war so eine Art schwarzburgischer Hirschpark, aber ganz im kleinen, man möchte schier sagen: in Ehren; denn mehr Mätressen, als eben die Mode unbedingt gebot, hatten diese braven Herren nie. Übrigens sind die Räume mit spartanischer Einfachheit eingerichtet.

Länger als das Kloster blieb die Kirche aufrecht. Auch hier machte gleichsam der Himmel den Anfang; als 1602 der Blitz das Dach der Kirche entzündete und die südliche Mauer beschädigte, nahm man die Balken und dann das Gestein, soweit es zu lockern war. Um 1680 wurde die Vorkirche dürftig instand gesetzt, nicht aus Pietät, sondern aus Sparsamkeit; die Dörfler und der Hof, der ja häufig hier verweilte, bedurften eines Gotteshauses; da wollte man auf diese Weise billig dazu kommen. Als aber die Erhaltung mehr kostete, als man dachte, da stand zwanzig Jahre später der Entschluß fest: der Dom sollte abgebrochen, das Gestein zur Erbauung einer Kirche nach Rudolstadt gebracht werden. Damals sank das Chor mit den stolzen fünf Apsiden in Staub; das Langhaus aber wurde durch die Festigkeit seines Mörtels gerettet; von Sprengungen durch Pulver mußte man absehen, weil Amtshaus und Schloß so nahe lagen ... Ja, die Zeit um 1700 war in jeder Hinsicht ein Höhepunkt unserer Kultur! Drei Menschenalter später kam man zu besserer Einsicht, schämte sich des Geschehenen und suchte zu erhalten, was noch aufrecht stand. Im Jahre 1848 aber drohte wieder einmal dem schönen, vielgeprüften Bau der Untergang; im Rudolstädter Landtag saß ein Radikaler, der war so radikal, daß er beantragte: »Der ganze Krempel wird in die Luft gesprengt und dann das Steinzeug zum Bau von Chausseehäusern verwendet« – denn die Straßenzölle aufzuheben, dazu war er wieder nicht rot genug. Da aber Rot damals gerade die Lieblingscouleur war, so schien das Schicksal der Ruine besiegelt. Jedoch, man weiß, dann kam rasch eine andere Couleur auf ... Seit etwa dreißig Jahren wird die Erhaltung planmäßig und verständig betrieben.

In den Pausen, wo die Fremden die Ruine besahen, war ich im Wald oder guckte mir die Häuser von Paulinzelle an. Ein merkwürdiger Anblick, denn es ist fast keines darunter, das nicht auf Quadern ruhte oder mitten zwischen Ziegeln und Fachwerk Steine mit eingemeißeltem romanischem Ornament aufwiese. So namentlich auch das Haus des Mehrers von Paulinzelle; als ich es gestern bei sinkender Sonne besah, trat der Besitzer hervor. Er begrüßte mich freundlich und entschuldigte sich sogar, daß er mich nicht einzutreten bitte, doch sei eben das Zwölfte angekommen. Dann fragte er, was ich den Tag über gemacht hätte. Die Ruine angesehen, war meine Antwort, sie sei ja so schön. Nun er, wie lang ich bleiben wolle, etwa zur Erholung beim Herrn Menger? Dabei fiel mir wieder, wie am Morgen, der prüfende, lauernde Zug in seinem Gesicht auf. Nein, sagt ich, Sommerfrische wollt ich hier nicht halten, aber wie lang ich bliebe, wüßt ich noch nicht. Da löste sich die Spannung in seinem Gesicht, und er nickte mit so vergnügtem Schmunzeln vor sich hin, als wollt er sagen: »Nun hab ich dich; es ist also so, wie ich gedacht habe.« Was er meinte, wußte ich aber nicht und kam auch noch nicht ins klare, als er nun die Rede auf die verschiedenen Konfessionen brachte und plötzlich fragte, wie ich über die »Ghadol'schen« dächte; alle Leute sagten, und auch in seiner Zeitung stehe es, man tue ihnen jetzt sehr viel zuliebe. Worauf ich: dagegen wäre nichts zu sagen, wenn nur anderen dabei kein Leid geschehe. Er räusperte sich, setzte zum Reden an, schwieg aber wieder. Dann gab er mir das Geleit zur Ruine zurück, die ich noch im Licht der Abendsonne sehen wollte, und meinte dabei: »Es is do sehre wunderbar; jetzt findt sie jeder scheene. Immer war das nech so.« Sein Großvater, sein Vater hätten noch Herren gekannt, die gesagt hätten: »Schade um die schönen Steine!« Und ob nicht wieder solche Zeiten kommen könnten? »Möglich«, sagte ich und meinte das ernst. Darauf er: »Nu ebe drum! Nu ebe drum! Da muß man sich so was do sehre überlegen dhun, eh man's anfangen dhut!« – »Was?« Da lachte er wieder schlau und empfahl sich. Was ich nach seiner Meinung in Paulinzelle vorhatte, sollte ich erst heute erfahren.

Es ist möglich, daß wieder Zeiten kommen, die für die Schönheit dieser Ruine blind sein werden, denn auf die Römer folgten die Hunnen und auf die Renaissance das 17. Jahrhundert. Aber wie ich sie so im Rot der Abendsonne vor mir liegen sah, da hielt ich's für undenkbar, so schön, so traumhaft schön war das Bild. Anmutvoll und feierlich zugleich, so recht herzerhebend ist sie ja immer, aber nie mehr, als wenn dies warme, satte Licht sie überflutet. Wie Flammen heben sich die Säulen in den Himmel hinein, denn das Westportal wirft nur kurzen Schatten, und dies Portal vollends steht in dem verklärenden Licht so jung und herrlich da, als wär's eben geschaffen ... Still stand ich da und schaute und wurde traurig, als die Schatten wuchsen, wie aus der Erde empor, immer höher und höher, und das Licht verschlangen. Schließlich lag nur noch auf dem Giebel des Portals ein schwacher, rötlicher Schimmer, und nun verblaßte auch er, und es wurde Nacht, dunkle Nacht, denn es ist jetzt Neumond. Sonst hätte ich die neue, wohl noch größere Freude gehabt, zu sehen, wie hier das Mondlicht waltet. Aber auch so war's schön genug, und ich werde es nie vergessen ...

Des Abends nahm ich mir auf meiner Stube zwei Bücher über Paulinzelle vor, die ich mitgebracht hatte, und las in ihnen. Und da traf ich auf zwei Stellen, die mich in neues Grübeln darüber hineinlockten, wie verschieden sich die Geschlechter der Menschen zu derlei Ruinen stellen. Zunächst etwas, was mich sehr enttäuschte. Auch Goethe war einmal hier; der Autor jenes Buches zieht die Stelle (aus den »Tag- und Jahresheften« von 1817) aus; begierig griff ich darnach; was hat dieser größte Dichter, dieser größte Mensch, der einem immer mehr wächst, je älter man wird, über Paulinzelle gesagt? Da stand's:

»Seit vierzig Jahren zu Wagen, Pferd und Fuß Thüringen kreuz und quer durchwandernd, war ich niemals nach Paulinzelle gekommen, obgleich wenige Stunden davon hin und her mich bewegend. Es war damals noch nicht Mode, diese kirchlichen Ruinen als höchst bedeutend und ehrwürdig zu betrachten; endlich aber mußte ich so viel davon hören, die einheimische und reisende Welt rühmte mir den großartigen Anblick, daß ich mich entschloß, meinen diesjährigen Geburtstag, den ich immer gern im stillen feierte, einsam dort zuzubringen. Ein sehr schöner Tag begünstigte das Unternehmen, aber auch hier bereitete mir die Freundschaft ein unerwartetes Fest. Oberforstmeister von Fritsch hatte mir von Ilmenau her mit meinem Sohne ein frohes Gastmahl veranstaltet, wobei wir jenes von der schwarzburg-rudolstädtischen Regierung aufgeräumte alte Bauwerk mit heiterer Muße beschauen konnten. Seine Entstehung fällt in den Anfang des zwölften Jahrhunderts, wo noch die Anwendung der Halbzirkelbogen stattfand. Die Reformation versetzte solches in die Wüste, worin es entstanden war: das geistliche Ziel war verschwunden, aber es blieb ein Mittelpunkt weltlicher Gerechtsame und Einnahme bis auf den heutigen Tag. Zerstört ward es nie, aber zu ökonomischen Zwecken teils abgetragen, teils entstellt; wie man denn auf dem Brauhause noch von den uralten Kolossalziegeln einige hart gebrannt und glasiert wahrnehmen kann; ja, ich zweifle nicht, daß man in den Amts- und anderen Angebäuden noch einiges von dem uralten Gebälke der flachen Decke und sonstiger, ursprünglicher Kontignation entdecken würde.«

Die Hefte enthalten auch sonst kein Wort heißer Empfindung, aber soviel ist gewiß: das »aufgeräumte alte Bauwerk« hat Goethe kalt gelassen. An seinem Alter kann's nicht liegen; wie jung war Goethe mit 68 Jahren! Konnte er nur mit den Augen seiner Generation sehen? Es spricht vieles dagegen. Oder erwartete er bei der Schwärmerei von dem »großartigen Anblick« gar zu viel und fand sich enttäuscht?

Paulinzelle hatte kein Glück mit unsern Klassikern. Auch Schiller war dort und schrieb ins Fremdenbuch ein Gedicht, aber dies Gedicht lautet:

Einsam stehn des öden Tempels Säulen,
Efeu rankt am unverschloßnen Tor,
Sang und Klang verstummt, des Uhu Heulen
Schallet nun im eingestürzten Chor.
Weg sind Prunk und alle Herrlichkeiten,
Schon enteilt im langen Strom der Zeiten
Bischofs Hut mit Siegel, Ring und Stab
In der Vorwelt ewig offnes Grab.
Nichts ist bleibend, alles eilt von hinnen,
Jammer und erhörter Liebe Glück;
Unser Streben, unser Hoffen, Sinnen,
Wichtig nur auf einen Augenblick;
Was im Lenz wir liebevoll umfassen,
Sehen wir im Herbste schon verblassen,
Und der Schöpfung größtes Meisterstück
Sinkt veraltet in den Staub zurück.

Gewiß ein sehr schwaches Gedicht; man wäre versucht, es nicht einmal Matthisson, sondern irgendeinem Schwächling seiner Schule zuzuschreiben. Aber bezeichnend ist es dafür, wie man vor vier Menschenaltern – es ist 1788 geschrieben – ein solches Bauwerk anschaute und was man dabei empfand, und darum teile ich es hier mit, da es nur in wenigen Schiller-Ausgaben zu finden ist. Denn Schillers Autorschaft ist erst seit 1885 genügend beglaubigt. Für ein anderes Verschen aus derselben Zeit, das er dem nahen Schwarzburg gewidmet haben soll, ist die Beglaubigung noch nicht voll erbracht. Möge dies auch nie gelingen, denn es lautet:

Auf diesen Höhen sah auch ich
Dich, freundliche Natur, ja dich!

Von anderen Gedichten über Paulinzelle sind mir, eine Ballade von Bechstein abgerechnet, nur diejenigen aus jüngster Zeit bekannt, die sich an den Wänden der Ruine angekritzelt finden. Von einem Zug zum andern! – wie schnell können heutzutage die Menschen dichten! Und dazu noch unter Gefahren, denn es steht ja überall angeschrieben, daß das Beschmieren der Wände mit 150 Mark Geldstrafe oder 14 Tagen Gefängnis geahndet wird. Viele begnügen sich auch nur mit dem Namen; daneben findet man Angebote zum Tausch von Ansichtskarten, aber auch viele, recht viele Zoten ... Man kann ganz traurig werden, wenn man diese menschlichen Dokumente auf den Wänden der Ruine gewahrt.

Aber dann sah ich mir die Ruine selbst an und wurde wieder still und bewegt im Gemüt. Man wird mit der Freude gar nicht fertig und erlebt zudem an den Einzelheiten immer neue Entdeckerwonnen. Ich hatte so die Empfindung, als müßte ich hier wochenlang bleiben, und dachte zwischendurch – so ist der Mensch –, wohin ich nun gehen wolle. Ich hatte ja nach Westen gewollt, aber ein bestimmtes Ziel tauchte mir nicht auf. Dann ging ich wieder umher und entdeckte an einer der Säulen abermals ein neues Ornament – so einfach und dabei so schön! Ich zog mein Notizbuch hervor und zeichnete es mir ab wie andere vorher. Mit meinem Zeichnen ist's ja nicht weit her, aber mir erhöht's die Freude des Genießens – für den Augenblick und in der Erinnerung.

Wie ich aber so kritzelnd dastand, hörte ich Schritte – es war der Mehrer von Paulinzelle. Ordentlich triumphierend guckte mich der alte Mann an: »So, jetzt hab ich dich, jetzt kannst du nicht mehr leugnen!« Er trat auf mich zu: »Immer fleißig, Herre! Ja, da is viel zu dhun!« Ich: es sei nur so Spielerei zu meinem Vergnügen. »Na! na!« Warum er mir das nicht glaube? Darauf er, man habe ja schon lange davon gesprochen und es kommen sehen, und nun sei es da. Natürlich, wenn man alles aufbaue, sogar »alde pohlsche un französ'sche Schlösser«, warum Paulinzelle nicht. Nun, wenn es nur nicht aus dem Steuersäckel gehe, so habe auch kein Mensch was dagegen. Freilich, für die Arbeit würden wohl wieder viel Welsche beigezogen werden, und da seien wüste Kerls drunter, das wisse er noch vom Bahnbau her. Aber nur eins sei wirklich schlimm: natürlich schenke man dann das Kloster den »Ghadol'schen«, die kriegten ja jetzt alles – und was die dann in der evangelischen Gegend damit anfingen? So also reflektierte sich in diesem Hirn die Kunde von der Restaurierung der Marienburg und Hohkönigsburg im Verein mit der Devise: »Zentrum ist Trumpf!« Nun, ich konnte ihn beruhigen, ich war kein Baumeister und nicht dazu hier. Und zum Beweis nahm ich auch gleich Abschied von ihm. Ich muß sagen, er wünschte mir recht freudig glückliche Reise.

Auf dem Heimweg überdachte ich mir die Sache. Die Marienburg, das geht an; ob's überall recht gemacht wird, das ist eine andere Frage, aber im ganzen kann man – ich hab's ja gesehen – ja und amen dazu sagen. Und von der Hohkönigsburg, die ich nicht kenne, will ich gern das gleiche annehmen. Aber Paulinzelle? – um Himmels willen, das wäre ja fast so töricht und frevelhaft wie der Aufbau des Heidelberger Schlosses, mit dem jetzt immer wieder gedroht wird. Und wie ich dran dachte, stieg der herrliche Bau vor meinem Aug auf, und ich stand wieder im Schloßhof vor dem Ottheinrichsbau und schaute wieder von der Terrasse ins Neckartal nieder. Mein Herz schwoll vor Sehnsucht ... Und was spricht dagegen? Heut Paulinzelle und morgen das Heidelberger Schloß – weiß Gott, so Kluges ist mir nicht immer im Leben eingefallen.

Und dabei bleib ich nun. Noch heut fahr ich nach Heidelberg.

Paulinzelle, im Sommer 1901

 

 

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Abbildungen, Nachwort und Anmerkungen aus Urheberrechtsgründen nicht aufgenommen. Re.


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