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Elysäische Felder

Nächst der Arbeit ist das Reisen der beste Erquicker und Sorgenbrecher auf Erden; es bietet, wenn man es recht versteht, alles Köstlichste auf einen Schluck: Natur- und Kunstgenuß, Freude an den Menschen und Loslösung vom Alltag. Auch ist's ja anscheinend so leicht, es recht zu verstehen: »Wenn du nehmen willst, so gib!«; das ist das ganze Geheimnis. Dennoch treffen's leider die wenigsten; nur eins ist allen klar: »Gib Geld!«, und das ist ja gar nicht das wichtigste; weit schwerer wiegt: »Gib Zeit!« und am allerschwersten: »Willst du die Seele der fremden Landschaft, des fremden Volksstamms in dich aufnehmen, so gib die eigene Seele hin, freudig, selbstlos, teilnahmsvoll, wie ein weißes Blatt, auf daß das Fremde darauf seine Zeichen schreibe!« Wer dies nicht kann, mag zu Hause bleiben oder doch um Orte wie Wörlitz einen großen Bogen machen.

Ich sage dies aber nicht selbstgefällig, sondern mit leiser Scham. Denn erst bei meinem zweiten Besuch glaube ich Goethes Wort von den »elysäischen Feldern« und dies sprossende, blühende »Märchen« so in meiner Art ein wenig verstanden zu haben, aber das ist nicht mein Verdienst, sondern das dieser merkwürdigen Anlagen. Das erste Mal aber war ich recht enttäuscht, und das lag an mir. Das heißt, scheinbar war's nicht meine Schuld allein, aber eigentlich doch nur die meine. Im übrigen erscheint mir die Historie dieses meines ersten Besuchs in Wörlitz heute lustiger als vorgestern, wo ich sie erlebte, und wenn der treffliche Gelehrte, der dabei eine Rolle spielt, Spaß versteht, so wird er's mir nicht verübeln, wenn ich bei der Wahrheit bleibe.

Während ich also vorgestern um die Mittagsstunde mit dem Küster der Schloßkirche zu Dessau in der Rumpelkammer den Staub von den armen, verstoßenen Bildern blies, stürzte seine Magd herein, ein Herr wünsche das Cranachsche Abendmahlsbild zu sehen, aber rasch, rasch, er habe keine Zeit. »Ich habe keine Zeit«, klang es auch von unten her überaus vernehmlich in nervös zitterndem Tenor. Der Küster stürzte ab, ich ihm nach; warum weiß ich selbst nicht; denn Menschen, die keine Zeit haben, sind doch in unseren Tagen keine Rarität. Allerdings, gar so wenig Zeit haben selbst heutzutage nicht viele Leute, denn als ich nach zwei Minuten vor der Nische anlangte, hatte der Fremde, ein jüngerer, sehr gescheit aussehender Herr, die Besichtigung des figurenreichen Bildes bereits beendet. »Das Bild hängt elend«, sagte er, »ich bin Kunsthistoriker«, und das freute mich; ich war ja schon vorher, wie man weiß, der Meinung gewesen, daß man schöne Bilder nicht in dunkle Ecken hängen soll, aber seine Meinung von einem Fachmann bestätigt zu hören, ist dem Laien immer angenehm. Der Gelehrte aber warf nun Hut und Stock auf den nächsten Kirchenstuhl, brachte aus der einen Rocktasche einen Haufen beschriebener Katalogzettel, aus der anderen einen Bleistift zutage, kritzelte auf eines der Blätter ein Kreuz und machte Miene abzustürzen. »Wollen Sie nicht«, fragte der Küster, »auch die anderen Cranachs ansehen?« – »Keine Zeit!« murmelte der Fremde. »Bald eins! Na gut, fünf Minuten!« – und er warf auf jedes der Bilder einen Blick; Kennerblicke sind eben sprichwörtlich kurz. Dadurch vollends ehrfürchtig gestimmt, wagte ich's, ihm die rätselhafte Signatur des »mittleren« Cranach zu zeigen. Er machte sich eine Notiz. »Interessant! ... Eine Hypothese! ...« Ich fühlte mich sehr gehoben, als er mich nun einlud, mit ihm die Sammlungen im Schlosse zu besehen. »So im Flug! Um zwei Zug nach Wörlitz.« Den wolle ich auch benützen, sagte ich, und in der Stunde zu Mittag essen. »Tue ich nicht«, erwiderte er, »habe eine Spezialmission. Morgens Wittenberg – Lutherhaus, Stadtkirche – seit ½11 Uhr hier – Bibliothek, Amalienstiftung, Schloßkirche, Schloß – nachmittags Wörlitz, abends nach Magdeburg. Also auf Wiedersehen in Wörlitz.« Und er stürzte ins Schloß, während ich in mein Hotel fuhr. Aber noch während der Mittagstafel mußte ich unablässig über das Rätsel grübeln: was war das nur für eine grausame kunsthistorische Spezialmission, die ihrem Träger eine so unerhörte Häufung von rapiden Kunstgenüssen bei gleichzeitiger völliger Enthaltung von Speise und Trank auferlegte!

Nun, das Rätsel mußte sich mir ja lösen. Aber der Zug nach Wörlitz ging ab, ohne daß der Gelehrte sichtbar wurde. Mein Waggon war dicht besetzt, die Fremden führten belehrende Gespräche über Gasthofspreise, die Dessauer, die nur bis Oranienbaum mitfuhren, schwelgten im Vorgenuß der dortigen Tanzplatzfreuden. Es ist nützlich zu erfahren, wo das Frühstück 80 Pfennig kostet und wo mehr, und die Mitteilung eines Dessauer Jünglings, daß in Oranienbaum »selbst Kanzleiratstöchter« tanzen, war mir menschlich erfreulich, denn ich sehe es ungern, wenn die Spitzen der Gesellschaft einsam auf ihrer steilen Höhe bleiben, aber auf die Dauer sah ich mir doch lieber die Landschaft an. Man kann dies hier gründlich tun, denn die Dessau-Wörlitzer Eisenbahn humpelt recht behaglich dahin. Nur hat man nicht viel davon; eine Gegend, wie sie zu Dessau paßt, ein bißchen langweilig, aber fruchtbar, wenig Blumen, viel Rettich und Petersilie, zudem überall – womit aber nicht weiter auf Dessau gestichelt sein soll – Zeichen eines tiefen Niveaus: viel Wasser, Bruch, auch etwas Forst und Heide. So schleicht das Züglein von der Mulde gegen Osten, also südlich der Elbe, aber in respektvoller Entfernung von dem zuweilen ungemütlichen Strome dahin, bis Oranienbaum erreicht ist, das Schlößchen, das sich Henriette Katharina, die Mutter des Alten Dessauers, eine Oranierin, erbaut und mit Porträts ihrer Familie geschmückt hat; daneben mögen sie auch Wiese und Wasser, die vielen Windmühlen und das Fehlen jedweden störenden Hügelchens, selbst jeder Erdwelle, wie sie die Mark durchstreichen, an ihr geliebtes Niederland erinnert haben; einen ähnlichen Sommersitz schuf sich ihre Schwester Luise Henriette, die Gemahlin des Großen Kurfürsten, in Oranienburg bei Berlin. »Das Schloß ist zugänglich«, sagte mir der junge Dessauer mit den hohen Tanzkonnexionen, »Fremde gehen oft hin.« – »Nicht auch Einheimische?« fragte ich, worauf der ehrliche Jüngling: »Aber wozu denn? Nach Oranienbaum geht man zur Kirchweihe, da ist es lustig, aber auch sehr fein!« ... Vom Dorfe her klang Musik, bunte Fähnchen flatterten im Winde; der Jüngling aber und seine Freunde zogen Handschuhe über ihre großen, vom Heringbändigen rot gewordenen Hände. Eine so distinguierte Kirchweih hätte mich gereizt, aber ach, auf was alles muß der Mensch verzichten! So fuhr ich weiter nach Wörlitz; die kleine Bahn biegt nun nach Norden, durch Heide und Ackerland, an Hütten vorbei, die fast so dürftig sind wie die Landschaft. Daß man nur Minuten von einem der schönsten Gärten der Welt entfernt ist, kann niemand ahnen.

Aber es ist auch noch nichts davon zu gewahren, wenn man aus dem kleinen Bahnhof tritt. An der Pforte verteilt ein Knabe rechts Empfehlungskarten des »Grünen Baum« und einer links solche des »Eichenkranz«; vorn steht die Versicherung, daß das Hotel das beste von Wörlitz ist, und hinten ein schwer lesbarer Plan des Gartens; aber diese Pläne und die botanischen Gasthofschilder sind auch leider zunächst die einzigen Schatten, die der berühmte Garten vorauswirft. Eine breite Chaussee, durch deren fußhohen Staub die mit mir Angelangten im Sonnenbrand ächzend dahinzustampfen begannen, in der Ferne armselige Häuschen und kein grüner Wipfel – seufzend besah ich mir das Bild und fragte dann den »Eichenkranz«, ob es hier keine Fahrgelegenheit gebe. »Bitte ja, bei Bestellung von mindestens zehn Personen«, war die Antwort, die mich nicht erfreute; sogar die Versicherung des »Grünen Baum«, daß er es schon für acht tue, konnte mich nicht aufrichten. »Wie weit ist's zu den Gärten?« fragte ich. »Zwanzig Minuten«, erwiderte der »Eichenkranz«, während der »Grüne Baum«, der es offenbar in allem billiger macht, tröstete: »Fünfzehn!« Nun, der »Grüne Baum« hat die Entfernung freundlicher taxiert, aber der »Eichenkranz« ehrlicher ... Es ist mir immer als die schönste Aufgabe des Schriftstellers erschienen, sich darnach zu mühen, daß den künftigen Geschlechtern das Leben leichter werde auf dieser harten Erde, und darum entringt sich meiner tiefsten Seele die Mahnung: »O ›Eichenkranz‹, o ›Grüner Baum‹, was seid ihr dumm! Stellt doch statt der beiden aufdringlichen Jungen mit den unleserlichen Plänen, die euch nur Geld kosten und nichts nützen, jeder einen Omnibus an den Bahnhof, laßt euch dreißig Pfennige für die Tour bezahlen, und ihr werdet bei dem kolossalen Besuch ein Bombengeschäft machen!«

Aber ich sollte den Marterweg zum mindesten nicht allein gehen. Kaum drei Schritte war ich gekommen, als eine nervöse Stimme an mein Ohr schlug: »Wann geht der Zug nach Dessau zurück? Um vier?« – »Um sechs!« erwiderte der »Eichenkranz«, und selbst der »Grüne Baum« konnte das nicht früher geschehen lassen. »Oh!« – dann ein kernhafter Fluch. Der Kunsthistoriker! – er war also wirklich nur von seiner Mission satt und mit demselben Zuge gekommen. Aber die Gewißheit, nun unabwendbar über drei Stunden an einem Ort bleiben zu müssen, hatte auch alle Hast von ihm genommen; ich konnte mir, während wir so selbander dahingingen, keinen liebenswürdigeren Weggenossen wünschen. Auch die Rätselhaftigkeit der Mission schwand bis auf einen Rest. Der Gelehrte, ein Mann von Ruf, machte eine Arbeitsreise zwecks Herausgabe eines historischen Porträtwerkes. Die einschlägigen Bilder hatte er aus den Katalogen notiert und wollte jetzt nur feststellen, ob sie in reproduzierbarem Zustande seien. »Aber warum –« begann ich und stockte wieder; nein, warum er nicht aß, konnte ich ihn doch nicht fragen.

Wir waren während dieser Gespräche vom richtigen Weg zum Park abgekommen und plötzlich mitten in der »Stadt« Wörlitz. Diese Gänsefüßchen haben ihre Berechtigung ... Ich habe bei meinen Streifereien durch die Mark und Mitteldeutschland manches armselige Ackerstädtchen gesehen und gerochen, ein solches nur selten. Und dieses häßliche, schmutzige Städtchen liegt wenige Minuten vom herzoglichen Schloß zu Wörlitz und ist auf drei Seiten vom herrlichen Park umschlossen! »Da haben Sie«, wetterte der Gelehrte, »die ganze innere Verlogenheit jener Zeit! O du verdammtes Aufkläricht, was war dir die Natur und was selbst die Humanität, mit der du dir die Pausbacken schminktest! Der lieben Eitelkeit wegen der Natur Daumschrauben anzulegen und Theaterkulissen aus lebenden Bäumen und Blumen zu schaffen, dazu waren diesem gelobhudelten Herzog Franz Millionen nicht zu viel, aber weitere hunderttausend Taler den armen Leuten als Beisteuer zu gewähren, damit sie das Nest zum Villenstädtchen umgestalten, fiel dem Mäzen gar nicht bei. Hierher wurden eben die Goethe und Lavater, die Humboldt und Pückler-Muskau nicht geführt!« Nun bin ich zwar wahrlich kein grundsätzlicher laudator temporis acti und meiner Zeit ein treuer Sohn, aus ganzer Seele bemüht, sie zu verstehen, aber Verständnis schulden wir, meine ich, auch der Vergangenheit, und darum mußte ich über diese Rede heftig den Kopf schütteln, wenn auch, ehrlich gestanden, mit dem Taschentuch an der Nase. Laut aber sagte ich nur: »Ich glaube, daß der Zusammenhang zwischen dem Stadtduft von Wörlitz und den Ideen des 18. Jahrhunderts noch näherer Nachweisung bedarf; vor allem aber schlage ich vor: sehen wir uns die ›Daumenschrauben‹ und ›Kulissen‹ doch erst an.« Und so fragte ich ein graues, kleines Flickschusterlein, das auf dem Bänkchen vor seiner Werkstatt hockte und sich an einem tödlich verwundeten Stiefel abquälte, um den nächsten Weg nach den Gärten. Das greise Männchen fuhr zusammen und sah mich mit verträumten Augen an, wie man sie unter den Zunftgenossen Jakob Böhmes so rätselhaft oft findet. Dann huschte ein Lächeln über das verwitterte Gesicht. »Da hinein«, er wies in die Förstergasse, »an den beiden Religionen vorbei zur dritten, welche vielleicht die beste war.« Ich sah ihn fragend an: »An der Kirch und der Juddeschul rechts zur Grotte der Egeria!« ... Hm, dachte ich, da merkt man doch, daß dies Nest mitten in den Gärten liegt, die der alte Wieland einst »die Zierde und den Inbegriff des 18. Jahrhunderts« genannt hat, aber im übrigen war auch in der Förstergasse wahrhaftig nichts von Gärten zu riechen. Kaum jedoch hatten wir diese Gasse halb passiert, als mir eine freudige Überraschung wurde; auch der letzte Rest von unheimlichem Mysterium fiel von meinem Gefährten ab. »Wollen wir nicht«, bat er plötzlich, »vorher in ein Restaurant? – mich hungert ganz entsetzlich!« So gingen wir denn zum »Grünen Baum«, wo er sich sättigte. Aber obwohl er auch dies, wie alles, rasch und energisch tat, schlug es doch vier Uhr, als wir endlich am Ufer des Sees standen, der die Gärten durchzieht, vor dem Haus des Gondoliers, wo jetzt eine rüstige Frau, die dem Schöpfer dieser Anlagen, dem Herzog Franz, wie aus dem Gesicht geschnitten ist, einer Schar von Kähnen und Schifferinnen gebietet. Ich verzeichne diese Ähnlichkeit, die sich mir, der ich vormittags in Dessau einige Bilder des Herzogs gesehen hatte, aufdrängen mußte, aber – »honni soit qui mal y pense«, und das meine ich ernst. Die Tatsache, daß in kleinen Residenzen, in der Umgebung von Lustschlössern usw. jeder zwanzigste Mensch dem Landesherrn ähnlich sieht, mag ja auch – es wäre albern, dies zu leugnen – der Sittenschilderer angehen; die meisten Fälle aber gehen den Physiologen an, der auch die Antwort nicht schuldig bleibt ... Nur ein Kahn lag noch am Ufer; die Frau mit dem Herzog-Franz-Gesicht musterte uns und rief dann »Friedchen!« Und Friedchen kam; um hier eine Ähnlichkeit herauszufinden, bedurfte es keiner Porträtstudien, sondern eines einzigen Besuches in einer Menagerie; das Nilpferd vergißt niemand. »Um Himmelswillen«, riefen wir, »da schlägt ja der Kahn um!« – »Oh«, lächelte das anmutige Wesen von etwa vierzig Herbsten, »wenn sich beide Herren auf das Bänkchen am Steuer setzen und ganz ruhig bleiben, so geschieht nichts!«

Unter dieser Führung glitt ich zum ersten Mal am Gestade der »elysäischen Felder« dahin. Friedchen keuchte wie eine Lokomotive und ruderte langsam und unsicher, der Gelehrte aber nahm die armen, alten Anlagen sehr scharf mit, und zu meinem Malheur war er obendrein ein wirklich gescheiter Mann, der in fast allem, was er sagte, recht hatte. Es war zutreffend, wenn er, auf die schwere, dunkle Flut deutend, die wir schwankend durchpflügten, meinte: »Offenbar ein künstlich angelegter Tümpel! Dann hätte aber auch für einen gehörigen Abfluß gesorgt werden müssen!«; zutreffend, wenn er, als wir den kurios geformten, aus Raseneisenstein (einem brüchigen, porösen, leicht verwitternden Erz) erbauten Eisenhart erblickten, äußerte: »Welch ein Gedanke, eigens ein Haus aus einem für solche Zwecke unerhörten Material zu bauen, nur um zu erweisen, daß es wirklich nicht für Häuser taugt!« – und die Scherze, die er über die vielen Tempelchen und künstlichen Ruinchen machte, waren nicht alle teuer und nicht alle wohlriechend, aber unserem Geschmack entsprechen ja derlei Spielereien wirklich nicht; wir haben eben andere Geschmacklosigkeiten. Am schlimmsten jedoch kam die »verkrüppelte Natur« bei ihm weg. Trotz Friedchens Geschnaufe und seiner Kritik freute ich mich ganze zwanzig Sekunden, als uns zur Linken die mächtigen, schweren, dunklen Nadelholzgruppen des Neumarkischen Gartens entgegenwuchsen, während sich zur Rechten der zierliche Schloßgarten mit seinen Taxushecken und dem bunt – vom hellsten Goldgelb bis zum tiefsten Schwarzgrün – wechselnden Laubholz dem Blick breitete, aber da rief er: »Eunuchenlandschaft; rechts Daumschrauben und links Kulissen! Und alles auf das Effektchen zugestutzt!« – und das war wieder nicht ganz, wie die Schwaben sagen, »aus dem hohlen Bauch gesprochen«; auch darin war ein Korn Wahrheit. Und wär's auch ganz winzig gewesen, wer behielte da die Stimmung? Es war mir recht, sehr recht, daß wir schon bald am Gotischen Haus hielten. Da konnte die Holde am Ufer schnaufen, der Gelehrte seinen Porträts nachjagen und ich mir die Bilder ansehen, die mich freuten.

Das Gotische Haus, eine der sieben Kunstsammlungen, die in diesem Park verstreut sind, ist die bedeutendste unter ihnen, aber auch eine der schönsten und wertvollsten Sammlungen Deutschlands. Ich habe leider bei meinen beiden Besuchen in Wörlitz nur sechs Stunden auf sie wenden können, das ist für etwa 700 Bilder und eine Unzahl der schönsten Glasmalereien natürlich lächerlich wenig; aber es genügt doch, um mir den Gewinn dieser Stunden köstlich und unverlierbar zu machen. Um so peinlicher aber habe ich's empfunden, daß dieses seltene Kleinod zugleich an unwürdiger Aufstellung und kritikloser Bestimmung nirgendwo seinesgleichen findet, wenigstens in Deutschland nicht ...

Sprechen wir zunächst von dem Schönen und Schönsten. Sind auch unter den Malern die Niederländer, unter den Gattungen das Porträt und die Historie bevorzugt, so ist doch jede Schule, jede Gattung durch Treffliches repräsentiert: die Italiener allerdings nur spärlich, die Franzosen kaum zahlreicher, aber die Deutschen, von Holbein und Dürer, Wohlgemuth und den beiden Cranach bis ins 18. Jahrhundert ebenso köstlich wie reich; die Flandern durch Perlen (die Madonnen von Memling und Hugo van der Goes), und nun erst die Holländer! Wollte ich nur die besten Namen und Werke nennen, die trockene Aufzählung würde eine Spalte füllen – und wem schon Namen etwas sagen, der kennt die Künstler ohnehin! Nur auf einiges möchte ich aufmerksam machen, weil ich es bisher kaum angedeutet finde, wie denn die Wörlitzer Sammlungen überhaupt, im Vergleich zu den Dessauer, von Kunsthistorikern der neueren und neuesten Zeit nicht genug gewürdigt werden; zu Lebzeiten des Herzogs Franz war dies anders, er sorgte auch dafür ... Wie schön ist hier das holländische Seestück des 17. Jahrhunderts, diese Welt von Kraft und Schönheit und redlicher Beobachtung der Natur, vertreten. Da ist Bonaventura Peters, der Seesturmmaler, und sein Bruder Jan, da Willem van de Velde, einer der wenigen großen Künstler, die im Leben Lumpe waren; hat er es doch zuwege gebracht, seinen Landsleuten ihre Siege über die Engländer zu malen und den Engländern ihre Siege über seine Landsleute; in Wörlitz ist der erbärmliche Kerl und große Meister gut holländisch gesinnt. Von seinem Bruder Adriaen findet sich eine kleine Landschaft mit einem Reiterobrist als Staffage, vielleicht sein bestes Werk. Daß sich die Holländer hier so ausgezeichnet vertreten finden, ist angesichts der bereits angedeuteten Entstehungsgeschichte der dessauischen Hofsammlungen begreiflich, aber wie mag das halbe Dutzend Porträts, Schlacht- und Prunkstücke van der Meulens hergeraten sein? – der Hof- und Leibmaler Ludwig XIV., seiner sämtlichen Schlachten und seiner sämtlichen Mätressen erscheint hier übrigens nicht minder monoton und manieriert als anderwärts ... Albrecht Dürers »Adam und Eva«, von einigen seinem Schüler Hans Wagner zugeschrieben, ist jedenfalls ein schönes Bild. Eine Perle der Sammlung ist auch das Porträt des Großen Kurfürsten von A. Hannemann, das beste dieses Fürsten und für Berlin wiederholt kopiert, vermutlich ein Hochzeitsgeschenk Friedrich Wilhelms zur Vermählung seiner Schwägerin mit Johann Georg II. von Dessau. Beiden Geschlechtern, den Hohenzollern wie den Dessauer Askaniern, war die Heirat mit Oranierinnen wohl bekömmlich; für die letzteren bedeutete es den ersten Schritt nach aufwärts ... Einen seltenen Haarlemer des 17. Jahrhunderts, dessen einziges Porträt im dortigen Rathaus sich mir trotz des alles überstrahlenden Frans Hals durch seine wunderbare Lebensfülle ins Gedächtnis eingekeilt hatte, Verspronck, fand ich hier wieder, sogar durch zwei Bilder vertreten, und obwohl ja die Erinnerung alles verklärt, schienen mir diese beiden – ein Mann und ein Weib, beide schwarz gekleidet – noch schöner, weil noch lebensvoller als das Haarlemer. Einen anderen Holländer derselben Zeit kann man nur hier kennenlernen; ich habe seinen Namen bereits genannt, als ich von dem Fund des Küsters in der Rumpelkammer der Schloßkirche erzählte: Abraham Snaphan. Auch er von seltener Lebensfülle, in der Malweise von Anbeginn grundtüchtig und gewissenhaft, dann mit jedem Werk freier und natürlicher; auch in der Farbenwirkung harmonischer. Man kann dies hier, wo all sein Schaffen vereinigt ist, genau verfolgen; 1651 geboren, folgte er in jungen Jahren seiner fürstlichen Landsmännin nach Dessau und ist hier schon 1691 gestorben; sein letztes Bild, die Fürstin Henriette Katharina mit ihren vier blühenden Töchtern, ist sein bestes. Vielleicht ist Snaphan verhungert; er bezog kein Gehalt, nur »Honorare« für die einzelnen Bilder, für dies letzte – 25 Taler, wie Wilhelm Hosäus in seinem Büchlein über Wörlitz berichtet.

Freigebiger war Herzog Franz, und er kaufte nicht bloß Bilder und Statuen; auch die Möbel, die Gobelins, die Vasen, die Nippes, mit denen jedes Eckchen des Gotischen Hauses gefüllt ist, sind zumeist schön, nicht minder die Waffen und Rüstungen; das meistbewunderte Stück freilich, die Rüstung Bernhards von Weimar, hat Herzog Karl August seinem Dessauer Nachbar verehrt. Auch wenn man weiß, daß Goethes trefflicher Freund auf derlei Dinge wenig gab, berührt doch dies Geschenk, die Rüstung eines tapferen Ahns für die Kuriositätensammlung eines fremden Fürsten, etwas eigentümlich. In ihrer Art einzig aber ist die Sammlung von Glasmalereien; sie umfaßt fast lückenlos die beiden Jahrhunderte der Blütezeit dieses Kunstzweigs, des 16. und 17. Jahrhunderts, und gibt, wenn man die Stunde daran wendet, ein lehrreiches Bild seines Entwicklungsganges, vom Kirchlichen zum Weltlichen, von der rohen Technik zur Kabinettsmalerei auf Glas bis zu deren Verfall. Die meisten Stücke hat Lavater in der Schweiz, dem gelobten Lande der Glasmalerei, für den Herzog angekauft, und von dem wackeren Züricher rührt auch die Inschrift (»Wörlitz, 15. Juli 1786«) auf einer der Scheiben her:

Ihr, Denkmal alter Kunst und gottvertrauter Zeiten,
Bewundrung, Wehmut, Mut und Hoffnung sehn mich an.
Zwar Kunst und Zeiten hin, doch zeugt ihr uns in Weiten,
Was frommer Menschheit Fleiß und ernste Tugend kann.

Mein Gefährte, der Kunsthistoriker, war anderwärts beschäftigt, sonst hätte ich ihn vor die schönsten dieser Glasmalereien, zum Beispiel die »Verkündigung Mariä«, geführt und ihm dort etwa folgende Rede gehalten: »Die Zeit des ›Aufklärichts‹, verehrter Herr Doktor, die Sie so sehr mißachten, hat wirklich neben manchem Herrlichen, das wir vielleicht erst im 21. Jahrhundert, vielleicht auch später, und dann gewiß in ganz anderer Art wieder erreichen, auch manche Geschmacklosigkeit mit sich gebracht. In dem Bestreben zum Beispiel, auch in die Kirchen möglichst viel klares Licht einfließen zu lassen – und über die Berechtigung dieses Bestrebens an sich kann man verschiedener Meinung sein, Herr Doktor –, waren die Leute so pietätlos, die schönen bemalten Glasfenster zu beseitigen. Aber just in der Zeit, da solcher Unfug am schlimmsten wütete, hat dieser Fürst mit unsäglicher Geduld und beträchtlichen Kosten diese herrliche Sammlung zusammengebracht. Was folgt daraus? Daß er nicht etwa bloß, wie Sie glauben, der Typus einer von Ihnen mißachteten Zeit war, sondern eine Individualität, ein warmherziger Mensch voll Schönheitsdurst. Und darum, schon dieser Sammlung bunter Glasscherben wegen, ›lobhudle‹ auch ich diesen Herzog Franz!«

Aber, wie gesagt, die Rede blieb ungesprochen. Wenn der Gelehrte und ich einander begegneten, so machte er mich auf ein Kuriosum haarsträubend falscher Bestimmung aufmerksam, und ich konnte ihm mit Gleichem dienen, denn um diese Böcke nicht zu merken, müßte man blind sein. Da gibt es einige gefälschte Albrecht Dürers, einschließlich seines Zeichens gefälscht; unter Schule Cranachs laufen Bilder, die schwerlich vor 1700 das Licht der Welt erblickten; da gibt es Breughels, die nicht von Breughel, Matthias Grünewalds, die weder von dem Colmarer Meister noch von einem seiner Zeitgenossen, Hans Holbeins, abermals mit Dürers Zeichen signiert, die weder von Holbein noch von Dürer sind usw. Auch die Namen der Porträtierten sind vielfach irrig angegeben, was, nebenbei bemerkt, den wackeren Lavater samt all seiner Physiognomik aufs Eis geführt hat. Teils aus innerem Drang – denn einige Dutzend Distichen täglich waren ihm Bedürfnis –, teils seinem erlauchten Freunde zu Ehren widmete er einer Reihe dieser Porträts physiognomische Charakteristiken in Versen; die Zettelchen in Lavaters eigensinniger Schrift hängen noch heute an den Rahmen. So auch zum Beispiel an Nr. 1512, Cranach des Älteren »Kurfürst Friedrich der Weise« – »Frommes, treues Gemüt, so derbdeutsch, fest und so mannhaft« usw. singt Lavater, gewiß im besten Glauben, daß er dies aus den Zügen des Porträts lese – und in Wahrheit las er's doch nur aus dem historischen Charakter des Beschützers der Reformation heraus! Denn das Bild stellt gar nicht diesen großen, sondern einen weit kleineren Wettiner dar, auf den all das wenig paßt ... Ich erzähl's, weil der Lapsus lustig ist und bisher von niemand bemerkt wurde; arg ist's für Lavater nicht, und den meisten Beschauern kann's gleichgültig sein, welchen Wettiner, Askanier oder Oranier sie da vor sich haben. Aber störend sind die falschen Künstlernamen, für den Laien, weil sie ihn verwirren, für den Kunstfreund, weil sie ihn stören, und das Schlimmste ist die Unzahl schlechter Bilder. Kein Raum, der nicht auch erbärmliche Sudeleien enthielte; ärgerliche Kopien guter Werke, wertlose Pinselübungen obskurer Hofmaler, albernen Krimskrams aus weiß Gott welchen Trödelbuden. Man sage nicht, derlei komme auch anderwärts vor; es kommt heutzutage in diesem Grad nicht mehr vor; es ist die unharmonischste Sammlung, die ich je gesehen habe.

Wie sich dies erklärt? Nun, Herzog Franz war ein ehrlicher Kunstfreund, ein feiner Gartenkünstler, jedoch schon in der Beurteilung der Antike, trotz des engen Anschlusses an Winckelmann, nicht ganz sicher, und vollends nicht in der Malerei. Um gerecht zu sein, erwäge man aber, wie selten damals überhaupt solche Kennerschaft war, welches Tohuwabohu von Falsch und Echt, Gut und Schlecht bis tief ins 19. Jahrhundert hinein selbst in den berühmtesten Sammlungen zu finden war, wie jung überhaupt die Kunsthistorie als Wissenschaft ist. Nein, wir haben keinen Grund, über Herzog Franz und seinen getreuen Helfer A. von Rode zu lächeln; Hut ab vor ihnen trotz des falschen Holbein mit dem aufgeklecksten Dürer-Zeichen! Zudem zeigt der Herzog, in fast allem der treueste Sohn seiner Zeit, von ihr geformt, beschwingt und beschwert, auch den typischen Zug des Sammlers jener Tage: Die Kunst ist nicht Selbstzweck, sie »soll« auch immer was; auch jede Kunstsammlung soll daneben einen moralischen oder wissenschaftlichen Zweck erfüllen. Herzog Franz wollte im Gotischen Haus nebenbei auch eine große, möglichst lückenlose historische Porträtgalerie schaffen, und darum hing er neben seine Van Dyck und Frans Hals auch einen anonymen, unglaublichen Rudolf von Habsburg, sogar samt Frau Gemahlin und Fräulein Tochter. Irrtümer, Geschmacklosigkeiten, ja, aber solche der Zeit, und – nur eben die Größten abgerechnet – stecken wir ja alle in unserer Zeit, wie etwa in unserer Haut, und können nicht aus ihr heraus ...

Aber auch für das Allerschlimmste, was heute im Genuß dieser Schätze behindert, soll nicht »der würdigste aller Fürsten«, wie Winckelmann den Herzog genannt hat, verantwortlich gemacht sein. Das Gotische Haus taugt zur Bildergalerie wie ein Stall zum Speisesaal. Von außen ein häßlicher Bau von drollig wirkender Unregelmäßigkeit, ist es im Innern ein Gewirre mittlerer und winziger Stuben, in denen man wenig, enger Gänge und winkliger Kammern, in denen man überhaupt nichts sieht. Ursprünglich als Gärtnerswohnung erbaut, wurde es vom Herzog dann zu seinem Sommersitz erwählt und notdürftig durch Zubauten erweitert; hier, wo der schlichte, für seine Person rührend bedürfnislose Mann selbst am liebsten verweilte, vereinigte er darum auch seine geliebten Bilder und Nippes, Waffen und Glasmalereien, so viele ihrer irgend Platz hatten oder in Wahrheit weit mehr: es ist alles übereinander gehäuft, zuweilen so, daß ein Stück das andere ganz deckt, und da für bequeme Möbel kein Raum blieb, so behalf er sich eben mit dem dürftigsten Hausrat. Es muß ein unbehagliches Hausen in den engen, überstopften Räumen gewesen sein; ihm genügte es; nicht sich selber, nur seinen Kunstschätzen wünschte er ein würdiges Heim. Dem aber standen seine beschränkten Mittel entgegen; die Steuerkraft des damals winzigen Ländchens war noch gering und wurde zudem von ihm, der noch heute nicht umsonst von Bauer und Handwerksmann »Vater Franz« genannt wird, gewissenhaft geschont – und das, was er hatte, zu wie vielem mußte es reichen! Vom Philanthropin und der Bibliothek der Gelehrten abgesehen – auch die Chalkographische Gesellschaft zu Dessau, die erste würdige Kunstanstalt Deutschlands, »vergeudete« anscheinend vergeblich, in Wahrheit zu hundertfachem Nutzen für die Nachstrebenden, sein Kapital in einer nüchternen, für künstlerische Reproduktionen noch nicht reifen Zeit. Dazu die Unterstützungen für Dichter, Künstler und Gelehrte. Aber die größten Summen verschlang Wörlitz. Wenn er erst damit fertig sei, hoffte dieser rastlose »ewige Jüngling«, dann wolle er ein Museum bauen, aber mit dem bißchen Lebenskraft wird man immer früher fertig als mit derlei Aufgaben; als er am Vortag seines 77. Geburtstages starb, tröstete ihn nur das Vertrauen in die Pietät, den wachsenden Reichtum seiner Nachkommen. Nun, sie sind sehr reich, aber was am 9. August 1817 an den Wörlitzer Bauten und Anlagen unvollendet war, ist es noch heute, und das mag hingehen; daß jedoch das nun unbewohnte Gotische Haus noch immer als Museum dient, ist ein – hm, sagen wir eine unerfreuliche Erscheinung.

So tappten wir beiden Besucher zunächst hilflos durch das Dämmer dieser dunkelsten aller Bildergalerien, die sich in unserem irdischen Jammertal finden, und erheiternd waren in den ersten Minuten nur die kunsthistorischen Exkurse unserer Führerin. Nun ja, man lacht über derlei Dinge, aber recht ist's doch eigentlich nicht. Diese Führerin war ein nettes, braunäugiges Ding, das trotz seiner siebzehn Jahre bereits ein herzoglich anhaltinisches Hofamt bekleidete: Stellvertreterin des Fräulein Kastellanin. So stellte sie sich uns würdevoll vor und begann dann: »Nummer 1116. Dieses ist ein Stück von einem holländischen Gonservatorium.« Nun unterhielten sich auf dem Bild, soweit ich's im Zwielicht unterscheiden konnte, wirklich nur einige wenige Damen und Herren; ein ganzes Konservatorium schien es also tatsächlich nicht zu sein, gleichwohl kam mir die Erklärung so dunkel vor wie das Zimmer, und ich fragte. Aber sie wiederholte nur das bereits Gesagte und fügte treuherzig bei: »So sagt's auch das Fräulein Kastellanin, also ist es richtig.« Es war aber doch nur annähernd richtig, denn als ich dann im Büchlein von Hosäus das dürftige Kataloglein durchsah, fand ich dort gedruckt: »Nr. 1116. Holländisches Konversationsstück.« Dann weiter: »Nummer 1172. Dieses ist ein Pariser Fräulein und schreibt sich Matzareng. Sie ist eine Tochter vom Herrn Gardinal Matzareng.« Daß die pikante Schönheit mit dem unfranzösischen Namen und der bedenklichen Herkunft leider längst tot, und zwar eine Schönheit des 17. Jahrhunderts war, lehrte ein Blick auf ihre Toilette; auch hieß sie, wenn man ihren Namen aus dem Wörlitzer Französisch übersetzt, Mazarin, zudem war mir ja nicht unbekannt, welch skrupelloser Herr der Minister Ludwig XIV. selbst Königinnen, geschweige denn anderen Frauen gegenüber war, gleichwohl erschien mir eine so offizielle Frivolität unglaubwürdig, und ich fragte: »Fräulein, wissen Sie, was ein Kardinal ist?« – »Aber ja!« erwiderte sie triumphierend, »aus was die Gadholischen manichmal 'nen Babsten machen!« – »Stimmt! Aber die dürfen ja nicht heiraten!« Die liebe Unschuld wurde blutrot. »Aber Fräulein weiß ja alles!« Nun, das eine doch nicht genau; es ist die Nichte Mazarins, die schöne Maria Mancini ... Bei einem dritten Bilde sollte sich uns vollends Schreckliches, und zwar aus dem dessauischen Hofleben, enthüllen. »Nummer 1178. Dieses ist die allerscheenste Kabriele, welche der kute Heinrich mit dem Hühnchen im Döppchen dem Fürsten Joachim Ernst geschenkt hat. Wie er dies gedhan hat, war früher in einem Freßgoh an der Decke im Monument zu sehen, aber die Nässe hat leider dieses Freßgoh verdorben.« Nicht leider, sondern gottlob! dachte ich in ehrlicher, sittlicher Entrüstung, aber die Sache ist in Wahrheit gar nicht so schlimm. Es ist das Porträt der Gabrièle d' Estrèes, der blonden, schönen Picarde, die der »kute Heinrich mit dem Hühnchen im Döppchen« (denn Heinrich IV. wird ja allerdings wohl selbst gehabt haben, was er jedem Franzosen wünschte) so sehr geliebt hat. Dieses Porträt nun soll er nach einer Sage dem greisen Fürsten Joachim Ernst bei einer persönlichen Begegnung als Beweis seiner Huld geschenkt haben, und wie sehr sich die Dessauer Fürsten dadurch geehrt fühlten, erweist, daß noch der Schöpfer von Wörlitz den Schenkungsakt einer Verewigung am Gewölbe des Monument, eines kuriosen Baues, würdig hielt. Aber die Nässe hat das »Freßgoh« und die trockene Kritik die Sage beseitigt – nein, die Dessauer Fürsten waren im 16. Jahrhundert noch nicht so mächtig, als daß sie ein König von Frankreich des Bildes einer seiner Mätressen gewürdigt hätte, sondern ein Oranier genoß dies stolze Glück, und als sein Geschenk kam das Porträt hierher ... Es ist sehr oft reproduziert. Aber seinem Kunstwert dankt es seinen Ruf nicht, sondern der Schönheit des Originals. Daß das Porträt von dem sinnlichen Zauber des berückenden, dann so jung dahingeschiedenen Weibes eine Ahnung gibt, ist schließlich kein Verdienst des Künstlers, das hätte vielleicht selbst ein Stümper erreicht, wenn ihm das Glück zugefallen wäre, die »heißeste der Blondinen« malen zu dürfen ...

Als ich das Turmzimmer verlassen wollte, wo »das Fräulein Matzareng« und die »allerscheenste Kabriele« hängen, um in den Gang nach dem Rittersaal einzubiegen, trat mir das junge Mädchen mit flammenden Wangen in den Weg. »Lieber Herr«, bat sie, »nun müssen Sie warten; das Fräulein Kastellanin ist zum Kaffee bei der Frau Hofgärtnerin; ich habe gleich um sie geschickt; sie muß jeden Augenblick zurück sein. Denn ich habe ja erst seit drei Wochen diese Stellung, und jede Woche kann ich nur ein Zimmer lernen, das sind ja schrecklich schwere Sachen! – und mit den drei Zimmern, die ich schon kann, sind wir fertig.« Gottlob, dachte ich; laut aber tröstete ich das gute Mädchen, ich würde mir schon selbst weiterhelfen. Und da in diesem Gang die prächtigen Seestücke hängen, von denen ich bereits erzählt habe, so ging's mir zunächst sehr gut. Aber schon im Schlafzimmer des Herzogs Franz kam eine stattliche Dame hereingerauscht, das Fräulein Kastellanin. Ich bat sie, die Störung zu entschuldigen, was sie hoheitsvoll, aber mild mit einem Lächeln der Entsagung abwehrte: »Bitte, wenn Sie schon hier sind – was fingen Sie sonst mit den Bildern an! Ich wäre schon früher dagewesen, aber Minchen bei Hofgärtners hat's nicht gleich gemeldet.« Und dann begann sie: »Nummer 1309. Dieses Bild ist von dem oft sehr trefflichen und manchmal ganz unbefangenen Kaspar Netscher. Es stellt, wie Sie sehen, einen jungen Menschen mit Locken vor, aber es ist deshalb doch nicht gewiß, daß es ein englischer Prinz ist.« Dies Wissen, diese Würde ... unwillkürlich mußte ich an meinen Gönner denken, den Herrn Kastellan des Zerbster Schlosses, den Mann mit dem rosa Giftkleid und dem Leibspruch: »Dieses ist aufgeschrieben« ... »Fräulein Kastellanin«, sagte ich anerkennend, »was Sie da gesagt haben, ist nur zu wahr. Auch ich habe schon junge Menschen gekannt, die Locken trugen und doch keine englischen Prinzen waren, im Gegenteil! Aber wo haben Sie die schönen Worte über Kaspar Netscher her?« – »Dieses ist aufgeschrieben«, erwiderte sie, und wie dies Zauberwort erklang, da hätte ich ernsthafter Mann in den leidigen »besten Jahren« fast vor Freude einen Luftsprung gemacht. Übrigens glaubt meine hoffende Seele, wenn sie die innere Stimme nicht trügt, zu wissen, wo es »aufgeschrieben« ist – o Lübkes »Grundriß«, du kunsthistorisches Evangelium meiner hilflosen Jugend, so lebst du wenigstens noch hier in alter Schönheit und Tiefsinnigkeit fort! ... Nachdem ich noch einige ähnliche Beschreibungen genossen hatte, wollte ich in meiner Menschenfreundlichkeit auch meinem Gefährten etwas davon gönnen. »Fräulein Kastellanin«, sagte ich, »drüben ist noch ein Herr, der bestimmte Porträts sucht, der wird Sie nötig haben.« Sie stürzte ab, und ich hatte Muße, mir andächtig das schöne Triptychon Lucas Cranach des Älteren zu besehen, vielleicht dasjenige Werk des Meisters, in dem ihn sein Streben nach charakteristischer Kraft am wenigsten zum Häßlichen geführt hat. Aber noch stand ich vor diesem Bilde, als sie wiederkam: »Der Herr läßt Sie grüßen; er verzichtet zu Ihren Gunsten.« Da ergab ich mich in mein Schicksal; bei meinem heutigen Besuch hatte ich den Hosäus mit, und so genügte auf meine Bitte die stumme Begleitung der Stellvertreterin; vorgestern aber bekam ich noch viel Schönes mitgeteilt. So gleich vor dem Bilde, wo sie mich wieder ereilt hatte. »Wissen Sie auch, was das Bild vorstellt?« fragte sie. »Ich glaube ja!«, und ich benannte einige Heiligen und die Kurfürsten. Sie nickte, fragte dann aber streng: »Und wie heißt es?« Ich sah sie fragend an. »Dribbdichohn (U U ´—) heißt es!« rief sie triumphierend. »Warum?« – »Weil es so heißt! Dieses ist aufgeschrieben!« Ich gestehe, ich habe von da ab der Trefflichen nur noch halben Ohrs gelauscht; mir drängte sich ein Gedanke auf, dem ich nachhängen mußte, ein humaner Gedanke, aus der Fürsorge für die kommenden Geschlechter geboren. Diese stattliche Dame ist noch Fräulein, dachte ich; wenn der Herr Kastellan in Zerbst noch Junggeselle wäre, wenn sich diese beiden Menschen voll Wissen und Würde und Respekt vor dem Aufgeschriebenen zum Ehebunde zusammenfänden, welches Geschlecht unvergleichlicher Cicerones könnte dann in zwanzig, in dreißig Jahren die anhaltischen Kunstsammlungen ins rechte Licht setzen! ... Ja, lustig wär's, aber auch vorgestern schon war's im Gotischen Haus lustig genug, auf die Dauer zu lustig. Nur einige Minuten ertrug ich's noch, an einer Stätte über Kleinstes lächeln zu müssen, die ich aufgesucht hatte, mich andächtig dem Großen zu beugen, dann entfloh ich ins Freie.

Die wenigen Minuten, die ich vorgestern allein in der Umgebung des Gotischen Hauses verbrachte, waren so still und schön, wie ich sie von diesem verhasteten Tag nimmer erwartet hätte. Was ich sah, war so lieblich und hell – ich glaubte damals, ein Zufall habe mich mitten in den schönsten Teil des Parks geführt; seit heute weiß ich, daß Schochs Garten, zu dem diese Insel gehört, nur ebenso hübsch ist wie hier alles. Ich ging zunächst der Sonne nach, durch prächtige Wiesen, wie ich sie so smaragden kaum je habe schimmern sehen, an einzelnen hochstämmigen Bäumen vorbei; überall Luft, Licht, scheinbar endlose Weite: hier der breite Seespiegel, dort eine schräg zurückfliegende Laubwand, die wieder den Blick auf große Wiesen öffnet, der Pfad in mächtigem, nach der Hogarthschen Linie gezogenem Bogen – ein echt englisches Parkbild. Aber nun tritt der Pfad in dichtes Gehölz, und wie er ihn schon nach wenigen Sekunden verläßt, ist dem Blicke ein anderes, grundverschiedenes Bild gebreitet, um das trotz seines Ernstes ein Hauch des Südens weht: dicht am Seeufer eine Gruppe prächtiger Zypressen und Platanen, in ihrem Schatten eine graue, halbrunde Steingrotte, rechts und links der breite Seespiegel. Ich will zugeben, als ich näher kam, schwächte sich der Eindruck; nur die Bäume wirkten herrlich wie zuvor (schönere orientalische Platanen erinnere ich mich kaum gesehen zu haben), aber das Grottchen – das Nymphäum – etwas kindlich; nun, war's kein Bild vom italischen Strand mehr, so doch noch immer ein lebendig gewordenes Kupfer zu Wielands Werken um 1780, und auch das sieht man gern einmal greifbar vor sich ... Dann wieder der Ausblick auf die weite Wiese, eine andere dünne, dichte Gehölzwand und abermals ein ähnliches Bild, diesmal von Anbeginn nichts mehr als ein solches altes sauberes Kupfer, aber trotzdem aus der Ferne nett: der Dianenhain mit einer Statue aus Sandstein, vermutlich die Göttin; ich weiß es nicht, denn im Hain hörte eben ein Trupp Reisender den mythologischen Exkurs eines Wörlitzer Fremdenführers an, und ich entfloh. Stimmung ist ein Schmetterling, man muß ihn vor plumpen Händen schützen, sonst wird er zum zerdrückten Insekt, häßlich für uns und andere ... Ich ging wieder dem Gotischen Hause zu, an einem Altärchen vorbei, auf dem die Worte stehen: »WANDERER ACHTE NATUR UND KUNST UND SCHONE IHRE WERKE« – wieder ein hübsches Bildchen, eine Titelvignette, auf meiner Ausgabe von Heinses »Ardinghello oder die glückseligen Inseln« ist eine ähnliche zu finden. Endlich dicht am Hause abermals ein solches in sich geschlossenes Bild, das aber mehr ist als hübsch; es ist wirklich Stimmung darin, sanfte, elegische Stimmung; wer das komponiert hat, war ein Künstler, mit dem Zöpflein im Nacken – gewiß, aber ein Künstler; schöne Zedern und Zirbeln, hinter denen dunkle gewaltige Hemlockstannen aufragen, umgeben eine Grabstätte; über dem Eingang die Inschrift: »SEINER HAENDE FLEISS VERSCHOENERTE DIESE GEFILDE, / SANFT WALLE DORT SEIN GEIST WIE HIER DIESES GEBUESCH.« ... Auch die Inschrift schmiegt sich dem Ganzen an, alles klingt hier in einen Ton zusammen, eine feine, wehmütige, verzitternde Melodie ..., und der liebe Schmetterling umgaukelte mein Haupt und ließ seine Flügel farbig vor meinen Augen leuchten ... Da klang eine nervöse Stimme in mein Ohr: »Wissen Sie, wer hier begraben liegt? Herr Schoch samt Familie, der Hofgärtner. Ja, ja, Serenissimus wußte alles, sogar daß die Alten ihre Lieblingssklaven zuweilen in der Nähe ihrer eigenen Wohnstätten begruben, war ihm nicht unbekannt!« ... Nun ja, man kann es auch so ansehen, aber der arme Schmetterling war für heute tot, ganz tot, und es war gleichgültig, ob ich mit dem Gelehrten nun zum Bahnhof mitfuhr oder nicht. Und so half ich ihm, Friedchen aus sanftem, süßem, auf zwanzig Schritte Entfernung hörbarem Schlummer aufrütteln, und der Kahn stieß vom Lande.

Über den Weg ergab sich zwischen der Holden und dem Gelehrten ein Disput; »der Zug geht oft schon vor sechs«, warnte sie und wollte direkt zur Landestelle; er aber, der mit Recht an diese unerhörte Besonderheit der Wörlitzer Bahn schwerer glauben konnte als an die von Brehm bekundete Bequemlichkeit aller Nilpferde, bestand darauf, daß sie mindestens Schochs Garten umkreise, »denn«, erklärte er mir sehr liebenswürdig, »Sie sollen doch noch etwas von Wörlitz sehen.« Aber ich sah so nicht viel, und an das wenige hing er doch nur immer einen Witz, weil er nicht anders konnte. Zudem rückte der Uhrzeiger bedenklich vorwärts, und Friedchen nahm die Mahnung zu größerer Eile ungnädig auf. »Mein kuder Här«, sagte sie, »so dicke ich bin, so flinke bin ich, und 'ne faule Liese, wie sie der kottseeliche Här drüben zur Straf hat aushaun lassen, bin ich nich!« Sie deutete auf eine Grotte, die einen Augenblick links über der Seefläche sichtbar wurde; aus dem Plan der Gärten konnte ich erkennen, daß es die Grotte der Egeria war. »Das war aber eine Art Göttin«, sagte ich, »und keine ›faule Liese‹.« – »Ja, for die Fremden!« erwiderte Friedchen überlegen. »Da war Sie nämlich zu des kottseelichen Härn Lebzeiten hier in Wörlitz 'ne Liese, soweit 'n hübsches Mächen, aber faul und auch sonsten – na, Sie wissen schon! Und da ließ der Här diese faule Liese halb nackig und liegend als Ekeria in Stein machen, weil die auch so 'ne Person war!« – »Die Egeria?!« –»Na freulich! Bei Dache dhat sie nischt, und nachts gab sie 'nem jungen Windbeutel vom Hof beese Ratschläge, zum Beispiel wie er die Leute anpumpen sollte, und davon hieß er Pumpilius ...« Der Kahn kam in bedenkliches Schwanken ...

Aber diese Probe, wie sich das Volk in Wörlitz seine Denkmäler und die Mythologie menschlich nahe, sehr nahe bringt, sollte leider nicht das letzte sein, was ich aus Friedchens Munde hörte, sondern etwas Furchtbares – oh, hätt ich es nie vernommen ... Man erinnert sich meiner Wandnachbarn im Dessauer Hotel am Bahnhof, und wie Fritz in Wörlitz die Schifferin in die Wade zwickte und dann noch seine arme Clara durch den vielleicht begründeten, aber jedenfalls höchst unzarten Vorwurf der Wadenlosigkeit kränkte. Nun denn, die Schifferin war Friedchen – man glaube es mir, so was ersinnt keine Phantasie. Denn als der Gelehrte nochmals, die Uhr in der Hand, zur Eile drängte, da sagte Friedchen: »Na, sonst sind die Herrschaften kottlob besser mit mich zufrieden. Kestern fuhr ich 'n Ehepaar, da sagte der Herr: ›Fahren Sie sachte, liebes Friedchen, strengen Sie sich nich so an‹, und die Frau, 'ne Hopfenstange, ärjerte sich ...« Fritz, du hast die Grenzen der Menschheit überschritten, und wenn dich zur Vergeltung das Härteste träfe, ja, wenn Friedchen dein Werben erhören würde, selbst diese Strafe wäre nur gerecht.

Als wir die Landestelle erreichten, fehlten nur noch wenige Minuten auf sechs. »Wir müssen laufen«, sagte der Gelehrte, aber da traf er auf einen der wenigen starren Grundsätze meiner sonst lenksamen Natur: ich laufe niemals. So machte er sich allein auf den Weg; »kommen Sie nach!« rief er, »ich halte so lange den Zug zurück!« Und noch eh er weit um eine Ecke verschwand: »Verlassen Sie sich darauf!« Als ich diese Ecke erreichte, da verzitterten gerade die sechs Schläge vom schlanken Wörlitzer Kirchturm in der heißen, schweren Luft. Nun dampft er ab, dachte ich und ging gemächlich weiter. Aber als ich wieder um eine Ecke bog und nun den Bahnhof sah, stand der Zug noch da. Und wieder nach einigen Minuten konnte ich unterscheiden, wie der Stationschef und der Gelehrte vor dem Bahnhof standen und mir heftig mit ihren vier Armen telegraphierten. Da tat auch ich ein übriges und ging etwas rascher. Zehn Minuten nach sechs war ich im Coupé, und der Zug ging ab. »Wie haben Sie das angefangen?« rief ich. »Mein Geheimnis!« lachte der Gelehrte, und ich hab's wirklich nicht erfahren. Ich weiß nur: als ich gestern abend hier ankam, grüßten mich die Bahnbeamten so rätselhaft respektvoll, daß mich's wonneheiß überlief: Am Ende halten sie dich für einen Kommissionsrat, wie hierzulande so viele Lotteriekollekteure betitelt sind!

Auf der Rückfahrt, bei kühleren Lüften und im Rot der sinkenden Sonne, sah die bescheidene Landschaft hübscher aus als auf dem Hinweg, aber sicherlich nicht deshalb waren alle Gesichter in dem überfüllten Coupé heiter, und das fröhliche Gesumme wollte nicht verstummen; das war der Nachklang von Wörlitz. Auch heute fiel's mir im Park auf, und meine Dessauer Bekannten sagen, das sei immer so. Kein Wunder, zu allem übrigen ist Wörlitz auch sehr amüsant, und jeder Geschmack, vom feinsten bis zum leutseligsten, findet dort seine Rechnung ... Nur ein Antlitz war düster, und vielleicht fiel's mir zunächst nur des Gegensatzes wegen auf, dann aber bannte mir auch die Schönheit der Züge und eine Ähnlichkeit den Blick. Eine liebe junge Frau in tiefster Trauer, blond und der Gabrièle d'Estrées ähnlich, soweit ein keusches, ins tiefste Herz getroffenes Weib überhaupt an eine lachende Buhlerin erinnern kann. Ihr Gatte, ein schneidiger Herr mit kühnem Haby-Schnurrbart, sprach unablässig von all den heitern Sächelchen von Wörlitz; sie nickte zuweilen, so, um seinen guten Willen zu ehren, aber die tiefen Winkel des rührend blassen Mündchens hoben sich nicht, und der Blick blieb starr. Solche Trauer erfüllt ein so junges Weib nur um einen Verlust. Er erzählte von Interlaken, wo sie übermorgen sein würden, und dann könne sie nach Luzern, an den Genfer See, wohin sie wolle ... Mann, dachte ich, du meinst's ja gut. Aber sieh doch ein, wie vergeblich jetzt noch das alles ist. Und liefest du mit deinem armen jungen Weib die Welt zu Ende und zeigtest ihr alle irdischen Paradiese, vor ihrem Blick steht doch immer nur ein einziges Stücklein Erde: das kleine Grab auf dem Friedhof der Weltstadt, wo ihr einziges Kind so ganz allein schläft ...

Des Abends saßen der Kunsthistoriker und ich noch ein halbes Stündchen im Garten des »Goldenen Beutel« beisammen ... »Magdeburg, Halberstadt bis Halle«, entwickelte er sein morgiges Programm. »Und Sie?« Ich wolle in Dessau bleiben, sagte ich, die Sammlungen ansehen. »Und übermorgen wieder nach Wörlitz!« meinte er lächelnd. »Ich hab's Ihren Augen angesehen, der selige Schoch hat's Ihnen angetan. Jedoch ich warne Sie: alte Kunst ist ewig jung. Claude Lorrain, Ruisdael, aber veraltete Natur – brr! Diese strotzenden Bäume sind dennoch tot, auf diesem grünen Rasen liegt Staub. Und schreiben können Sie ohnehin nichts darüber! Glauben Sie, es ist Zufall, daß man nie was über Wörlitz liest? Es würde die Leute nur langweilen ...« Und fort war er, zum Zug nach Magdeburg. Ich aber blieb noch lange, sehr lange allein sitzen, und während ich immer noch eins trank unter den kühlen, rauschenden Bäumen, versank ich in tiefes Grübeln über ihn, über Wörlitz und über mich. »Sieh«, sagt ich zu mir, »dieser Mann hat ja nur für sein Teil recht. Wie der Schnecke ihr Haus, ist ihm ein Automobil neuester Konstruktion angewachsen, in dem muß er nun dahinsausen. Im Automobil kommt man auf seltsam verschnörkelten Wegen schlecht fort, und den stillen Hainen, dem feinen Muschelkies der Pfade tut wieder das Automobil weh. Dir aber ist – leider oder gottlob, aber so ist's – nichts dergleichen angewachsen, nicht einmal ein hohes Roß unter dem Gesäß; du bist von Natur ein bedächtiger Fußgänger, vielleicht verträgst du dich mit Wörlitz besser. Vielleicht – schon in den wenigen Minuten, da du es heute mit sehnender Seele belauschtest, kam dir flüsternde Antwort. Versuch's also, aber dann auch recht. Wer um das Tiefste eines Kunstwerks wirbt, um seine Seele, darf nichts wollen als dies und an nichts anderes denken, nicht an sich selbst und noch weniger an den Fahrplan und am wenigsten, ob sich dann ein Aufsatz daraus machen läßt. Und um ein Kunstwerk handelt sich's hier; das weißt du schon, oder richtiger, um eine ganze Galerie von Landschaften desselben Künstlers. Denn was die ›alte Kunst‹ und die ›veraltete Natur‹ betrifft, so darf dir dies schon jetzt nach dem wenigen, was du in Wörlitz gesehen hast, mehr als ein Schlagwort der Automobilästhetik, von der heute die Welt voll ist, denn als eine Wahrheit erscheinen – aber du wirst ja mehr, wirst alles sehen ... Bis dahin aber glaube dir, daß auch hier ein Künstler zu dir reden wird, und bereite dich vor, ihn mit Andacht und Verständnis anzuhören.« Wenn ich einem Dichter gegenüber in gleicher Lage bin, wenn ich einzelnes von ihm mit innerer Teilnahme gelesen habe und nun nach seiner Gesamtausgabe greifen will, so suche ich immer vorher einiges über sein Leben zu erfahren, über die Einflüsse, die ihn erhoben oder hinabzogen. Nie hat mir dies die Unbefangenheit des Genießens behindert; im Gegenteil, vieles ist mir erst dadurch ganz aufgegangen. Nur das Gewordene gilt, das Werk, wie es ist, entscheidet, aber kann man ahnen, wie es wurde, so geht's einen näher an. Und darum beschloß ich, es mit diesem fürstlichen Gartenkünstler ebenso zu halten.

Dies habe ich denn auch getan, so gut es gehen wollte. Auf der Dessauer Bibliothek ließ ich mir gestern vormittags einiges über Wörlitz und seinen Schöpfer geben; viel Treffliches war nicht darunter. Denn so unglaublich es klingen mag, eine ordentliche Biographie des Herzogs Franz haben seine Nachfolger bis heute nicht veranlaßt; ein in seiner Art wirklich einzig dastehender Fall ... Donnerwetter, dafür wäre ja, da es sich um einen so würdigen und dabei höchst interessanten Fürsten handelt, ein bedeutender Historiker auch ohne Subvention zu gewinnen, es würde also nicht einmal etwas kosten, nur denken müßte man daran ... Auch die Literatur über Wörlitz scheint mir nach flüchtiger Durchsicht qualitativ nicht reich. Nun, ich suchte nur Tatsachen, überschlug absichtlich die Urteile; was ich brauchte, fand ich notdürftig in der Schrift von Propst Reil über den Herzog (1845), von Rode über Wörlitz (1818). Gestern abend aber fuhr ich mit dem letzten Zuge von Dessau hierher, übernachtete hier und war heute von der roten Frühe bis zum letzten Tagesschimmer in den Gärten – die Mahlzeiten natürlich abgerechnet, denn ich habe ja keine Spezialmission.

Und das will ich auch gleich im Ernst wiederholt haben. Dieser Aufsatz soll keine Lücke in der Literatur unserer Tage ausfüllen. Diese Lücke besteht freilich; es ist wirklich ein Rätsel, warum wir heute über entlegene Täler Norwegens mehr hören als über diese in ihrer Art einzige Schöpfung von höchstem kulturgeschichtlichen und hohem künstlerischen Wert. Aber dazu würde die erschöpfende, systematische Arbeit eines Kultur-, eines Kunsthistorikers und eines Botanikers gehören; die Mitwirkung eines Literarhistorikers, eines Archäologen und eines Ethnographen wäre zudem auch fast unentbehrlich. Denn dies Wörlitz mit seinen vier Gärten, seinen sieben gewaltigen Kunst- und wissenschaftlichen Sammlungen ist ja eine Welt für sich, ist ja tatsächlich das Spiegelbild, der Inbegriff eines reichen, nach allen Richtungen tapfer ringenden oder doch rührend tastenden Jahrhunderts. Ich aber bin nur ein Schriftsteller, der nie vergißt, wie winzig klein der Kreis ist, innerhalt dessen er etwas weiß und kann, und wie ungeheuer groß alles andere. Und darum will dieser Aufsatz nichts sein als ein Spiegelbild meiner persönlichen Eindrücke an den beiden Tagen, aber wenn er nur ein Teilchen von der Erbauung der Freude und dem Spaß widerspiegelt, die ich da hatte, so ist er doch in seiner Art, die keine Ansprüche erheben darf und keine erhebt, nicht ganz unberechtigt. Ich erzähle also von meinem zweiten Tage, wie ich's vom ersten getan habe.

Natürlich lag mir zunächst daran, mir die Pläne und den gestern zusammengerafften Notizenkram durch die Anschauung zu beleben, und so fuhr ich heute in aller Gottesfrühe in einem Wägelchen, das ich mir schon gestern abend bestellt hatte, rings um den Park. Dies schien mir zur Erreichung meiner Absicht ein angenehmes und zweckdienliches Mittel, aber ungewöhnlich war es wohl; das erkannte ich schon gestern abend an den verblüfften Mienen der Hotelleute; nun aber, bei der Ausfahrt, wurde ich wieder daran erinnert, wie Unerhörtes ich plante. Die von den Anlagen ausgefüllte Fläche hat die Form eines unregelmäßigen Vierecks; die längste, die Nordseite, wird durch den Elbdeich, die kürzeste, die Südseite, durch die Straßen von Wörlitz, die Westseite durch die Chaussee nach Coswig, die Ostseite durch eine von Wörlitz nach Gehöften der Elbauen auslaufende Feldstraße gebildet. Da nun die Gasthöfe im Süden liegen, so hielt ich's für gleich, ob wir nach Westen oder Osten ausfuhren, und befahl die Richtung nach Coswig. Der Kutscher, ein junger Mensch mit drolligen Pausbacken, glotzte mich aus seinen wasserblauen Augen sprachlos an. »Was ist's denn?« fragte ich. »Sollen wir lieber umgekehrt gegen Riesigk zu beginnen?« – »Nee!« – »Dann vorwärts!« Wir fuhren aus, am See entlang, über dem noch die dichten Nebel wogten, am Eisenhart vorbei, dessen verwitterndes Erz im Widerschein der roten Sonne magisch glühte, während die prächtigen Eichen- und Tulpenbäume des Neumarkischen Gartens wie in Flammen standen. Es war ein schönes Bild, und der Garten erschien in diesem Licht so fremdartig, daß ich, der ich ihn vorgestern nur bei Nachmittagssonne und von der Seeseite gesehen hatte, den Kutscher fragte, wie diese Partie heiße. Er wandte sich nach mir um, besah mich wieder nachdenklich eine lange Weile und sagte dann: »Der Neumärkische Garten.« (So sagen alle Wörlitzer, sogar die Pläne der Hotels haben diesen Umlaut.) »Woher kommt der Name?« fragte ich, obwohl ich's wußte. »Weil in die Neumark lauter solche Gärten sind!« Man sieht, die Wörlitzer überschätzen die Gartenkunst zwischen Friedeberg und Arnswalde und – ach, was ist der Ruhm! Neumark hieß ein Gärtner des Herzogs; der liebenswürdige Fürst ehrte ihn wie Schoch, indem er seinen Namen für ewige Zeiten mit seiner Schöpfung verknüpfte. Indes, Neumark war nur ein Gärtner, aber in der nach Johann Gabriel Seidl genannten Seidlgasse zu Wien erhielt ich auf meine Frage die Antwort: »Weil ja da vier Wirtshäuser sind und also viele Seidel getrunken werden!«, und in der (übrigens damals noch unbebauten) Fontanestraße in Rixdorf erwiderte mir ein Arbeiter: »Weil hier mal 'ne Fontane herkommen soll – 'n Springbrunnen«, half er meinen Sprachkenntnissen nach. »Aber«, fügte er bei, »bis die Rixdorfer was machen, kann man lang warten!«, und in diesem besonderen Falle hat er gewiß recht ... Aber ich habe ja noch zu erzählen, wie mich mein Kutscher ehrte. Als er mit dem heimlichen Kopfschütteln und Anschielen gar nicht enden wollte, zog ich eine Zigarre hervor. »Hier, Willem, aber nun ehrlich: was wundert Sie so an mir?« Er grinste verlegen. »Weil Sie so kutt deutsch räden, lieber Här, akk'rat wie ein Deutscher!« – »Aber ich bin ja kein Ausländer!« – »Im Gasthof sachten se: 'n Engländer!« Mir ging ein Licht auf. »Dort sagten sie wohl, ich müßte ein verdrehter Engländer sein, weil ich sonst nicht rings um die Gärten fahren wollte?« Er nickte, »'s dhut's ja ooch sonsten keener!«

Nun, verrückt komme ich mir selbst dieser Fahrt wegen auch jetzt nicht vor. Sie erfüllte meinen Zweck und war auch, so in der Frühe eines herrlichen Sommertags, an sich vergnüglich. Freilich, als wir die Westgrenze entlang, die schnurgerade Chaussee gegen die Coswiger Elbfähre zu trabten, war die nächste Umgebung nicht eben schön. Links Acker und Heide, aber auch auf der rechten, der Parkseite, große Getreidefelder. Da hatte ich gleich eine Probe von dem künstlerischen Grundsatz des Herzogs: den Park nirgendwo abzugrenzen, ihn möglichst zwanglos in die Umgebung verlaufen zu lassen, während sein Rivale Pückler-Muskau ebenso starr das Gegenteil durchführte. Als ich gestern Rodes Verteidigung des Wörlitzer Prinzips überflog, dachte ich, es komme doch wohl auf die Gegend an; in reizloser Landschaft ist der stark markierte Abschluß vorzuziehen, und nur in reizvoller, die das Material dazu bietet, der allmähliche Übergang in die freie Natur. Was ich vorgestern von der Umgebung von Wörlitz gesehen hatte, weckte mir die sehr naheliegende Befürchtung, daß hier ein an sich bestechendes ästhetisches Prinzip in der Ausführung gescheitert sei. Dies Getreidefeld sprach nicht dagegen, und ich habe den gleichen Eindruck auf der ganzen Rundfahrt gehabt: der Herzog hat auf die vorgeschobenen Büsche, Baumgruppen und umsäumten Sümpfe unendlich viel Kraft, Geld und Zeit gewendet und doch Hübsches nie, Passables selten und zumeist das Gegenteil seiner Absicht erreicht. Daß einige anders denken, kann mich, der ich immer nur meinen persönlichen Eindruck geben will, nicht hindern, dies zu sagen. Diese Vorposten scheinen mir wie Schönheitspflästerchen, und die heben nur ein hübsches Gesicht; ein unhübsches machen sie erst recht häßlich. Jedoch auch auf einen Grundzug der ganzen Anlage weist uns schon dies Detail hin: Herzog Franz war ein echter Künstler von nicht eben eng begrenztem Können, aber eigensinnig war er und hatte – wie die meisten Talente seiner Zeit auf allen Gebieten – viel zu viel Theorie im Leibe.

Freilich, in der roten Frühe ist selbst ein Getreidefeld schön, und vollends hoben an seiner Grenze die Pinien und Platanen in Schochs Garten ihre Wipfel wie Flammen in den Himmel; so rot war noch der Ton in den Lüften, daß das große rote Backsteinhaus, auf das wir zufuhren, wie gelb erschien. Es ist die Hofgärtnerei, und da die Gewächshäuser gerühmt werden, stieg ich ab, sie zu besichtigen. Aber im Hofe fand ich nur eine mürrische junge Magd, die Geschirr wusch, und die bedeutete mich, die Gehilfen seien schon weg, der Herr Hofgärtner noch nicht zu sprechen, auch würden die Treibhäuser nicht jedem gezeigt. So ging ich denn auf eigene Faust weiter, guckte durch die Glaswände und bedauerte, so wenig von Botanik zu wissen. Denn wohl hatte ich immerhin einige Freude, hier an stolz und kühn geschwungenen Blättern, dort an einer Blüte von seltsamer Farbenpracht, aber nur so ein bißchen Freude, rechten Genuß hat man nur von dem, was man versteht, wofür der Blick geschärft ist. Besser schon ging's mir zwischen den Blumenbeeten, da waren doch meist alte Bekannte beisammen, freilich im Feiertagsstaat, während man sie in den gewöhnlichen Gärten nur im Werktagskleid sieht; welch herrliche Rosen und Geranien, Lilien und Narzissen! Auch eine hübsche Spielerei ist da zu sehen: ein ganzes bunt schimmerndes, betäubend duftendes Blumentheaterchen. Mitten zwischen den heimischen Pflanzen stand eine Kaktee von unerhörter Seltsamkeit der Formen; ein alter Gärtnerknecht arbeitete dicht daneben, ich fragte ihn nach dem Namen der Fremden. »Das kann ich Sie leider nich sagen«, erwiderte der gute Alte, »aber«, fügte er wichtig bei, »sie hat 'nen lateinischen Namen, dadruff kännen Sie sich verlassen, lieber Här!« Ich zwang mich zu einer erstaunten Miene. »Warum einen lateinischen?« – »Weil sie doch«, erläuterte er, »aus Asien is, wo die Neger wohnen!« Nun wußte ich's und konnte weiter zum Floratempel gehen.

Das ist ein nettes, freundliches Tempelchen, wohl irgendeinem spätrömischen Vorbild und sicherlich en miniature nachgebildet; mit solchen Nippes gaben sich die Römer nicht ab. Indes, auch die Umgebung ist leidlich dazu abgetönt, und so gibt das Ganze wieder ein sauberes Kupfer, pseudoantik wie Wielands »Musarion«. Auch im Innern bin ich gewesen. Die untere Halle ist gähnend leer: der Herzog starb, eh er sie füllen und dekorieren konnte. Die obere Halle erreicht man auf einem künstlichen Felsenwege. Hu! welch schauerliche Felsen; ich hielt sie für Schweizerkäse, aber es sind wirklich Granitblöcke, die man in Fünfkilopaketen versenden könnte. Auch die fast lebensgroße »restaurierte« Statue der Flora, die in der Halle aufgestellt ist, zwingt uns ein Lächeln ab: ein Arm ist antik, alles andere neu, und weiß Gott, wozu dieser eine echte Arm gehörte ... Wie erklärt sich diese arge Geschmacklosigkeit? Der Herzog sei, sagte ich schon, im Gefühl für die Antike trotz engen Anschlusses an Winckelmann nicht ganz sicher gewesen; daneben aber wurde ihm bei dieser wie einigen anderen, freilich nicht gleich argen »Restaurierungen«, denen wir im Schloß begegnen werden, gerade die Pietät für den großen Stendaler zum Unheil. Als Winckelmann 1768, von dem Bildhauer Cavaceppi begleitet, die Heimreise nach Deutschland antrat, war Wörlitz beider Hauptziel; in Wien kehrte Winckelmann bekanntlich in einem Anfall dunkler Schwermut um und endete dann in Triest durch das Messer eines Banditen; so kam Cavaceppi allein nach Wörlitz, vom Herzog als das lebendige Vermächtnis des über alles verehrten Freundes mit offenen Armen empfangen, durch größtes Vertrauen ausgezeichnet. Aber sei's nun, daß es Cavaceppi an künstlerischem Ernst oder dann, nach Winckelmanns Tode, an der Führung fehlte, er hat sich in Wörlitz durch sonderbare Denkmäler verewigt, unter denen diese »Flora« das sonderbarste ist ... Da sind die Wandmalereien des Tempelchens noch vorzuziehen, ganz brave Arbeiten im Zopfstil. Das relativ Beste aber in dieser kleinsten der sieben Wörlitzer Sammlungen sind die Blumenstücke eines sonst kaum genannten Malers, Johann Drechsler.

Auf dem Rückweg zu meinem Wagen kam ich wieder an der Magd des Hofgärtners vorbei; träge und verdrossen spülte sie nun ein großes Kaffeeservice. Strafe muß sein, dachte ich, und trat auf sie zu. »Minchen«, sagte ich vorwurfsvoll, »vorgestern war der Kaffee bei der Frau Hofgärtnerin, und heute spülen Sie die Tassen! Minchen, das kann mir nicht gefallen!« Puterrot, mit weit aufgerissenen Augen und offenem Munde starrte das Mädchen den wildfremden Mann an, der ihren Namen und sogar ihre Sünden kannte. Noch als ich weiterfuhr, stand sie auf demselben Fleck ... Ich fürchte, ich werde in Wörlitz nicht bloß als Kommissionsrat und als verrückter Engländer, sondern auch als Hexenmeister fortleben.

An der Stelle, wo die Coswiger Chaussee den Elbdeich durchschneidet, stieg ich aus, um den Deich, die Nordgrenze des Parks, zu begehen. Der mit schattigen Bäumen bepflanzte, mit allerlei hübschen oder doch amüsanten Bauten geschmückte Deich ist an sich ein angenehmer Spazierweg, aber das Beste daran ist die Galerie schöner, abwechselnd weiter und begrenzter und immer malerischer Bilder, die er bietet. Dies gilt von der Park-, also bei meinem Gang der rechten Seite; zur Linken sieht man freilich nur die sumpfigen Elbauen mit den »Schönheitspflästerchen«, aber darüber hinaus die dunklen Forste am linken Stromufer. Zur Rechten jedoch – da hat man wirklich immer, immer, bei jedem Schritt und Blick seine Freude: hier eine heitere, dort eine düstere, dort wieder eine mild-ernste Landschaft, oder hier ein kleiner See, dort nur ein gewundener Kanal, und zwischendurch immer der ganze Park und See, an einzelnen Punkten darüber hinaus ein weites Stück Ebene mit ihren Wäldern, Heiden und Dörfern bis Oranienbaum hin. Überflüssig zu sagen, daß all diese Bilder und Bildchen Erzeugnisse der Kunst sind, und welcher fleißigen, mit unsäglicher Geduld und Hingebung geübten, mit Wissen und Erfahrung gepaarten Kunst! Natürlich dient dem Endzweck, dem Wanderer hier oben die da unten geformten Bilder so zu zeigen, wie sie am malerischsten wirken, jede Fußbreit des Deichs; kein Zoll seiner scheinbar willkürlichen Windungen, seiner Erhöhungen und Senkungen ist zufällig und absichtslos; auch jedes hohe Gebüsch an seinen Rändern, das die Aussicht ganz hemmt, jedes niedrigere, das sie nur unter Verdeckung des nächsten Vordergrundes gestattet, ja jeder einzelne Baum dient dem einen Zweck. Aber Hand in Hand mit dieser Nebenarbeit mußte ja die Hauptsache vollbracht werden: das Stellen und Formen der Bilder, und sie mußten ja auch jedes an sich, da unten besehen, schön sein.

Mit dem Gartenkünstler verglichen hat's jeder andere leicht; zwar nicht er allein gestaltet seine Werke aus lebendem Material, das zunächst den Gesetzen seiner eigenen Triebkraft folgen muß, das trifft auch vom Theaterregisseur zu – aber er allein kann nicht bloß während des Schaffens, sondern lange Jahre, nachdem er geschaffen, nur kraft seiner Phantasie, seines Wissens ahnen, wie sein Werk aussehen wird; zunächst sind ja die Bäume nur Setzlinge. Was alles muß er vorausberechnen: den Raum für jeden einzelnen Baum, die Höhe, die er erreichen, die Form, die er annehmen, die Farbenwirkung, die er erzielen wird – und jeder Baum ist ein lebendiges Wesen; der eine wächst so, der andere anders. Aber nun sind ja überall Gruppen zu pflanzen, zumeist Gruppen verschiedener Bäume; wie werden sich ihre Wurzeln unter der Erde miteinander vertragen, wie ihre Form, ihre Farbe, ihre Höhe über der Erde! Und wie eingeengt ist die künstlerische Freiheit seines Schaffens durch die Eigenart des Bodens und des Klimas und die tausend Zufälle, die den Untergang oder, was fast ebenso schlimm ist, das übermäßige Gedeihen eines Setzlings bewirken! Dazu zwei Besonderheiten von Wörlitz. Erstlich die starke Verwendung fremder, bis dahin in Europa oder doch auf dem Kontinent nicht kultivierter Baumarten (zum Beispiel von 117 Spezies Nadelhölzern etwa zwei Drittel fremde!); dies sichert den Gärten ihren breiten Platz in der Geschichte der Botanik, ihre ungemeine wirtschaftliche Bedeutung für die Entwickelung des Gartenbaus in Deutschland, aber auch die malerische Wirkung dieser Bilder, namentlich die überaus feine Nuancierung der Farben in Laub und Nadel, wird hauptsächlich dadurch bewirkt – und der Herzog konnte dies Material, als er es verwandte, nur aus Abbildungen kennen! Ferner aber: jeder Gartenkünstler, der über kupiertes Terrain verfügt oder sich ein solches künstlich schafft, strebt der doppelten Aufgabe nach, die einzelnen Teile an sich schön und von bestimmten Punkten schön zu gestalten, aber das sind dann eben einzelne Aussichtspunkte; hier ist's ein Aussichtsweg von zwei Kilometer Länge; das hat meines Wissens kein anderer versucht. Kurz, diese Bilder, nebenbei bemerkt wunderbar gepflegt und erhalten, sind zweifellos eine Lebensarbeit, und tatsächlich ist ein halbes Jahrhundert (1768-1817) unausgesetzt daran geschaffen worden.

Aber sind sie auch Kunstwerke? Ich will die Frage, ob sie es sein können, nicht erst des weiteren erörtern, nicht weil mir die Theorie zu tief, sondern weil sie mir zu seicht ist. Sagt mir jemand: »Mir ist ein Wald lieber als ein Park«, so verstehe ich ihn und muß sogar wahrheitsgemäß antworten: »Mir auch!«, sagt er mir aber: »Kein Parkbild kann künstlerisch wirken, denn es ist stilisierte Natur«, so muß ich erwidern: »Liebster, dann negierst du alle Kunst, denn alle Kunst ist mehr oder minder stilisierte Natur. Dann mußt du dir auch deine Konzerte nur von den lieben Vögelein vorpfeifen, dein Theater von den Leuten um dich her vormachen lassen.« Widersinnig aber wäre auch der Grundsatz: unmoderne Landschaften auf Leinwand können Kunst und ewig jung, aber unmoderne Landschaften aus wirklichem Baum und Rasen müssen »veraltete Natur« sein! ... Nur so also liegt hier die Frage: Sind diese Wörlitzer Bilder von künstlerischem Wert? Und ich antworte: Ja, meines Erachtens viele von ihnen, mehrere wieder nicht.

Mancherlei freilich wird man dabei berücksichtigen müssen. Vor allem das Allgemeine. Eine derartige plastische Landschaft wird nie so künstlerisch rein wirken wie die gemalte. Der Maler taucht seine Landschaft in ein bestimmtes Licht und malt den Himmel dazu; dem Gartenkünstler beschert das Wetter wechselvolle, auch ungünstige Beleuchtung. Der Maler kann störende Zufälligkeiten des Wachstums und der Farbe beseitigen, der Gartenkünstler nicht. Endlich aber: leicht ist für die Leinwand, schwer für das natürliche Parkbild der günstigste Standpunkt zu finden; der Gartenkünstler muß den Beschauer durch leise oder deutliche Winke auf diesen Punkt hinlenken. Nebenbei bemerkt, gerade in der Erfindung solcher leiser Mittel – scheinbar absichtslos verstreutes Buschwerk, eine auffallend geformte Baumgruppe, die das Auge bannen, eine zurückfliegende Laubwand, die es ins Weite verlocken soll usw. – war der Herzog bewunderungswürdig geschickt, und selbst gröbere Mittel, wie Ruhebänke, hat er angewendet, trotzdem kann der Beschauer oft nur suchend den richtigen Standpunkt finden.

Aber auch Besonderes ist hier zu erwägen, wenn man gerecht urteilen will. Das Terrain war für einen Park wenig geeignet. Auch mußte der Herzog sein eigener Pfadfinder sein; es gab, als er 1768 zu schaffen begann, noch keinen Park in Deutschland, dessen Schöpfer künstlerische Absichten verwirklicht hätte. Endlich aber: diese Bilder sind im Laufe eines halben Jahrhunderts entstanden, das Revolutionen im Gartenbau brachte, den Untergang des französischen, den Sieg des englischen Stils; einige hat ein ungestümer, schaffenskräftiger junger Mann ohne Erfahrung gestaltet, andere ein erfahrener Greis, dessen Schaffenskraft erlahmt war. Wie könnten sie gleichmäßig sein?

Auch wer dies alles nicht erwägt, wird schon auf dem Deichweg empfinden, daß hier ein Künstler zu ihm rede, aber selbst für den, der's voll anschlägt, bleibt noch genug des Rätselhaften übrig. Neben feinsten Bildern so viel Künstelei, ja kleinliche Tändelei! Was soll dies Kinderspielzeug von Felsen und Klippen? Und was selbst im Guten der Mangel an Maß? Die Natur darf alles; berauscht sie binnen einer Wegstunde unser Auge mit einer Welt voll wechselvoller Schönheit, so scheint's uns herrlich; die Häufung von Gartenbildern ermüdet; heute abend habe ich die Wörlitzer Rübenäcker gern angesehen; die waren wenigstens nicht malerisch ... Woran fehlt es hier? An rechtem Einblick in das Wesen der Natur und dieser Kunst? Gewiß nicht! Ein besseres Programm hat nie ein Gartenkünstler aufgestellt, als das dieser Fürst aussprach: »Man soll die Natur in ihren idyllischen Bildungen nachahmen und sie sich zum Muster nehmen, wie sie die Wälder mit ihren stillen Schatten schafft, die Waldränder mit blühenden Gesträuchen ziert, ihre Bäume gruppiert, ihre Flächen und Wiesen in Blumenteppiche verwandelt und ihre Gewässer in Seen, Flüsse und Bäche verteilt.« Und diesen Worten entspricht ja auch zumeist die Tat! Fast überall im einzelnen, häufig in dem Gesamtbilde redliche, tiefe Ehrfurcht vor der Natur. Von »Daumschrauben« kann hier wahrlich keine Rede sein; die paar verschnittenen Taxushecken abgerechnet, die der Herzog zudem gar nicht schuf, sondern nur als Überbleibsel eines alten französischen Gartens beließ, ist nirgendwo auch nur ein Zweig verstümmelt; jeder Baum, jeder Strauch steht in dem Erdreich, in dem Licht, das für ihn am besten taugt. Und wenn Herzog Franz – um ein einziges, sein beliebtestes Kunstmittel zu nennen – den Kern einer Gruppe aus dunklen Farben und derben Formen gestaltet, gegen den Rand hin aber die Bäume immer feiner und heller wählt, so widerspricht dies der Natur nicht, es ist ihr vielmehr abgelauscht. Wie stimmen dazu die Felschen, die Effektchen, wie die Tempelchen und Ruinchen? Tribute an den Geschmack der Zeit? Ein wirklicher Künstler wird ihm sonst in solchem Maß nicht untertan. Hier muß, sagt man sich, noch ein anderes Element mitgewirkt haben, das die reine, künstlerische Intention immer wieder störend durchkreuzte.

Die Bauwerke am Deich steigern diesen Eindruck; keines wirkt künstlerisch, einige komisch, andere lassen kalt. So gleich die erste Anlage, auf die man von Westen her trifft, die Einsiedelei, ein Grottchen, ein paar dunkle Gängchen. Hier brachten sich noch Lavater und Matthisson in feierliche Stimmung; wir können es nicht mehr. »Einsamkeit und Stille führen zu Gott, wie einiges Unglück zum Guten führt« – die Inschrift am Rotundchen ist in ihrer nüchternen Bedächtigkeit für das Ganze bezeichnend: »einiges Unglück!« Als Elisa von der Recke, die eine recht schwatzhafte und zerfahrene Dame war, hier zu Besuch bei ihrer Freundin, der Herzogin Luise, verweilte, schickte sie der Herzog – »Wenn doch die gute Elisa einmal bei sich einkehren und stiller werden wollte!« klingt ein Stoßseufzer aus jener Zeit – oft zur Kur in die Einsiedelei; sie aber wandelte mit ihrem Tiedge lieber zum nahen Venustempel, was man ihr allerdings eigentlich nicht verübeln kann. Es ist eine offene Säulenhalle am Deich, die eine nun ganz kränklich aussehende Nachbildung der mediceischen Venus enthält. Dann folgen die Luisenklippen; sie sehen wie Morcheln aus, die eine Köchin phantastisch zerschnitten hat; eine Riesenköchin brauchte es nicht zu sein. Mit drei Schritten hatte ich die ganze schauerliche Romantik hinter mir, sah mir dann aber bald nicht ohne Bangen wieder ein Gebirge von etwa zehn Fuß Höhe entgegenwachsen. Doch erwies es sich, als ich davor stand, etwa doppelt so hoch: das Monument. »MEINEN VORFAHREN FRANZ« lautet die Inschrift. Eine aus Granitsteinen geformte Höhle, durch Fenster in der Decke erleuchtet, enthält sie hübsche Hautreliefbüsten der Dessauer Fürsten, Vasen und Wandgemälde im pseudoantiken Stil. Daß die Nässe das »Freßgoh« an der Decke, die Verschenkung der »allerscheensten Kabriele«, unkenntlich gemacht habe, konnte ich nun mit eigenen Augen sehen. Bedeutender ist der künstlerische Inhalt eines anderen Baus am Deich, des Pantheon, eines Rundbaus mit Säulenhalle. Es enthält die vom Herzog in Rom angekauften, durch Abgüsse und Abbildungen bekannten zehn Statuen: Apoll und die neun Musen, Arbeiten der Antike, eine (Urania, Melpomene, Kalliope) sehr schön, alle sorgsam und geschickt restauriert; am Apoll freilich ist nur – ein Stück der Leier alt. Sammler von heute werden mit Neid vernehmen, daß die zehn Statuen einschließlich der Restaurierung 1500 Scudi kosteten! Daneben andere spätrömische Büsten, zahllose Bruchstücke; es ist erstaunlich, wieviel der Herzog auch davon zusammengebracht hat.

An der Stelle, wo sich Elbdeich und Feldstraße schneiden, erwartete mich mein Willem; die Ostgrenze befuhr ich wieder. Abermals hübsche Veduten, aber bescheidener; viel Äcker, mitten drin ein italienisches Bauernhaus – hier im Osten sollte der Übergang von der Horti- zur Agrikultur verbildlicht werden, der Tod nahm dem greisen Schöpfer Setzling und Richtmaß aus der Hand. Aber warum sollte auch nach seinem Plan der Westen reicher und farbiger sein als der Osten, warum trifft dies auch bei den meisten anderen Städte- und Parkanlagen zu? Es scheint ein Naturgesetz, aber ein Grund ist nicht zu ergrübeln ...

Nun die Südgrenze, die armseligen Gäßchen von Wörlitz und die Rundfahrt war beendet. Sie hatte mir neben so vielem Schönen und Seltsamen ein Bild der Gestaltung, eine Ahnung vom Wesen dieser Anlagen geboten, nebenbei auch die Frage beantwortet, warum sich ihr Umfang so verblüffend verschieden angegeben findet, 15, 12, ja 8 Kilometer, eben je nachdem die Vorposten, die »Schönheitspflästerchen«, einbezogen werden oder nicht. Je nach dieser Auffassung wird die Gesamtfläche größer geschätzt als die des Berliner Tiergartens oder gleich groß (250 Hektar) oder auch kleiner. Aber auf die mir unendlich wichtigere Frage »Wie erklären sich die ungeheuren Widersprüche im Geiste dieser Schöpfung?« hatte ich noch keine Antwort.

»Du mußt mehr, mußt alles sehen«, wiederholte ich mir und trat die Nachenfahrt an. Es ist eine wahrhaft erquickliche Fahrt, namentlich wenn man, wie ich heute, von keinem Friedchen, sondern von einem rüstigen Ruderer geführt wird. Hier hat der überschwengliche Rode recht: ein empfänglicher Mensch wird das nie vergessen. Das Seebecken durchschneidet die Anlagen etwa in ihrer Mitte von Westen nach Osten; schmalere Arme gehen nach Süden und Norden ab, zahlreiche Kanäle durchqueren alle Gärten. Schon ein Blick auf den Plan läßt den dreifachen Zweck erkennen: die Landschaft zu beleben, die unzähligen Bauten leicht zugänglich zu machen, die Gärten zu bewässern – wie trefflich dies alles erreicht ist, lehrt erst die Fahrt. Nebenbei bemerkt, der See, ein abgedämmter Elbarm, hat wenig Zu- und Abfluß, doch hat selbst an glühheißen Augusttagen kein anderer Sinn zu leiden, während das Auge schwelgt; es ist also auch mit dem »Tümpel« nicht so schlimm. Und wie Schönes kann man da genießen! Mit Überraschung wurde ich gewahr, daß dem Park mit einiger Mühe – man muß eben die Absichten des Künstlers zu erraten suchen und den Ruderer ein wenig dirigieren – von der Seeseite weitaus die schönsten Bilder abzugewinnen sind, schönere als vom Deichweg, schönere als ich vorgestern in Schochs Garten gesehen. Also auch dieser dritte Gesichtspunkt war bei der Anlage maßgebend! Welche Mühe, welche Kunst, welche – Künstelei! Ja, auch dies mußte ich mir zuweilen sagen, namentlich wenn der Nachen nah dem Lande war und die – ich finde kein anderes Wort – raffinierten Mittel zur Erzielung des Effekts deutlich zu erkennen, zu zergliedern waren. Aber, mußte ich mir selbst vorhalten, ist das nicht ein Unrecht gegen den Künstler? Bedarf nicht jedes Bild einer Perspektive? Freilich, der Natur darfst du dich straflos nähern, sie bleibt immer einfach und groß und schön. Aber du bist ja in einem Park, genieße, was er dir bieten kann. Und ich ließ den Nachen weiter vom Ufer halten. Da war wieder alles schön, selbst die Bauten störten nicht mehr, und zuweilen erhöhten sie sogar den Reiz des Bildes. So, als wir am heiter-stillen Schlößchen mit den korinthischen Säulen mitten im hellen Park vorbeiglitten, während zur Linken die Halle des Pantheon grüßte und vor uns ein Grottenbau mit weiß schimmernden Statuen der Flut entstieg – wie soll ich schildern, wie mir da zumut war?! Kein Hauch der Antike mehr streifte meine Stirn, wie da ich vorgestern das Nymphäum zum ersten Mal erblickt; dazu hatte ich diese Tempelchen nun zu nahe gesehen, und ich träumte nicht mehr von Göttern und Hirten. Oder doch, aber anders, als da ich in Hellas wandeln durfte und am sizilischen Strand – so wie ich ihrer gedenke, wenn ich im Wieland lese. Sie sind's, und sie sind's wieder nicht, es ist alles fröhlicher Mummenschanz, das sind keine Götter, auch keine Griechen, sondern diesen klugen Männern fällt auf die Chlamys das gepuderte Zöpfchen im Nacken nieder, und aus dem Himation, in das sich diese anmutigen Frauen gehüllt, blickt ein pikantes Gesichtchen mit Schönheitspflästerchen und ein wenig Rouge auf den Wangen ... Ja, dich grüße ich, du liebes, weises, graziöses Jahrhundert ...

Lang blieb mir die seltsame Stimmung ungestört, denn erst am Nachmittag kommt der Menschenstrom aus Dessau; auf dem See, in den Gärten begegnete mir kaum ein Mensch. Es sind vier Gärten, verschieden in ihrem Charakter, obwohl sie derselbe Geist schuf, aber wie wandeln uns die Jahre! Der Schloßgarten ist der älteste Teil; da war der junge Fürst noch so heiter, so verliebt in seine feine, kluge, ein wenig gezierte Luise; ihr baute er das schöne Schlößchen, ihr schuf er aus dem steifen französischen Garten, den er vorfand, durch helles Laub und anmutige Blumenterrassen den fröhlichsten Platz, ihr aus Kastanien und Ahorn schattige Alleen zum beschaulichen Wandeln und aus immergrünem, hellem, fremdländischem Nadelholz eine Stätte für stillere Stimmungen. Und wo wieder ließ sich hübscher Ball spielen als auf dem prächtigen Rasenplan vor dem Schlößchen? Aber die Jugend weiß ja gar nicht, wie glücklich sie ist, und es gehört zu ihrem Glück, zuweilen zum Sterben traurig zu sein. Da ist der Englische Sitz, eine offene Halle, von der der Blick auf ein feierlich-ernstes Parkbild geht, oder die Bank, von der man in ein Dickicht düsterer Föhren und Zypressen blickt. Der Schloßgarten ist die Lyrik in dieser Parkdichtung, wie man bei Schochs Garten mit den kräftigen Eichen, den weitgestreckten Wiesenplänen wohl ohne allzuviel Künstelei an das Epos denken kann. Aber der »Neumärkische Garten« bietet tatsächlich nicht das geringste Häkchen, einen Vergleich mit dem Drama dranzuhängen. Hinter dem seltsamen Eisenhart, der die großen ethnographischen Sammlungen Georg Forsters und dergleichen enthält, öffnen sich da weite, in altenglischer Art durch Kulissen abgeteilte Pläne, dann offene Wiesen und Haine, auch das kindliche Spielzeug eines Labyrinths ist hier zu finden. Hingegen läßt sich die Schöpfung des Herzogs in seinen alten Tagen, der Garten am Weidenheger, wieder zwanglos der didaktischen Poesie vergleichen. Er ist weniger schön als nützlich: Obstbäume, Gemüsebeete, Äcker.

Ein Werk der Jugend wie des Alters, eine Frucht vierzigjähriger Mühen ist der allmähliche Übergang vom stolzen Park zum armseligen Städtchen, den Herzog Franz schuf. Der Gelehrte hat unrecht gehabt; dies schwierigste Problem hat den Fürsten am längsten beschäftigt. Er löste es dadurch, indem er an der Grenze des Parks die Kirche und die Synagoge erbaute, beide – wie bezeichnend ist dies für das Jahrhundert der Toleranz! – zum größten Teil aus eigenen Mitteln, beide sehr geschmackvoll: die Kirche in Anlehnung an den gotischen Stil, die Synagoge ein zierlicher Rundbau; beide durch Gartenanlagen mit dem Park verbunden. Der Wanderer soll – ist der schöne Grundgedanke – aus dem Alltag an den Tempeln Gottes vorbei in die Tempel der Natur und Kunst treten. Auch rein künstlerisch betrachtet, ist die Lösung des Problems vortrefflich zu nennen; wer von der Kirche am Englischen Sitz vorbei zum Schloß geht, trifft auf eine Reihe der schönsten Bilder, die sich scheinbar ganz zwanglos aneinanderreihen. Auch dachte der Herzog an die Verschönerung von Wörlitz, nur starb er darüber hinweg. Man sieht, meine Vermutung war richtig, für den Stadtduft von Wörlitz ist das Zeitalter der Humanität nicht verantwortlich zu machen.

Stadt und Gärten liegen tief; die schützenden, mit Alleen bepflanzten Deiche sind wahrlich kein bloßer Schmuck – und wie oft versagte ihr Schutz! Zerrissene Inseln, versumpfte Wiesen, die nicht wieder zu entwässern sind, zwei kleine Seen (die Wallöcher) sind die Spuren der Elbe. Aber sooft sie ihm sein Werk zerstörte, der Mann mit dem eisernen Willen stellte es wieder her; dem heutigen Schloßherrn eine ungemütliche Nachbarin, war die Elbe dem Herzog Franz eine Todfeindin, aber er hielt ihr stand. Und als ich bei jedem Ruderschlag neue Zeichen dieses tapferen, unerhört zähen Ringens sah, da sagte ich mir: »Nein, nicht im Geschmack der Zeit, nicht in äußeren Einflüssen, in dieses Mannes Brust ist die Lösung der Rätsel von Wörlitz zu suchen. Wer sich nicht der Elbe beugte, der hat sich auch nur mit Willen der Mode gebeugt!« Zur vollen Gewißheit aber wurde mir diese Erkenntnis, als ich sein feinstes und sein trivialstes Werk kennenlernte. Sein feinstes das Schloß, sein trivialstes der Stein.

Das Schloß (von 1773), ein Werk Erdmannsdorffs, der auch die Innendekoration für die Schlösser zu Berlin und Sanssouci leitete, ist von außen und innen das Muster eines schlicht vornehmen Hauses im Stil der Zeit; der runde Vorsaal mit Oberlicht, die Verhältnisse der Gemächer wie ihre Einrichtung, alles fast bescheiden, ohne Prunk, aber von feinstem Geschmack; der einzige Schmuck Kunstwerke, aber welche! Herrliche antike Vasen, Büsten und Statuen, von den letzteren einige leider von Cavaceppi in seiner Art restauriert, andere von schönster Erhaltung. Und die Bilder nicht eben viele, aber fast alle trefflich, einige Meisterwerke. Es gibt wahrscheinlich nicht viele so kleine Schlösser, wo wir Bilder wie in dem einen Zimmer die entzückende »Venus« des Domenichino, im nächsten die schönsten Van Dycks und Wouvermanns, im dritten Rubens' herrliche »Vermählung Alexanders mit Roxane«, im vierten zwei prächtige Veronese bewundern können. Ich war der Fügung dankbar, welche die herzogliche Familie in einer anderen Sommerfrische festhielt; in ihrer Anwesenheit ist das Schloß unzugänglich, was wohl begreiflich ist; um so dankenswerter ist, daß die Prinzeß Friedrich Karl, die es jetzt bewohnt, die Besichtigung gern gestattet, »sogar ganz gründlich«, wie mir der Kastellan, nebenbei bemerkt das Muster eines verständigen, taktvollen Cicerone, versicherte. Die greise Fürstin ist auch Malerin; ich konnte zwei ihrer Landschaften sehen; da sie nicht für die Öffentlichkeit schafft, so verbietet sich jedes Wort des Lobes und darum auch des Tadels. Wer dies Muster einer Fürstenwohnung sehen darf, wird das Haus gleich mir mit dem Gedanken verlassen: Wahrlich, der Mann, der diese Räume schmückte, war der Bildung seiner Zeit voll!

So das Schloß. Und der Stein? Landschaften von Canaletto und anderen, im übrigen die trivialste Kuriositätensammlung der Erde, nur die Jahrmarktsbuden (aber nicht alle) abgerechnet. Der Hüter dieser Schätze ist wahrlich noch das Erheiterndste am Hause. »Haben Sie die Nymphe« – statt Grotte – »der Egeria gesehen?« beginnt der Alte wörtlich und zeigt dann: ein winziges Amphitheaterchen (»So hielten die Griechen Stiergefechte ab!«), eine Blaue Grotte (»An Festtagen ist sie auch hier blau, weil wir solche Lampen haben«), eine »Nymphe der Kalypso« (»Eine römische Person mit einem Zauber auf sieben Jahre«), eine Scylla und Charybdis (»Bei Rom groß, hier klein«, zwei winzige Klippchen), einen Sterbenden Gladiator (»Er schreibt sich Pollux, war ein sehr starker Mann und wurde doch verstochen; Castor, was sein Freund war, hat dann sehr geweint«), einen Vesuv (»Ein Berg bei Aetna; nicht bange, meine Herrschaften, hier speit er nur an Herzogs Geburtstag und zwar Wasser«), eine durch ein Glasfenster von oben matt erleuchtete Höhle als Tempel der Nacht (»Vesta tut sie sich schreiben, weil sie die Göttin der Nacht ist; die vom Tag ist hier nicht fertig; sie hat in Pompeji, was die Antike ist, Eris geheißen«), dann einige dunkle Gänge (»Der Hochselige wollte Ihnen dadurch die Eingeweide der Erde darstellen« usw.). Ich fürchte, man wird mir sogar diese Erläuterungen eher glauben als einen solchen Inhalt eines großen Bauwerks desselben Fürsten, der das Schloß und das Gotische Haus schuf, aber ich sage in beidem die Wahrheit.

Wie nun erklärt sich dieses Rätsel? Psychologische Analysen lassen sich nicht präzis anstellen wie chemische; niemand darf mehr geben wollen als eine subjektive Anschauung. Die meine versuche ich so zusammenzufassen: Ein edel veranlagter Jüngling von reichen Gaben, aber auch von brennendem Ehrgeiz besteigt, kaum achtzehnjährig, einen kleinen Thron. Wie gleichzeitig seine Gaben nützen und seinen Durst nach Ruhm stillen? Er zeichnet, malt, fühlt sich im Freien am wohlsten und studiert darum in England und Frankreich die dortigen Parks. Heimgekehrt, faßt er den Gedanken, einen solchen Garten größten Stils in Deutschland zu schaffen. Er geht ans Werk und wählt Wörlitz für seine Schöpfung. Fruchtbarer Boden, viel Wasser, das lockt ihn; daß es zuviel Wasser werden könnte, daran denkt er nicht. Und die Ebene? Gerade die gefällt ihm! Wer darüber lächelt, denke daran, daß noch ein Mann von Goethes Naturempfinden von hier aus 1775 der Geliebten als einen Vorzug dieser »elysäischen Felder« rühmt: »Keine Höhe zieht das Auge und das Verlangen an einen einzigen Punkt!« Der Park wird. Aber man spricht nicht viel davon, und der Fürst verfügt ja auch über reiche Kunstschätze, ist selbst Sammler. So weitet sich bald der Plan: auch eine Kunstsammlung ersten Ranges soll hier erstehen. Keineswegs bloß aus Ehrgeiz; diesem Manne ist es innerstes Bedürfnis, allem Schönen und Guten zu dienen, sein Leben mit tausend Fäden anzuknüpfen an das der anderen um sich her. Darum wird er Mäzen, darum Philanthrop, darum ein Vater für seine Untertanen. Sein Ruf wächst, aber auch sein Ehrgeiz stellt sich immer höhere Ziele. Da lernt er durch Winckelmann das Wirken Hadrians kennen, und der Besuch der Trümmer von Hadrians Villa in Tivoli gießt Feuer in seine Adern. »Dort«, erzählt er immer wieder, »hat Hadrian alles zusammengestellt und nachgeahmt, was er auf seinen Reisen an Kunst und Naturwundern gesehen hatte«, jedoch meines Wissens nur einmal läßt sich der Greis das Wort entschlüpfen: »Ich glaube, ich habe an Hadrian gedacht, als ich das Werk hier unternahm!« – und dies Wort scheint mir wie ein Blitz das tiefste Innere dieser rastlosen Seele zu enthüllen. Freilich, er hat nur begrenzten Raum, beschränkte Mittel – nun, so müssen Klippen wie Morcheln genügen und ein Vesuv wie der im Stein. Und die Leute können's ja in natura nicht sehen und strömen darum nach Wörlitz und rühmen ihn. Er aber ist nicht bloß ehrgeizig, sondern auch wahrhaft leutselig, ja kindlich weich – wittert er doch zuweilen sogar an Goethe »etwas Inhumanität«! –, ihm tut das Vergnügen, das er dem Volke bereitet, innigst wohl; auch die populärste Schöpfung soll sein Wörlitz sein! Für die »Armen im Geiste« diese Künste, für die Feineren die Kunstschätze und seine eigenen Gartenbilder. Denn er war ja selbst ein Feiner, ein Echter, wenn auch kein Großer. Sein künstlerischer Stil ist der seiner Zeit, der ideale; die Ausdrucksweise immer klar, fast möchte man sagen verständig; das Erhabene, das Leidenschaftliche, das Groteske ist ihm versagt, um so besser gelingt ihm die Idylle, die Elegie. Tut man sich nach den Landschaftsmalern um, denen er zunächst verwandt war, so mag man an die Nachstreber Josef Anton Kochs denken, an diesen selbst nicht, Koch ist ja voll Schwung ... Aber wenn man auch von Goethes Urteil über den Herzog: »Eine feine und große Natur« nur das erste gelten läßt, auch ein Feiner handelt nicht straflos gegen sein Wesen. Als Greis erkennt und bereut der Herzog seine Irrtümer. Da nennt er den Stein unter anderem »verfehlt« und »ein kostbares Spielzeug«, da beklagt er seine Felschen: »Alles kleinlich und gedrückt!« Und ihn tröstet nur der Gedanke, daß er auch »einiges für die echte Kunst getan!«. Wahrlich, das hat er! Einiges? Mehr als irgendein Fürst seiner Zeit!

So Wörlitz, so sein Schöpfer – ich sage nicht, wie sie sind, sondern wie ich sie in ehrlichem Mühen, ihnen gerecht zu werden, sah. Und nun will ich meinen Koffer schließen und über Dessau und Bitterfeld nach Westen fahren, in einem Zug so weit, wie der Lokomotive der Atem reicht.

Wörlitz, im August 1901


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