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Erfurt

Merkwürdig ergeht es mir auf dieser Reise. Da sitze ich nun plötzlich in Erfurt fest, und das scheint mir fein, klug und weise. Aber wie ich, der ich ja von Wörlitz mit der Bahn über Dessau, Bitterfeld und Frankfurt in einem Zuge nach Luzern wollte, in diese Stadt der Blumen geraten bin, ist eine Geschichte voll Torheiten.

Als ich nämlich in Wörlitz zum Bahnhof wollte, da sagte plötzlich mein Herz so scheinbar ganz unbefangen zu mir: »Willst du denn wirklich das Klingelbahnchen nach Dessau zum vierten Mal genießen? Wär's nicht vergnüglicher, wir mieteten uns wieder unseren klugen Willem und kutschierten durch Wald und Heide fröhlich nach Wittenberg zur Station?« Das war aber nur Heuchelei von diesem Herzen, es war ihm gar nicht um die Fahrt zu tun, sondern um Wittenberg, und in jeder der 46 Wochen des Jahres, wo ich vernünftig sein muß, hätte ich ihm gesagt: »Dummheiten, altes Herz! Ich weiß, du bist einmal in deiner Jugend dort sehr, sehr glücklich gewesen, drei ganze lange Frühlingstage hindurch. Wie auf dem Anger der Flieder blühte und wie am Schwanteich die Hutnadel verlorenging und wie im Stadtgraben die Nachtigallen schlugen – du, Herz, hast ja für all dies ein besseres Gedächtnis, indes ich weiß es auch noch. Aber eben darum, was willst du dort? Tot ist tot, wir finden in der grauen Stadt nichts von unserem jungen lachenden Glück wieder, nicht einmal die Nadel!« Jetzt aber dachte ich: Dies törichte Herz sehnt sich bei sinkender Sonne an eine Stätte zurück, wo es einst, so recht im vollen Vormittagslicht, glücklich war; es wird, fürcht ich, wenig Freude davon haben, aber sein Wille geschehe! Und ich mietete den Willem, fand mich auch drein, daß er, als mein Koffer aufgeschnallt wurde, dem Hausknecht sagte: »Von Wörlitz zur Station in Wittenberg! Er is doch 'n Engländer!« – recht hatte er ja.

Im übrigen war's, so in der roten Frühe, wirklich eine fröhliche Fahrt; an dem Park und dem Elbdeich vorbei und schnurgerade gegen Nordosten zur Elbfähre. Viel Besonderes ist nicht davon zu berichten. Von der Fähre betrachtet, sieht das Städtchen Coswig sehr malerisch aus, und namentlich das schöne stolze Schloß auf einem Hügel leuchtete im Morgensonnenschein, und die Wellen des langsam und majestätisch vorbeiwallenden Stromes spiegelten es verklärt wider. Da muß sich behaglich hausen lassen, dachte ich. Aber der Schein trügt, es ist das Zuchthaus für Anhalt. Seltsames Land, dachte ich, das für seine Kunstschätze nicht das kleinste und für seine Verbrecher ein so großes Schloß übrig hat, aber ich schwieg, denn mein Willem war wohl auch ein Kunstfreund, aber doch noch stärker als Patriot. »Hier weeß ich Sie ooch was altes Gemahldes for Ihnen!« sagte er, als wir durch Coswig fuhren, und hielt vor einem verwaschenen Wirtshausschild, drauf sich tanzende Paare drehten. »Hier jederzeit kaltes und warmes Essen und Tanzvergnügen«; eine Stunde später aber – die Chaussee geht immer durch hübschen Wald zwischen Bahn und Strom – hielt er mitten zwischen den Tannen an und sagte mit einem Seufzer: »Hier is es! Nu kommen wir ins Ausland!« Die Grenze Anhalts gegen Preußen ... Nun, Willem ist nur ein Fuhrknecht, aber vor fünfzig Jahren haben das noch die klügsten Dessauer und Preußen so gesagt und empfunden.

Der Natur sieht man's übrigens auch hier nicht an. Der preußische Wald war ebenso hübsch wie der anhaltsche, und wie wir so dahinfuhren, und in der hellen Morgenluft schwamm der Tannenduft, die Vögel sangen, der Wind rauschte im nadligen Geäst und die Sonnenlichter haschten sich im Moos unten, da fiel meinem Herzen eine zweite Torheit bei. »Du«, sagte es, »wir gehen nach Luzern, gewiß, aber vorher machen wir in einem schönen, tiefen, kühlen Waldtal halt. Wald ist ja doch das Schönste.« Und ich nickte und fragte nur: »Aber wo machen wir's?!« – »Nun, natürlich in Thüringen; da kommen wir ja durch. In Oberhof zum Beispiel, da hat es den beiden Schwestern, Frau Grete und Frau Martha, im vorigen Jahr so gut gefallen, und die müssen wissen, was schön ist; sie sehen ja zuweilen gewiß auch in den Spiegel.« Und ich wieder nur: »Gut, Herz, also Oberhof; da wollen wir's uns fröhlich machen.«

Aber auf dem Marktplatz zu Wittenberg, wohin wir endlich an einigen Dörfern vorbei und durch das langgestreckte Klein-Wittenberg gelangten, da konnten wir das nicht; da wurden wir beide traurig, mein Herz und ich. Wir hatten's zu genau im Gedächtnis, wie es da einst im Mai ausgesehen – und es war alles anders geworden. Die grauen Häuser am Markt waren neu getüncht, und wo früher die alte Karrete zum Bahnhof gestanden, winkte nun eine Pferdebahn; sogar die vierhundertjährige Schloßkirche hatte sich im Innern zwei neue Schiffe beigelegt und einen seltsamen Aufputz des Kuppelturmes, und die fast ebenso alte »Goldene Weintraube« hatte gleichsam kehrt gemacht und streckte ihr Wahrzeichen nun nicht mehr zum Markt, sondern zur Juristengasse hinaus. Nur der Kellner dort war noch derselbe; wenigstens hatte er genau das gleiche Kellnergesicht und die gleiche Redensart: »Wir haben hier die schönsten Gäste.« Ach, dacht ich, einen so schönen wie einst kriegt ihr nicht wieder, und in den Lüften roch es nicht nach Flieder, sondern nach getrockneten Blumen, aber nein, nicht einmal darnach roch es in der Wirtsstube.

Da saßen wir eine halbe Stunde, mein Herz und ich, beide stumm, ganz stumm, bis ich endlich leise sagte: »Nun komm zum Bahnhof.« Auch auf der Fahrt durch die ewig lange Kollegiengasse hatten wir einander nichts zu sagen, nur einmal, als wir am Lutherhaus vorbeifuhren, lauschten wir auf; dort hängt auch das drollig-naive Bild eines Cranach-Schülers »Adam und Eva im Paradiese«, und von diesem Bild her vernahmen wir plötzlich im Vorbeifahren wie aus weiter, weiter Ferne ein silberhelles Lachen ... Daß doch die Erinnerung an ein Lachen ein Herz so wehmütig stimmen kann ... Am Bahnhof aber schiffte ich mich nach Oberhof ein.

Der Zug war überfüllt, ich fand gleich Bekannte, und wenn ich mich in das Dümmste hätte einlassen wollen, was der Mensch beginnen kann, nämlich in weise Betrachtungen über das Leben im allgemeinen, so hätten sie mir den Stoff dazu geboten. Denn in dem einen Coupé führte ein Kollege sein junges Weib ins Haus ihrer Eltern, daß sie dort ihre schwere Stunde bestehe, stolz wie auf kein anderes seiner Werke und doch in zitteriger Sorge; und im nächsten saß ein feiner, liebenswürdiger Mensch in tiefster Trauer, der geleitete die Leiche seines Vaters zur Verbrennung nach Gotha. Aber ich philosophierte nicht, sondern frühstückte vielmehr mit einem dritten Bekannten, der für vierzehn Tage direkt nach Biarritz sauste, im Speisewagen. Meine Erzählung, daß ich meine Reise in die Schweiz mit einem achttägigen Aufenthalt in Anhalt begonnen und nun durch einiges Verweilen in Oberhof fortsetzen wolle, nahm er mit liebenswürdigem Lächeln auf und fragte dann harmlos, ob ich nicht auch in Weißenfels, Naumburg, Kösen, Weimar und Erfurt anhalten wolle. »Nein«, erwiderte ich, »Weißenfels und Naumburg kenne ich bereits, Weimar erst recht, auch in Kösen war ich schon, aber Erfurt – das wäre wirklich was.« – »Um Himmelswillen«, rief er, »eine nüchterne, langweilige Geschäftsstadt. In die guckt selbst von den Leuten, die ihre Ferien nur in Thüringen zubringen, kaum einer hinein!«

Damit war das Gespräch zu Ende, in mir aber klang es nach: »Erfurt – wie wär's? Eine Geschäftsstadt, ja, aber sie ›macht‹ in Blumen, das ist doch eine hübsche Ware. Und das Dogma, daß eine Geschäftsstadt jedenfalls nüchtern und langweilig sein muß, steht ja nur für Banausen geschrieben, Menschen ohne Sinn für die Poesie unserer Zeit. Hamburg zum Beispiel – wer das langweilig findet, verdiente wirklich, immer nur in toten Nestern mit grasbewachsenen Straßen Kalbsbraten und nie in Hamburg ein Beefsteak zu essen. Zudem ist ja Erfurt uralt, eine Hansastadt, da kann's gar nicht nüchtern sein.« Ich suchte in meinem Gedächtnis zusammen, was ich von seiner Geschichte wußte. Der heilige Bonifacius und – Bismarck im Unionsparlament und dazwischen die Universität und Dalberg, der Kur-Erzkanzler ... viel war's nicht und zudem nur eben toter Kram ohne lebendige Anschauung; das Faßbarste war noch Dalbergs Wort an Goethe: »In Erfurt ist gut wohnen ...« Aber da tauchten mir, während ich so dem Widerklang dieses Städtenamens in mir lauschte, auch Bilder auf, die Farbe hatten und lebten, denn die hatte ich gesehen ...

Vor vielen Jahren, so an die fünfzehn mögen es sein, stand ich an einem strahlend schönen Sommertag auf einer Höhe des Thüringer Waldes, auf welcher weiß ich nicht mehr, aber was ich sah, ist mir unvergessen geblieben: zu meinen Füßen das sacht abgestufte Gebirg im dunklen Tannenschmuck, dann eine weite, hellgrüne Ebene, mitten drin ein gewaltiger Haufe grauer, von leichtem Dunst umhüllter Pünktchen, aber über diesen Pünktchen, gleichsam in der Luft über ihnen schwebend und den Dunst durchleuchtend, ein rätselhafter goldner Schein, nun strahlender, nun blasser und oft in der Sonnenglut erzitternd, aber immer, immer zu sehen. Was war dieses Etwas, das noch vom Dunst der Erde umwoben war und doch nicht mehr zu ihr gehörte? »Die Madonna am Erfurter Domgiebel!« erwiderte lächelnd mein Gefährte ...

Ein anderes Bild, das ich 1880 gesehen hatte, und doch war's mir nun, als wär's gestern gewesen. Ein Junitag in Haarlem; ich hatte mich den Tag über an den herrlichen Bildern im Rathaus und im Pavillon müde gesehen und fuhr mit sinkender Sonne zur grauen Stadt hinaus, über die Spaarengracht in die Blumenfelder hinein ... ja ganze Felder voll Tulpen und Lilien, Hyazinthen und Narzissen! Welche Farben, so weit das Auge reichte, welche Düfte! – der süße, schwere Hauch preßte mir fast die Brust zusammen, die mir ohnehin zu eng wurde vor Freude, am gleichen Tag auch dies Herrliche schauen zu dürfen ... Und Erfurt war auch eine Gartenstadt, da mußte ja ähnliches zu sehen sein ...

Diese beiden Bilder haben mich nach Erfurt gebracht. Denn wohl befragte ich noch mein gewöhnliches Orakel in derlei Fällen; ich horchte, was die Waggonräder sagten, aber die sagen ja immer, was man hören will. Und richtig, auch diesmal polterten sie ganz deutlich im Schnellzugstakt: »Freilich nach Erfurt, hübsch ist's in Erfurt, ja, ja, du, tu's!« (— U U/ – – /— U U/– –/U U —/ –) Da riß ich mein Kofferchen aus dem Netz und stieg dort aus.

Es hat mich auch nicht gereut, wahrhaftig nein. Nur der Anfang war so so. Vor dem Bahnhof ein enges, von häßlichen Häusern und Holzverschlägen umschlossenes Plätzchen, dann an einem großen, wüst aussehenden Hotel vorbei (es kann kaum dreißig Jahre stehen und ist doch gewiß im 18. Jahrhundert zuletzt getüncht worden) in ein gleichfalls enges, dürftiges Gäßchen, das den Verkehr kaum fassen kann; kleine Häuser, hastende Menschen, fluchende Kutscher; nein, nett war das nicht. Und erst der Ausblick in die Seitenstraßen, die Löber-Gera-, die Schmidtstedter-, die Bußlebergasse, überall Gerüste und Maurer, aber was sie niederrissen, war alt und häßlich, und was sie aufbauten, war neu und häßlich. Dazu die Düfte – und eines der Gäßchen hieß Gartenstraße; in solcher Atmosphäre war Bußlebergasse wirklich der sinnigere Name. Mir tauchten aus Dalbergs Briefen an seine großen Freunde im Apoll die Stellen auf, in denen er von seinen Bemühungen um das Erblühen dieser Stadt spricht ... Ist kein Dalberg da? dachte ich ... Und als ich ins Hotel trat, fragte der Portier freundlich: »Musterkoffer am Bahnhof?« – daß ein Mensch nur zu seinem Vergnügen nach Erfurt kommen könnte, lag offenbar außerhalb des Bereichs seiner Phantasie. Auch an der Table d'hôte saßen nur Herren mit Musterkoffern; ich habe nichts gegen solche Herren, und selbst die Anekdoten, durch die sie sich gegenseitig erheitern, gönn ich ihnen, aber – nun ja – aber, dachte ich, es gibt auch nüchterne Geschäftsstädte!

Das war jedoch ein voreiliges Urteil. Erfurt ist keine schöne Stadt, aber hier erzählen die Steine, wenn man ihre Sprache versteht, eine Geschichte, so seltsam und herzbeweglich, so wechselnder Schicksale voll, daß sich auch der Kaltherzige ergriffen fühlen müßte. Und wer sehen kann, muß auf Schritt und Tritt erkennen, wie diese Stadt war und wie sie ist, und recht betrachtet ist die scheinbar so nüchterne Gegenwart womöglich noch fesselnder als die Vergangenheit, auch erhebender, denn was könnte uns in dieser besten aller Welten tröstlicher sein als die Erkenntnis, daß der Mensch zuweilen stärker ist als das Schicksal? Wie diese Stadt allem, was Menschen und Menschenwerk treffen kann, stand gehalten und nun langsam wieder aufblüht – dies ist das Interessanteste an Erfurt und wahrlich auch ein Stück Poesie, stärker und schöner und herzerquicklicher, als sich's der Wanderer im stillsten Waldtal erlauschen kann.

Freilich, das weiß ich erst heute, wo ich von dieser Stadt scheide, aber nicht, da ich sie zum ersten Mal durchwanderte. Mir ist's nun lebendige, aus der Anschauung geborene Wahrheit, dem Leser sind's Worte. Vielleicht wären diese Worte auch ihm zwar nicht Leben, so doch ein Abbild des Lebens, wenn ich Aug in Auge zu ihm reden, ihm die tausend kleinen Bildchen, aus denen mir das Gesamtbild erwuchs, schildern könnte. Aber so – durch tote Buchstaben zu malen versuchen und in der Furcht zu ermüden in der Auswahl der Bildchen sparsam und zaghaft, es ist immer ein Wagnis. Und vollends hier, wo so weniges an sich gewaltig ist, das meiste sogar unscheinbar und nur eben durch das Nebeneinander, die Häufung oder den Gegensatz bedeutsam. Schwer ist's in solchen Städten, die Sprache der Steine zu verstehen, und noch schwerer, sie in Menschenworten nachzustammeln.

Nun denn, so versuch ich's, so gut es eben gehen will und in meiner Art. Wie bisher in der Wirklichkeit, so fahre ich nun in Gedanken wieder auf den Steiger und durch die Blumenfelder und gehe wieder über den Anger und den Domplatz und durch das Gewirr enger Gäßchen, bedächtig und andächtig und der Sehnsucht voll, dies fremde Stück Leben recht zu sehen und recht zu verstehen ...

Wenn ich in eine fremde, große Stadt komme, so suche ich sie immer zunächst von einer Höhe zu überschauen. Liegt sie in einer Ebene, so ersteig ich den nächstbesten Kirchturm, auch wenn's im August ist. Denn eine Vogelschau bringt auf einen Schlag Antwort auf eine ganze Reihe von Fragen: wo der Kern der Stadt zu suchen ist, wie sie wuchs, in welcher Richtung sie nun die Glieder streckt und wo die Reichen, wo die Armen wohnen. Aber noch mehr vermag hier ein Blick zu erkennen, oft klarer und gewiß anschaulicher, als es die Stadtchronik berichtet: was die Menschen hierher zog, warum auf diesem Boden eine große Stadt erwuchs und wie sie sich behauptete. In Erfurt läßt sich solche Überschau mühelos gewinnen; rings heben ja Hügel ihre dicht umlaubten Häupter; der stattlichste im Südwesten der Stadt, der Steiger, wie derlei einzelne Vorberge in Thüringen so oft heißen. Man kann bis dicht an den schönsten Aussichtspunkt fahren.

Das heißt, wenn man eine Droschke kriegt. Das ist in dieser Stadt von 90 000 Einwohnern nicht so leicht. Zu den Zügen finden sich am Bahnhof einige dieser schweren plumpen Viersitzer ein, mit denen verglichen eine Berliner Droschke zweiter Güte wie das flügelbeschwingte Gefährt des Sonnengotts erscheint; sonst muß man lange nach ihnen suchen. Endlich kam mir auf dem Anger so ein ehrwürdiges Vehikel mit der Geschwindigkeit von einem halben Kilometer in der Stunde entgegengebraust; ich winkte dem Kutscher, er hielt an, ich stieg ein: »Zeitfahrt. Halb drei. Auf den Steiger.« Aber so rasch macht man derlei verwickelte Geschäfte in dieser Geschäftsstadt nicht ab. Langsam kletterte der kräftige Mann vom Kutschbock, öffnete und schloß den Schlag, gleichsam um symbolisch anzuzeigen, daß dies seine Sache und Selbsthilfe hier nicht gebräuchlich sei, zerrte seine Taschenuhr von Tellergröße sacht hervor, zog sie auf, stellte sie nach der meinen und fragte dann freundlich: »Also, lieber Herre, wo'ihn soll's denn giehn?« – »Ich sagte schon, nach dem Steiger!« – »Ei ja, das is gued. Da haben Sie sihre recht, lieber Herre. Da ward's sihre schiene sihn! Da sollt jeder hihn! Also zuerschte ins Restaurang unn dann zum Aussichtspuhnkte! Jaa, so wollen meu's maachen!« Die Nase des Mannes hatte einen sanften Rosenschein. »Lieber umgekehrt«, sagte ich. »Aaber das Restaurang is sihre gued!« – »Eben darum!« Er kletterte wieder auf den Bock und setzte sein Pferd in Trab; nun war's die Geschwindigkeit von einem ganzen Kilometer in der Stunde.

Wir fuhren eine breite Straße entlang, dann durch ein enges Gäßchen, über eine Holzbrücke auf einen winkeligen Platz, den große, altersgraue Häuser umstanden. »Wie heißt dieser Platz?« fragte ich und zog den Plan hervor. »Der Plan is nech gued! Da werds nech druuf stihn!« Aber da las ich selbst an der Ecke: »Hospitalsplatz«, und ein Blick auf den Plan orientierte mich, warum mein Kutscher diesem braven, klaren Kärtchen so unhold war. »Mann«, rief ich, »da kommen wir ja nie zum Steiger!« – es war, als wollte man vom Potsdamer Platz nach dem Zoologischen Garten über die Chausseestraße gelangen. »O doch!« beteuerte er. »Aber ech daachte, Sie määchten doch auf dem Weeche was siehn! Hier is doch Knappen sihne Sammlung, was als Generalgonsul die schwarz-weiß-rote Fahne gegen die nackichten Wilden in Samoa geschwungen hat, unn denn unsre städtischen Altertümer, lieber Herre, steinerne Messer unn Dohbackspfeifen aus die Steinzeit, was die Arforder vor dausend Jaahren gebraucht haben. Allens aus Stein, es heeßt auch dorum die Steinzeit. Unn jetzt fahre meu also –« – »Nach dem Steiger«, fiel ich ein, denn selbst durch die Tabakspfeifen aus der Steinzeit schien mir der Abstecher nicht ganz gerechtfertigt. Er gehorchte, brümmelte aber immer vor sich hin: »Der Plan is nech gued.« Ähnliche Erfahrungen habe ich mit Erfurter Droschkenkutschern immer wieder gemacht. Nicht bloß die Steine, auch die Droschken reden, und diese hier sagen: »Wenig Vergnügungsreisende; eine durchschnittlich arme Stadt von anspruchsloser Lebensführung, in der sich selbst der Wohlhabende selten das bescheidene – ach, wie bescheidene! – Vergnügen einer Fahrt in solcher Droschke gönnt, und der Fremde darum ein sorglich ausgenütztes Geschenk des Himmels ...«

Mehr und Erquicklicheres erzählt der Ausblick vom Steiger. Schon früher freute mich was: Das ganze Löberfeld, die weite Fläche im Süden der Stadt zwischen dem alten Erfurt und dem Steiger ist ein freilich derzeit noch zum geringsten Teil bebautes Villenviertel. Diese Villen sind freundlich, aber bescheiden, sichtlich Wohnhäuser von Leuten, die gleichermaßen vor Not wie vor Neid bewahrt sind, der einzige Schmuck der reiche Blumenflor in Fenstern und Vorgärten, und das ist nett – warum sollten nur reiche Leute in Villen wohnen? Auch an den Gassennamen, die freilich zum großen Teil das einzige sind, was schon von der Gasse existiert, hatte ich meine Freude. Sie sind fast durchweg nach Komponisten und Dichtern getauft. Sonderbare Schwärmer, diese Erfurter, wissen sie denn nicht, daß solche Namen nur dann in Deutschland als kümmerliche Lückenbüßer angewendet werden dürfen, wenn kein General, kein Stadtrat und kein Nest der Nachbarschaft mehr unverewigt ist? Mein Kutscher kam meinem Interesse an diesen Namen liebenswürdig entgegen, indem er mich nun kreuz und quer durch das ganze Viertel fuhr. Diesem Umstand verdanke ich die Erkenntnis, daß die braven Stadtverordneten von Erfurt der deutschen Literatur gegenüber ihren besonderen Standpunkt einnehmen: Geibel hat eine Hauptstraße, während sich kleine Leute wie Lessing, Kant und Uhland eben mit Nebengäßchen begnügen müssen; mancher leuchtende Name ist vergessen, aber nicht Voß und Simrock. Gleichviel, brave Leute sind's doch. Als ich endlich den Kutscher an unser Ziel erinnerte, bat er: »Nor noch meine Gasse« – die Wielandgasse. »Eech heeße Wieland«, sagte er stolz. »Christoph Martin?« – »Christoph Martin Wieland«. Und dabei fährt der Mann »nor zur Aushülf in Arford Droschke«. – »Eech bin aachentlich bei Gudhe (Gotha) for Bierfässer gedingt.« Überhaupt geht's den Klassikern heut nicht gut. Johann Goethe war vor dreißig Jahren Schuster in Wien und flickte hauptsächlich studentische »Kanonen«; da er dadurch vollends ins Ideale gekommen war, so hieß sein Ältester Johann Wolfgang; dieser ist dann Zwiebelhändler in Kroatien geworden. Noch immer besser als Friedrich Schiller, der ein berüchtigter Wucherer in Graz war. In der relativ günstigsten Lage traf ich Heinrich Heine; als er mich zuletzt in Eisenach rasierte, entwickelte er mir seinen Plan, Zahntechniker in Wiesbaden zu werden.

Sacht wächst die bewaldete Anhöhe des Steiger aus dem welligen Land empor und erstreckt sich dann weithin gegen Süden, meilenweit. Auch die der Stadt zugekehrte Nordseite ist so breit und mit so zahlreichen Aussichtspavillons besetzt, daß ich den Kutscher fragte, wo's denn den schönsten Ausblick gebe. »Vom Restaurang«, erwiderte Christoph Martin Wieland mit solcher Innigkeit, daß ich ihm glaubte; ich will auch nicht behaupten, daß er log, es war aber eine individuelle Ansicht; vorm »Steigerhaus« kann man wirklich nur gefüllte und leere Bierkrüge sehen. Ein stattliches Hotel, ein riesiger Biergarten, daneben andere große Wirtschaften, »Felsenkeller« genannt; die Keller so groß, daß man die Felsen nicht sieht; aber mindestens ebensoviel Zeichen gesunden Durstes weist jede deutsche Stadt auf. Nicht jede aber hat einen so schönen Park dicht am Weichbild; herrlicher, auch prächtig gehaltener Hochwald, Laub und Nadel in buntem Gemisch, namentlich Eichen und Edeltannen, wie man sie selten findet, auch viel wohlgepflegtes Gesträuch und vor allem entzückende Blumenbeete – der Steiger ist ein Park, wie er dieser Gartenstadt würdig ist. Von schattigen Wegen und Pfaden durchzogen, bietet er, eben weil der Hügel sanft, aber stetig zu ziemlicher Höhe ansteigt, eine Fülle leicht erreichbarer und schöner Ausblicke. An künstlerischem Schmuck ist nur eine Säule vorhanden, welche die Kaiserin Augusta in guter Absicht stiftete und die nun ein bescheidenes Denkmal der verewigten Fürstin ist – aber wie dekoriert hier die Natur!

Ich bin an jedem meiner Erfurter Tage einige Stunden im Steigerwald gewesen, habe täglich Neues gesehen und doch gewiß im ganzen nur weniges von all dem Schönen. Wie malerisch ist der Ausblick gegen Westen, auf das Hochheimer Tal; steigt man höher, so sieht man bei sinkender Sonne in der Ferne eine langgestreckte, rötlich schimmernde Wolkenwand den Horizont begrenzen; sie liegt dem Aug bald näher, bald ferner, flammt auf und wird dunkler, zittert wohl auch in den Lüften und zerrinnt doch nie; es sind die Höhen um Friedrichroda bis Liebenstein. Ähnlich wenn man bis zu dem »Waldhaus« im Süden geht; nur ist die Wand, von dort aus gesehen, weiter geschwungen und schimmert dunkler, vom satten Blau bis ins tiefe Schwarz, je nach dem Sonnenstand und der Trockenheit der Lüfte: das sind die Höhen des Thüringer Waldes von der Wartburg zur Linken bis an die Höhen des Saaletales zur Rechten. Aber am schönsten ist der Ausblick nach Norden, auf das Geratal und die Stadt Erfurt.

Um etwas zu erkennen, zu erfassen, hatte ich dies Bild gesucht, aber ich will's nur sagen: als ich's zuerst sah, grübelte ich über gar nichts, sondern da hatte ich nur eben meine helle Freude dran. Welche bunten, heiteren Farben: rot die Dächer, weiß die Häuser, grün die Gärten, golden die Äcker und blau die Flüsse, und welche Häufung anmutiger oder doch besonderer Formen, die vielen Hügel und die unzähligen Türme: Erfordia turrita, wie die Humanisten ihre stattliche Heimstätte nannten, das vieltürmige Erfurt ... Was mir dann zunächst in die Augen stach, war ein Stück Feldes im Westen zwischen dem Cyriaks- und dem Petersberg, von dem ich lange nicht wußte, was es sein könnte; das schimmerte nur so von Farben, und selbst mit dem Feldstecher besehen, war's wie ein Regenbogen, der dort vom Himmel gesunken und nun festgebannt auf der Erde lag – so aus der Ferne ein phantastisches Bild, aber noch wundersamer aus der Nähe; es sind die Blumenfelder vor dem Brühler Tor ... Dann der Dom; ich hatte ihn, ehe ich die Höhe des Steigers erreichte, schon vom Vesperplatz aus gesehen, sie haben dort eine Schneise ins Eichenlaub geschnitten, und in der steht nun, ähnlich wie man durch die Schneise bei der »Hohen Sonne« ob Eisenach die Wartburg sieht, scheinbar einsam aus tiefem Wald aufragend, das graue, gewaltige Münster; auch dies ein märchenhaftes Bild, aber schon von dieser Höhe noch schöner, wo man den Dom aus der alten Stadt zu seinen Füßen emporwachsen sieht, und am schönsten vom Domplatz.

Erst nun, nachdem ich das Gesamtbild und vieles einzelne betrachtet hatte, suchte ich mir Antwort auf meine Fragen. Was die Menschen an einen Ort gezogen hat, ist oft schwer, zuweilen unmöglich zu erkennen, weil es auch Städte gibt, die gleichsam gegen den Willen der Natur, nur durch die Kraft der Menschen und durch das Erblühen eines Staates groß geworden sind; das merkwürdigste Beispiel dafür ist Berlin. Anders Erfurt; hier war's der Wille der Natur, eine große Wohnstätte zu schaffen; vom Steiger aus läßt sich dies klar erkennen.

Vor allem, dieser Kessel zwischen Waldbergen ist überaus fruchtbar, es schimmert nur so von Obstgärten, Blumen- und Gemüsebeeten; nur im Norden, wo der Kessel in die Ebene übergeht, wogt ein Ährenmeer; sonst ist der Boden für Getreide zu kostbar. Gewiß hat der Fleiß der Menschen dazu mitgewirkt, aber »so prangt eine Flur«, um mit dem alten Gellert zu sprechen, »nur durch Gottes Odem«. Der Naturforscher drückt es eben nur anders aus, wenn er uns belehrt: dieser Kessel war einst ein Seebecken, der Boden ist Muschelkalk, von einer dicken Humusschicht überzogen; und in diesem ergiebigsten Boden, den man wünschen kann, finden sich zudem auch Salzlager eingesprengt. Dazu der Fluß, die Wälder. Also Holz, Wasser, Brot und Salz in reichster Fülle, wie sonst kaum irgendwo in Thüringen – schon darum muß hier früh eine Siedelung entstanden sein.

Aber noch mehr: dieser Kessel war eine der frühesten menschlichen Wohnstätten in Europa, und er ist, was fast ein Unikum bedeutet, immer besiedelt geblieben. Dies freilich erkannte ich erst in den Sammlungen am Hospitalplatz, die mir Christoph Martin Wieland mit feinem historischen Sinn vor allem zu besichtigen empfohlen hatte. Mit den Funden aus der Steinzeit fängt ja wirklich die Geschichte Erfurts an, nur haben diese »Arforder« nicht vor »dausend« Jahren gelebt, sondern vor zehn- oder zwanzig- oder dreißigtausend Jahren, bestimmt kann uns das der gelehrteste Anthropologe nicht sagen. Denn die ältere Steinzeit, dies wirkliche Altertum der Weltgeschichte, wagt niemand aufs Jahrtausend abzumessen, die Zeit, da der Mensch, fast selbst noch ein Tier, in den Pausen von einer Vergletscherung zur anderen im Kampf mit dem anderen Getier, mit Mammut, Höhlenlöwe und Hyäne, sein Dasein fristete, und zudem verständigen sich die Gelehrten eben erst mit wuchtigen Höflichkeiten darüber, welcher Epoche der Steinzeit die hiesigen Funde angehören. Ich habe so viel davon verstanden, daß es sich um die Patina dieser Schaber aus Feuerstein, um die Form dieser Beile aus Bärenkiefern handelt, aber warum die Herren gar so grob zueinander sind, ist mir nicht klar geworden; oft wußte ich beim Lesen ihrer Abhandlungen nicht, handelte es sich noch um den alten Höhlenbären, den ursus spelaeus, oder um den neuesten, den ursus academicus. In der neueren Steinzeit aber waren die Abhänge des Kessels sicherlich schon besiedelt; diese ältesten unzweifelhaft nachweisbaren Erfurter hatten bereits Pferd und Rind gezähmt, waren Jäger und Ackerbauer zugleich, schliffen ihr Stein- und brannten ihr Tongerät. Auf Funde dieser Art trifft man auch anderwärts, die hiesigen sind nur eben durch Zahl und Form merkwürdig; sie erweisen, daß die Siedelung ununterbrochen durch all die Jahrtausende dieser Ära des Mittelalters der Menschheit bestand; an der Keramik läßt sich das Wachsen der Kunst von der einfachen Schnur- zur reichen Bandverzierung, an den Gräbern die Veredlung der Bestattung von der Verscharrung im Erdboden bis zum Sarg und der gemauerten Gruft, von ihr zur Leichenverbrennung verfolgen; ja, so weit waren sie schon um 2000 vor Christus, wir sind's noch heute nicht. Und dabei blieb's bis heute; als fast beispiellose Erscheinung, sagt ich schon, ist zu verzeichnen, daß die Menschen diesen Boden niemals mehr verließen. Alle Abschnitte des Mittelalters der Menschheit: der Bronze-, der Eisenbronze- (Hallstatt-) Kultur und der Höhepunkt derselben, die La-Tène-Kultur, sind hier vertreten; anderwärts folgen sich die Geschlechter wie Blätter im Sturmwind; wird eines durch den Anprall des Hungers oder den anderer Menschen von seiner Scholle weggefegt, so bleibt diese oft durch Jahrhunderte verödet; hier folgen sie sich wie im Meer Welle auf Welle – hier hungerte niemand; der Boden war zu fruchtbar, um ungenützt zu bleiben. Mit der La-Tène-Periode, wo sie Waffen aus Eisen, Gerät aus Kupfer und Glas, Schmuck aus Gold und Edelsteinen formten, sind wir in die Zeit gelangt, die uns in der Schule als »Altertum« bezeichnet wurde; in Wahrheit ist's die neueste Zeit der Menschheit. Nun läßt sich auch aus den Skeletten der Typus der Bewohner feststellen: der »altthüringische«; vermutlich Kelten. Ihnen folgte das germanische Volk der Hermunduren; auf dem Petersberg erhob sich ihre Wallburg, und auf dem Marienberg, wo heut der Dom prangt, opferten sie ihren Göttern. Nach ihnen kommen die Warnen, die Thüringer und ihre harten Besieger, die Franken; aber sie alle ziehen auch aus diesem Kessel ihr Brot. So ist Erbesfort – der Name ist unaufgeklärt – bereits zur Zeit, da der Angelsachse Winfried, dann Bonifacius genannt, der frömmste und ehrgeizigste Priester seiner Zeit, nach Thüringen kommt, das Evangelium zu predigen, die stattlichste Stadt des Landes; hier gründet er darum 741 ein Bistum und baut, nachdem er den heiligen Hain auf dem Marienberg gefällt, an seiner Stelle ein Kirchlein. Eine »Stadt der Ackerbauer« nennt er Erfurt ausdrücklich, wie um es zu charakterisieren, und eine bessere Bezeichnung läßt sich auch nicht finden bis auf den heutigen Tag, denn »Stadt der Blumen« will ja im Grunde dasselbe sagen. Anderwärts verliert sich allmählich die Bedeutung des Bodens für die Entwicklung einer Stadt; hier erhielt sie sich stets und sogar stets als das Wichtigste.

Aus der Fruchtbarkeit dieses Kessels, aus ihr allein kam Erfurt die Kraft, die unsäglichen Stürme zu überdauern, die es gleichfalls nicht bloß nach dem Willen der Menschen, sondern auch nach dem Willen der Natur ereilten. Denn sie hat Erfurt wie zur »Stadt der Ackerbauer«, zur »Stadt der Blumen«, so auch zur Festung gemacht.

Auch dies läßt sich vom Steiger aus leicht erkennen. Der Kessel ist im Süden, Westen und Osten von stattlichen, steilen, aufragenden Vorbergen des Thüringer Waldes umschlossen, nur nach Norden offen. Aber auch hier fehlt ihm der natürliche Schutzwall nicht: vom Westen her kommt die ungestüme Wilde Gera geströmt, durchbraust den Kessel in breitem, gegen Osten ausgeschwungenem Bogen und rollt dann in scharfer Biegung die weißlichblauen Wogen gegen Norden. Der Mensch brauchte bloß den Kranz steiler Vorberge mit Zitadellen zu krönen, gegen Norden den schäumenden, reißenden Bergfluß auch durch Wälle zu befestigen. Und dies ist früh geschehen. Über ein Jahrtausend eine Stadt mit Wall und Graben, ist Erfurt nicht viel kürzer die bedeutendste Festung Mitteldeutschlands gewesen, »Schild und Pforte Thüringens«. Erst im geeinigten Reich konnte der Panzer fallen, vor einem Vierteljahrhundert erst. Ein Panzer schützt, aber er drückt die Glieder wund, den Schwertstreich wehrt er ab, den Blitz zieht er an. Einiges wenige Gute und viel großes Unheil hat diese Gabe der Natur über Erfurt gebracht.

Aber die dritte ihrer Gaben war der Stadt wieder nur zum Heil; auch zur Handelsstadt, zum Knotenpunkt der Verkehrswege hat die Natur und nicht der Wille der Menschen, nicht das Schicksal der Staaten Erfurt gemacht, und dies enthüllt sich gleichfalls vom Steiger aus mühelos dem Blick. Die Straße vom Westen nach Osten mußte durch diesen Kessel gelegt werden; jede andere wäre ein Umweg oder der Wegebaukunst des Mittelalters unmöglich gewesen. Und ebenso muß hier durch, wer von Süden nach Norden, vom Thüringer Wald nach dem Kyffhäuser und dem Harz will, aus Franken nach Sachsen. Die Bahnlinien, die sich hier oder im nahen Neudietendorf schneiden, folgen uralten Handelsstraßen, gewiß älter als unsere Zeitrechnung.

Noch mehr, auch die Gliederung der Stadt, ihr Werden und Wachsen läßt sich vom Steiger aus leicht erkennen. Was heut vor allem ins Auge sticht, die beiden kühn und schön geformten Berginseln im Westen, hat bereits vor Jahrtausenden die Menschen zuerst in Bann genommen. Darum weihten sie diese Felskuppen den beiden Gewalten, in deren Schutze sie hier wohnen wollten, den Göttern und der eigenen Kraft; auf dem Marienberg, der den Dom trägt, rauschte schon in uralten Tagen der Donarshain; den Petersberg krönte schon damals eine Wallburg wie heute die Zitadelle. Sie sind der Kern von Erfurt. Zu ihren Füßen, aber ehrfurchtsvoll durch einen großen Zwischenraum von ihnen geschieden, erwächst die Stadt und füllt allmählich den weiten Bogen der Wilden Gera voll, übervoll aus. Auf drei Seiten vom Fluß und dem ihn begleitenden Wall, auf der vierten von der Zitadelle geschützt, ist sie zugleich von ihnen umschnürt; wie dicht sind die hohen Häuser geschart, wie eng die Gäßchen, wie klein die Plätze. Um dieses alte Erfurt schießt nun von allen Seiten das neue empor: im Westen und Süden das Villenviertel, im Osten und Norden Fabriken, Arbeiter-, Schlacht-, Lager- und Krankenhäuser. Und endlich als Rahmen dieses Stadtbildes die Blumen- und Gemüsefelder.

In dieser Reihenfolge beschloß ich die Stadt zu besehen. Aber schwer war ich auf den Steiger gekommen, noch schwerer sollte ich hinunter. Als ich in den Biergarten kam, erkannte ich, daß mein Kutscher gleich seinem berühmten Namensvetter Anakreontiker war, aber in seiner Art; er war sternhagelvoll besoffen. »Das Bier is gar sihre gued«, sagte er zu seiner Entschuldigung und reichte mir freundlich sein Glas zum »Probiehren« ... Ich äußerte meine Zweifel, ob er sich auf dem Kutschbock werde halten können. »Passiehren dhud nischt! Eech bin dooch von Gudhe her gewohnt, Bierfässer zu fahren!« Und in der Tat brachte er sich und mich heil auf den Friedrich-Wilhelm-Platz, wie der Domplatz offiziell heißt.

Die Erfurter gebrauchen keinen dieser Namen, ihnen heißt der Platz: »Vorm Grähden.« – »Warum?« fragte ich einen Barbier am Platze. »Ich find's in keinem Buch!«

Er sah mich erstaunt an. »Weil es so heeßt«, erwiderte er, und ein »Herr Doktor« titulierter Kunde lächelte ironisch über den seltsamen Fremden: »So was steht doch in keinem Buch!« Ich versuchte es nun mit einem Schuster; das sind ja die richtigen Grübler und Sinnierer. In der Tat traf ihn die Frage nicht unvorbereitet. »For gewiß«, sagte der wackere Meister bedächtig, »weeß man's nicht, aber hier duht man viel Fische äßen, besonders die Ghadolschen, und ghadolsch is ja die Girche, und Fische dhun viel Grähden ha'n; ob's nech dadervon kohmen dähte?« Es kommt nicht davon, sondern ist – ein seltener Fall in Mittel- und Norddeutschland, ein häufiger an Rhein und Mosel – die Verballhornung des einstigen lateinischen Namens: Forum ad gradus hieß der Platz im Mittelalter; es gibt also doch Bücher, in denen »so was« steht. Der »Platz an den Stufen«, denn eine mächtige Freitreppe führt von hier die Höhe des Marienbergs zum Dom empor. Der Platz ist wohl der größte Deutschlands – ich wenigstens kenne keinen größeren –, und des darf sich der Beschauer freuen; so ist ihm die richtige Perspektive für eines der herrlichsten Architekturbilder gegönnt, die wir in Deutschland haben, und das will gottlob was sagen. Als ein majestätisches Bauwerk wirkt der Dom, von wo immer gesehen, am schönsten erscheint er von der Ostseite dieses Platzes. Über riesigen steinernen Höhlungen steigt von hier aus dem Auge, alles andere deckend, das prächtige Chor empor; auch wer das Straßburger Münster oder St. Stefan zu Wien genau kennt, wird entzückt sein; dieser Teil des Doms gehört zu dem Edelsten und Feinsten, was die Gotik auf deutschem Boden geschaffen hat. Rechts vom Chor, über der Freitreppe, wird das reiche, edle Hauptportal sichtbar, und noch weiter zur Rechten schließen die drei spitzen, metallen schimmernden Türme der Severikirche das Bild ab. Wer es sieht, wird es nie vergessen.

Immer wieder, sooft ich den Dom oben genau besehen hatte, kehrte ich zu diesem Standort zurück, mir den vollen, reinen Eindruck wiederzugewinnen. Denn aus nächster Nähe sind nur einzelne Teile schön, aber andere nicht; weniges stimmt zusammen, und immer wieder drängt sich in die Freude des Genießenden eine Frage. Zwar welchen Zweck das Riesenwerk der »Gafahden«, wie die Erfurter sagen, der zyklopischen Steinbogen (cavatae) erfüllt, ist leicht einzusehen: der Hügel bot eben für ein großes Chor keinen Raum mehr, und so mußte der Boden künstlich erweitert werden; aber warum stößt das Chor in unschönem spitzen Winkel aufs Schiff? Das Chor (um 1350 erbaut) ist ja an sich herrlich, namentlich auch das Steinfiligran der Fenster von bewunderungswürdigem Reichtum der Phantasie, aber daß es, ohnehin viel breiter und höher als das Schiff, obendrein zu diesem schief steht! Auch die drei gewaltigen romanischen Türme aus dem 12. Jahrhundert, der älteste Teil der Kirche, wirken für sich betrachtet wuchtig genug, aber wer kann sie so betrachten? Sie erheben sich über der Stelle, wo Chor und Langhaus zusammentreffen, also gerade über dem spitzen Winkel, und recht sieht man sie nur von der Severikirche aus. Das Seltsamste aber, was man an der Außenseite des Domes gewahrt, ist zugleich ihr schönster Schmuck: das Hauptportal, das »Triangel«; an der Ostseite springt ein Dreieck hervor, in dem sich rechts und links eine Eingangstür öffnet. Beide Portale sind ganz herrlich, sie gehören zu dem Edelsten, was alte deutsche Bau- und Bildhauerkunst geschaffen hat, beide sind im Aufbau gleich; unter dem mit Rosenornamenten überkleideten Giebel die nach innen abgestuften Spitzgewölbe; verschieden sind nur die kleineren Ornamente und die Bildsäulen; am linken Portal die zwölf Apostel, am rechten die fünf klugen und die fünf törichten Jungfrauen und, um die Symmetrie zu wahren, die triumphierende Kirche und die besiegte Synagoge. In den kleinen Zierraten welche Fülle der Erfindung, in den Bildsäulen welche Kraft der Charakteristik; für die frühe Zeit, das 14. Jahrhundert, von wunderbarer Lebendigkeit des Ausdrucks; die Verzweiflung im Antlitz der törichten, der Jubel in dem der klugen Jungfrauen, der Stolz der Kirche, die dumpfe Trauer der Synagoge – wie hat der alte Meister dies alles verbildlicht! Aber es stört sehr, daß die beiden Portale zueinander und zum Schiff schief stehen, und sagt man sich, dieses Rätsel müsse sich eben aus dem beschränkten Raum, aus der Baugeschichte erklären, so hört doch die Empfindung nicht auf die Vernunft. Andere Rätsel wieder bleiben es auch für die Vernunft. Warum haben sie zwischen die alten Bildsäulen des Chors solche von gestern gestellt, warum wirkt von dem neuen Schmuck so weniges künstlerisch? Auch der Eindruck jenes riesigen Mosaikbildes, dessen goldiger Schein mir so unauslöschlich im Gedächtnis haftete, ist von hier aus kein reiner. Es schmückt den Westgiebel. Von tiefblauem Rahmen umgeben ein mächtiger Goldgrund, von dem sich in fünffacher Lebensgröße die Madonna in blaurotem Gewand, das Jesuskind auf dem Arm, abhebt. »Ächtes Gold«, sagen die Erfurter stolz, und daran zweifle ich nicht, aber mir war zumut, als müsse das grelle, gleißende Riesenbild dem feinen, altersgrauen Ornament des Giebels wehe tun. Offenbar eine Nachahmung des uralten Madonnenbildes an der Marienburg, aber derlei Experimente sind immer bedenklich; wir haben andere Nerven, andere Sinne. Ich denke, es ist nicht zu bedauern, daß kein anderer deutscher Dom sich neuerdings solchen Schmuck angetan hat.

Auch im Innern des Doms wird man die Fragen, die zwiespältige Empfindung nicht los. Der erste Eindruck bringt eine Enttäuschung; da ist nichts von der lichten Majestät des Straßburger, dem mystischen Zauber des Wiener Münsters. Ein recht freundlicher Raum, dem etwas Trivial-Behagliches anhaftet; das empfindet man sofort, aber es währt lange, bis man sich über die Gründe klar wird. Vor allem, der Raum ist fast quadratisch, nur winzig länger als breit; die beiden Seitenschiffe zudem viel breiter als das Mittelschiff; diese Form sind wir an Wohnräumen gewohnt, nicht an Kirchen. Auch stehen alle drei Schiffe unter einem Dache, und die Fenster sind in geringerer Höhe angebracht als sonst an Gotteshäusern; so fehlt das feierliche Licht von oben. Endlich aber, das im Winkel anstoßende Chor ist viel höher und heller; so hat man zunächst den Eindruck, als stände man in einem schief angebauten Vorraum des Chors. Erst allmählich überwindet man diesen Eindruck und kann das viele Schöne besehen, das hier zu finden ist.

Man kann es oder kann es nicht ... Die Art, wie der Fremde hier behandelt wird, ist wirklich nicht nett und gottlob beispiellos. Es ist ein schöner, tiefsinniger Brauch der katholischen Kirche, die Gotteshäuser immer offen zu halten; am Erfurter Dom ist nur während der Messe ein Pförtchen unverschlossen. Zufällig kam ich das erste Mal zu solcher Stunde, fand das Pförtchen und trat ein. Da stürzte mir ein Bediensteter der Kirche entgegen: Der Eintritt sei nur für Erfurter frei; wenn ich etwa ein Fremder wäre, so hätte ich in der Küsterei eine Eintrittskarte zu lösen; sie koste 60 Pfennige, dazu die »Beschreibung« 30 Pfennige, zusammen 90 Pfennige, also sehr billig, fügte er bei, »anderswo kostet's eine Mark«. Ich ging und kaufte mir Karte und »Beschreibung« (das wohlgemeinte Schriftchen eines enthusiastischen Archivars). Mir war seltsam dabei zumut und wahrlich nicht der 90 Pfennige wegen, sondern ich dachte: Du bist nur hierhergekommen, um Schönes oder Merkwürdiges zu sehen, und bringst nur jene pietätvolle Empfindung mit, die jedermann einer Stätte schuldet, die für Millionen seiner Mitmenschen heilig ist, und du schon bist peinlich berührt. Wie erst mag's im Gemüt eines Fremden aussehen, der diese Kirche betritt, um Trost zu suchen, sein Herz aus dem Staube zu Gott zu erheben, und solchen Empfang findet? ...

Die Begleitung einer langen, hageren Frauensperson war in den Preis inbegriffen. »Hier is«, begann sie hastig, »die Gröhnung von Peter Vischern« – und kaum daß ich einen Blick auf den herrlichen Erzguß geworfen hatte: »Bitte, Herre, nu aber weiter, mehr als zwanzig Minuten kann ech nech bleiben.« Ich bot eine Mark, wenn sie mir Zeit ließe. »Unmaeglich, un wenn's 'n Dhaler wär. De Supp brennt mir sonsten an; d'r Herr Oberkirchner hält auf guedes Äßen.« Da ging ich gleich, denn weitere neunzehn Minuten durch den Dom gepeitscht zu werden, schien mir kein Vergnügen.

Die meisten wären nicht wiedergekommen, ich tat's und fing es diesmal sehr schlau an. Ich kam am Nachmittag, wo der Gourmet bereits gespeist haben mußte, und umstrickte die kleine, dicke Frau, die mir die Karte verkaufte, mit den raffiniertesten Verführungskünsten. Da sie ein Mäulchen zog, weil ich die »Beschreibung« nicht nochmals kaufen wollte, so erwarb ich flugs ein zweites Exemplar, »als Andenken an Sie!«, aber nun willfahrte sie auch meiner Bitte: »Sie wissen gewiß am besten Bescheid und führen mich selbst.« Als sich das Portal hinter uns geschlossen hatte und wir allein im Dom waren, da sank ich zwar vor der Holden nicht auf die Knie, aber ich gab ihr eine Mark: »Sie lassen mir aber Zeit, erklären nichts und zeigen mir nur, wonach ich frage.« Eine halbe Stunde hielt sie den Pakt ein, dann wurde sie ungeduldig: »Andere sind in zehn Minuten fertig!«, und endlich erwiderte sie auf meine Fragen, wo dieses und jenes wäre: »Das weeß ech nech!« oder: »Das wird nech gezeigt« oder gar: »Damit is nischt los!« Da ich aber nicht glauben konnte, daß mit dem in jeder Kunstgeschichte gerühmten »Wolfram«, einem der frühesten Erzeugnisse deutscher Gießkunst, »nischt los« sein sollte, so ließ ich eine zweite Mark lockend an ihrem Horizont auftauchen. Aber diesmal versagte das Zaubermittel. »Nu müssen meu Goffee drinken, lieber Herre, mei' Mann hält sihre druff.« O dieser Gourmet! ...

Wenn ich all die Kunstschätze und Kuriositäten schließlich doch sehr gründlich sehen konnte, so danke ich dies einem freundlichen Zufall. Auf einer Bank des Steigerparks kam ich mit einem älteren Priester, einem Jesuiten vom Rhein, in ein langes, angeregtes Gespräch. Und wären zwei Menschen durch noch so vieles getrennt, worüber jeder anders urteilt – wirklich trennend sind nie Urteile, nur Vorurteile; und haben die beiden etwas gemeinsam, so finden sie sich ineinander; hier war's die ehrliche Freude an der Kunst ... In Begleitung dieses Mannes also habe ich den Dom zum vierten Male betreten und zum ersten Male wirklich gesehen.

Es war der Mühe wert. Ich schreibe ja keinen Reiseführer noch will ich der famosen »Beschreibung« Konkurrenz machen, ich will persönliche Eindrücke wiedergeben und erzähle daher nur von dem, was im Guten oder minder Guten stark auf mich gewirkt hat. Das Schönste scheint mir jener Erzguß des Peter Vischer – o Henning Göden, was warst du klug! Als Propst rund, als Jurist spitz, hast du den Wittenberger Studenten vor 400 Jahren den Gaium und Ulpianum so fein ausgelegt, daß ihnen die ganze Welt wie ein Stachelgärtlein voll Paragraphen erschien, und über die kleinsten Kontroversen hast du die dicksten Wälzer geschrieben und wärest heute doch mit all deinen Büchern spurlos verschollen, wenn du nicht kurz vorm Sterben den vortrefflichen Einfall gehabt hättest, um ein groß Stück Gold bei dem edlen Nürnberger Meister diese Votivtafel zu bestellen. Wer nun vor das herrliche Werk tritt, denkt freilich zunächst nicht an dich und nicht einmal an den Meister, sondern läßt sich den Glanz dieser stillen, schlichten Schönheit ins Auge leuchten – welche rührende Anmut umfließt die Gestalt und das in seliger Demut geneigte Haupt der Maria, während Gott Vater und Sohn die Krone über ihr halten; oben schwebt die Taube, und unten schalmeien die lieben Englein, und wie ein Widerklang ihrer feinen Musik tönt's uns durchs eigene schönheitsfreudige Gemüt. Schöneres hat selbst Peter Vischer selten gemacht als diese Tafel, nur das Sebaldusgrab und das Regensburger Christusrelief mögen noch herrlicher sein. Aber hat man sich dies alles gesagt, so gedenkt man auch deiner, Henning Göden, der du dich am Fußende mit deinem Schutzpatron, dem Evangelisten Johannes, hast abbilden lassen, und freut sich, wie klug du warst, doppelt klug, da du auch gleich eine Wiederholung für die Schloßkirche zu Wittenberg bestelltest.

Anders der zweite Donator, dem diese Kirche Herrliches dankt. Wir wissen nichts von ihm als den Namen: Wolfram Hilderich, und daß er ein starker Mensch war, stark an Körper, stark im Sündigen und stark im Büßen. So um 1100 mag der Hüne mit dem leidenschaftlichen Antlitz gelebt, genossen und gefehlt haben; es muß Schweres gewesen sein, womit er sich beladen, denn schwer war auch die Buße: er hat sich selbst als Büßer in Bronze formen lassen; die beiden flehend zur Madonna emporgehobenen Hände tragen je eine Kerze, aus dem demütig gesenkten Nacken steigt eine dritte hervor; auf dem Gürtel, der das härene Gewand zusammenhält, ist sein Name eingegraben und die Bitte, ihm flehen zu helfen, daß ihm die Gnade Gottes werde. Sie ist ihm geworden, denn seine Schuld ist vergessen, jedoch seine Buße erschüttert und erhebt noch heute die Herzen. Es muß ein begabter Künstler gewesen sein, der die Gestalt geformt hat, gleichwohl hätte er die Gestalt nicht so beseelen, mit so ergreifendem, Ausdruck erfüllen können, wenn ihn nicht die unerhörte Aufgabe und sein unseliges Modell selbst ins tiefste Herz hinein bewegt hätten. Die Reliefs an der Hildesheimer Domtüre, das einzige ebenbürtige Werk aus den Anfängen deutscher Erzgießkunst, das sich mit dem »Wolfram« messen kann, sind ja in der Erfindung reicher, aber an beseeltem Leben steht der »Wolfram« auf einsamer Höhe.

Neben diesem Herrlichen enthält die Kirche viel Schönes. So Lucas Cranachs des Älteren »Vermählung der heiligen Katharina«, ein schönes Bild, das nur seine Vorzüge aufweist und namentlich von seinem schwersten Fehler, der Spießbürgerlichkeit, frei ist; das Holzrelief einer Grablegung Christi, das freilich weder von Adam Kraft noch von Veit Stoß, noch von Michael Wohlgemuth herrühren dürfte, denen es abwechselnd zugeschrieben wird, aber doch durch den edelschönen Kopf der Maria, das merkwürdig beseelte Antlitz der Magdalena diese Hypothesen begreiflich macht, während der Christus selbst durch seinen furchtbaren Naturalismus den Gedanken an diese Meister ausschließt; das Grabmal der 1576 ausgestorbenen Familie von der Weser in reichster und edelster Renaissance, rechts die Männer, links die Frauen, in der Mitte aber, ganz einsam, das schöne Kind, mit dem das Geschlecht ausstarb, ein rührendes Bild.

Schön und rührend ist auch ein Erzeugnis des Kunstgewerbes, ein Gemälde in Plattstich, das die heilige Jungfrau in Gestalt eines holden, anmutigen Bürgermädchens des 16. Jahrhunderts darstellt, und vor allem schön ist das Chorgestühl, soweit nicht daran herumrestauriert worden ist. Ernste und lustige, tolle und wehmütige Gesichter und Gestalten, die Tugenden und Laster der Menschen, dazwischen herrliche Arabesken, alles bis ins kleinste ausgestaltet und individualisiert – eine ganze Welt im kleinen. Welch ein Künstler muß der Mann gewesen sein, der dies Gestühl im 15. Jahrhundert schnitzte, aber welch ein Stümper der Mann, der's im 19. restaurierte! Welch ein Stümper! – wo er sein Schnitzmesser ansetzte, ging die Schönheit zum Teufel. Wie war derlei möglich, fragt man sich, und nicht hier allein. Auf Schritt und Tritt begegnet man solchen Todsünden aus neuerer und neuester Zeit. Das größte und wohl ursprünglich beste Wandgemälde der Kirche, der »Christophorus«, einige Glasmalereien, dann ein alter mystischer hortus conclusus: »Die heilige Jungfrau, das Einhorn liebkosend« usw. usw. – sie alle mußten gerettet werden, und sollten sie darüber zugrunde gehen, und sie sind zugrunde gegangen! Restaurieren ist eine heikle Sache, ähnliches hat man auch anderwärts zu beklagen, nur nicht in solcher Fülle.

Auch Kuriosa, Werke, die immer nur seltsam, niemals schön gewesen sind, findet man hier öfter als in irgendeinem anderen der berühmten Dome Deutschlands. Die meisten Kapellchen, die den Raum einengen, das ohnehin nicht allzu harmonische Gesamtbild noch mehr trüben, sind nur eben solche Kuriosa; anderwärts hat man sie sacht hinweggeräumt, hier ist leider noch das meiste erhalten. Andere Kuriosa wieder müssen freilich bleiben, weil sie gleichsam Wahrzeichen der Kirche sind. So das Taufbecken von 1587. Der Deckel aus Holz, das Gefäß aus Sandstein, dessen symbolische Figuren fast den Eindruck machen, als ob sich der Meister einen Scherz hätte machen wollen; denn die »Weisheit« hat ein sehr albernes, der »Glaube«, der alles duldet und trägt, ein geradezu grinsendes, die »Hoffnung« ein düster verzweifeltes Gesicht, und die »Caritas« schleppt sich nutzlos an einem Bengel mit einem Riesenwanst ab, denn wird er noch weiter gepflegt, so erstickt er in seinem Fett ... Nicht so drollig, sondern fast unheimlich wirken die Figuren an dem Sarkophag, der die Reliquien der Lokalheiligen Erfurts, Adelar und Eoban, umschließt. Die frommen Jünger des Bonifacius, von den Friesen erschlagen, als sie diesen ihre Donarseichen fällten, haben nach dem Tode nicht minder zu leiden gehabt als zu ihren Lebzeiten. Auf rätselhaften Wegen, über welche die protestantischen Humanisten des 16. Jahrhunderts die verruchtesten Scherze machen, gelangten ihre Gebeine nach Erfurt und wurden unter dem Holzkirchlein, aus dem der Dom erwuchs, bestattet; durch einen seltsamen Zufall, den dieselben bösen Skribenten gleichfalls auf ihre Weise ausdeuten, wurden diese Gebeine dann nach Beginn des Dombaus in einem Augenblick (1154) aufgefunden, da die Geldmittel stockten; die Ausstellung der Reliquien zur öffentlichen Verehrung brachte so viel ein, daß der Bau fortgesetzt und für die Gebeine ein silberner Schrein hergestellt werden konnte, der wieder von einem steinernen umschlossen war. Fast vier Jahrhunderte ruhten sie da geborgen, bis 1525 der nun protestantisch gewordene Rat der Stadt den Silberschrein einschmelzen ließ, Münzen daraus zu schlagen. Dies steht fest und ebenso, daß der Steinsarg auseinandergenommen wurde, aber wo inzwischen die Reliquien blieben, weiß man nicht, welchen Umstand die lutherischen Spötter wieder weidlich ausnützen. Gewiß aber ist, daß der Sarkophag längst wieder zusammengefügt und leider in neuester Zeit auch restauriert worden ist. Da sieht man in bunter Reihe eine Exorzisation, Krieger und Priester, Heerführer und Schwertträger, Mönche und Laienbrüder und Schalksnarren, eine schwer auszudeutende Reihe, und rätselhaft ist vor allem eine Gestalt: ein Bischof mit einem Schwert, auf das ein Buch gespießt ist. Alles arg restauriert, fratzenhafter geformt und greller koloriert, als es ursprünglich gewesen sein kann ... Endlich das berühmteste Kuriosum der Kirche, das Grabdenkmal des Grafen von Gleichen mit seinen beiden Frauen; die Figuren aus bemaltem Sandstein; in der Mitte ein sehr kräftiger Ritter mit langem Haar, links eine blonde, rechts eine braune Frau, die blonde mit kurzer, die braune mit langer Nase; die Blonde hält ein Buch in der Rechten und die linke Hand auf dem Magen, die Braune deutet mit der Rechten auf ihr Herz und läßt gleichfalls die Linke auf dem Magen ruhen. Dazu erzählte mir meine dicke Gönnerin auf meine Bitte die Legende: »Der Herr in der Mitte hat sich Graf Ernst von Gleichen geschrieben und war ein tapferer Ritter, und die blonde Dame links hat sich Ottilia geschrieben, und beide haben in christkatholischem Ehebunde gelebt, und zehn Kinder haben sie gehabt, manche sagen, es waren nur fünf Kinder, aber es waren zehn. Da nehmen auf einmal die Türken Jerusalem weg, also natürlich muß die ganze Ritterschaft es ihnen wieder herausreißen, und wie der Graf die Zustellung bekommt, daß er mit muß, sagt er: ›Ottilia, bleib mir treu!‹, und sie weint und sagt: ›Ernst, wenn du nur mir treu bleibst.‹ Aber wie er in die Wüste kommt, fangen ihn die Türken wegen seiner Tapferkeit zuerst weg, und wie er in die Festung kommt, sieht ihn eine wunderschöne Türkin, welche sich Melechsala, Landgräfin vom Ägypterland, geschrieben hat, und kommt gleich zu ihm und sagt ihm: ›Ernst‹, sagt sie, ›wenn Sie mich heiraten wollen, so fliehe ich mit Ihnen, und wenn Sie nicht wollen, werden Sie erschossen.‹ Da sagt er: ›Wie Gott will!‹ und erzählt ihr alles, so und so, ein Weib und zehn Kinder, ›und‹, sagt er, ›ich bin ja ein Katholik, wie kann ich zwei Weiber haben, und dieses darf sogar kein Lutherischer oder Jüdischer tun.‹ Aber dann gibt er zum Glück nach, weil sie ihn nämlich sonst wirklich erschossen hätten, und fährt mit ihr nach Rom und erzählt dort dem Heiligen Vater alles, nämlich Lebensgefahr, so und so, und da sagt der Papst: ›Das is was anderes‹, sagt er und traut ihn mit ihr und sagt: ›Nun gehet heim, und wenn Ottilia böse ist, so gebt ihr diesen Brief.‹ Aber das war nicht nötig, denn sie war eine gute Frau und hat sich mit der Melechsala niemals nicht gezankt. In einem Bette haben alle drei geschlafen, und dieses Bett hat noch meine Großmutter gesehen; und auf der Wartburg ist die ganze Geschichte abgemalt. Dieses Bett hat auf der Gleichenburg gestanden, und wer einen Splitter davon bei sich getragen hat, ist niemals nicht eifersüchtig geworden, und das war gut, aber die Franzosen haben leider das Bett aus Bosheit verbrannt. Im Kloster am Petersberg waren die drei beerdigt, unter diesem Stein hier, aber wie aus dem Kloster ein Heumagazin geworden ist, hat man den Stein hergeschafft samt den drei Schädeln, aber der hochselige Herr Propst hat gesagt: ›Die Schädel tun wir weg, in geweihte Erde tun wir sie‹, sagt er, ›denn so gebietet es die Religion, und den Appetit verschlägt's einem auch.‹ Und so steht nur noch der Stein hier. Dieses, mein lieber Herr, ist die wahre historische Erfindung, auch wenn es im Buch anders steht.« Allerdings steht es »im Buch« anders. Das Grabdenkmal ist das eines Grafen von Gleichen, der zweimal kinderlos vermählt gewesen und nun mit beiden ihm gleich teuern Frauen vereint im Grabe ruhen wollte. Ein anderer des Geschlechts brachte ein sarazenisches Kebsweib aus dem Morgenlande heim; ein dritter endlich ließ aus zwingenden Gründen – er wie seine Gattin waren sehr dick – das ungewöhnlich breite Ehebett zimmern, dessen Splitter tatsächlich als Mittel gegen Eifersucht galten und das wirklich erst 1813 von den Franzosen als Heizmaterial verbraucht wurde. Aus diesen drei Tatsachen schuf sich der dichtende Volksgeist die »wahre historische Erfindung« ...

Kein uraltes Gotteshaus, an dem unzählige Geschlechter der Menschen bauten und schmückten, jedes im heißen Drang, sein Bestes zu geben, aber jedes aus seinem Geschmack heraus, kann einen ganz einheitlichen Eindruck machen. Aber einen zwiespältigeren als der Dom zu Erfurt macht kaum eines. Darin stimmten mein geistlicher Begleiter und ich überein. Die Seltsamkeiten im Bau erklären sich leicht aus dem beschränkten Raum des Felsens und aus einer fast beispiellos bewegten Baugeschichte, die gleichermaßen auf den Willen der Elemente wie auf den Ehrgeiz der Priester zurückzuführen ist, und ähnlich erklärt sich die Buntheit der inneren Ausstattung. Das Holzkirchlein aus dem 8. Jahrhundert weicht bald einem größeren; der romanische Steinbau des 12. Jahrhunderts füllt bereits, dank jenem Reliquienfunde zu rechter Zeit, die ganze Felskuppe. Da schaffen die 1236 hier begangene Kanonisation der Landgräfin Elisabeth und ein sehr billiger Ablaßtarif neue große Mittel; so ersteht das herrliche Hauptportal, aber weil der Raum fehlt, nur eben als Triangel, der zugleich den Durchzug der riesigen Wallfahrerscharen gestattet; zur Türe links treten sie ein, legen ihre Gabe in den Opferstock und gehen schon nach drei Schritten durch die Türe rechts ab, aber für beide Teile ist der Zweck erfüllt: die Wallfahrer waren in dem Dom, und der Bauschatz hat sein Scherflein. So kann auch das Riesenwerk der »Cavaten« und das neue herrliche Chor errichtet werden, schon wird ein Neubau des Schiffs in gleicher Pracht geplant, da beginnt ein Hagel von Unglück: 1416 stiften berauschte Diener der Kirche einen Brand an, der das Obergeschoß der Türme vernichtet, bei dem Neubau wird das Gewölbe des Schiffs unvorsichtig belastet und stürzt 1452 zusammen, 1472 folgt eine zweite Verheerung durch Feuersbrunst. Abermals wird der Reliquienschatz gemehrt, eine selbst für jene Zeit unerhörte Verbilligung des Ablaßtarifs tritt ein; aber so riesige Summen wie bisher fließen nicht mehr ein; schon geht jenes dumpfe Murren durch Deutschland, dem dann der Bergmannssohn aus Eisleben glockentönige Worte leiht; selbst Tetzel, der geschickteste Ablaßkrämer des Domes – seine Kanzel wird noch heute pietätvoll die Tetzelkanzel genannt – bringt nicht allzuviel ein, obwohl er schon für einen Groschen im vorhinein vom Ehebruch absolviert; sich selber absolvierte er ja davon bekanntlich noch billiger, nämlich ganz gratis. Mühsam wird so viel aufgebracht, um Türme und Schiff aufbauen zu können; aber für gute Meister reicht's nicht; lediglich Fehler im Bauplan verschulden zum Beispiel die schiefe Stellung des Langhauses zum Chor und die anderen Unregelmäßigkeiten, auch im Innern muß mehr auf Größe und Vergoldung als auf künstlerischen Wert des Zierrats gesehen werden. Anderwärts greift in derlei Fällen der Landesherr, der Bischof, die Stadt hilfreich ein. Hier tun sie wenig. Geistlicher und weltlicher Fürst zugleich ist der Erzbischof von Mainz; der erste Bischof von Erfurt, der heilige Adelar, ist zugleich der letzte, weil die Nachfolger des heiligen Bonifacius auf dem Mainzer Erzstuhl die Neubesetzung zu verhindern wissen; sie wollen die kräftig aufblühende Stadt, das reiche Gebiet selbst behalten. Aber bald erobert sich die Stadt eine gewisse Selbständigkeit; auch um das Gebiet muß Mainz oft streiten; die Einkünfte sind schmaler als erhofft, obwohl noch immer groß genug, aber etwas davon abzugeben sind die Mainzer Herren nicht gewillt. Auch eine andere Erwägung läßt sich zwischen den Zeilen der alten Urkunden lesen, es ist den Mainzern schon recht, wenn die Kirche schön und groß ist, aber sie ist doch nur eben die Ecclesia Beatae Mariae Virginis, die Stadtkirche von Erfurt, der ein simpler Propst vorsteht, schöner und größer als der Mainzer Dom braucht sie nicht zu werden. Ist einmal allzugroße Ebbe in der Baukasse, so schafft der Erzbischof vom Papst ein neues Ablaßprivileg oder vermittelt eine Mehrung des Reliquienschatzes (so muß zum Beispiel einmal Fulda ein Teilchen vom Leichnam des heiligen Bonifacius abtreten, gibt aber nur ein unansehnliches Knöchelchen, über welchen Geiz der Fuldaer große Entrüstung herrscht) oder empfiehlt den braven Tetzel; Geld gibt er nicht. Und die Stadt wird auch immer karger; liegt sie doch mit dem Erzbischof immer heftiger im Streite. Kaum aber ist das Gotteshaus (um 1500) wieder leidlich fertig, als die »Pfaffenstürme« losbrechen; die Stadt wird vorwiegend protestantisch, mehr als einmal machen Bauern und Bürger »Anleihen« bei der Schatzkammer des Doms; 1631-33 ist er durch Gustav Adolfs Macht die protestantische Hauptkirche Thüringens. Bald freilich fällt Erfurt wieder an Kurmainz, schwer liegt die Hand des Erzbischofs über der Stadt, aber sie bleibt vorwiegend protestantisch, seit dem Dreißigjährigen Krieg ist höchstens ein Fünftel der Einwohner katholisch. Das erklärt manches: zwar an Geld fehlt's nun längst nicht mehr, es ist sogar seit Jahrzehnten überreich vorhanden, weil seit Jahrzehnten das ganze katholische Deutschland beisteuert, aber ein geistiges Zentrum des Katholizismus und damit auch eine Stätte feinen kirchlichen Kunstgeschmacks wie Köln oder Straßburg, Mainz oder Wien war Erfurt nie ...

Geld ist nun da, sag ich, und darum könnten die Herren die Besuchsordnung ebenso würdig und praktisch regeln wie in Köln oder Straßburg. Und auch etwas anderes könnte würdiger geordnet sein; die Cavaten sind als Lagerräume für Porzellan, Eisen, Sämereien usw. vermietet. Das stört nicht, solange die Räume geschlossen sind. Aber sie sind selten geschlossen, und in jedem Raum steht die Geschäftstafel des Mieters, auch Verkäufer mit freundlich einladender Miene werden ab und zu sichtbar. Als der Pater an meiner Seite die Treppe des Doms hinabstieg und diese offenen Lagerräume am Gotteshause sah, blieb er stehen, und glühende Röte schlug über sein edles, durchgeistigtes Antlitz, dann wurde er sehr bleich. Wir gingen weiter, noch einmal blieb er stehen, setzte zum Reden an, schwieg dann aber. Es war auch nicht nötig. Ich verstand ohne Worte, was sein feines, frommes Gemüt dabei empfand ...

Der Dom zu Erfurt ist sehenswert, aber seltsam und der Widersprüche voll. In noch weit höherem Maß gilt dies alles von dem Stadtbild. Und nun ich von diesem zu reden beginne, habe ich sowenig wie bei Zerbst und Wörlitz die Unterbrechung zu befürchten: »Aber das ist ja bekannt!« Denn auch Erfurt kennt man nicht, und es ist mir rätselhaft, daß von den Millionen Touristen, die alljährlich vorbeisausen oder ringsum den Sommer verbringen, so wenige herkommen.

Keine Fremdenstadt; man merkt's überall, nicht bloß an Christoph Martin Wieland und Genossen. Ich sehe davon ab, daß ich in den Sammlungen am Hospitalsplatz der einzige Besucher war, während ich im Museum am Anger leider ein einheimisches Liebespaar störte. Und wenn in Gretchens braunen Augen (so hieß sie; »Gretchen, schnell noch einen Kuß, da kommt der Kerl wieder!«) die bange Frage stand: »Wenn Erfurter junge Liebe sogar im Museum nicht mehr sicher ist, wohin soll sie noch flüchten?«, so antworte ich: »Getrost, Kinder, diese Stellen märchenhafter Einsamkeit bleiben euch erhalten!« Denn wissenschaftliche Sammlungen sind nicht jedermanns Sache, und im Museum kann man nur erfahren, daß auch in Erfurt mittelmäßige Maler geboren worden sind. Aber warum trifft man hier auch an interessanten Orten so wenig Fremde?

Die Antwort ist schwer. Bauernfeld erwiderte mir einmal auf eine ähnliche Frage – es war von Wien die Rede –: »Wer erwartet hier die Fremden?« Natürlich ist auch daran was, und in Erfurt erwartet sie niemand. Alles, was man Fremdenindustrie nennt, in argem Gegensatz zur Größe der Stadt; die Sehenswürdigkeiten schwer oder gar nicht zugänglich. Der katholische Dom hat doch mindestens eine, wenn auch recht eigentümliche Besuchsordnung; die evangelischen Kirchen aber – nach meinen Erfahrungen geht eher ein Kamel durchs Nadelöhr, ehe denn ein Fremder in ihr Inneres gelangt.

Hier einige dieser Erfahrungen. Die Barfüßerkirche, ein massiver, frühgotischer Bau, der Turm ein Prachtstück, das Innere angeblich ebenbürtig, die Türe verschlossen. Ich frage die Vorübergehenden, wo ich den Küster finden könne. Nummer eins, dicker Schlächter, mürrisch: »Weeß nich!« Nummer zwei, Gebildeter, belehrend; »Hier sieht man sich nur den Dom an!« Nummer drei, dünner Schneider, lächelnd: »Aber da is ja jetzt keene Katz drinne! Was wollen Sie da siehn?« Endlich Nummer vier, ein Kanzleirat, oder doch einer, der das Würdevolle an sich hat: »Aber, mein Herr! – Der Eintritt ist ja doch durch dies Gäßchen rechts rum, übern Hof!« Nun ja, die Fremden sind so unglaublich dumm, sie fragen nach Dingen, die jedes Kind in Erfurt weiß, aber dann muß man sie auch mitleidig zurechtweisen. Ich fand den Hof und da – ja, eine Tafel! – die Besuchsordnung! Aber auf der Tafel stand: »Unbefugten ist der Zutritt zum Schulhof untersagt. Der Magistrat.« Ich überlege: Das ist also ein Schulhof, diesen zu betreten bin ich unbefugt, aber da hier zugleich der Eintritt zu einem der schönsten Bauwerke dieser Stadt ist, so darf's der Kunstfreund wagen. Nur nützte es mir nichts; auch diese Pforte ist geschlossen; zehn Minuten dauert's, bis ich die Wohnung des Küsters erfrage, weitere zehn, bis ich sie finde – aber »där Häär schläääft seit Ains«, sagt sein Mädchen. Nach der Breite ihres Dialekts zu schließen schläft er behaglich. Küsterschlaf ist heilig, aber es ist fünf, ein Nachmittagsschläfchen von vier Stunden ist für Nicht-Küster genügend, so murmle ich was von gutem Trinkgeld, Kirche besehen usw. »Und darum soll äch ihn wääcken?« ruft sie entrüstet und wirft mir die Tür vor der Nase zu. So hatte ich ein halbes Stündchen ebenso nützlich wie angenehm verbracht.

Nicht besser erging's mir bei der Predigerkirche. Gleichfalls ein frühgotischer Bau, das Innere ein Juwel nach dem Urteil aller, die es gesehen; nachdem ich mit schwerer Mühe die Wohnung des Küsters erfragt, war er nicht zu Hause. Ich mochte wohl eine sehr betrübte Miene gemacht haben, denn die Frau tröstete: »Aber Sie können's ja uffschreiben! Is es än Junge oder än Mächen?« Sie hielt mich für einen glücklichen Vater, der ein Kind zur Taufe anzumelden kam. Schüchtern gestand ich ihr meinen Zweck. »So, so!« sagte sie. »Ja, das will bald alle Monate einer, aber merschtentels is es nischte dermit!« Auch bei mir war's »nischte dermit«. Was endlich die uralte Reglerkirche von 1135 betrifft, deren Inneres als wohlerhaltenes Muster romanischen Stils gerühmt wird, so mag sie vielleicht auch einen Küster haben, aber – das behaupte ich steif und fest – dieser Küster wohnt nicht, denn sonst hätt ich ihn gefunden; suchte ich ihn doch schließlich mit Hülfe eines mitleidigen Schutzmanns ...

Aber, wird man fragen, gibt's keinen Spezialführer für Erfurt, der über derlei Dinge Auskunft gibt? Freilich gibt's einen, sogar einen offiziell von der Stadt geförderten, aber der Herr Verfasser feiert nur eben alles in und um Erfurt mit denselben überschwenglichen Phrasen und in demselben üblen Deutsch; der Mann hat seinen Beruf verfehlt, welch ein schlechter Lyriker hätte er werden können! Sein Führer enthält vielerlei, was kein anderes solches Büchlein bietet, zum Beispiel ein Verzeichnis der Wohltätigkeitsanstalten, die gemütvollen Verse eines geborenen Erfurters, der sich nun »im Sand der Marken« vergeblich nach seiner Heimatstadt sehnt, weil ihm »das Geschäft gebieterisch in die Zügel fällt«, auch eine Übersicht der Volks- und Bürgerschulen, kurz, was so der Fremde vor allem braucht, aber so nüchterne Angaben, wann und wie man etwas zu sehen kriegt, entstellen das empfehlenswerte, bei Orell Füßli in Zürich erschienene Buch nicht. Auch mit der alten Schablone, wonach den Nummern des Stadtplans immer eine arithmetisch geordnete Erklärung dieser Nummer beigefügt wird, so daß man, wenn man ein Gebäude sucht, seine Nummer finden oder, wenn man nach dem Plane geht, erfahren kann, was Nr. 172 bedeutet, ist hier gebrochen, ein solches Verzeichnis gibt es nicht, und der Plan selbst ist auch was ganz Neues. Sonst ist auf allen Karten und Plänen der Welt rechts Osten, links Westen, oben Norden, unten Süden; hier ist mal zur Abwechslung oben Westen, unten Osten, rechts Norden, links Süden, was für den Fremden, der gewohnt ist, sich gleichzeitig nach dem Plan und dem Sonnenstande zu richten, ein unfehlbares Mittel ist, binnen einer Viertelstunde vor Ärger aus der Haut zu fahren. Das aber wird nur der Choleriker tun; der Sanguiniker hingegen wird nach Baedekers kleinem, aber klaren Plänchen gehen und diesen großen, auf schönem Papier gedruckten Plan einem anderen Zweck zuführen. Ich bin ein Sanguiniker ... Noch eins, auch nichts Großes, aber wie bezeichnend! In allen guten, alten Städten gibt's aus den guten, alten Tagen gute, alte Steinbänke auf jedem Platz, auf jeder Stelle, von wo man einen hübschen Blick hat, und in neuester Zeit fügen die Städte mit Fremdenverkehr neue bequeme Holzbänke mit Rückenlehnen hinzu; der Wanderer dankt's ihnen im stillen, der Einheimische vielleicht nicht minder. Ohne Zweifel gab's auch in Erfurt einst viele solche alte Bänke; noch heut sieht man Reste davon, aber die meisten sind entfernt und neue nicht hinzugekommen. Wozu auch? Man läuft hier eben seinen Geschäften nach. Um mir auch einmal ein Superlativ zu gönnen: Erfurt ist die bankloseste Stadt Deutschlands.

Aber doch auch eine der sehenswertesten. Nein, daraus allein, daß sich hier niemand um den Fremden kümmert, ist der schwache Besuch nicht zu erklären. Es ist ja wahr: der Fremdenverkehr geht nur nach Orten, die Rücksicht auf die Gäste nehmen, aber noch viel wahrer ist, diese Rücksicht wird nur dort genommen, wohin der Strom geht. Ich glaube also, es hat einen anderen, sehr triftigen Grund; in vielem ist der aufrechte Zweibeiner, homo sapiens, ein Herdentier, aber am meisten in der Wahl seiner Reiseziele; nach Erfurt geht man nicht, weil man eben nicht hingeht. Und das ist schade. Die alte Erfordia ist keine lachende Schönheit, die jeden fesseln muß, aber ihr unschönes, leiddurchfurchtes und doch von unverwüstlicher Lebenskraft durchstrahltes Antlitz wird jedes erfahrene Auge fesseln. Um im Bilde zu bleiben: gerade den Frauenkenner wird das Weib anziehen ... Welch ein Stadtbild! Alt und neu, schön und häßlich, Zeugnisse feiner, üppiger Kultur und öder Armseligkeit in buntem Gemisch, auf Schritt und Tritt. Ähnliches mag man, ehe wir wieder eine leidlich wohlhabende Nation geworden sind, zuweilen in Deutschland getroffen haben – ich denke zum Beispiel an Königsberg in Preußen –, aber in so scharfem Anprall der Gegensätze nicht, und für unsere Tage scheint mir das Stadtbild von Erfurt nach dieser Hinsicht vollends einzig. So einzig, daß es zu schildern schwer ist. Und ganz unmöglich wäre die Aufgabe zu lösen, wenn ich gleich mit dem Nebeneinander beginnen wollte. Erst will ich's mit dem Nacheinander versuchen und andeuten, was alles da vorging und was alles man da noch sehen kann, und dann erst, in welchem Gemisch hier die Steine, wirr durcheinander, die wild bewegte Geschichte von mehr als einem Jahrtausend erzählen.

Eine ur-, uralte Stadt – das ist, wie der erste, so der bleibende Eindruck –, eine Stadt, über der ungeheure Schicksale gewaltet haben. Während anderwärts die Geschicke sich sacht abspinnen, abwechselnd trüb und heiter, wie nun einmal Menschenlos ist, wechseln hier volles Glück und schlimmstes Verderben. Und beide kommen aus derselben Quelle, dem Willen der Natur. Sie hat – sahen wir schon – Erfurt zur »Stadt der Ackerbauer«, zu einem Knotenpunkt des Verkehrs gemacht, und darum bestimmt sie der heilige Bonifacius zum Mittelpunkt seiner Tätigkeit für die Christianisierung Mitteldeutschlands, zum Bischofssitz. Aber weil Stadt und Gebiet Erfurt ein so lockender Besitz sind, reißt sie Mainz an sich und legt ihnen dadurch eine furchtbare, ein Jahrtausend währende Fessel auf. Hier laufen – sahen wir ferner – die Handelswege von Ost und West, Nord und Süd zusammen; die Natur bestimmt Erfurt zum Handelsplatz, zur reichen Stadt, aber Reichtum weckt Habsucht; nach der »Henne, die die güldenen Eier legt«, strecken sich immer wieder begehrliche Fäuste und drehen ihr schier den Hals um; und was das schlimmste ist: auch den Sinn und die Kraft der eigenen Bürger verwirrt und entnervt in mehr als einem entscheidenden Augenblick das rote Gold. So ist hier alles Fluch und Segen zugleich, zumeist natürlich jenes dritte, dessen gleichfalls bereits gedacht ist: der Kranz von Felsen und wildem Gewässer, der Erfurt zur Festung macht. Ist's nicht die Üppigkeit des Bodens, so ist's der Reichtum des Stapelplatzes und zwischendurch die Bedeutung der Festung, die Erfurt immer wieder zerstören und aufbauen. Eine richtige Schicksalsstätte.

Große Menschen haben immer auch, oft nur kraft ihres genialen Instinkts, den Sinn für eine solche Stätte; sie drücken gleichsam ihr Siegel auf die Schrift der Natur. Dem heiligen Bonifacius, der erkennt, daß diese Stadt kraft der Fruchtbarkeit ihres Bodens ein unverwüstliches Leben hat, gesellt sich Karl der Große, der ihre Bedeutung als Stapelplatz erfaßt, den Marktverkehr regelt, einen eigenen Vogt zu ihrem Schutz bestellt. Die Stadt erblüht wie Baum und Blume auf ihrer Flur, in üppiger Kraft, mit einer unter deutschem Himmel seltenen Raschheit. Dem Mainzer Erzbistum untertan, wird sie zugleich Königspfalz; hierher beruft schon Ludwig der Deutsche einen wichtigen Reichstag, hier läßt Heinrich I. seinen Sohn Otto zum König wählen. Unter Umständen läßt sich zweien Herren besser dienen als einem: die Macht des Königs und die des Erzbischofs, beide nicht scharf abgegrenzt, lassen Raum für die Entwicklung eines Bürgertums, in dem sich Trotz und Kraft der alten Thüringer fortzuerben scheinen. Aber Otto III., in seiner Mischung von Herrschsucht und Askese wahrlich ein »Wunder der Welt«, tritt seine Rechte an Kurmainz ab, und Heinrich IV. leiht dem Erzbischof den gewappneten Arm, die Stadt dem Zehnten zu unterwerfen. Es geschieht nicht kampflos; Erfurt verjagt 1074 den Erzbischof und wird dann niedergeworfen und gezüchtigt. Nun ist der Mainzer sein Herr, aber auch der Landgraf von Thüringen will sein Teil an den »güldenen Eiern«, reißt die weltliche Gerichtsbarkeit an sich und setzt den Grafen von Gleichen als Stadtvogt ein. Das ist gleichermaßen ein Unglück wie ein Glück für die Stadt; denn natürlich kommen Landgraf und Erzbischof bald über die Henne in Streit; der Landgraf zerstört die Erfurter Stadtmauer, der Erzbischof baut sie mit Hülfe der Bürger wieder auf; ein andermal jagen die Bürger mit Hülfe des Landgrafen die Mainzer zur Stadt hinaus, und wieder einmal stehen Vogt und Stadt gegen den Landgrafen zusammen. So nehmen Kampf und Wirrnis kein Ende, aber weder der Mainzer noch der Thüringer, noch der Vogt können die Hülfe der Bürger missen; das ist das Glück dabei. So kommen die Bürger im 12. Jahrhundert zu immer größerer Bedeutung; nach jeder Fehde blüht Erfurt kräftiger auf; 1177 durch ein grimmes Ringen mit dem Landgrafen verwüstet und geschwächt, steht es vier Jahre später, 1181, so stolz da, daß es Friedrich Barbarossa zum Platz eines Schauspiels wählt, für das er eine besonders glänzende Folie braucht: hier muß sich Heinrich der Löwe vor ihm beugen. Dieses jähe Aufblühen nach jeder noch so harten Prüfung kommt einem Wunder gleich.

Aber es war kein Wunder, und wir wissen bereits die Erklärung. Rings um die Stadt wogte schon damals nicht Weizen oder Gerste, sondern das Blaugrün des Waids und das Goldgelb der Rapsblüte. Der Waid (Isatis tinctoria L.), im Mittelalter der einzige blaue Farbstoff, war bis ins 17. Jahrhundert hinein, wo ihn der Indigo totschlug, die Hauptquelle von Erfurts Macht und Reichtum; nicht aller Waid wurde hier gebaut, aber fast aller hier gehandelt; drei Tonnen Goldes, sagen die Chronisten, habe er jährlich der Stadt eingebracht; nicht Tausende, Zehntausende lebten als Waidjunker und -bauern, als Fuhrleute und Färber von der Blattrosette der unscheinbaren Pflanze. Auch Hopfen bauten sie und brauten früh vortreffliches Bier; dabei bogen sich in jener gesegneten Zeit die Spaliere auf den sonnigen Hängen um Erfurt von schweren Reben – die Weinkultur gehört zu dem wenigen Guten, was den Erfurtern von Mainz her wurde, der Erzbischof sandte Winzer und Schößlinge vom Rhein. Daneben bauten sie Anis und Koriander, vor allem aber das beste Gemüse in Deutschland; Blumen, wie man sie sonst kaum wo sah: »des Heiligen Römischen Reichs Gärtner« hießen die Erfurter erst später, aber sie waren es schon im 12. Jahrhundert. Gerühmt wird auch die Bienen-, als Wichtigeres aber die Rinderzucht; so große Wiesen wie andere Ackerbürger hatten die von Erfurt nicht, dazu war der Boden zu kostbar, aber um so üppiger schoß hier auf den kleinen Weideflächen das Gras empor. »Ein Kanaan, wo Milch und Honig fließt«, erschien jenes alte Erfurt seinen Dichtern und Chronisten.

Man sieht, die »Stadt der Ackerbauer« war Erfurt geblieben, aber daneben war es schon längst zu einer Stätte blühenden Gewerbefleißes geworden. Was immer deutsche Bürger vor 700 Jahren zustande brachten, konnten die Erfurter auch, und einiges besser als andere; die Schwertfeger, die Löwer (Gerber), die Schegener (Flachsweber) und die Tuchmacher waren weithin berühmte Gilden; die berühmteste von Erfurt war nur hier zu finden, die der Weiter, der Färber und Händler mit Waid. Gleich viel Geld aber brachte der Handel in die Stadt, »die Erfurter Bürger durften sich rühmen, daß ihre Stadt im Warenvertrieb einem Herzen gleiche, von und nach dem das Adernsystem das ganze deutsche Vaterland durchziehe« (A. Kirchhoff, »Die ältesten Weistümer der Stadt Erfurt«). Von Norden kamen Heringe und Eisen, von Süden Nüsse, Gewürze und Seide, von Osten der Bernstein und die Salben des Morgenlandes, von Westen Juwelen und kostbare Stoffe. Die Natur hatte Erfurt die günstige Lage beschieden; die Menschen aber schufen gute Straßen und kluge Gesetze. Wer nur durch Erfurt fuhr, mußte Zoll erlegen; wer hier stapelte, blieb von Abgaben frei. So ernährte auch der Handel Tausende; in Erfurt hungerte niemand. Wohl aber anderwärts in dieser harten, dunklen Zeit. Daher wirkte Erfurt wie ein Magnet, und jede Lücke, die Feuer und Schwert in die Reihen rissen, fand zehnfachen Ersatz.

Nicht bloß die Bücher erzählen von diesem Erfurt um 1200; man sieht noch heute seine Spuren, nur muß man die Augen recht gebrauchen. Freilich, eine Waid habe ich nicht gesehen, sooft ich auch bei meinen Gängen durch Felder und Gärten nach dem schlanken Stengel mit pfeilartig aufsitzenden Blättern ausspähte. Und doch wurde sie zuletzt noch vor 90 Jahren, während der Kontinentalsperre, wo der Indigo nicht ins Land konnte, im großen angebaut und selbst vor 40 Jahren noch zeitweilig als Hackfrucht gezogen. Heut bin ich ihr zwar anderwärts in Thüringen begegnet, bei Arnstadt zum Beispiel, in Erfurt nicht. Selbst in den riesigen Gewächshäusern und Plantagen von J. C. Schmidt und Benary suchte ich diese größte Wohltäterin Erfurts vergeblich. »Waid?« antwortete mir beim Blumenschmidt ein höchst eleganter Verkäufer. »Unbekannt! Selbst geborener Erfurter! Nie gehört!« Man darf von einem Herrn, der zu beschäftigt ist, um in ganzen Sätzen zu sprechen, nicht verlangen, daß er die Geschichte seiner Vaterstadt kenne, aber daß heute kein Erfurter Kind erfahren kann, wie die Pflanze ausgesehen hat, ohne die es vielleicht jetzt kein Erfurt mehr gäbe, hat mich doch gewundert. Freilich, wir Menschen sind selbst gegen Menschen nicht dankbar – und sollten es gegen Pflanzen sein? Auch daß es noch eine Weitergasse in Erfurt gibt, spricht nicht dagegen; sie zweigt vom Anger ab, wo die Waidmärkte abgehalten wurden. Allerdings mögen nicht alle Erfurter wissen, warum sie so heißt; mein feuchter Gönner Christoph Martin Wieland zum Beispiel, dessen Droschke ich aus Verehrung für den »Oberon« noch oft benützte, wußte es nicht. Ich erklärte es ihm, als wir hindurchfuhren, und meinte, damals hätten wohl viele Erfurter so schön himmelblaue Nasen gehabt wie er. »Määglich«, erwiderte er ernst, »daß ich's dadervon habe, meu' sind alde Aarforder.« Diese Anwendung der Vererbungstheorie ist noch immer plausibler als die Antwort, die mir meines Vaters Kutscher zu geben pflegte, wenn ich ihn fragte, warum er immer nach Schnaps rieche. »Jungherr«, sagte der alte Fedko gekränkt, »mit eines Menschen Unglück spaßt man nicht. Ich bin als Kind von einem Birnbaum gefallen, und seitdem gebe ich diesen Geruch von mir.«

Mit der Farbpflanze aus dem Mittelalter war es also nichts, hingegen habe ich bei einem Spaziergang gegen Hochheim hin noch selber Rebstöcke gesehen und die dürftigen grünen Trauben mitleidsvoll gestreichelt. Ob heute noch aus ihnen Wein gekeltert wird, weiß ich nicht, mein Hotelwirt verneinte es: »Kein Bedarf, lieber Herr, wir haben hier billigen Essig.« Und doch verzeichnet Olearius als die drei W, auf die Thüringens Hauptstadt stolz sein dürfe, »Wein et Wolle et Waid«, und der alte Eobanus Hessus, der hier 1517 Professor wurde, schätzt in einer seiner Idyllen den Erfurter Wein höher als alle Weine des Rheins. Und da Hessus sich als fahrender Scholar weit umgetan hat und da Luther ihn den »rex poetarum« nennt, was er nicht getan hätte, wenn er ein Dichter ohne Trinkverstand gewesen wäre, so habe ich von vornherein vermutet, daß die Schuld nicht an dem braven Hessus liege, sondern an der Entartung des Erfurter Weins, und in einem der dicken alten Schmöker, die ich in meinen Erfurter Tagen durchsah, weil mir eine Stadt um so mehr Spaß macht, je mehr ich von ihr weiß, fand ich meine Vermutung bestätigt. Die endlosen Belagerungen, sagt der gelehrte Verfasser, hätten verschuldet, daß die Reben, jahrelang ohne Pflege, schließlich ganz verwilderten. Da wäre denn der Wein von Erfurt eine der vielen Gaben, die der ewige Kriegssturm der Stadt geraubt hat.

Pflanzen vergehen, Steine bestehen. Dicht am Anger, hinter dem Lutherdenkmal, ragt inmitten uralter Bäume der düstere Bau der Kaufmannskirche empor, der älteste Teil neun, aber selbst der jüngste schon sieben Jahrhunderte alt. Wer aus dem Gewühl des Marktes unter diese rauschenden Bäume tritt, in deren Schatten es ewig feucht, kühl und dämmrig ist, und zu dem gewaltigen Bau emporblickt, müßte sehr stumpf sein, um nicht Ehrfurcht vor dem starken Geschlecht zu empfinden, das ihn so derb und kunstvoll zugleich emporgetürmt hat, vor fast einem Jahrtausend und für Jahrtausende. Nur an wenigen Orten Deutschlands, so namentlich am Hildesheimer Domplatz, schlägt einem so der Hauch uralten deutschen Wesens, der dämmerigen Morgenzeit unserer nationalen Kultur entgegen wie unter diesen Bäumen. Das Innere aber blieb mir verschlossen wie das aller evangelischen Kirchen Erfurts; hier war der Küster zur Abwechslung zwar zu Hause, aber, wie er mir aus einer Tabakswolke entgegenrief, »zu beschäftigt«, vermutlich muß er täglich eine bestimmte Anzahl Pfeifen rauchen. Nun, in sein Schicksal muß sich der Mensch finden. Den starken Eindruck des Äußeren konnte mir mein Mißgeschick hier ebensowenig trüben wie bei der Barfüßer-, Prediger- und Reglerkirche, die sämtlich auch aus dem 12. Jahrhundert stammen, also gleichfalls Wahrzeichen des jungen, unter tausend Fährlichkeiten emporgediehenen Gemeinwesens sind. Ein anderes solches Wahrzeichen, die St. Laurentiikirche in der alten Schlösserstraße, zu der ich eben deshalb pilgerte, ist vor zwölf Jahren von Grund aus so schrecklich schön umgebaut worden, daß sich der Gast mit Grausen wendet; hingegen ragt die in gleicher Zeit erbaute Schottenkirche mit ihren riesigen Pfeilern und winzigen Bogenfenstern noch fast unverändert empor. Als ich vor dem ehrwürdigen, altersgrauen Gemäuer stand, trat ein zierliches, rosenwangiges Männchen mit geöltem Haar, eine schwere Goldkette über dem Spitzbäuchlein, ein Spazierstöckchen in der beringten Hand, gleichfalls heran. »Schgandahl!« sagte er entrüstet. »Verwahrlost gönnde man fast sachen! Ne Girche muß appedidlich sein wie 'ne Apodheke!« Der Vergleich fiel mir auf; das freundliche Wesen, das geölte Haar – kein Zweifel, ein Pillenherr von der Elbe oder Pleiße. »Sie sind wohl Apotheker?« fragte ich. »Ei ja – Sie wohl ooch?« Nun habe ich seit dreißig Jahren allerdings ein kleines Laboratorium, in welchem ich ehrlichen Herzens, wenn auch mit schwacher Kraft allerlei Tränklein gegen die Krankheiten der Zeit braue, aber einen Apotheker darf ich mich deshalb doch nicht nennen. Ich verneinte also und empfahl dem Freunde »appedidlicher« Kirchen die St. Laurentiikirche. Sie ist geeignet, ihm Freude zu machen.

Einen noch stärkeren Eindruck aber als von irgendeiner, selbst von der Kaufmannskirche, habe ich von einem anderen Überrest des uralten Erfurt empfangen, von der Krämerbrücke. Von einem gewaltigen, viereckigen, mit spitz zulaufendem Helm gekrönten Kirchlein, St. Ägidien, als Brückenkopf geschützt, öffnet sich auf einer Steinbrücke über der Gera eine enge Gasse alter, mit Kaufläden versehener Häuser; trotz des Gewühls hört man unten den wilden Fluß rauschen, aber man sieht ihn nirgendwo, nur vom Ufer kann man sehen, wie die Häuser auf dem Brückenbogen ruhen, in deren Wölbungen ihre Keller wie Schwalbennester kleben. Es ist kaum zu sagen, wie seltsam, wie so recht mittelalterlich dies Gäßlein anmutet; wer hindurchgeht wird versucht, mit offenen Augen zu träumen, obwohl von den Häusern der größte Teil erst aus dem 17. Jahrhundert stammen dürfte und obwohl sie heute unter anderem auch Maggi und Van Houtens Kakao dort feilbieten. Aber die Phantasie wird rege und setzt an die Stelle der Männer von heute Ritter in stählernem Waffenrock, Bürger in buntem Tuchwams, Bauern in härenem Flaus; dazu Frauen im faltigen Gewand in allen Farben des Regenbogens und Jungfrauen in knappem, blauem Mieder über dem dunklen Tuchrock, den Blumenkranz oder das Schappel im blonden Haar, und Beginen in langem, grauem Sack und mit niedergeschlagenen Augen. Aber freilich, nicht alle diese Büßerinnen schlugen die Augen nieder, wenn man dem bösen Erfurter Dichter Nikolaus von Bibera trauen darf, der so Erbauliches von den metrischen Arbeiten der Beginen zu berichten weiß, immer in Daktylen oder anderen Dreifüßlern, aber man frage mich nicht, warum. An diese Art von Beginen wird man sogar auf der Krämerbrücke sehr oft erinnert; koketter können sie nicht gewesen sein als die unzähligen Näherinnen, die jetzt hier herumlaufen, gibt es doch zur Zeit in Erfurt fünfzehn Mäntelfabriken ... Wer hier einst wandelte, das habe ich mir so annähernd ausmalen können, aber nicht entfernt, was alles hier verkauft wurde. »Hier die fremden Tuchstoffe«, berichtet der bereits zitierte Geschichtsschreiber Erfurts, »Samt und Seide, dort duftige Spezereien, Wachs, süßer Kandit, Zuckermehl und Muschetin, Büchsen mit Pfeffer, Safran und Ingwer ... Ist es doch hie und da, als wenn des Orients Schätze aus dem Füllhorn eines Zauberers ausgeschüttet wären ... Schöne Verkäuferinnen versetzen uns durch ihre phantastische Kleidung auf die Basare der fernsten Lande ...« Ich sag's ehrlich: was immer mir die Phantasie, von ihren stärksten Helfern, Auge und Nase, gefördert, auf der Krämerbrücke vorgaukelte, schöne Verkäuferinnen nicht und duftige Spezereien womöglich noch weniger ... Aber trotzdem rat ich jedem, der in Erfurt verweilt, sich dies Stück Mittelalter anzusehen. Namentlich in der Dämmerung, wenn die modischen Gewänder und die neuen Ladenschilder verschwimmen und der Fluß stärker unter der engen Häuserzeile rauscht, wird einem wie verzaubert zumute ...

Hier war Kraft und Geld und hochgemuter Sinn, und darum kam Erfurt auf und schwang sich lange nach jedem Schicksalsschlag kräftiger empor. Aber Mut bleibt ja die größte Weisheit auf Erden, und vielleicht glückte ihnen deshalb mehr, weil sie mehr einsetzten. Schon was wir bisher von den Wagnissen der Bürger vernommen, grenzt ans Kühnste, was im deutschen Mittelalter versucht wurde, und nun gar die Rolle, die sich Erfurt im 13. Jahrhundert herausnahm! In den Kämpfen, die nach Heinrichs IV. Tode hereinbrachen, war Erfurt, obwohl doch halb dem welfischen Landgrafen Hermann von Thüringen, halb dem welfischen Mainzer Erzbischof Siegfried II. untertan, gut ghibellinisch, huldigte dem Sohne des großen Barbarossa, Philipp von Schwaben, und öffnete seinem Anhänger, Luitpold von Worms, den die Ghibellinen auf den Mainzer Stuhl setzen wollten, die Tore. Nicht zum ersten Male wurde in den furchtbaren Kämpfen, die nun folgten, Erfurt belagert, sein Gebiet verwüstet, aber zum ersten Male griff es als eine Macht in die deutschen Händel ein, der städtische Kernpunkt der Waiblinger wie Köln der Welfen. Die Erfurter wagten's, ob nun aus demselben deutschen Gefühl heraus, das die Edelsten jener Zeit unter Philipps Fahnen führte, ob nur, weil ihnen alles paßte, was gegen ihren Mainzer Zwingherrn ging – genug, sie taten's, und wie schweren Preis sie auch dafür bezahlen mußten, ihr Ziel ward erreicht: nun wußte Deutschland, was Erfurts Bürgerkraft bedeute. Immer gegen Mainz, öffnete dann die Stadt dem vom Papst gebannten Otto IV. ihre Tore und wehrte sich später gegen den gewalttätigen Erzbischof Siegfried III. auf das äußerste; ihre Hoffnung war der Kaiser. Aber Friedrich II., der Städtefreiheit abhold, schützte sie nicht, sondern fügte sogar, als sie dem Mainzer Heerfolge und Steuer verweigerten, dem Bann der Kirche die kaiserliche Acht hinzu. Ihr Geld kaufte die Bürger von beidem los, aber da fast gleichzeitig auch die weltliche Gerichtsbarkeit an Mainz fiel, so waren sie nun scheinbar völlig dem Erzstuhl untertan. Nur scheinbar; die innere Machtfülle Erfurts war eine Tatsache, die ihr Recht forderte. Und so kam es 1255 zu einer in ihrer Art einzigen Verfassung: dem Bischof blieb zwar dem Namen nach die Souveränität, aber er hatte, Ehrengaben geringen Wertes abgerechnet, nichts zu fordern und, wo ihm nicht etwa das Interdikt als Waffe diente, von Rechts wegen nichts zu befehlen. Der eigentliche Regent der Stadt war der Rat der Vierzehn, der frei über fast allem schaltete, was sonst dem Landesherrn zusteht, und nicht allein im Innern: hatte er doch sogar das Recht, auswärtigen Mächten den Krieg zu erklären, Frieden zu schließen und Bündnisse einzugehen. Man sieht, so gut wie die Häupter irgendeiner freien Reichsstadt hatten die Erfurter Ratsmeister das Recht auf den stolzen Titel, den sie führten: Consules. Das Leben ist immer unendlich vielgestaltiger als alle Theorie; kein Terminus des Staatsrechts umreißt das Verhältnis zwischen Mainz und Erfurt; es ging in vielem über die Suzeränität hinaus, blieb in anderem hinter ihr zurück; so wurden zum Beispiel die Urteile vom Grafen-Vogt im Namen des Erzstifts verkündet, hingegen Lehen vom Reich und den Nachbarfürsten im eigenen Namen erworben. Ob Erfurt recht daran tat, sich mit dieser Stellung zu begnügen, statt die volle Souveränität als Reichsstadt zu erringen, warum es dies unterließ, soll später angedeutet sein. Jedenfalls hatte es durch zwei Jahrhunderte keinen zwingenden Grund, eine Änderung anzustreben, es kam unter der Herrschaft seiner Ratsmeister, die dem Mainzer und seinem Lehensmann, dem Grafen-Vogt von Gleichen, den Treueid leisten mußten, so hoch oder noch höher empor als irgendeine Reichsstadt vom 12. bis zum 15. Jahrhundert.

Ohne schwere, harte Kämpfe ging auch dies nicht ab; Ströme Bluts bezeichnen den Weg von dem kleinen, wenn auch blühenden Acker- und Handelsstädtchen zur Großstadt Mitteldeutschlands, von dem bischöflichen Eigen zur Beherrscherin eines stattlichen Gebiets. Immer wieder weht das weiße Rad im roten Feld über der gewaffneten Schar der Bürger und ihrer Söldner, bald zur Erhaltung des Besitzes, bald zur Eroberung. Der Chronist mag die zahllosen Kriegszüge in Trutz- und Schutzfehden zu scheiden suchen, unserem Auge fließen sie in eins zusammen; wer unablässig immer mehr Gut und Macht begehrt, ist auch dann ein Eroberer, wenn er das Erraffte zeitweise mit dem Schwert verteidigen muß. Selbst die »kaiserlose, die schreckliche Zeit« schlug den Erfurtern gut an; noch besser die Regierung Rudolfs von Habsburg; hier hielt er fast ein Jahr (1290) Hof; das Peterskloster, wo er residierte, war der Schauplatz stolzer Feste, deren Ruf bis über die Alpen drang; ein Volksfest der Erfurter, der »grüne Montag«, erinnert noch heute an diese fröhlichen Zeiten. Erfurts Bürgerschaft war Rudolfs Arm, als er die Thüringer Raubburgen brach, und ihr Säckel der des armen Schweizer Grafen; freilich schenkten sie ihm nichts. Ihm nicht und keinem der ewig geldbedürftigen Herren im Lande. Die Art, wie sie zu einzelnen Dörfern, dann zu ganzen Grafschaften kamen, war fast immer dieselbe: es waren zunächst Pfänder für Darlehen. So kam die Grafschaft an der Schmalen Gera, so die von Kapellendorf an Erfurt; Vargula, Sömmerda, die Landschaft um die Drei Gleichen wuchsen seinem Gebiet zu, das an Größe und Zahl der Bewohner manches Fürstentum überstrahlte. Kein Wunder, daß die Landgrafen von Thüringen, die Kurfürsten von Sachsen, von geringeren Herren zu schweigen, immer wieder ihre Hand nach der reichen Stadt streckten; auch mit seinen Mainzer Schutzherren geriet Erfurt je nach dem Zeitenlauf und namentlich je nach der Sinnesart dieser Kirchenfürsten auch wieder in Kämpfe; war einer von ihnen kriegerisch und herrschsüchtig, so suchte er »des Erzstuhls getreue Magd«, die in Wahrheit selbst eine Herrin war, zur Sklavin zu machen; es gelang nicht. Wieviel Einwohner Erfurt zur Zeit seiner höchsten Blüte, um 1420, zählte, ist noch heute ein Gegenstand des Streits seiner Geschichtsschreiber, der an Heftigkeit an die Fehden jener Zeit erinnert: die höchste Schätzung geht auf 80 000 Seelen, aber selbst die geringste auf die Hälfte; auch dies noch doppelt soviel als Nürnberg im Mittelalter hatte. Also eine der volkreichsten Städte Deutschlands und sicherlich die geldreichste. Aber noch mehr, die geistig strebsamste, die gebildetste. Nur so erklärt es sich, daß diese damals formal einem Gebieter unterworfene Handelsstadt eine Kulturtat vollbrachte, deren sich in Europa keine andere berühmen darf: aus eigenen Mitteln schuf Erfurt, von keinem Fürsten gefördert, von vielen behindert, 1378 eine Universität, nächst Prag und Wien die älteste in Deutschland, zugleich die erste, die alle vier Fakultäten aufwies. Eine Hochburg des aufstrebenden Humanismus, hatte sie in ihrer Blütezeit an 900 Studenten, eine für jene Zeit ungeheure Zahl, und einer von diesen Erfurter Studenten hat seiner Alma mater nachgerühmt, daß alle anderen Hohen Schulen Deutschlands, Wien und Prag, Heidelberg und Leipzig »dagegen wie kleine Schützenschulen gelten«. Auf dies Zeugnis ist was zu halten, denn der Student hieß Martin Luther aus Eisleben.

Freilich, die Erfurter hatten's dazu. Die Quellen dieses Wohlstandes waren dieselben wie früher, nur immer planvoller und reicher entwickelt. Der Bau und Vertrieb von Waid und Gewürzen mehrte sich mit dem steigenden Bedarf von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zu einer Höhe, die der sonst armen Zeit wie ein Wunder erschien, auch ein anderer Farbstoff, der Kermes, die Eier der Kermesschildlaus, die von den Stengeln der Stecheiche gesammelt und zu einem roten Pulver zerrieben wurden, brachte den Erfurtern Goldbarren ein. Beträchtlich war aber auch der Ertrag der Obst- und Gemüsezucht; hier gediehen die Riesenäpfel und -birnen, die dem derben Geschmack der Zeit zusagten; die kolossalen Erfurter Rettiche, das Stück zwanzig Pfund und darüber schwer, wurden weit über Deutschland hinaus verfrachtet. Als Friedrich der Freidige 1311 bei einer Belagerung der Stadt alle Obstbäume fällen ließ, klagten mit den Bürgern alle Feinschmecker Mitteleuropas; nach zehn Jahren war der Schade völlig verwunden; viel langsamer erholte sich fünf Jahrhunderte später das geschwächte, gedemütigte Erfurt, als die Franzosen (1813) den gleichen Frevel verübten. Aber nicht bloß die fette Erdschicht über dem Kalkboden, auch Wasser und Gestein machten Erfurt reich: die Gera trieb unzählige Mühlen und wimmelte von Fischen; das Erfurter Salz würzte allen Westdeutschen das Mahl.

Höher und höher kamen auch Gewerbe und Handel empor. Es war ja kein Verdienst der vierzehn Gefrunden (Patrizier), die die Stadt in dieser frühesten Blütezeit regierten, daß die meistbefahrene Handelsstraße Mitteldeutschlands, die Oberstraße, aus dem Hessischen über Erfurt nach Leipzig führte, daß von Erfurt die Straße nach Dresden abzweigte, von hier die nach Norden, und noch weniger ihr Verdienst, daß Thüringen das Herz Deutschlands war und Erfurt das Herz Thüringens, also die »Mitte der Mitte«. Aber ihr Verdienst, wie sie diese natürliche Lage durch Arbeit und Klugheit ausnützten und festigten. Das Straßennetz um Erfurt war das besterhaltene des Mittelalters; unablässig wurde es weiter ausgebaut; jede Nebenstraße, jede Fähre war auf Erfurt gerichtet. Und nirgendwo waren die Straßen sicherer; um Erfurt gab es keine Raubburgen, in seinem Gebiet keine Wegelagerer; ein Heer von Söldnern, ein Kranz fester Schlösser schützte den Verkehr. Mit der Hansa und den süddeutschen und sächsischen Städten verbündet, war Erfurt der Brennpunkt des mitteldeutschen Geleitswesens; seine Bedeutung als Stapelplatz habe ich bereits angedeutet. Aus all diesen Gründen, vielleicht ebensosehr aber aus der Kühnheit und dem Unternehmungsgeist der Bürger erklärt sich die Bedeutung der Stadt als deutsche Handelsmetropole des Mittelalters. Von allen Richtungen der Windrose kamen hierher die hochgetürmten Lastwagen gezogen; die aus Rhein- und Niederland durchs Brühler Tor, an der Cyriaksburg vorbei, wo sich heute riesige Gärtnereien dehnen; die Niedersachsen und Engländer um den Petersberg herum durchs Andreastor; die Lübecker und Hamburger über das weite Feld, wo nun ein Arbeiterviertel entstanden ist, durchs Johannistor; die Sachsen und Lausitzer über die Gera und durchs düstere Krämpfer Tor; die Vogtländer und Böhmen die Straße entlang, wo auch heute der Schienenstrang aus Weimar heranführt, durchs Schmidtstedter Tor; die Süddeutschen und Welschen über das Gefild, wo jetzt das Villenviertel ersteht, durchs Löbertor; nur da, wo in unseren Tagen der Fremde vom Bahnhof her eintritt, öffnete sich in der Stadtmauer kein gastliches Tor. Erfurt war ein Handelsplatz wie später Leipzig oder heute Hamburg; nur daß damals nicht bloß die Warenballen sich hier zusammendrängten, sondern auch die Scharen der Käufer und Verkäufer. Und weil hier mit allem gehandelt wurde, darum auch natürlich mit Geld; die Erfurter dünnen Silberpfennige mit dem Bischofsbild galten in jener Zeit unerhörter Münzfrevel als ehrliche, vollwichtige Ware sehr viel. Die Münze stand nie still; Erfurt war der Wechsler und Bankier für Mitteldeutschland wie Nürnberg für den Süden. Aus den Schatullen der Erfurter Gefrunden floß das Geld für Bankette, Turniere und Mätressen deutscher Kaiser, Fürsten und Bischöfe, freilich um dann mit gutem Zins zurückzufluten. Und zu diesen größten Formen des Handels gesellten sich die kleinsten; auch dies war eine Quelle von Erfurts Reichtum und sicherte namentlich neben dem blühenden Handwerk den Bürgern die Wohlhabenheit, daß es zugleich der Hauptmarkt für alle Bedürfnisse Thüringens war. Aus Erfurt ging Salz, Bier, Wein, Mehl und Obst, aus Erfurt Tuch und Hausgerät in die ganze Landschaft zwischen Hessen und Brandenburg, dem Harz und Franken. »Ganz Thüringen nährt und wärmt sich aus Erfurt«, sagt Nikolaus von Siegen.

Hier war Reichtum und darum auch Kultur. Arm waren die größten Menschen, die über die Erde geschritten sind, und ein einzelner Großer kann, auch wenn sein Weg immer durch Kälte und Dunkel geht, in seinem Hirn unsterbliche Gedanken tragen, aber der Durchschnitt der Menschen gelangt nur in der Wohlhabenheit zur Erkenntnis, was Bildung und was Schönheit ist. Die Erfurter konnten es wissen, sie hatten das Geld dazu, und alles, was das Leben jener Zeiten schmückte, was es warm und licht machte, war ihnen zugänglich. Aber zu dem Geld kam auch Stolz, Streben, der Weitblick des Großstädters. Doch nicht daran allein, wenn auch daran vornehmlich, lag es, daß die Erfurter des Mittelalters die Schule pflegten, die Dichter und Gelehrten in Ehren hielten, sondern auch daran, daß mindestens in einigen ihrer Klöster ein guter Geist waltete. Namentlich die Predigermönche, die ersten, die vor Luther den Deutschen das Wort Gottes in der Muttersprache verkündeten, haben unleugbar dem Leben der Stadt einen geistigen Hauch mitgeteilt, unter ihnen als Gewaltigster Meister Eckhart, der Begründer der deutschen Mystik, der vor sechs Jahrhunderten verkündete: »Die Seele, wenn sie vom Leibe ist geschieden, hat weder Vernunft noch Willen ... Soviel ein Mensch in diesem Leben mit seiner Erkenntnis näher kommt dem Wesen der Seele, je näher ist er der Erkenntnis Gottes.« Und ihm auch war schon klar, daß »die Wollust der Kreaturen vermenget ist mit Bitterkeit« ... Ohne ihre Predigermönche, ohne die des Petersklosters, welche die getreuen Freunde und Chronisten der Stadt waren, wären die Erfurter doch wohl nicht dazu gekommen, durch die Schaffung der ersten vollständigen Universität in Deutschland ihrer Stadt einen unvergleichlichen Ruhmestitel zu schaffen.

Freilich, warum dachte keine andere deutsche Stadt daran? An gebildeten Priestern fehlte es nicht. Die Kulturtat von 1378 bleibt das Herrlichste von allem Herrlichen, was aus Erfurts Blütezeit zu berichten ist.

Man weiß, die Universität besteht seit fast hundert Jahren nicht mehr; sie ist 1816 auch offiziell aufgehoben worden, nachdem sie bereits seit Jahrhunderten nur noch ein Scheinleben geführt hatte. Nur ihr Schößling, die 1758 gegründete Erfurter Akademie gemeinnütziger Wissenschaften, die jetzt das Prädikat »königlich« führt, lebt noch; sie wäre die beste in Deutschland, wenn von den Akademien gelten würde, was von den Frauen ein Wahrwort ist; man spricht nicht von ihr. Das soll nicht ihren Mitgliedern zum Hohn gesagt sein; eine gelehrte Akademie in einer Handelsstadt ohne Universität ist wie eine Fassade, der das Haus, eine Wachskerze, der das Wachs fehlt. Ein anderes Überbleibsel ist die Universitäts-, nun Königliche Bibliothek, die jetzt in demselben Rokokohaus am Anger, dem alten Packhof, untergebracht ist, der auch das bereits seiner ungewöhnlichen Einsamkeit und seiner gewöhnlichen Bilder wegen gewürdigte Bildermuseum, daneben aber – das Steueramt birgt. Die Bibliothek enthält viele alte Drucke und über tausend Handschriften; ich suchte sie vergeblich zu sehen; diese Abteilung war eben geschlossen. Andere Bibliotheken sorgen dafür, daß gerade zur Sommerszeit der Reisende mit wissenschaftlichen Interessen ihre Türen offen findet; hier scheint dies nicht Brauch; vielleicht kommen auch zu wenige. Und so mahnt im Weichbild Erfurts nur noch ein Bau an die alte akademische Herrlichkeit, das Universitätsgebäude nahe der Studentengasse.

Ein langgestreckter Bau; auf einem hohen, alten Erdgeschoß mit gotischen Spitzbogenfenstern ein niedriges, in einer nüchterneren und ärmeren Zeit aufgesetztes Stockwerk; nur das Portal – unter dem geschmückten Giebel ein in schönen Verhältnissen nach innen abgestuftes Spitzgewölbe – zeugt von Künstlerhand, aber das altersgraue Haus macht doch Eindruck auf den Beschauer. Freilich »verwahrlost gönnte man fast sachen«, aber das Haus hat manchen Sturm erlebt, von dem großen Auflauf von 1510, da sich die Studenten hier gegen Bürger und Söldner verschanzten, bis zu dem kleinen Unfug, den heute die Realschüler beim Kommen und Gehen an dem bröckelnden Gestein verüben. Ein anderer Inwohner des Hauses zieht um so weniger Besucher herbei: das Thüringerwald-Museum, obwohl es ganz hübsche Kuriosa und Volkstrachten enthält. Das ist das Schicksal der Erfurter Sehenswürdigkeiten, nicht besehen zu werden, und darum ist es einigen nicht zu verübeln, daß sie streiken und sich überhaupt nicht besehen lassen. So zum Beispiel war die, wie es in den Reisebüchern heißt, gut erhaltene Aula zur Zeit nicht zugänglich. »Da müssen Sie in einigen Wochen wiederkommen«, sagte mir ein sehr würdevoller Herr, der eben aus dem Portal trat. Ich bemerkte bescheiden, ich sei ein Fremder. »Das ist nicht logisch«, war die Antwort. »Deshalb könnten Sie doch in einigen Wochen wiederkommen.« Ich blickte bestürzt an mir hinunter, ob mich der liebe Gott nicht etwa plötzlich in einen Realschüler verwandelt hätte, und erwiderte dann mit der Bescheidenheit, die man Männern der Wissenschaft schuldet: ich würde gern wiederkommen, wenn nur die Aula genügend sehenswert sei. Worauf der Gelehrte mit vernichtendem Lächeln: »Was denken Sie sich denn unter einer Aula? Das ist kein Frauenzimmer: Aula heißt, wie schon bei den Griechen so bei uns, der Festsaal einer Universität.« Worauf ich: ich sei bisher der Meinung gewesen, die Griechen hätten noch gar keine Universitäten gehabt, ebenso der Meinung, das Wort sei lateinisch und habe bei den Römern den Hofraum des Hauses bedeutet. Er zuckte zusammen: »Sind Sie Philologe?« – »Nein, Schriftsteller.« Da erschien flugs wieder jenes Lächeln um seine Lippen: »Das ist alles falsch! Übrigens kümmert sich kein Gebildeter heute um verstaubten Kram!« Und er schritt erhobenen Haupts, ohne Gruß, von dannen. Ich sah ihm nicht nach; ich trat an die Mauer der Michaelskirche, der Universität gegenüber, prägte mir die Umrisse des ehrwürdigen Baues ein und gedachte der Männer, die einst täglich durch dies Portal geschritten.

Eine lange, lange Reihe. Alle in langem, dunklem Talar, die einen mit herabwallendem Haar, die anderen in der Allongeperücke, dazwischen Mönche und Männer im lutherischen Priestergewand, die einen das sichere Lächeln des Alleswissers um die Lippen, die anderen mit dem milden Blick und den feinen Runen um den Mund, die die schmerzvolle Erkenntnis des »Ignorabimus« dem Antlitz des Forschers eingräbt. Weise und Toren, Gelehrte und Silbenstecher, kleine Lichtlein der Wissenschaft, die ausgeglommen waren, als sie noch lebten, und andere, die fortleuchten bis in unsere Tage hinein. Da wandeln Eobanus Hessus, der trinkfeste »König der Dichter«, und Konrad Celtes, der dann auch leibhaftig als Dichter gekrönt ward; da Crotus Rubianus, der große Begründer klassischer Studien an dieser Hochschule; da Luderus und Rufus, die welschen Dichter-Gelehrten, die hier eine Heimstätte gefunden; Justus Jonas und Joachim Camerarius; da Adam Riese, der 1525 hier sein berühmtes Rechenbuch herausgab, da, wie es sich für die Stadt der Blumen geziemt, zwei berühmte Vertreter der »scientia amabilis«, der Botanik, Valerius Cordus und Johannes Thal. Das sind Persönlichkeiten, die wert sind, daß man ihren Namen nenne. Andere wieder in diesem langen Zug haben nur als Schar Bedeutung; so die Erfurter Theologen, die einst neben ihren Kollegen zu Paris und Löwen gegen den edlen Reuchlin für die Kölner Dominikaner entschieden. Sie kniffen die Augen vor der aufleuchtenden Flamme des Humanismus zu, die anderen aber begrüßten sie freudig und halfen ihr Licht mehren; Erfurt war die beste und stärkste Stütze des Humanismus in Deutschland. Von hier aus ward der »verstaubte Kram« ein Erwecker der Bildung und der geistigen Freiheit, des Sinns für Schönheit und für Menschlichkeit. Welche Bedeutung Homer und Horaz für unsere Zeit haben, darüber mag man verschiedener Meinung sein; ich meinerseits, meiner Zeit ein treuer Sohn, aber nicht ihr Knecht, glaube mit Jean Paul, daß die Menschheit unergründlich tief versänke, wenn unsere Jugend nicht mehr durch die Tempel der Alten den Weg auf den Markt des Lebens nähme; aber auch wer anders denkt, beuge doch sein Haupt vor dieser altersgrauen Burg des Humanismus auf deutschem Boden. Denn all unsere Kultur und alle Größe deutschen Namens in Wissenschaft und Dichtung erhebt sich auf dieser Grundlage. Berühmt waren die Lehrer, die einst durch dies Portal schritten, aber einen Ruf, wie sich zwei ihrer Schüler errungen, hat keiner vor ihnen. Denn so unendlich verschieden diese beiden waren, gemeinsam ist ihnen, daß ihre Namen auf Erden nie ersterben werden: Martin Luther und Johannes Faust.

Man weiß, Erfurt darf sich mit Recht eine Lutherstadt nennen wie Eisleben, Wittenberg oder Worms. Er hat nur sieben Jahre seines Lebens hier verbracht (1501 bis 1508), aber es waren die, wo er sich zu der »tapferen, frommen, ehrlichen Innerlichkeit« durchrang, ohne die er vermutlich nur ein begabter Richter oder Advokat geworden wäre wie viele andere. Hier studierte er die Rechte und ward Magister der Jurisprudenz, hier erschloß sich ihm durch Crotus Rubianus und Johannes Lang die Welt der Alten, hier traf ihn durch ein Gewitter jener »Schrecken vom Himmel«, der ihn als Mönch zu den Augustinern trieb; in einer Erfurter Zelle durchlebte er jene Qualen des Zweifelns und Verzweifelns, aus denen ihn das Studium der Schrift emporhob. Dann ist er noch zweimal hier gewesen, 1521 auf der Reise nach Worms, dann das Jahr darauf, wo er in der Kaufmannskirche predigte.

Neben diese Kirche, unter den Schatten ihrer alten Bäume, haben die Erfurter darum auch ihr Lutherdenkmal gesetzt. Es ist ein tüchtiges Werk von Fritz Schaper, 1889 errichtet; auf einem hohen Granitsockel steht ernst und ruhig die hochaufgerichtete Gestalt; die beiden Hände halten die aufgeschlagene, an die Brust gedrückte Bibel: »Ich werde nicht sterben, sondern leben und des Herrn Werk verkündigen«; es hätte der Inschrift auf dem Sockel kaum bedurft, die Gestalt spricht es aus. Rietschels Lutherstandbild in Worms ist ja zweifellos ungleich gewaltiger; es hat in der leidenschaftlichen Bewegung, im kämpfenden Antlitz, in der geballten Faust, die auf der geschlossenen Bibel liegt, etwas Hinreißendes; aber auch Schapers Arbeit ist ein gutes Werk. Die vier Reliefs wirken gleichfalls erfreulich; der Magister der Rechte vergnügt sich zum letzten Mal mit den Freunden bei Sang und Saitenspiel; sein Eintritt ins Kloster, von dem die Freunde abmahnen; seine Tröstung durch den ehrwürdigen Staupitz; sein Empfang in Erfurt auf der Reise nach Worms. Besonders zu rühmen scheint mir das zweite Relief; ich zähle es den besten bei, die ich von modernen Meistern gesehen habe. Das gute Werk ist den Erfurtern zu gönnen; gar so viel Freude können sie, glaube ich, an ihren anderen Denkmälern nicht haben, auch nicht am Kaiser-Wilhelm-Denkmal, obwohl der Erfurter Herr, der mir sagte: »Alles ist gut, aber was gar das Pferd betrifft, so ist so was sonst selten zu sehen«, wenigstens teilweise recht hatte. So ein Pferd ist wirklich in der Natur nie und auch auf Denkmälern nicht oft zu sehen, aber Gestalt und Sockel sind nicht gut. Ich gebe zu, ein Denkmal dieses Fürsten ist eine schwere Aufgabe; es ist kein Zufall, daß fast alle Lutherdenkmäler gut, fast alle Kaiser-Wilhelm-Denkmäler mißlungen sind. Der Grund leuchtet ein: es ist ein natürlicher Gegensatz zwischen der ungemeinen Schlichtheit der Erscheinung und der Größe der Aufgabe, die das Schicksal den greisen Fürsten hat lösen lassen. Nur ein Genie könnte beides vereint zum Ausdruck bringen; die Talente, die sich bisher daran versucht haben, vermögen es nicht; entweder sie geben eine stilisierte oder gar posierende Imperatorengestalt, und das ist dann nicht der greise Fürst, wie er im deutschen Volksgemüt lebt, oder einen freundlichen alten General, und das ist nicht der Einiger Deutschlands. Nicht daß der Schöpfer des Erfurter Denkmals den Kaiser in »anspruchsloser Interimsuniform« dargestellt hat, stört den Beschauer, wohl aber die ungemeine Nüchternheit der Auffassung. Auch daß der romanische Sockel aus rotem Granit so hoch und schmal ausgefallen ist, stört ernstlich; freilich tröstet es andererseits, daß man bei dem vierbeinigen Wesen, auf dem der Kaiser sitzt, nicht eben an ein wirkliches Pferd denkt, das ausschreiten könnte. Das Antlitz des Kaisers ist dem, das mir in der Erinnerung lebt, ähnlicher, als ich es auf anderen Denkmälern gesehen habe, aber das gilt nur von dem Schnitt der Züge, nicht von ihrem Ausdruck. Hier sehe ich nur eben einen freundlichen, alten General, aber in Kaiser Wilhelms Zügen war neben der Freundlichkeit das Bewußtsein, ein zu Größtem erlesenes Werkzeug der Vorsehung zu sein, und der stille Stolz großer und treu erfüllter Pflichten. Von den anderen Denkmälern der Stadt ist nicht viel zu sagen. In den Anlagen am Flutgraben nahe der Pförtchenbrücke steht das Sandsteindenkmal des braven Ratmeisters Christian Reichardt, im Kostüm der Zopfzeit, eine freundliche, mittelmäßige Arbeit. »Der hat schiene Baime und gude Flumen (Pflaumen) gepflanzt«, erwiderte mir ein ganz kleiner Erfurter auf die Frage, wer der Mann wäre; die Pflaumen abgerechnet, die sein Lieblingsobst sein mochten, wußte also der Junge Bescheid, denn Reichardt hat sich um den Gartenbau der Stadt große Verdienste erworben. Hingegen wußte mir von den Knaben, die sich am Hermannsbrunnen mit vieler Ausdauer bespritzten, nur einer zu sagen, wem der Brunnen gelte: »Das war ein General gegen die Römer«, und der sagte es falsch; der gotische Brunnen ist nicht Hermann dem Cherusker, sondern nur einem Stadtrat Hermann gewidmet, könnte aber deshalb doch hübscher sein. Erfreulicher ist das Kriegerdenkmal im Hirschgarten, eine hohe, von einem vergoldeten Adler gekrönte Steinsäule, nur ist das Beiwerk an Emblemen und Reliefs etwas zu reich und zu zierlich ausgefallen. Ringsum aber schlägt nicht Mars, sondern Amor seine Schlachten; ich habe selten auf einem bewohnten Flecken Erde so viele verliebte Pärchen gesehen wie in diesen Anlagen zur Dämmerstunde; das ist ja kein Hirschgarten mehr, sondern schon fast ein Hirschpark. Das relativ beste unter den kleinen Erfurter Werken ist Hoffmeisters Brunnen am Anger. Freilich eine Allegorie; die Dame ist, nach dem Blümchen in ihrer Hand zu schließen, eine Flora, hingegen habe ich nicht herausgebracht, wer der bärtige Herr ist; im Reisebuch steht, es sei der Herr Gewerbefleiß; das kann ich glauben oder nicht. Aber die Figuren sind hübsch modelliert, und das getriebene Kupfer hat im Sonnenschein einen warmen Ton.

Doch zurück zu Luther. Auch vom Kloster, in dem er drei Jahre verweilte, sind in der Augustinerstraße noch Reste zu sehen, freilich so verwandelt und modernisiert, daß man zu keinem rechten Eindruck kommt. Die Kirche, seit 1521 evangelisch, hat 1850 das Unionsparlament beherbergt; wer heute das helle, geräumige Schiff betritt, denkt an Radowitz, der hier den glänzenden Scheinerfolg seiner Politik erlebte, oder an Bismarck, der ihn bekämpfte; an Luther zu denken hat er keine Veranlassung. Im Martinsstift, einer Anstalt für verwahrloste Knaben, und im Waisenhause werden noch einzelne Erinnerungen an Luther gezeigt, eine Reihe von Kammern, die von dem Bau des Klosters eine Anschauung geben, seine Zelle, 1872 ausgebrannt und seither mit neuem Gerät im Stil seiner Zeit ausgestattet usw. Der Atem der Persönlichkeit schlägt einem aus diesen Spielereien nicht entgegen.

Luther bedeutet für Erfurt unendlich viel; es gab Zeiten in der Geschichte dieser Stadt, wo nur sein Wort die Gemüter aufrechterhielt. Und darum ist er hier auch noch im Volksbrauch lebendig, der ja nur eine Verkörperung dessen ist, was die Volksseele bewegt; ist dieser Hauch der Seele verflogen, so stirbt auch sacht der Brauch ab. Der Geburtstag Luthers ist auch heute noch ein bewußt begangenes Fest der Erfurter. Außer der Martinsgans gibt's am 10. November auch Martinshörnchen und Martinskringel. Wenn abends um sechs die Glocken läuten, strömen die Kinder auf die Gasse. Die evangelischen singen:

Martin! Martin! Martin war ein braver Mann!
Steckt hier unten Lichter an,
Daß er oben sehen kann,
Was er unten hat getan!

Der Vers scheint mir nicht recht volkstümlich, doch verzeichnen ihn verläßliche Quellen in diesem Wortlaut. Viel echter, aber auch minder gemütvoll klingt, was die katholischen Kinder singen:

Krik! krak! Schnupt doch ab!
Schneidet auch der Gans das Bein ab!
Laßt doch aber einen Stumpf noch dran,
Daß sie recht noch zappeln kann.

Gemeinsam ist den Kindern beider Bekenntnisse ein Brauch und Vers, der nichts mit Luther zu tun hat, sondern auf den heiligen Martin deutet, der ja bekanntlich Wasser in Wein verwandelte. Die Kinder stellen am Vorabend ein Krüglein mit Wasser vor ihre Kammertür und singen dazu:

Martine, Martine,
Mach das Wasser zu Wine!

Natürlich denken sie dabei nur an Luther, wie ihre Vorfahren, nachdem ihnen das Christentum in Fleisch und Blut übergegangen, nur an den heiligen Petrus dachten, wenn sie Sprüche sagten und Bräuche übten, die dem Donar galten. Neue Götter beerben die alten; das ist der Welt Lauf.

Neben der herrlichen Gestalt, in der sich ein Grundzug der deutschen Volksseele, der starke, aus heißer Sehnsucht geborene Glaube verkörpert, wandelt durchs Portal der alten Universität gegenüber der Michaelskirche und durch das enge, graue Viertel um die Schlösserstraße jene zweite, die einen anderen tiefsten Zug dieser Volksseele verbildlicht, den starken trotzigen Zweifel, der die Hölle anruft, wenn sich die Himmel seinem Pochen nicht öffnen wollen, und der doch derselben heißen Sehnsucht entstammt. Auch Faust ist eine Erfurter Gestalt, freilich nicht der Heinrich Faust Goethes, in dessen Gemüt alles Hellste und Dunkelste menschlichen Empfindens widerklingt, aber der Georg-Johannes Faust der Geschichte, der landfahrende, gelehrte Abenteurer, Betrogener und Betrüger zugleich, der Bildung seiner Zeit ebenso mächtig wie ihrer niedrigsten Künste und Ränke, ein geistvoller Ausleger der Alten und ein Lüderjan und Trunkenbold. Über diesen Erfurter Faust ist unendlich viel Tinte vergossen worden, wohl noch mehr, als er in seinem Leben an Wein durch die Gurgel gejagt hat; hier nur nach den neuesten Schriften von S. Szamatolski und A. Pick das Wichtigste, was Geschichte und Sage von ihm zu erzählen wissen.

Nicht erwiesen ist die Angabe des ältesten Faustbuchs von 1587, wonach er »eines Bauren Sohn gewesen zu Rod bei Weimar gebürtig«, also ein Thüringer und in der Nachbarschaft Erfurts geboren; die Heidelberger Matrikel bezeichnet ihn vielmehr als »ex Simern«, also aus dem Fürstentum Pfalz-Simmern. Sicherlich aber hat die Angabe des Faustbuchs ihre tiefere Bedeutung; auch Faust sollte ein Thüringer sein, wie es die Reformatoren waren; ihnen rückte der dichtende Volksgeist den fahrenden Zauberer nahe, und zwar aus einer richtigen Empfindung heraus. So wie Luther ist auch Faust das echte Kind der großen, nach Befreiung ringenden Kampfzeit, die nach neuen Wundern und Wahrheiten dürstet; der Schwarmgeist glänzt neben dem Gottesmann nur wie der Komet neben dem Fixstern, aber Licht geben beide! Daneben mag die Sage, Faust sei ein Thüringer gewesen, durch die Tatsache gestützt worden sein, daß er nach historischen Zeugnissen mindestens 1513 in Erfurt war; freilich nannte er sich hier Georg, nicht Johannes, doch scheint seine Identität mit diesem festzustehen. Auch war sein Aufenthalt sicherlich ein längerer und an Abenteuern reicher, sonst hätte er sich nicht gerade hier dem Volksgemüt so tief eingeprägt; wie in Maulbronn sprießt auch in Erfurt die Faustsage; wie dort eine Faustküche und einen Faustturm, gibt es hier ein Faustgäßchen.

Die Erfurter Sage, schon vor dem ältesten Faustbuch in der Chronik des Wolf Wambach aufgezeichnet, nimmt im Kreise der Faustsagen eine besondere Stellung ein; im Kern nicht völlig erfunden, sondern nur eben übertrieben und ausgeschmückt, also den Zeugnissen über den historischen Faust beizuzählen, läßt sie den Abenteurer in edlerem Lichte erscheinen als die anderen geschichtlichen Quellen; hier ist er nicht bloß ein Saufaus, Schürzenjäger und Betrüger, sondern zugleich ein gelehrter Magister und Disputator, der auch Zaubereien höherer Art zustande bringt. So schlagen die Erfurter Mären die Brücke zwischen dem abenteuernden Prahlhans der Geschichte und dem dämonischen Zauberer der Sage und Dichtung.

In der einen dieser Sagen erklärt Faust den Erfurter Studenten den Homer und beschreibt ihnen das Aussehen der Helden; die »vorwitzigen Pursche« verlangen diese leibhaftig zu sehen, um zu vergleichen, ob Faust sie richtig geschildert habe. Faust erfüllt ihren Wunsch, läßt sie Hektor und Agamemnon sehen, zuletzt aber den furchtbaren Polyphem »mit einem langen füerroten Bart«, der Miene macht, die »Pursche« zu fressen, die nun durch den Schrecken von allem Fürwitz geheilt sind. Man sieht, hier ist Faust noch nicht von dem heißen Drang erfüllt, die Helena zu sehen, sondern benützt als Lehrer die Zauberkraft nur dazu, seinen Hörern zu beweisen, daß er ihnen das Richtige gesagt, und sie zugleich von frevelhaften Wünschen abzuschrecken. Da die Chronik erwähnt, Faust habe nahe dem »großen Collegio« gewohnt, so wurde lange ein altes Haus, Michaelsstraße 38, als Fausts Haus gezeigt; es findet sich auch oft abgebildet. Vollends nur als Gelehrter tritt Faust in einer anderen Erfurter Sage auf. In einem gelehrten Kreise wird über die »verlorenen Komödien« des Plautus und Terenz »diskurrieret und geklagt«. Faust zitiert aus denselben einige Stellen und erbietet sich, »wo es ihm ohne Gefahr und den Herrn Theologen nicht zuwider sein sollte, die verlorenen Komödien alle wieder an das Licht zu bringen und vorzulegen auf etliche Stunden lang, da sie von vielen Studenten oder Schreibern geschwinde müßten abgeschrieben werden, wenn man sie haben wollte und nachfolgens möchte man ihrer nutzen wie man wollte«. Die Theologen sind aber dagegen, weil sie fürchten, »der Teufel möchte in solche neuerfundenen Komödien allerlei ärgerliche Sachen mit einschieben« –, daß Faust die Texte zur Stelle bringen könnte, bezweifeln sie also nicht. Hier ist die Sage wohl größtenteils Wahrheit, denn ähnliche großsprecherische Anerbietungen erzählt Trithemius von Sponheim vom historischen Faust.

Eine dritte Sage berichtet: Faust pflegt im Haus »Zum Anker« in der Schlösserstraße beim Junker von Dennstedt fröhlich mitzuzechen; als er einmal in Prag ist, will ihn die Gesellschaft bei sich haben und ruft seinen Namen; flugs ist er zur Stelle. »Drauf trinken sie ihm einen guten Rausch zu, und wie er sie fragt, ob sie auch gern einen fremden Wein mögen trinken, sagen sie ja. Er fragt, ob es Rheinfall-, Malvasier-, Spanischer- oder Franzwein sein solle? Da spricht einer, sie sind alle gut, bald fordert er einen Böhrl, macht damit in das Tischblatt vier Löcher, stopft sie alle mit Pflöcklein zu, nimmt frische Gläser und zapft aus dem Tischblatt jenerlei Wein hinein, welchen er nennet, und trinkt mit ihnen daran lustig fort.« Inzwischen frißt sein unersättliches Pferd einen Scheffel Haber nach dem andern und tut gegen Mitternacht einen »hellen Schrei«, worauf Faust Abschied nimmt und die Schlösserstraße aufwärts reitet. »Das Pferd aber schwingt sich zusehens eilens in die Höhe und führt ihn durch die Luft gen Prag wieder zu.« Was der Volksgeist in dem uralten, freilich sichtlich wiederholt umgebauten Hause zu Erfurt (Nr. 19 der Schlösserstraße) geschehen läßt, hat Goethe in Auerbachs Keller verlegt, während Lessing eine vierte Erfurter Sage benützte. Faust lädt seine Kumpane nach seiner Wohnung in der Michaelsstraße ein; das Mahl fehlt noch. Da zitiert er dienende Geister und frägt nach ihrer Schnelligkeit. Der erste ist schnell wie ein Pfeil, der zweite wie der Wind, der dritte wie der Menschen Gedanke. Diesen läßt Faust das Mahl rüsten.

Einer fünften Sage liegt wie der zweiten eine historische Tatsache zugrunde. Neben dem Beichtstuhl im Dom zu Erfurt ist der wohlerhaltene Renaissancegrabstein eines tapferen, streitbaren Mannes aufgerichtet, der auch in Luthers Leben eine Rolle spielte. Konrad Klinge hieß er und war Guardian des Barfüßerklosters; einer der wenigen Mönche, die damals katholisch blieben. Daß Luther vergeblich mit ihm disputierte, steht fest, aber wahrscheinlich ist, daß Klinge wieder sich vergeblich mühte, den Faust dem Teufel abwendig zu machen. Die Sage verzeichnet das Gespräch beider knapp und kraftvoll; der Schluß fällt ab: Klinge zeigt Faust, der erklärt, als ehrlicher Mann müsse er selbst dem Teufel sein Wort halten, dem Rektor an, worauf der Zauberer Erfurt verlassen muß. So zahm und prosaisch läßt der dichtende Volksgeist sonst den Zusammenprall zweier Gewaltigen nicht enden; dies war wohl in Wahrheit der Ausgang der Sache.

Diese Sagen, sämtlich wohl schon um die Mitte des 16. Jahrhunderts in Erfurt entstanden, kaum zwanzig oder dreißig Jahre, nachdem Faust hier leibhaftig seinen Hokuspokus geübt, zeigen ihn, wie man sieht, im Bund mit dem Bösen, aber als einen Mann von tiefer Gelehrsamkeit und nicht ohne adligen Sinn. Nicht so zwei andere, weit später hier entstandene Sagen. Nur sie sind im Volksmund lebendig, wenigstens wußte weder Christoph Martin Wieland noch der Hausknecht meines Hotels, noch die Hökerfrau auf dem Platze »vorm Grähden«, bei der ich in meinen Erfurter Tagen mein Obst einkaufte, etwas von der Tischplatte, die plötzlich Wein gab; nach der Geschichte vom Polyphem oder den Komödien des Plautus und Terenz habe ich sie natürlich gar nicht erst gefragt. Aber wie Faust »ein armes Määdechen nackendig gemacht hat«, wußten sie alle. Als Faust – »er war ja aach ein Aarforder«, meinte Wieland – einmal über den Platz »vorm Grähden« mit seinen Studenten spazierengeht, bitten ihn einige Bürger: »Machen Sie uns nu mal 'nen neuen schienen Spaß vor!« Darauf zaubert Faust zwei Hähne herbei, deren jeder im Schnabel eine mächtige Mühlradwelle trägt. »Da laifd vom Andreasdhor ein hiebsches Määdechen daher, die war'n Sonntagskind und schon zwanzig Jahr, aber noch Jumpfer – das ist Sie nämlich schon über hundert Jahre her, lieber Herre, damals war das noch hiere määglich – und wie sie die Hähne sieht, lacht sie: ›Die tragen ja nur Strohhälme im Maule.‹ Denn als Jumpfer und Sonndagskind hat sie das gesiehn.« Da aber läßt Faust, sie zu strafen, über den Platz eine Wasserflut hereinbrechen, allen unsichtbar und nur ihr sichtbar. »Da fercht sie sich for ihre Kleider und hebt sie uf, bis man die Schdrompe (Strümpfe) sehen dhut, und dann noch höher, un alle lachen das arme Määdechen aus.« Ähnlich, wenn auch nicht in so plastischer Ausmalung wie mein Wieland, der Anakreontiker, erzählen gelehrte Bücher die sehr unlogische Sage – denn durchschaut das Mädchen als Sonntagskind allen Spuk, der andere täuscht, so kann auch die Flut sie nicht schrecken – und deuten sie mythologisch aus, denn

Was man nicht leicht erklären kann,
Sieht man als einen Mythus an,

was ihnen auch mit der zweiten Geschichte glückt. Nahe dem Haus »Zum Anker«, zwischen den Häusern Nr. 14 und 15 der Schlösserstraße öffnet sich ein winzig schmales Gäßchen, das Faustgäßchen. Hier jagte Faust einmal seine schnaubenden Rosse mit einem mächtigen Fuder Heu durch, denn die Mauern wichen auf sein Geheiß. Da aber kam Martin Luther daher, sprach einen kräftigen Bannfluch, und die Pferde wurden zu Hähnen, das Fuder zu einem Strohhalm, und sie verschwanden unter üblem Geruch. Ich möchte die Erklärung weniger in Spuren des Donarglaubens als vielmehr in der Enge des Gäßchens suchen – ein dicker Mensch kommt hier buchstäblich nur mühsam durch –, ferner in der Tatsache, daß die beiden Häuser, zwischen denen es sich öffnet, demselben Junker von Dennstedt gehörten, dessen Gast der historische Faust war, vor allem aber darin, daß Luther und Faust hier in der Phantasie wie im Gemüt des Volkes leben.

Gewissenhaft genug, mir nichts Sehenswertes zu schenken, hab ich mich durchs Faustgäßchen bis zur Kleinen Borngasse durchgezwängt, aber zu sehen war da nicht viel, wohl aber zu riechen; man konnte wahrhaftig glauben, ein besonders hinterlistiger Teufel habe erst vor wenigen Minuten vor Luthers Bannwort Reißaus genommen. Hingegen habe ich ein anderes ehrwürdiges Wahrzeichen zum Kapitel »Faust in Erfurt« unbesichtigt gelassen. Im Haus »Zum Anker« ist im Dach ein Loch; hier ist der Teufel mit Faust in die Lüfte gefahren; das Loch läßt sich nicht zudecken; sooft es versucht worden ist, haben die Arbeiter davon ablassen müssen, weil sie der Teufel darin störte. Mir gefiel das vom Teufel; eine solche Pietät für das Denkzeichen seiner einstigen Freuden hätte ich ihm nicht zugetraut. Und darum würde ich das Loch im Dach besichtigt haben, wenn mir nicht ein Zigarrenhändler in der Schlösserstraße die Freude daran verdorben hätte. »Mein Herr«, sagte er mit überlegenem Lächeln, »im Dach, verstehen Sie, sind mehrere Löcher. Durch welches der Teufel, verstehen Sie, den Faust esgimodiert hat, weeß niemand, verstehen Sie, auch der Wirt nich. Und so spart er sich, verstehen Sie, die Repradur for alle Löcher! Übrigens ist ja der ganze Faust, verstehen Sie, 'n Schwindel! Oder nich? Faffenschwindel, verstehen Sie!« So, nun wußt ich's. Es ist merkwürdig, aber wahr, die meisten Zigarrenhändler sind so aufgeklärte Leute.

Die alte Universität, die Luther- und Fauststätten sind die geistig bedeutsamsten Überbleibsel des gewaltigen Erfurt von einst, nicht die sinnfälligsten. Sie muß man suchen, andere drängen sich selbst dem stumpfen Blick auf. Das Erfurt von heute ist kein Nürnberg oder Rothenburg, nicht einmal ein Zerbst; denn die Einheitlichkeit fehlt; es ist hier gar zu viel verwüstet und verhäßlicht worden. Aber an einzelnen uralten Kirchen, Häusern und Brücken ist Erfurt überreich. Die Kirchen und die Krämerbrücke aus dem frühen Mittelalter habe ich schon genannt; aus der Blütezeit Erfurts erfreuen aber auch noch Profanbauten das Auge. So das schöne Renaissancewohnhaus »Zum Stockfisch«, das Erbhaus des Gefrunden-Geschlechts von Ziegler in der Johannesstraße, gewiß nicht so herrlich wie etwa das Pellerhaus zu Nürnberg, und doch stundenlangen Bestaunens wert. Ich habe hier immer halt gemacht, sooft mich mein Weg in diesen Tagen vorbeiführte; nicht bloß der Gesamteindruck ist erquicklich – das Haus, namentlich aber der Erker, haben die schönsten Verhältnisse –, sondern auch die Vertiefung in die Einzelheiten. Bewunderungswürdig ist der Reichtum der Phantasie in den Verzierungen des Gesteins; jede einzelne kleine Fläche ist anders dekoriert; dieser namenlose Steinmetz war ein Künstler, wie ihrer Deutschland auch in jener fröhlichen Zeit nicht zu viele hatte. Gleiche Freude kann man an den Patrizierhäusern auf dem Fischmarkt haben, namentlich den beiden »Zum breiten Herd« und »Zum roten Ochsen«; auch hier ist der Schmuck ein überaus reicher und schöner, nur darf man sie nicht im einzelnen unmittelbar nacheinander besehen; der »Breite Herd« ist dem »Roten Ochsen« sichtlich nachgebildet, denn das erstere Haus ist offenbar später entstanden; schon wird hier der Schmuck so üppig, daß er ans Barock streift. Hier ragt auch ein plumper, grauer, ehrwürdiger Roland auf. Ein anderes merkwürdiges Haus ist die »Hohe Lilie«, der uralte Gasthof am Domplatz, wo einst Luther und Gustav Adolf gehaust, dazu eine Anzahl von Herren, die nur eben Fürsten von Gottes Gnaden gewesen; man kann ihre Namen auf den Tafeln am Hause lesen. Ein Gasthof ist das Haus noch heut, aber wenn sich auch hoffentlich alle Gäste ins Fremdenbuch einschreiben, so wird man doch ihre Namen nicht auf Marmortafeln meißeln. All diese Häuser nennt auch Baedeker, aber wer immer lieber dem eigenen Stern vertraut als denen des Reisehandbuchs, gehe bedächtig und andächtig einige graue Straßen, namentlich die Johannes-, die Allerheiligen- oder die Schlösserstraße, entlang und gucke nach rechts und links; er wird da mitten zwischen nüchternen Nutzbauten auch Perlen alter deutscher Baukunst finden, die ihm das Auge erquicken und – wenn er nicht gar zu nüchtern ist – leicht machen werden, zu erkennen, wie Erfurt in seinen stolzen Tagen war. Und wem's weniger auf einzelnes als auf den Gesamteindruck ankommt, durchwandle die Straßen zwischen der Johannesstraße und dem Breitstrom bis zum Stadtteil, den sie Venedig nennen, weil die Gera hier einige Inseln bildet, und lasse den Blick über diese engen Reihen hoher, aber dürftiger Giebelhäuser, die niedrigen Türen und Fenster schweifen. Scheinbar ist hier die Zeit seit vier Jahrhunderten stillgestanden, und wenn auch nicht stolz und lieblich, echt ist das Bild, das sich ihm einprägt. Lauter »Gefrunden« lebten ja in Erfurt nicht, und nicht bloß ihre Paläste, auch die Wohnhäuser, wo Gevatter Schwertfeger und Weiter hausten, gehören zum alten Erfurt. Wie anschaulich die Krämerbrücke die entschwundene Zeit zurückführt, habe ich bereits gerühmt; nicht gleich stark, aber ähnlich wirkt der Anblick von den anderen Brücklein des Breitstroms auf die alten Häuser am Flusse, über denen die Kirchen und Türme aufragen. Freilich soll man nicht überall flußauf- und -abwärts blicken, zum Beispiel auf der Schlösserbrücke nicht. Denn auf der einen Seite bietet sich ein Anblick, der an Nürnberg erinnert, und auf der anderen ragt einem dicht vor der Nase eine häßliche Fabrikswand auf: »Neue Mühle. C. Kohler.« Ich gönne Herrn Kohler seine Mühle und den Erfurtern das gewiß gute Mehl, aber ich habe doch immer nach der anderen, schöneren Seite gesehen, sooft ich über das Brücklein ging.

Natürlich fehlt es auch an Kirchen und Türmen aus dieser Glanzzeit nicht; man trifft sie auf Schritt und Tritt, häßliche und schöne, sorglich gehütete und verfallene, ihrem Zweck erhaltene und profanierte Kirchen. »Erfordia turrita« oder, wie der andere Beinamen lautet, die »Pfaffenstadt«; hier gab's vierzehn Klöster und dreißig Pfarrkirchen, deren vielen freilich schon die »Pfaffenstürme« nach Einführung der Reformation die Weihe nahmen, bei anderen tat's die Zeit.

Gotteshäuser sind noch heut: Die bereits erwähnte Michaelskirche gegenüber der Universität, ein Bau, so unregelmäßig und der Widersprüche voll, als hätte ein Haufe Baumeister, jeder nach seinem eigenen Plan, gleichzeitig daran geschaffen, einst die Kanzel der strengsten Scholastik, aber dann schon seit den Tagen, da aus der nahen Drachengasse die »Epistolae virorum obscurorum« ihr schneidendes, blitzendes Licht in die Welt warfen, evangelisch. Die katholisch gebliebene Allerheiligenkirche, 1125 erbaut, aber dann immer wieder umgestaltet, mit hohem Turm. »Wer da ruff stiegt«, sagte mir mein Wieland, »sieht ganz Aarford und gann sich freuen, wenn ihn nech vorher bei die Hitze uff die enge Treppe der Schlach trifft«, und dann mit einem prüfenden Blick auf die Leibspositur, die der liebe Gott mir beschert: »Sie gönnte wohl der Schlach treffen«; ich bin aber der Lockung widerstanden, weil mit ja der Ausblick vom Steiger einen schönen, wohlunterrichtenden Rundblick bot. Die Severikirche nah dem Dom. Ursprünglich ein dem Mönchshaus auf dem Marienhügel dicht angebautes Nonnenkloster – »honni soit qui mal y pense«, aber die Erfurter Skribenten jener Zeit waren böse Leute und machten in ihrem mittelalterlichen Latein, das sich so gut für witzige Zweideutigkeiten eignet wie sonst nur das Französische, arge Scherze darüber –, heut mit ihren schlanken, kupfergedeckten Türmen und dem lichtdurchfluteten, mit Marmorbildern geschmückten Innern die freundlichste Kirche Erfurts. Die gleichfalls katholische, an der Außenseite mit Statuen geschmückte St. Wigbertikirche, die Grabstätte einiger Mainzer Statthalter, die bis in unsere Tage durch neuen, freilich künstlerisch nicht immer erfreulichen Schmuck bereichert wird, während sich im Wigbertikloster heut zwar nicht minder streitbare, vielleicht auch nicht minder weltfreudige, aber doch wesentlich bunter und adretter gekleidete Männer verlustieren – es ist das Militärkasino. Endlich die graue, düstere, kahle Andreaskirche, in deren Wände, je nach dem Bedürfnis der Zeit, zuweilen neue Fensterhöhlen gerissen wurden, während man dann wieder andere vermauerte.

Andere Kirchen und Klöster sind heute weltlichen, oft genug schnöden Zwecken gewidmet. Das uralte Benediktinerkloster auf dem Petersberg, einer der frühesten und angesehensten Sitze gelehrter Bildung in Thüringen, ist nun Kaserne, die Kirche Heumagazin. Sie ist ein stattlicher romanischer Bau mit vier Türmen, noch halten die mächtigen Quadern wie vor sieben Jahrhunderten, da Heinrich der Löwe sich hier vor dem Rotbart beugte, obwohl die Kirche seither bei jeder Belagerung Erfurts ihr Teil wegbekam, das schlimmste 1813, als Erfurt den Franzosen wieder entrissen wurde; dicht daneben ragt ja die Zitadelle auf. Als ich hier oben stand, ließ ich den Blick über die roten Dächer und grauen Giebel hinweg ins Geratal und auf die grünen Höhen des Steiger schweifen und hatte nur Freude am Ausblick und keinerlei Gedanken. Dann sucht ich mir auszumalen, welches Leben einst diese Steingänge, in denen nun Gras wächst, diese kühnen, stolzen Gewölbe, unter denen heute nur Mäuse durch Heu und Gerste streichen, erfüllt, von den Tagen Barbarossas und des ersten Habsburgers durch das kirchliche Stilleben des Mittelalters hindurch bis in die Sturmtage des Dreißigjährigen Krieges und das Lärmen der Franzosenzeit; auch dies gelang mir so weit, als für mein stilles Träumen nötig; es erhöhte mir die Freude an der Stunde; weiter hatte es ja keinen Zweck. Ein anderes aber, worüber ich hier oben grübelte, als ich auf der geborstenen Schwelle der Kirche im Kühlen saß und in den heißen, schwelenden Sommerglast hinausblickte, wollte mir nicht klar werden. Als Preußen 1816 Kirche, Kloster und Zitadelle von seinen eigenen Kugeln beschädigt und geborsten übernahm, wurde ein Arbeitsplan entworfen, der diesem Zustand ein Ende machen sollte. Die Zitadelle restaurierte man, denn Erfurt sollte Festung bleiben, das Kloster auch, denn neben der Zitadelle war eine große Kaserne nötig, und die Kirche sollte niedergerissen werden, denn die brauchte man nicht. Das war mir verständlich, denn es war ganz im Sinne jener Zeit, als deren Typus der wackere General von Müffling gelten kann, der damals die herrlich erhaltene Gleichenburg, die ihm Friedrich Wilhelm III. geschenkt hatte, abreißen ließ, um sich aus dem Gestein einen soliden Schafstall zu bauen. Verständlich ist mir ferner, daß es mit dem Niederreißen langsam ging, denn damals ging auch in Preußen alles langsam, und begreiflich ferner, daß Friedrich Wilhelm IV., damals noch Kronprinz, um 1830 dem Vandalismus steuerte und die Kirche wieder zurechtflicken ließ. Aber unverständlich blieb mir und wird mir immer bleiben, daß diese um schweres Geld wiederhergestellte Kirche seit sechzig Jahren nur eben als Heumagazin und Vergnügungsort für Mäuse benützt wird.

Ein freundlicheres Bild bietet heute der andere Hügel südwestlich vom Petersberg, der einst gleichfalls ein Kloster und dann eine Zitadelle trug, der Cyriaksberg. Hier stand bis 1480 ein Nonnenkloster, dessen Bewohnerinnen sich still der herrlichen Aussicht auf die Thüringerwaldberge und daneben, wie die Chronisten übereinstimmend berichten, auch anderer Genüsse des Lebens erfreuten. Dies wäre, weil es ebenso menschlich ist wie die Verdammung junger blühender Menschen zur Enthaltsamkeit unmenschlich, gar nicht weiter zu betonen, wenn es nicht den Erfurter »Gefrunden« den Vorwand geboten hätte, das Kloster aufzuheben und mit großem Aufwand eine Burg daraus zu machen, die dann die Schweden zu einer großen Zitadelle umschufen. Heute bewahrt da der preußische Fiskus Patronen auf; die Glacis aber sind hübsche Spazierwege und Ruhepunkte geworden. Am Fuße des Hügels steht eine Sandsteinsäule, die eine Gräfin von Kävernberg zum Gedächtnis ihres Bräutigams, der hier ermordet wurde, errichtet hat; sie selbst blieb unvermählt. Mein gefühlvoller Wieland bestand darauf, daß ich mir das »Sybille-Türmche« ansehe, und so tat ich's. »Das war Sie so in die alden Zeiten«, sagte dieser feuchte »laudator temporis acti«, »heut würde sie sich fors Geld 'nen Brautkleid kaufen und 'nen andern heiradhen.« Nicht alle, meine ich, täten es, aber daß es viele täten, kann man gerade in diesen Anlagen nicht bezweifeln, denn wie im Hirschgarten wimmelt es auch hier an schönen Sommerabenden von zärtlichen Pärchen, die sämtlich sehr, sehr ungetraut aussehen. Überhaupt ist Erfurt noch heut wie zu Nikolaus von Biberas Zeiten eine »verliebte Stadt«, vermutlich noch weit mehr als damals, wo es noch keine Fabriken, keine großen Nähereien, keine Infanterie, Artillerie und Gewehrfabrik hier gab. Man erblickte in den Straßen Erfurts, da die Kasernen zumeist außerhalb des Weichbilds liegen, nicht viel Soldaten, aber wer Augen hat, sieht die Erfurter Garnison von dem Antlitz der Mägde und »kleinen Mädchen« strahlen. Auf dem Cyriaksberg aber scheinen sich die Herzen besonders leicht zu finden, und so herrscht hier wieder, wie bis 1480, das Leben und die Liebe. Ein Narr, den's verdrießen würde.

Ein Militärkasino ist das eine Kloster geworden, ein Fouragemagazin das andere, eine Patronenkammer das dritte, und so kann's nicht wundern, daß das vierte, das Kartäuserkloster, heut eine große Bierwirtschaft ist. Der Bau aus dem 14. Jahrhundert ist innen bis zur Unkenntlichkeit umgestaltet, aber die 1713 hinzugefügte Fassade im italienischen Barock ist noch wohlerhalten. Gewiß die kunstgeschichtlich merkwürdigste Fassade, die ein Bierhaus in deutschen Landen aufzuweisen hat, aber selbst ein Griesgram würde nicht über Profanation klagen: in dem üppigen fröhlichen Stil liegt etwas, was eigentlich für ein Wirtshaus besser paßt als für eine Kirche. Übrigens hat sich nach einer Erfurter Volkstradition dadurch der Charakter des Hauses nicht wesentlich geändert. Mein Wieland wenigstens sagte mir: »Die Gardäuser, das waren Sie gemiedliche Brüder. Reden durften se nich, aber saufen durften se. Und das haben se gedhan. Die freuen sich noch im Himmel oben, daß ihr Haus nu 'ne Kneipe is!«

Auch einzelne Türme, die heute vereinzelt mitten im Häusergewirr stehen, erinnern an die alte, reiche »Pfaffenstadt«, die sich an Kloster- und Kirchenbauten gar nicht genug tun konnte. So der Johannisturm, der nur erhalten blieb, weil er gar zu solid gemauert war, so daß der Abbruch mehr gekostet hätte, als das Gestein wert war; die Kirche ist 1811 vom französischen Präfekten öffentlich versteigert worden. So der Bartholomäusturm, der nun plump und trotzig mitten unter den modernen Geschäftshäusern des Anger steht. Kurz – wer immer diese Stadt durchwandelt, muß erkennen, daß sie einst mächtiger und stolzer gewesen als heute.

Warum ist Erfurt vom Beginn des 16. Jahrhunderts immer tiefer von dieser Höhe herabgeglitten, tief bis in den Staub? Auf Erden kommt alles, wie es kommen muß, unabwendbar, unzerreißbar fügt sich die Kette der Ursachen und Wirkungen Glied an Glied zusammen, aber auch Menschenschuld und Verblendung sind Glieder dieser Kette. Die schlimmsten Schädiger ihrer Blüte waren die Erfurter selbst. Freilich handelten auch sie, wie nun einmal Menschenlos ist, nicht wie sie wollten, sondern wie sie mußten – aus ihrer Art heraus, wie sie ihnen angeboren und durch ihr Geschick anerzogen war. Aus derselben Art heraus, kraft deren sie es zu ihrer Höhe gebracht; was sie schädigte, war nur der Schatten, den ihr Licht warf.

Wer all seine Kraft auf den Erwerb wirft, dem wird das Geld der Herr; es macht ihn scharfsichtig und blind zugleich. Die Erfurter waren damals wohl die besten Kaufleute in Deutschland, aber eben zu gute; so ließen sie aus Sparsamkeit die Gelegenheit ungenützt, sich die volle Selbständigkeit zu erringen. Kein Zweifel, es wäre Erfurt im 15. Jahrhundert möglich gewesen, Freie Reichsstadt zu werden; ab und zu dachte auch einer der Consules daran, tat sogar den und jenen Schritt, aber nie ernstlich. Die Alltagsklugheit sprach dagegen; es hätte eben sehr viel Geld gekostet und scheinbar nichts genützt. Die ewig geldbedürftigen Habsburger, Sigismund oder Friedrich III., gaben ohne große Sporteln keiner Stadt den Freibrief; hier, wo der Einfluß der Mainzer zu brechen gewesen wäre, hätte es erst recht viel Geld gekostet. Aber mit der Souveränität waren ja zudem dauernde schwere Lasten verknüpft. Als Mainzer Eigen hatte die Stadt zu Reichsheer und Reichskosten keine Zubuße zu leisten; als Reichsstadt hätte sie schwere Blut- und Geldsteuer entrichten müssen. Und so sagten sich die Erfurter Obervierherrn, wie der seltsame Amtstitel der regierenden Ratsherren lautete: »Haben wir uns trotz und unter Mainz eine Machtfülle geschaffen wie nur irgendeine freie Stadt, so werden wir sie erhalten, ohne die Opfer, welche andere tragen.« Es war Alltagsklugheit, weit abstehend von jener echten Weisheit, die im tiefsten Kern auch immer ethisch ist. Rechte ohne Pflichten sind kein rechter Wall, sondern immer Flugsand; der Wind bläst ihn zusammen, der Wind kann ihn wieder auseinandertragen. Solange Erfurt mächtig war, mußte sich Mainz mit dem Schein der Herrschaft begnügen, wie aber, wenn Tage des Unglücks über die Stadt kamen?

Derselbe Dämon, die »auri sacra fames«, der die rechtliche Sicherung der äußeren Unabhängigkeit verhinderte, zertrümmerte auch im Innern den Frieden und damit die Kraft. Wie in jeder Stadt jener Zeiten standen sich auch in Erfurt Patrizier und Plebejer, Regierung und Volk gegenüber, aber in keiner schroffer als hier. Gegenüber der Zahl der Hinzugewanderten war hier die der alten Geschlechter eine winzige; einige Dutzend Familien waren im Vollbesitz der politischen Macht; die große Masse hatte zu steuern, Kriegsdienste zu tun und schweigend zu gehorchen; nicht einmal zum Schein hatte sie hier mitzureden, was die Geschlechter anderwärts aus Klugheit gestatteten. Nun lag hier zudem in den Händen dieser wenigen, der Bedeutung der Stadt und ihres Gebiets, der ihrer Einnahmen und Ausgaben entsprechend, eine ungeheure Macht, in deren Ausnutzung sie im Grunde niemand beschränken, sogar niemand beaufsichtigen konnte. Es wäre ein Wunder gewesen, wenn die Verwaltung immer ehrlich oder auch nur immer sparsam geblieben wäre, und Wunder geschehen eben nicht auf Erden. Kostspielige Fehden verschlangen viel Geld, glanzvolle Bauten und Feste, zum Beispiel das Turnier der Erfurter Patrizier von 1496, die durch ihren unerhörten Aufwand in ähnlicher Weise von sich reden machten wie etwa in jüngster Vergangenheit die Schlösser und Separatvorstellungen Ludwig II., kosteten noch mehr, und der Unterschleif einzelner ungetreuer Verwalter beschleunigte den Verfall. Freilich, ohne solche Machtfülle in den Händen weniger hätte Erfurt nicht so rasch den steilen Pfad zur Höhe emporklimmen können; nun ward ihm dieselbe Einrichtung zum Verderben. Die Stadt, die durch Jahrhunderte der Bankier aller geldbedürftigen Fürsten Deutschlands gewesen, war nun selbst in Schulden; die Bürger sollten das Doppelte, das Dreifache steuern, den Ausfall zu decken. Das wollten und konnten sie nicht; die Erregung wuchs immer mehr; der Kampf zwischen Herrschern und Beherrschten, lange nur mit Worten und Schriften geführt, wurde schließlich in den Straßen Erfurts durch Schwert und Axt entschieden. Der regierende Ratsherr, Heinrich Kellner, weigerte jede Rechnungslage, nicht eigene Sünden zu verbergen, sondern weil er sie der misera plebs nach dem Buchstaben der Verfassung nicht schuldig war. »Ich bin die Gemeinde!« rief er den Bürgern entgegen. Das hat ihn den Hals gekostet, aber entschieden war der Streit schon in dem Augenblick, wo sich die Bürger erhoben, denn bei ihnen war das Menschenrecht, bei ihnen die Zahl der Arme, beim Rat nur die ererbte Satzung und ein Haufe schlecht bezahlter, darum unzuverlässiger Söldner. Der Rat wurde gestürzt, Kellner eingekerkert und 1510 hingerichtet; das »tolle Jahr« heißt es in Erfurts Geschichte. Es brach die Kraft der Patrizier, aber auch die Kraft der Stadt. Viele der »Gefrunden« verließen Erfurt; die Regierung kam in plumpe, schwielige Hände, die auch nicht immer rein blieben und zudem nur daran gewöhnt waren, den Hammer oder die Nadel zu führen, nicht das Steuer eines Staatsschiffs.

Das war die entscheidende Wendung in Erfurts Geschichte; die schlimmste Wunde hat ihm der Bürgerzwist geschlagen. Aber Schweres ist auch durch das Schicksal über die Stadt gekommen; furchtbare Brände verheerten sie; ihre Fehden und Prozesse endeten nun fast alle unglücklich. Die Reformation trennte die Bürger in zwei Haufen von Todfeinden; nirgendwo war die Erbitterung heftiger, denn Erfurt war ja mainzisch, eine »Pfaffenstadt«, die Hauptkanzel Tetzels, und doch wehte andererseits hier der lebendige Atem Luthers. Gewiß hatten die Bürger recht, wenn sie sich der neuen Lehre zuwandten, aber recht hatten auch die Mainzer, wenn sie dies in ihrer Stadt nicht dulden wollten, die Jesuiten zu Hilfe riefen, bei Kaiser und Reich Klage führten, jeden Angriff der Bürger auf Kirchen und Klöster durch Angriffe auf die Stadt vergalten, ihre Hoheitsrechte, die sie ja nie aufgegeben hatten, nun voll geltend zu machen suchten. Das ganze 16. Jahrhundert ist von diesem Streit zwischen Stadt und Schutzherren erfüllt; immer grimmiger spitzte er sich zu. Es war keine Rechts-, sondern eine Machtfrage; sobald Erfurt an Kraft verlor, Mainz an Kraft gewann, mußte die Stadt in Wahrheit seine Magd werden.

Da kam den Erzbischöfen, freilich ihnen selbst so unerwartet und unerwünscht wie den Erfurtern, ein Bundesgenosse: die Entwicklung des Welthandels, die Entdeckung der neuen Seewege. Aus Java und Bengalien kam der Indigo und schlug die Waid tot, aus Mexiko und Westindien die Koschenille und verdrängte die Kermes. Das vollzog sich nicht jählings, aber sichtlich. Auch der Binnenhandel schlug neue Wege ein; durch Meßprivilegien und eine kluge Politik seiner Kurfürsten gefördert, blühte Leipzig auf und wurde zunächst der Rivale und dann der Besieger Erfurts als Stapelplatz Mitteldeutschlands. Die Stadt begann sich zu entvölkern und hatte an der Schwelle des Jahrhunderts, das den Dreißigjährigen Krieg bringen sollte, kaum noch 20 000 Einwohner; auch die Hörsäle begannen zu veröden. Erfurt jammerte, Mainz aber jauchzte nicht; es war ihm recht, daß die Stadt herabkam, aber wenn die Henne keine güldenen Eier mehr trug – war sie dann noch des Kampfes wert?

Der furchtbarste Krieg, den Deutschland je gesehen, der es für Jahrhunderte zu einem armen Lande machte, brachte auch diesem Kampf nach unerhörten Zwischenfällen die Entscheidung. Auf und nieder schwankte die Waagschale, in der Gustav Adolfs Schwert lag, und mit ihr das Schicksal Erfurts; durch neun Jahre von den Schweden besetzt und ein Stützpunkt ihrer Macht, fiel es endlich in die Hände der Kaiserlichen und hatte schwerste Drangsale zu erdulden. Hier statt jeder Schilderung zwei Ziffern: als die Schweden 1640 abzogen, hatte die Stadt noch 16 000, als die Katholischen acht Jahre später gingen, kaum 9 000 Einwohner. Der Westfälische Friede hatte Kurmainz die Herrschaft über Erfurt bestätigt; noch einmal, zum letztenmal wehrten sich die Bürger dagegen; nur der Geldmangel, der Kurmainz hinderte, ein Exekutionsheer aufzubringen, gab ihnen noch einige Jahre Galgenfrist. Endlich, 1664, mietete der Kurfürst französische Truppen, die aus Ungarn nach der Heimat heimkehrten, für den kurzen, im vorhinein entschiedenen Kampf. Von der Zitadelle auf dem Petersberg drohten die Kanonen auf die Stadt nieder, im »Mainzer Hof«, wo heute die Gewehrfabrik ist, residierten die kurfürstlichen Statthalter, und die Consules von Erfurt waren die demütigen Häupter einer armen, ihrem Fürsten gehorsamen Stadt. Als 1683 von den rund 13 000 Menschen etwa 10 000 – kein Schreibfehler, so verzeichnen es die Chronisten – an der Pest dahinstarben, da waren viele der Meinung, Erfurt werde eine Ruinenstadt bleiben, ein trauriges Überbleibsel einstiger sagenhafter Größe, wie es etwa heute Bardowiek ist, das ja einst die mächtigste Handelsstadt Norddeutschlands war, bis es Heinrich der Löwe für immer zertrat.

Wenn es mit Erfurt anders und besser kam, so ist dies zum geringsten Teil das Verdienst der kurmainzischen Koadjutoren. Daß die einst so trotzige Stadt ruhig blieb, dafür brauchten sie kaum zu sorgen; das bewirkten die Kanonen der Zitadelle und die starke Besatzung. Wohl aber mühten sie sich, daß Erfurt wieder katholisch werde; freilich war der Stadt die Religionsfreiheit zugesagt, aber alle Stellen mit Katholiken zu besetzen, die Zahl der evangelischen Kirchen zu verringern, die Mönchs- und Nonnenklöster neu zu bevölkern, die Bekehrung durch Jesuitenmissionen besorgen zu lassen, schien ihnen nicht dagegen zu sprechen. Auch die Universität wurde, so gut es ging, im Sinne der herrschenden Kirche verwaltet, was freilich mit dazu beitrug, ihre Bedeutung immer tiefer hinabzudrücken. In dies Stilleben mit Glockenklang und Weihrauchduft klangen zeitweilig während des Siebenjährigen Krieges die preußischen Kanonen (1759); dann ging diese Verwaltung denselben schleichenden, trägen Schlenderschritt wie vordem und wie damals überall im katholischen Deutschland.

Nein, nicht der Fürsorge ihrer geistlichen Fürsten, nur der eigenen Kraft hatten es die Erfurter zu danken, wenn sachte das Gras aus ihren Straßen wich und die verödeten Häuser wieder Bewohner erhielten; freilich nützten sie nur das Geschenk der Natur, ihren fruchtbaren Boden. Der Handel ging andere Bahnen, und selbst für Thüringen war Erfurt nicht mehr der Mittelpunkt des Verkehrs; Gotha im Westen, Halle im Osten lenkten vieles ihren Märkten zu, die Hochschule gab wenig Verdienst und wenig Glanz, der Festungswall schnürte die Stadt ein, aber Erfurt war noch immer die »Stadt der Ackerbauer« und seine Bewohner des »Römischen Reichs Gärtner«. Mit der Waid ging's nicht mehr, der Wein wurde immer saurer, aber einen Ersatz bot die Kresse, die hier (im tiefen, wasserreichen Dreienbrunnen zwischen Steiger und Cyriaksberg) zuerst planmäßig gezogen, von hier aus der Lieblingssalat der Zopfzeit wurde. Der Handel mit Obst, mit Blumen und Sämereien brachte keine Reichtümer ein, aber er erhielt die Stadt bei Kräften, und gegen Ende des Jahrhunderts galt sie wieder als mäßig wohlhabend.

Natürlich fehlt's im Erfurt von heute auch nicht an Überbleibseln dieser Zeit. Da stehen noch mitten zwischen uralten Renaissancefassaden und modernen, nicht eben schönen, aber hellen und freundlichen Häusern die häßlichen, öden Nutzbauten der Zopfzeit, einzelne mit einem Barockschmücklein am Dachsims oder unter den Fenstern, wie Philister, die sich was Besonderes ungeschickt an den Rock heften und dann erst recht als nüchterne Philister erscheinen. Auch einzelne Klöster, zum Beispiel das der Ursulinerinnen, scheinen aus dieser Zeit zu stammen; im Inneren aller katholischen Kirchen vollends – nicht bloß im Dom, bei dem ich bereits darauf hingewiesen habe – merkt man deutlich, daß Erfurt lange unter geistlicher Verwaltung stand, und zwar leider eben in den anderthalb Jahrhunderten des tiefsten Standes kirchlicher Kunst. Auch der bereits erwähnte Packhof von 1705 ist trotz seiner geschmückten Fassade oder gerade ihretwegen kein Musterbau jener Zeit, und ebenso das weit stattlichere Regierungsgebäude von 1710, das neben passablen Barockfiguren und Simsen auch einige andere aufweist, die selbst Freunden des Stils – und ein Gegner bin ich selber nicht – sehr geringe Freude machen können. Hier haben die Koadjutoren residiert, nachdem ihnen der alte »Mainzer Hof« zu unwohnlich geworden, als letzter Karl Theodor von Dalberg.

Dreißig Jahre (1772-1802) hat der liebenswürdigste aller Dilettanten der an solchen Erscheinungen so reichen Zeit in Erfurt residiert und immerhin einiges für die Stadt getan. Zwar arbeitete er sich fast ganz vergeblich ab, der Universität neuen Aufschwung zu geben, sie siechte nur eben langsamer dahin als vor ihm – aber er mühte sich im Sinne seiner Weltanschauung, einer nicht tiefen, aber milden und redlichen Aufklärung, nicht fruchtlos, die Rechts- und Armenpflege zu verbessern, Protestanten und Katholiken fast gleich gerecht zu regieren, Stadt und Land materiell zu heben. Mit allen freien Geistern seiner Zeit befreundet, sah er in seinem Palaste auch Schiller, Wieland und Goethe als Gäste. Daß die Fauststadt Erfurt sich auch gern ihr Teil an Goethes Gedicht sichern möchte, ist begreiflich, und angesichts der Bedeutung, die gerade der Erfurter Sagenkreis für die Ausgestaltung des »Faust« hatte, läßt es sich ihr ja auch wahrlich nicht bestreiten. Darüber hinaus freilich können die Erfurter Patrioten nicht viel erweisen. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß Goethe den Namen Heinrich, der sich sonst nirgendwo überliefert findet, tatsächlich der Erfurter Universitätsmatrikel entnommen habe, die 1522 einen Henricus Faust des Gronenberg, der übrigens nichts mit dem historischen Faust zu tun hat, als Hörer verzeichnet, und gleich unwahrscheinlich ist, daß Goethe bei der Schilderung des Spaziergangs am Ostermorgen (»Aus dem hohlen, finsteren Tor« usw.) an den Platz vor dem Erfurter »Pförtchen« gedacht habe.

Goethe war oft in Erfurt; allbekannt ist sein Aufenthalt vom Herbst 1808, die Begegnung mit Napoleon. Was alles hatte sich in den Jahren, seit er Dalberg hier zuletzt besucht, gewandelt! Es gab kein Erzbistum Mainz mehr; Erfurt war 1803 an Preußen gekommen, 1806, nach Jena, ohne Schuß und Schwertstreich an Napoleon. Den Vorschlag seines Staatsrats, die neue Erwerbung dem Königreich Westfalen anzugliedern, lehnte der Kaiser ab; er stellte das »Fürstentum Erfurt« unter seine eigene Herrschaft, weil ihn der alte Ruhm der Stadt lockte, der Gedanke, an derselben Stätte hofzuhalten wie die Salier, Friedrich der Rotbart und Rudolf von Habsburg. Und darum ward hier im Regierungsgebäude der Erfurter Kongreß abgehalten, spielte Talma hier »vor einem Parterre von Königen«. Goethe ist leider nie dazu gekommen, sein Gespräch mit Napoleon (2. Oktober 1808) aufzuzeichnen, wie er es Riemer versprach; »er hat mir gleichsam das Tipfelchen auf das i gesetzt«, sagte er diesem Vertrauten. So wissen wir weniges von diesem Gespräch der beiden größten Männer ihrer Zeit; es genügt freilich, um Goethes Ausspruch zu verstehen. Napoleons Kritik von »Werthers Leiden« geht ins tiefste; seine Auffassung von der Bedeutung des historischen Trauerspiels ist eine großartige, und ebenso trifft sein Wort gegen die Schicksalstragödie ins Schwarze. »Voilà un homme!« sagte er bekanntlich nach der Unterredung zu seinem Gefolge, während Goethe vollends helle Bewunderung war und der Einladung des Kaisers nach Paris folgen wollte. Nicht anders urteilten ja damals die meisten Deutschen über den Kaiser und namentlich auch alle Erfurter. Die französische Verwaltung war auch hier, mit ihren Vorgängerinnen verglichen, ein großer Fortschritt. Mit einem Schlage wurde die volle Gleichberechtigung der Konfessionen – unter den Koadjutoren zugunsten der Katholiken, in den drei kurzen Jahren preußischer Herrschaft zugunsten der Evangelischen beeinträchtigt – zur Tat; Gesetzgebung und Rechtspflege wurden vereinfacht und trefflich geordnet, Armen- und Krankenpflege zeitgemäß ausgestaltet, die Reinlichkeit der Straßen und Häuser mit weiser Strenge durchgeführt und überwacht. Die vielen Behörden, die Napoleon hierher legte, seine glänzende Hofhaltung brachte Geld unter die Leute. Auch schuf die Zugehörigkeit zu einem Riesenstaat neue Absatzquellen für Blumen, Obst und Gemüse. Aber die französischen Behörden, an Tatkraft und Initiative gewohnt, ermöglichten es den Erfurtern nicht bloß, ihre Erzeugnisse besser zu verkaufen, sondern auch Besseres zu erzeugen; sie ermunterten zur Einführung neuer Blumen- und Obstkulturen und lieferten das Material dazu, wie sie andererseits alles, was den Erfurtern trefflich gelang, anderwärts einzubürgern suchten. Um die Verbreitung der Erfurter Kresse war sogar Napoleon persönlich bedacht; er ließ zu Fontainebleau durch Erfurter Gärtner eine Kressekultur anlegen.

Alles in allem, es war keine unverdiente Huldigung, daß die Erfurter zur Feier der Geburt des Königs von Rom einen siebzig Fuß hohen Obelisk errichteten. Aber war's verdient, daß sie wenige Jahre später (1814) diesen Obelisk zerstörten? Ähnliches ist damals gottlob selten in Deutschland geschehen, und eine Heldentat war's gewiß nicht. Freilich hatte die Stadt beim Durchzug der geschlagenen Franzosen viel gelitten, noch mehr, weil sie die Festung sehr tapfer verteidigten bei der Belagerung durch die Preußen, und was die Hauptsache ist: die nationale Empfindung ist eben auch wie jede andere, welche die Natur selbst gebietet, etwas Elementares. Gleichwohl haben die Stadtväter des neuen Erfurt nicht richtig gehandelt, indem sie als Gegenstand des letzten der sechs Freskobilder, die den Festsaal ihres neuen Rathauses schmücken, die Zerstörung dieses Obelisken bestimmten. Die anderen fünf Bilder führen ruhmvolle oder doch wichtige Ereignisse aus Erfurts Geschichte vor (der heilige Bonifacius bekehrt die heidnischen Ackerbauer; Heinrichs des Löwen Fußfall vor Friedrich Barbarossa; Rudolf von Habsburg in Erfurt; das »tolle Jahr«; die Übergabe Erfurts an Mainz); dieses ist weder ruhmvoll noch wichtig.

Der Wiener Kongreß gab Erfurt an Preußen zurück; es ist zunächst von den Geschicken der Stadt nicht viel zu berichten. Die Universität wurde nun auch formell aufgehoben; Hauptstadt der neuen Provinz Sachsen wurde Magdeburg, Sitz des Provinziallandtags Merseburg; Erfurt war damals für Preußen vornehmlich als Festung wichtig, was jede Ausdehnung der Stadt hinderte. So war die Zunahme an Seelenzahl und Wohlhabenheit eine langsame; freilich war sie eine stetige, weil mit der wachsenden Kultur Blumen ein immer begehrterer Artikel wurden. Die Erfurter galten in Magdeburg und Berlin als unzufrieden; man schickte ihnen darum die schneidigsten Beamten, was sie seltsamerweise nicht glücklicher machte. Kein Wunder, daß es 1848 hier (24. November) zu einem blutigen Aufstand und Straßenkampf kam; fast ein Jahr währte dann der Belagerungszustand. So tagte 1850 das Unionsparlament in einer Stadt, die genauer als andere erfahren hatte, daß Deutschland einer Verfassung bedürfe. Freilich war sie nicht deshalb dazu erkoren, sondern weil Radowitz Erfurt liebte. Er ist auch hier begraben. Wollte die Grabschrift seinen bleibendsten Ruhmestitel verzeichnen, sie könnte nur lauten: »Es war der verdienstvollste Autographensammler Deutschlands« – die Handschriften, die er mit unermüdlichem Eifer zusammentrug, sind eine reiche Quelle unserer literarischen und politischen Geschichte. Er aber wollte ja Deutschlands größter Staatsmann sein. Mit Josef von Radowitz ist viel Talent und noch mehr Willensschwäche, viel redlicher Wille und noch mehr Unvermögen der Tat ins Grab gesunken.

Seit fünfzig Jahren geht's in Erfurt sichtlicher aufwärts; nun ist's, sagt ich schon, eine aufblühende Handels- und Industriestadt. Mit Leipzig oder Halle kann es nicht in Wettbewerb treten, aber doch behaglich leben und sich entwickeln. Das gilt freilich vom Materiellen mehr als vom Geistigen; große Zeitungen oder Verlagshandlungen hat Erfurt nicht; das Theater soll nicht auf Rosen gebettet sein, so viele es ihrer auch hier gibt. Immerhin erweisen Rathaus und Denkmäler sowie die Sammlungen der Stadt ein gewisses Interesse auch für jene Dinge, die »viel kosten und nichts einbringen« – nichts als ein menschenwürdiges Dasein ... Aber es sind andere Produkte, die heute Erfurts Ruhm in die Welt hinaustragen. Die meisten Hosenträger, die in Deutschland verbraucht werden, sind hier gefertigt, daneben sehr viele Damenmäntel und Milliarden Schuhe; jeder zwanzigste Mensch in Erfurt ist ein Schuster. Und jeder zehnte ein Gärtner oder Blumenzüchter. Und die Frau Flora – um wieder an den Brunnen am Anger zu erinnern – ist üppiger als der Herr Gewerbefleiß; dieser Handel ist auch jetzt noch der einträglichste.

Recht gut geht's nun den Erfurtern; man sieht's überall: an den gefüllten Restaurants und Konzertgärten, den stattlichen Läden, den neuen Häusern. Sie sind geräumig, scheinen solid gebaut; daß die Fassaden im Durchschnitt etwas nüchterner sind als in anderen deutschen Mittelstädten, hat auch sein Gutes: man sieht darum hier weniger Kuriosa ... Auch die neuen Kirchen und Monumentalbauten vermögen einem nicht Schrecken noch Entzücken einzuflößen. Nur drei nehme ich aus. Die neue Thomaskirche verspricht ein hübscher gotischer Bau zu werden, und das Rathaus ist ein schönes, ansehnliches Werk desselben Stils, der Stadt, wo einst Bürgersinn so Großes geleistet, nicht unwert; auch die neuen Fresken sind gut, neben den historischen namentlich die aus der Faustsage. In anderem Sinn bemerkenswert ist leider die Post; sie mutet an wie der phantastische Traum eines schlechten Künstlers, aber schon eines sehr schlechten. Ein Friseur in der Barfüßerstraße freilich sagte mir enthusiastisch: »In so 'ner Post 'nen Brief aufzugeben ist'n Hochgenuß!«, aber dem Kunstgeschmacke dieses Mannes traue ich nicht recht. Er hat in seine Auslage einen netten jüngeren Herrn mit roten Bäcklein gestellt und darunter geschrieben: »Wir Deutsche fürchten Gott, sonst nichts auf der Welt.« Wer so einen Bismarck hinstellt, verdient keine schönere Post. Übrigens habe ich den Spruch auch in zwei anderen Friseurläden Erfurts gefunden, und das hat mir wenig gefallen. Mir steht die Stunde vor Augen, da dies Wort fiel: am 6. Februar 1888; mein Lebtag bin ich froh, daß ich dabei war. Ein grauer Tag; im alten Hause in der Leipziger Straße herrschte Zwielicht, als sich der Große erhob, und mühsam durchklangen zuerst seine Sätze den Raum. Als er sich aber in Glut geredet, da klangen sie dröhnend ins Ohr und ins tiefste Gemüt hinein, und bei jenen Worten richtete er sich zur vollen Höhe auf; wie eine Gloriole umwob das durchbrechende Sonnenlicht den gewaltigen Schädel. Die Stunde hatte das Wort geboren; für die Stunde war es der beste Ausdruck dessen, was ein ganzes Volk erfüllte, und darum verdient es unvergessen zu bleiben. Aber eben darum, weil ich mit dabei war, als es erklang und für mein Ohr auch noch den persönlichen Klang der hohen vibrierenden Stimme hat, sehe ich es ungern in Friseurläden und Wirtshäusern, auch scheint es mir aus anderen Gründen nicht recht zum dauernden Wahlspruch geeignet. Zur Zeit da es Bismarck sprach, drohte der Konflikt mit Rußland; in Friedenszeiten brauchen wir nicht zu versichern, daß wir niemand fürchten. Wir haben uns 1870 das Recht erworben, daß uns Europa dies ohne weiteres für Kriegs- und Friedenszeiten glaube.

Doch zurück zum Stadtbild von Erfurt. Was man hier an Bauten und Denkmälern aus elf Jahrhunderten beisammen findet, habe ich nun, so weit mir Kraft und Wissen reichte, nacheinander zu schildern versucht. Aber dies Gemisch von Uraltem und Neuem, von Herrlichstem und Häßlichem, von feiner, schwelgerischer Kultur und armseliger Nüchternheit, kurz, das Nebeneinander ist, glaub ich, überhaupt nicht recht in Worten zu malen, geschweige denn, daß ich mir's zutraute. Gerade dies Gemisch, sagt ich schon, läßt mir das Stadtbild von Erfurt so einzig erscheinen. Anderwärts scheidet sich alt und neu fast ganz oder doch weit mehr als hier. Freilich gibt's auch in Erfurt ganz neue Stadtteile, wie das Villenviertel auf dem Löberfeld oder das Arbeiterviertel auf dem Johannisfeld, und ganz alte, wie das Viertel um die Universität oder das um die Augustinerkirche, aber das sind Ausnahmen; die meisten Stadtteile sind ein Gemisch, und zwar ein beispiellos buntes; was anderwärts eine Ausnahme ist, ist hier die Regel. Die Kamera des Photographen, der Pinsel des Malers und nun gar das eigene Auge kann dies weit besser verdeutlichen als das Wort des Schilderers. Ich gebe nur einige Andeutungen aus der Fülle dessen, was den Beschauer zunächst wie ein Rätsel anmutet, ihn dann aber ergreift, wenn er sich dessen bewußt wird, daß die Lösung dieses Rätsels lautet: »Hier ist eine Schicksalsstätte! ...«

Man suche sich ein beschauliches Plätzchen auf dem Anger und blicke um sich. Ich empfehle zu diesem Zwecke das aus drei kränklichen Oleanderbüschen und einem grün angestrichenen Staket bestehende Gärtchen vor dem »Wiener Café«; hier stört einen niemand. Denn Erfurt ist großstädtisch genug, ein solches Etablissement zu besitzen, und kleinstädtisch genug, den armen Inhaber, natürlich einen Ungar – die Wiener Cafétiers in Deutschland sind alle Ungarn, wenn sie nicht Tschechen sind –, nur so langsam einen Krösus werden zu lassen, daß mich's nicht wundern würde, wenn ich ihn bei meinem nächsten Besuch in Erfurt samt dem Café nicht wiederfände. Mir tät's leid, denn was alles faßt von diesem »Garten« aus ein einziger Blick! Zur Rechten ein Haus aus dem 17. Jahrhundert, der Römische Kaiser, dahinter der dumpfe, düstere Riese aus dem 11. Jahrhundert: die Kaufmannskirche, dann dicht vor dem Beschauer ein häßliches, dürftiges Haus aus dem 18., ein reiches und lustiges aus dem 16. und ein prunkend geschmackloses aus dem 19. Jahrhundert, eben die Post. Ähnliches gewahrt er, so weit sein Blick die Breite Straße hinabreicht, bis an den Hoffmeisterschen Brunnen, dessen Erz und Springquell, im Sonnenlicht wundersam schimmernd, das Bild abschließt: zu beiden Seiten Häuser, von denen auch nicht eines dem andern gleicht; modernste Basarbauten, armselige wacklige Überreste aus der Zopfzeit, nüchterne Nutzbauten des letzten Jahrhunderts, daneben schöne, stattliche Patrizierhäuser der Renaissance, die auf diese Nachbarn herabblicken wie ein wohlerhaltener, vornehmer Greis auf ein junges, entnervtes Geschlecht. Zur Rechten ragt dicht vor dem Beschauer der Rokokobau des Packhofes auf. Kurz, kaum zwei Häuser nebeneinander, zwischen denen nicht ein ungeheurer Abstand der Erbauungszeit und des Stils läge – Bauten so stattlich und reich und schön, wie man sie eben nur in einer Mittelstadt finden kann, die vor vierhundert Jahren eine Großstadt war, und andere so dürftig und erbärmlich, daß man ihr Vorhandensein in dieser Hauptstraße nur versteht, wenn man sich erinnert, daß Erfurt vor zweihundert Jahren eine scheinbar dem sicheren Untergang geweihte Kleinstadt war.

Ähnliches sieht man hier überall: die Reihe der herrlichen Renaissancehäuser der Johannes- oder Allerheiligenstraße wird immer wieder von Zinshäusern aus der Zeit um 1850 unterbrochen, neben dem Patrizier im Festgewand steht der armselige Philister der neuesten Zeit. Oder man lasse den Blick über den Domplatz schweifen; hier die herrliche gotische Stiftskirche, vor ihr ein Obelisk aus der Zopfzeit, ringsum aber Häuser, als dienten sie dem Zweck, lehrreich zu verbildlichen, wie schön und wie häßlich, wie reich und wie armselig man in der Zeit von 1500-1900 abwechselnd in Deutschland gebaut hat. Oder man stelle sich neben jenen Brunnen am Anger: ein Blick umfaßt die ehrwürdige Barfüßerkirche, das schöne Renaissancehaus, wo Wilhelm von Humboldt um Karoline von Dachröden freite, einige Wohnhäuser, wie man sie in Posemuckel nicht auf den Hauptplatz stellt, einige Geschäftshäuser, die an lärmendem Stil den Bauten in einem Berliner Geschäftsviertel nicht nachstehen, und als Zugabe einen prächtigen Barockbau. Oder man sehe sich an, welche bunte Gesellschaft den Roland auf dem Fischmarkt umsteht, neben dem schönen Rathaus, dem herrlichen »Breiten Herd« und dem »Roten Ochsen« auch Häuser, von denen man sich verwundert fragt: »Ist hier der Boden so billig, daß man derlei stehen läßt? ...«

Aber habe ich bisher kein anschauliches Bild von diesem Gemisch geben können, so nützt alle Häufung von Einzelnheiten nichts. Ich kann nur wiederholen: schön ist diese Stadt nicht, wahrlich nein, und wen nur die Harmonie eines Gesamteindrucks lockt, der lasse sie unbesehen. Aber wer Augen hat, das Besondere zu sehen, wer historischen Sinn hat, wird gleich mir seine Erfurter Tage zu den anregenden seines Lebens rechnen und niemals vergessen.

Ich sage dies fast wie einer, der eine Entdeckung gemacht hat und dies nun andern mitteilen will. Ganz so ist's ja nicht, aber – fast so. Den meisten geht's so wie anfangs mir: was sie nach Erfurt zieht, ist nur der Dom und die Blumenzucht. Nun, das ist freilich auch schon Freude genug. Vom Dom habe ich bereits erzählt, von den Blumen will ich's nun tun. Das ist das Schönste, was ich hier gesehen habe, und darum habe ich's mir für den Schluß aufgespart. Das Marienbild, dessen Goldglanz mir all die Jahre in der Erinnerung geleuchtet, hat in der Nähe von seinem Zauber eingebüßt; es war eben zuviel Gold ... Die Blumenfelder um Erfurt aber – die waren schöner als mein Traum von ihnen.

Zunächst freilich muß noch von Nüchternem die Rede sein, der Blume als Handelsartikel. Daß Erfurt eine Gartenstadt ist, in der so an die zehntausend Menschen von der Blumen- und Gemüsezucht leben, merkt man natürlich schon mitten in der Stadt. So auf den Marktplätzen. Schönere Blumen, prächtigeres Obst bietet man nirgendwo in Deutschland feil. Den Marktplatz besuche ich auch sonst in jeder mir fremden Stadt und sehe mir alles gründlich an. Es hat sich mir immer gelohnt; hier erfährt man, wovon die Leute leben und ob sie gut oder schlecht leben; hier kann man über den Typus der Bevölkerung zwanglos und angenehm ins klare kommen; daß es zumeist der schönere und – freilich nur unter den Käuferinnen – der jüngere Teil der Menschheit ist, an dem man seine Beobachtungen machen kann, hat mir wenigstens meinen Studieneifer nie abgekühlt. So eifrig aber wie in Erfurt habe ich nirgendwo studiert, was jedoch wirklich nur an den herrlichen Birnen und Rosen lag. Damit soll freilich nichts gegen die Erfurterinnen gesagt sein. Sie sind blond und im Durchschnitt zierlich und hübsch; die Katholischen aus dem Eichsfeld, das ein starkes Kontingent an Mägden, Arbeiterinnen und Handwerkerfrauen stellt, sind auch blond, auch hübsch, aber nicht eben zierlich; das macht, weil ihnen der liebe Gott in seinem unerforschlichen Ratschluß sehr, sehr große Füße hat wachsen lassen. Schon an diesen Füßen kann man die Eichsfelderinnen erkennen, noch mehr an dem breiten schweren Dialekt; es ist auch sonst vieles an ihnen ungewöhnlich breit. Mit Staunen habe ich in einem gelehrten Buche gelesen, daß in Erfurt auf zehn blonde drei braune Menschen kommen; ich hätte mir die Zahl der braunen nach meinen Beobachtungen noch geringer gedacht. Ist aber eine braun, so ist sie's sehr, und mehr als einmal erinnerte mich dieser brünette Schlag an meine Wanderungen unter den Nordslawen; in der Tat ist ja in Thüringen viel wendisches Blut zu finden. Sogar ein slawisches Wort habe ich einmal gehört: »I du Bojen!« (Ei du mein Gott); die Frau stammte aus Ruhla; dort, meinte sie, sagten es alle Leute. Im übrigen pflegen die Erfurter Hökerinnen nur deutsch zu sprechen, und zwar ein ebenso kräftiges und undiplomatisches Deutsch wie alle Hökerinnen im Reich. Als eine Bereicherung meiner zoologischen Kenntnisse habe ich mir das Kosewort aufgezeichnet, das eine dieser Damen ihrer Nachbarin zurief: »Du Ogsekuh«; eine andere erwiderte einer Magd, die »Flume-Kluesse« (Pflaumenklöße) kochen wollte, aber die Pflaumen zu teuer fand: »Backfife (Backpfeifen) kannst bill'cher haben.« Übrigens scheint unter diesen Frauen doch ein gewisses Maß von literarischer Bildung vorhanden; wenigstens habe ich eine Stelle aus dem »Götz von Berlichingen« nirgendwo häufiger zitieren hören als auf dem Marktplatz zu Erfurt. Dies alles aber nur zum Beweise, daß mir auch hier das Menschliche interessant war, freilich nicht das Interessanteste. Die Dimensionen dieser Äpfel, Birnen, Pflaumen und Rettiche sind keine ungewöhnlichen mehr wie im Mittelalter, wohl aber ihr Wohlgeschmack und ihr appetitliches Aussehen; so feines Weiß und Rot, eine so zarte Haut habe ich kaum irgendwo gesehen; die Erfurter Früchte sind die Schönheiten unter ihresgleichen. Und im schönen Körper wohnt eine schöne Seele; neben allem anderen Guten fiel mir namentlich der feine Duft auf. Dazu Salate, daß man versucht wäre, auf seine alten Tage ein Vegetarier zu werden. Aber nun gar die Blumen! Anderwärts trifft man auf dem Markte immer nur die Blumen der Jahreszeit, den Flieder, die Rose oder die Aster – hier sitzt jede Hökerin hinter einem blühenden Wall der verschiedensten Blumen, weil die vielen Handelsgärtnereien ihre geringeren Sorten hier verkaufen lassen. Levkojen und Reseden, Stiefmütterchen und Balsaminen, Rosen aller Art, und nun gar ein Heer verschiedenster Nelken, denn die Nelke ist heute die Modeblume von Erfurt wie einst die Georgine. Da es hier auch eine Fülle von hübschem, billigem Ton und Porzellan gibt, so ist der Freund des Zimmergartens in Erfurt trefflich dran.

Trifft man schon auf den Märkten Zehntausende von Blumen, so in den Gärtnereien Milliarden. Es gibt solcher Anlagen hier einige Dutzend; die kleinste eine gewaltige Plantage, die größten mit ihrem Gewirr von Beeten, Feldern und Gewächshäusern unübersehbar und die Sinne verwirrend. Es spricht oder schreibt sich leicht hin, daß eines dieser Geschäfte zweihundert Gewächshäuser unterhält, aber nun mache man sich ein klares Bild davon. Ich gewann es nicht, auch als ich's sah; es war eben eine ungeheure Fülle von Farben, Formen und Düften, und jeder neue Eindruck schlug die früheren tot, bis mir schließlich – ehrlich gesagt – wenig anderes davon übrigblieb als Augenflimmern und leises Kopfweh. Vielleicht ist's auch zum Teil meine Schuld. Ich bin ein Landkind, in Garten und Feld aufgewachsen, habe auch gern auf dem Gymnasium Botanik getrieben, aber ich weiß nur eben das Wichtigste. Wer bessere Kenntnisse und ein geübteres Auge für feine Verschiedenheiten der Form und Farbe hat, wird auch mehr Freude daran haben und mehr davon behalten. Etwas Sehenswertes und Ungewöhnliches blieb's freilich auch für mich, und die Erfahrung, daß starke Eindrücke das Tiefste aus dem Menschen hervorlocken, konnte ich hier gleichfalls machen, nicht an mir, sondern an anderen. »Was is nu das?« fragte mich eine dicke Berlinerin mit dünner Tochter beim Blumenschmidt. »Azaleen.« – »Azáljen!« berichtigte sie und dann zur Tochter: »Wunderscheen! Das könnte Tante Trudchen nich scheener malen!« Ein Herr aus Frankfurt, der gleichzeitig mit mir die Gewächshäuser von Benary besichtigte, war dann mein Nachbar an der Table d'hôte. »Großartig!« rief er. »Aber wissen möcht ich, was so 'n Mann jährlich verdient!«

Man weiß, die Handelsgärtner von Erfurt verdienen recht gut, weil sie ihr Geschäft in jeder Hinsicht trefflich verstehen, auch in der weisen Vermeidung überflüssiger Konkurrenz. Rosen und Nelken, Palmen und Orchideen trifft man freilich fast überall, aber daneben hat jeder seine Spezialität: der eine züchtet Veilchen, der andere Begonien, der dritte Levkojen, beim vierten findet man nur Kakteen, aber in Hunderten von Spielarten, so daß die eine Pflanze der andern nur gleicht wie ein Lappländer einem Neger, der fünfte beschränkt sich auf Koniferen und der sechste gar nur auf Fuchsien. Sie alle handeln auch – und dies ist sogar die Hauptsache – mit Sämereien; daneben mit getrockneten Blumen. Es tut mir bei meiner Vorliebe für Erfurt leid, sagen zu müssen, daß die entsetzlichen Makart-Bouquets, als Staubsammler wie durch ihre Geschmacklosigkeit gleich berüchtigt, zumeist von hier in die Welt gehen. Kurz, auch auf diesem Gebiet gibt's schaffende Künstler und mühselige Tüftler, Talente und Nachahmer, produktive Köpfe, die vor der Natur Respekt haben, und unproduktive, die ihr Zwang antun. Fast noch sichtlicher ist diese individuelle Prägung, die Begabung und Geschmack des Besitzers der Plantage geben, an den Baumschulen, und selbst die Gemüsefelder gleichen einander nicht ganz.

Die jährliche Umsatzziffer dieser Produktion Erfurts vermag ich leider nicht mitzuteilen; eine offizielle Angabe scheint es nicht zu geben, und was ich an Schätzungen hörte, ging gleich um mehrere Millionen auseinander. Gewiß ist, gewaltige Summen werden aus diesen Plantagen gezogen, und gewaltige Summen stecken in ihnen. Nicht bloß Summen von Geld, sondern auch von Talent, Verstand, Fleiß und Zähigkeit. Die Natur hat Erfurt zur Gartenstadt gemacht, indem sie ihm diesen unübertrefflichen Boden gab, aber das Klima ist kein besonders günstiges. Die Blüte der Haselnuß tritt frühestens am 2. März, die des Apfels am 1. Mai, die des Weizens am 19. Juni ein; Erfurt ist also nach dieser Hinsicht später daran als andere Orte des Hügellandes, was mit der auffallend kühlen Witterung zusammenhängt. Die Fröste hören selten schon Mitte April, zuweilen erst Ende Mai auf, um dann oft Ende September wieder zu beginnen. Im Durchschnitt hat Erfurt jährlich, mit dem Fachausdruck des Meteorologen gesprochen, nur 25 Sommertage (wo das Maximum 25° Celsius erreicht), hingegen 14 Frosttage (wo das Thermometer unter den Gefrierpunkt sinkt) und 45 Eistage (wo auch das Maximum unter Null liegt). In der Zeit von 1882 bis 1887 (eine spätere Tabelle war mir nicht zugänglich) hat der Inselberg, die höchste Erhebung Thüringens, im Durchschnitt wärmere Winter gehabt als Erfurt. Man muß kein Fachmann sein, um zu erkennen, was diese klimatischen Verhältnisse für eine Gartenstadt bedeuten, welchen ungeheuren Aufwands an Mühe und Umsicht es bedarf, um sie auszugleichen und unschädlich zu machen. Denn hier wie überall, und hier noch mehr als anderwärts, ist die Natur nicht bloß gütig, sondern auch grausam, eine Wohltäterin und eine Feindin zugleich, und es gilt immer wieder, ihrem Willen in dem einen zu gehorchen, ihn in dem andern zu besiegen. Es kommt trotz all der Gewächshäuser einem Wunder gleich, daß die Erfurter so viele Pflanzen des Südens hier heimisch gemacht haben, und die meisten Pflanzen haben dabei nicht an Kraft, nicht viele an Farbe, allerdings mehrere an Duft verloren. Mehr noch als mit der Kälte haben die Erfurter mit dem Gewitter zu kämpfen. Dies Becken an der Grenze zwischen Gebirg und Flachland, wo das aus der Ebene heranziehende Wolkenheer zuerst auf Berge trifft und sich an ihnen ballt, ist naturgemäß ein Wetterwinkel. Ein Erfurter Gewitter ist kein Spaß; ich habe hier selbst vor einigen Tagen eins erlebt; von Westen her über das Andreasfeld kam das schwarze, düstere Wolkenheer gezogen, und wie's auf den Petersberg traf, brachen Blitz und Donner los; dann wälzte es sich weiter über den Domplatz hin; das Licht war wie ausgelöscht; im grellen Scheine der Blitze leuchtete die Doppelkirche auf dem Hügel in die fahle Dämmerung hinein; immer rascher folgten sich Blitz und Donner; es wurde immer dunkler und schwüler, bis endlich der Regen niederprasselte, endlos und gewaltig wie eine Sintflut. Man kann das hier oft erleben; auch der Hagel ist ein häufiger Gast; Erfurt wird mehr von ihm heimgesucht als die meisten Orte Thüringens, zum Beispiel viermal öfter als Meiningen. Auch ist der Himmel häufig bewölkt; eine leichte Wolkenschicht fehlt selbst an den sonnigsten Tagen selten. Man weiß, Mensch und Pflanze lieben die Sonne und brauchen sie; es ist ein Gesetz, von dem es wenige Ausnahmen gibt, daß Besiedelung und Pflanzenwuchs dort am dichtesten sind, wo der Himmel am lichtesten ist; Erfurt gehört zu diesen wenigen Ausnahmen. Die günstige Lage, die Fruchtbarkeit des Bodens waren stärker als die Sehnsucht nach der Sonne.

Und darum gedeihen unter diesem bewölkten Himmel die größten Blumenfelder auf deutscher Erde. Den Süden der Stadt abgerechnet, findet man überall einzelne solche Felder, die meisten im Westen vor dem Brühler Tor. Wie des Vormittags auf dem Steiger bin ich bei sinkender Sonne all diese Tage dort gewesen, nur das erste Mal zu Wagen, dann immer zu Fuß, den Eindruck nicht länger, aber besser zu genießen, denn auch zu Wagen kann man stundenlang fahren und den gleichen Anblick haben. Der Eindruck war immer gleich stark, noch mehr, er wuchs, je vertrauter mir das einzelne wurde, aber die Empfindung, etwas Einziges, ja Märchenhaftes sehen zu dürfen, verließ mich nie. Schon durch wogende Getreidefelder zu gehen ist ja dem Stadtmenschen Freude genug, und nun denke man sich statt des eintönigen, duftlosen Ährenmeers ein Meer von berauschend duftenden, in allen Farben leuchtenden Blüten: Rosen und Veilchen, Reseden, Levkojen und Tulpen, Balsaminen, und zwischen diesen schimmernden Feldern ganze Wäldchen blühenden Gesträuchs. Wer eine empfindliche Nase hat wie ich, hat hier endlich Grund, der Natur für diese Gabe zu danken, die dem Wanderer sonst nicht eitel Freude bringt. Freilich, in der Sommerglut und bei unbewegter Luft ist der Duft fast betäubend; anders gegen Abend, wo von den Hügeln her ein kühlerer Lufthauch weht. Aber gleiche Freude genießt auch das Auge, wenn es über ein Feld von Tulpen oder Levkojen schweift. Es ist auch in der Nähe, wie es mir in der Ferne schien: als wäre ein Regenbogen auf die Erde gesunken und da in tausend bunte Stücklein zerstäubt. Und wie schön sind die Formen dieser zarten Pflanzen: jede dem flüchtigen Blick der andern gleich und in Wahrheit jede nicht minder verschieden als etwa wir Menschen untereinander. So wandelte ich dahin, selig und wunschlos wie selten im Leben, trunken von Farben und Düften.

Mindestens diese Blumenfelder sollte jeder besehen, den sein Weg durch Thüringen führt. Sie sind in ihrer Art einzig und übertreffen alle ähnlichen Anlagen, die ich kenne. Zwar in den Rosengärten von Schiras bin ich nie gewesen, aber die bulgarischen kenne ich; sie sind gewiß herrlich, auch durch ihre Ausdehnung imponierend, aber das sind eben nur Rosenfelder; ihnen fehlt die Symphonie der Farben und Düfte, die hier entzückt. Auch in Haarlem werden nicht entfernt so viele Blumenarten gezogen, und die Quedlinburger Felder wieder werden von denen Erfurts an Ausdehnung übertroffen.

Gestern war ich zum Abschied draußen, natürlich mit Christoph Martin Wieland. Da ich ihm sagte, daß dies das letzte Mal sei, so nahm er vom Anger, wo er mir mit glühender Nase und schimmernden Äuglein entgegenkam, die Richtung zum Brühler Tor durch die Michaelsstraße und um den Petersberg herum, was einen Umweg von einer halben Stunde bedeutete. Wenigstens versicherte er mir, daß ihn nur der Abschied von mir »ganz plöde im Kope« mache, aber noch mehr, auch angetrunken war er nur aus dieser schmerzlichen Veranlassung, denn: »Ech daachte alleweil, Sie maachen fort!« Draußen aber wurde er leidlich nüchtern, schwieg auch und hatte erst auf dem Heimwege einen poetischen Gedanken: »Oh!« seufzte er, »wenn jedes dieser Blümechen 'n Pfennig wäre und mir gehörte!« – »Aber, Wieland«, wandte ich ein, »so viel Schnaps können auch Sie nicht vertragen!« Worauf dieser Anakreontiker: »Denn tät ich eben Win saufen!« Zum Schluß aber wurde er wieder elegisch und beruhigte sich nicht eher, bis ich eine Mark und das Versprechen gab, wiederzukommen: »Tun Sie's, Herre, denn wie mein Kamerad Knieschke sagte: ›In Erfurt is gut wohnen.‹«

Es war, wie man weiß, nicht der Droschkenkutscher Knieschke, sondern der Koadjutor Dalberg, der das Wort prägte. Ein Wahrwort jedoch ist's, und darum will ich auch gerne wiederkehren.

Heut aber geh in die Berge, die mir vom Steiger her so lockend winkten: nach Oberhof.

Erfurt, im August 1901


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